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Nach-Gedacht ist eine Rubrik in der Zeitschrift Gesprächspsychotherapie und Personenzentrierte Beratung. Seit 2005 wurden dort bisher 43 Beiträge von Jürgen Kriz veröffentlicht. Kommentiert wurden darin jeweils aktuelle Geschehnisse, die aus humanistisch-psychologischer Sicht bemerkenswert erschienen. Die Leid-Themen in diesen Jahren kreisen um die vielfältigen offenen und subtilen Erosionen, Angriffe und Entwertungen des Menschen, der Person und des Individuums zugunsten einer an vordergründiger Effizienz, Funktionalität und Ökonomisierung orientierten Vereinnahmung. Für diesen Band wurden 38 Beiträge ausgewählt.
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Seitenzahl: 151
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Mundtot als neues „Qualitätsmerkmal"?
Nützlich, Notwendig und Wirtschaftlich?
„Fall"-Geschichte
„Good Night and Good Luck"
Weltliteratur – effektiv betrachtet
Motivforschung
Faszinierende Reduktion
Vergangenheitsbewältigung
Verschwörungstheorien
Keine Koch-Rezepte gegen Jugendgewalt
Pfade aus der Sprachlosigkeit
Unbillige Pläne zu Billig-Jobs
Brauchen wir eine psychologische Psychologie?
Vermessenes zur Qualität von Pflegeheimen
Trends vom Arbeitsmarkt
Umgang mit Depression
Lausige Zeiten
Philosophische Praxen
Nachhilfe für Juristen?
Alternativlos?
Hoffnung auf Umdenken?
Brennende Probleme
Zahlen und Zahlungen
Hoffnungen
Olympia-Nachlese
Mathematisches Glück
Paradigmenwechsel?
Neues zur Empathie?
Therapeutische Apartheid
Stress nur eingebildet?
Individualität und Statistik
Metaanalytischer Quark
Kompetenz gesucht
Therapie für den Forscher-Selbstwert
Die hundertfünfzigste Kerze
Depression als Gehirnentzündung?
Krieg dem Terror?
Einseitiges „WELT“-Bild
Seit gut einem Jahrzehnt – von Heft 3/2005 bis heute – wurde in jedem Heft der Zeitschrift Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung der GwG ein „Nach-Gedacht“ veröffentlicht. Kommentiert wurden darin jeweils aktuelle Geschehnisse, die mir aus humanistisch-psychologischer Sicht bemerkenswert erschienen. Die Leid-Themen in diesen Jahren kreisen um die vielfältigen offenen und subtilen Angriffe und Entwertungen dessen, was wir mit „Mensch“, „Person“ oder „Individuum“ meinen, zugunsten einer auf vordergründige Effizienz, Funktionalisierung und Ökonomisierung ausgerichteten Vereinnahmung.
In zahlreichen Rückmeldungen, die ich in den letzten Jahren hierzu erhielt, wurde betont, dass diese Rubrik gern gelesen wurde – trotz (oder wegen) der Kürze der Beiträge von nur 1 Druckseite (ca. 5.500 Zeichen). In der Tat bestand ein Großteil der Arbeit oft darin, einen durch Recherchen zunächst umfangreicher angewachsenen Artikel auf diese Länge zu reduzieren und dabei viele Details und auch gute Argumente wieder zu streichen. Darin stellte sich allerdings auch immer eine interessante Herausforderung.
Im Gegensatz zu den längeren Artikeln in der Zeitschrift gibt es für das Nach-Gedacht (meines Wissens) kein Archiv. Da im Zeitalter der Digitalisierung ohnedies kaum noch Papier-Versionen aufgehoben werden, gibt es also keinen Zugriff (nicht einmal ich selbst habe wirklich alle Beiträge wiedergefunden). So entstand die Idee, nach einem Jahrzehnt diese Beiträge gesammelt zu veröffentlichen und als Band oder als ebook zur Verfügung zu stellen.
Bei der Durchsicht und dem neuerlichen Lesen der Nach-Gedacht fiel mir auf, dass recht viele Beiträge neben dem aktuellen Thema einen zweiten Fokus haben: Es geht dabei um eine Verbindung zwischen dem allgemein-politischen Geschehen und dem Kampf der Humanistischen Psychotherapie mit ihrem Ansatz der Gesprächspsychotherapie gegen die Ausgrenzung dieser Positionen aus der Psychotherapie und den akademischen Fachdiskursen in Deutschland. Die erfolgte Monopolisierung der internationalen und auch ehemals deutschen Pluralität an Zugängen durch ein experimentell-behaviorales Paradigma als einzige „wissenschaftlichen Wahrheit“ hat nicht nur beachtliche Forschungs- und Lehrressourcen aus den Universitäten verdrängt. Mit den Instrumenten G-BA und WBP wurde auch im Bereich der Psychotherapie ein Monopol erwirkt, das nur wenig durch psychodynamische Ansätze und eine verbreiterte Sichtweise der Verhaltenstherapie abgemildert wird.
Zunächst wollte ich etliche der Nach-Gedacht, die solche Themen enthalten, nicht mit aufnehmen. Beim genaueren Hinsehen fand ich aber viele der Aspekte und Argumente doch immer noch aktuell und relevant. Ich mute und traue daher den LeserInnen zu, die Entscheidungen über die Auswahl selbst zu treffen.
Ich hoffe, dass viele Menschen in diesen Nach-Gedacht auch heute noch Anregendes entdecken.
Osnabrück, Mai 2016 Jürgen Kriz
Damit es ja niemand überliest, war das folgende Zitat im „Newsletter" 2/2005 der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) kursiv und gesperrt gedruckt. Nicht genug: es war auch noch mit einer Kasten-Umrahmung versehen und ins Zentrum der Seite 3 gerückt.
„Die Anwendung der Methoden der evidenzbasierten Medizin ist international mit Ausnahme einzelner Teile Deutschlands und Österreichs unumstritten." (Prof. Sawicki im Rahmen einer Pressekonferenz im April 2005)
Unterstellen wir einmal, dieser Satz sei von Prof. Dr. med. Peter Sawicki, dem Leiter des relativ neu gegründeten Instituts „für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen", wirklich so gesagt worden. Als Kenner der besonderen Probleme des Sektors „Psychotherapie" im Gesundheitswesen hat sich Sawicki selbst nie bezeichnet: Das Institut befasst sich vornehmlich mit Aspekten von somatischer Medizin, Apparaten und Pharma-Produkten. Und dass auch der „Gemeinsame Bundesausschuss" (G-BA) mit seiner neuen Verfahrensordnung die Unterschiede zwischen der Beurteilung z. B. eines neues Medikaments und einem seit Jahrzehnten erprobten Psychotherapieverfahren ignoriert, ist bekannt und bedauerlich. Eigentlich sollten Psychotherapeuten eher kritisch sein, wenn ihnen solche Konzepte übergestülpt werden - und wenn dazu noch „Unumstrittenheit" eingefordert wird.
Was mag es also bedeuten, wenn ein Organ der Psychotherapeuten dieser Aussage einen solch herausragenden Stellenwert einräumt? Und was ist eigentlich gemeint?
Sollen sich die „einzelnen Teile" (von „Wissenschaftlern" oder gar „Kollegen" zu sprechen, lag wohl nicht drin) „Deutschlands und Österreichs" schämen, dass sie so provinziell und hinterwäldlerisch sind? Nicht im (vermeintlich) „internationalen" Strom mitzuschwimmen, ist ja heute ein harter Vorwurf – politisch (Irak-Krieg) wie wissenschaftlich. Wer wagt da schon, sich als nicht-dazugehörig zu outen?
Nun, man könnte zunächst einfach konstatieren, dass die zitierte Behauptung im Wesentlichen falsch ist. Wie selbst der o. a. Artikel einräumt – leider deutlich kleiner gedruckt – zeigt „die wissenschaftliche Diskussion ... des Netzwerks für evidenzbasierte Medizin ... dass die gewünschte Reduktion der Methodenbewertung auf RCT methodisch häufig inadäquat wäre". Ebenso finden sich z. B. im aktuellen Heft der Zeitschrift für ärztliche Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (Heft 4-5, 2005) mit dem „Schwerpunkt: Pluralismus in der Medizin - Pluralismus der Therapieevaluation" vorwiegend kritische Aspekte zur umstrittenen EBM und RCT. Und das bei einem großen internationalen (!) Advisory Board. Letztlich zeigt auch ein Blick ins Internet, dass selbst in den USA und in Zeitschriften der APA weder RCT noch EBM international unumstritten sind.
Bei diesen Richtigstellungen könnte man es bewenden lassen: Wieder einer der Versuche, mit einer falschen Behauptung Stimmung zu machen, kritisches Nachdenken zu diskreditieren und Abweichler vom Mainstream einzuschüchtern.
Doch macht diese Art kognitiver Irreführung inzwischen so Schule, dass wir einen Moment genauer hinsehen sollten, um uns nicht immer ins Bockshorn jagen zu lassen. Wird doch zunehmend mit großem „Tätärä" zur Denkkonformität geblasen: „Effektivitätärä!" „Qualitätärä!", „Internationalitätärä!". Und wer da nicht einfach so mitblasen mag, wird als provinziell und unwissenschaftlich angeprangert.
Doch als Therapeuten, die wir sensibel für Sprache und Kommunikation, für Metaphern und subtile Machtspiele sein sollten, lohnt es sich, diese Sprachstrukturen näher zu durchleuchten. Was ist eigentlich strukturell dran an dem pejorativen Hinweis auf „Unumstrittenheit"?
Ist nicht Wissenschaft - nach allen Lehrbüchern der Wissenschaftstheorie - jenes soziale Unterfangen, das Zweifel an den Konsensen geradezu zu institutionalisieren hat? Ist die „Umstrittenheit", ausgetragen in Diskursen und Disputen, nicht gerade das, was Wissenschaft auszeichnet? Heißt doch die mündliche Prüfung der Promotion fast allerorts „Disputation"! Wäre „Unumstrittenheit" daher nicht das Ende von Forschung und Wissenschaft zugunsten einer fröhlichen Bekenner- und Glaubensgemeinschaft?
Ich sehe daher nur zwei mögliche Appellfunktionen in dem o. a. Zitat:
Entweder (1.) sind die Argumente gegen RCT und Evidenzbasierung, als alleinigem Kriterium der Beurteilung, so grundfalsch und endgültig widerlegt, dass eigentlich nur deutsch-österreichische Hinterwäldler das Unbestreitbare noch bestreiten. Solche endgültigen Widerlegungen - die es in der Wissenschaft ohnedies extrem selten gab - sind mir allerdings nicht bekannt.
Oder aber (2.) es gibt sehr wohl gute Gründe, über die Anwendung der Methoden zu diskutieren und zu streiten. Wenn dann international - „mit Ausnahme einzelner Teile Deutschlands und Österreichs" – trotzdem der Eindruck von „Unumstrittenheit" entsteht, können die kritischen Wissenschaftler andernorts offensichtlich nur mundtot gemacht worden sein. Da liegt es nicht allzu fern, die implizite Botschaft zu ergänzen: „...und das sollte man nun endlich auch mit diesen kritischen ‚einzelnen Teilen Deutschlands und Österreichs' machen!"
Das wäre dann freilich tatsächlich eine „qualitativ" neue Stufe in der Kontroverse um den arg strapazierten Begriff „Qualität" im Gesundheitswesen. Und ein neues, noch eingeengteres Verständnis des nicht weniger strapazierten Begriffs „Wissenschaftlichkeit" hätten wir damit auch. Ich hoffe aber, solche Vorstellungen bleiben nicht unumstritten – selbst jenseits deutsch-österreichischer „Einzelteile".
Bekanntlich wird die sozialrechtliche Anerkennung der Gesprächspsychotherapie in Deutschland vom G-BA (Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen) und dessen Rechtsvorgänger seit rund 17 Jahren mit großer Akribie und noch größerem Zeitaufwand geprüft.
Offensichtlich steht viel auf dem Spiel. Insbesondere geht es um die Frage, ob hierzulande in psychotherapeutischen Praxen neben den psychodynamischen und verhaltenstherapeutischen Verfahren endlich (wieder) legal Gesprächspsychotherapie durchgeführt und dazu qualifiziert ausgebildet werden darf.
Ein Ende dieser Prüfprozedur ist nicht in Sicht: Es finden sich immer wieder Gründe, selbst dem Ministerium gegenüber genannte Termine hinauszuschieben. Obwohl – oder weil? - die vor über einem Jahr aufwendig durchgeführte bundesweite Umfrage so überaus positiv für die Gesprächspsychotherapie ausfiel.
Fast ausnahmslos bestätigten dabei nicht nur zahlreiche Einrichtungen, Klinken und Fachleute diesem Ansatz die Nützlichkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit, sondern viele - bis hin zu Länder- und Bundespsychotherapeutenkammer - forderten eindringlich, dass die Gesprächspsychotherapie „nun endlich und noch im Jahre 2004" die volle sozialrechtliche Anerkennung erhalten müsse. Seitdem hat man von dieser Umfrage nichts mehr gehört, so dass sich noch zeigen muss, ob und wie sie in diesem Verfahren wirklich der Bewertung diente, oder nur der zeitlichen Verlängerung.
Ohne Zweifel ist es zu begrüßen, dass der G-BA Nützlichkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit eines jeden Verfahrens prüft. Dies macht, auch über die gesetzlichen Vorschriften hinaus, sehr viel Sinn. Denn die Patienten sind nicht nur vor unseriösen oder gar schädlichen Behandlungsweisen zu schützen. Sondern die von der Solidargemeinschaft der Versicherten aufgebrachten Beträge sind so umzuverteilen, dass bei den Leistungen für Kranke eben die „Nützlichkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit" im Zentrum zu stehen hat. „Gut so!", könnte man daher sagen, wenn man den Aufwand an Material und Zeit betrachtet, mit dem der G-BA immer wieder und immer neue Aspekte ersinnt, die er „im Interesse der Versicherten" prüft.
Nach-denklich kann man allerdings dann werden, wenn man sich erinnert, dass bei Vorgängen wie „Prüfen", „Bewerten" und „Messen" aus Sicht der Wissenschafts- und Messtheorie ein „zu messendes System" mit einem „messenden System" in Interaktion tritt. Messtheoretisch ist also die Beziehung in hohem Ausmaß symmetrisch Und dies bedeutet, dass eine Asymmetrie in Form von hierarchischer Abhängigkeit des Beurteilten vom Beurteiler lediglich Machtverhältnisse widerspiegelt.
Die praktische Brisanz wird sofort deutlich, wenn man sich vorstellt, man würde die Qualität der Längenkonstanz von Stahlstangen mit einem Gummiband messen. Falls nämlich die Messdaten über wiederholte Messungen keine hinreichende Stabilität aufweisen, dann ist in diesem Beispiel augenfällig, dass man dies nicht einfach der mangelnden Qualität der Stahlstangen anlasten kann, sondern vielleicht eher der fragwürdigen Eigenschaft des Gummibandes als Maßstab.
Leider sind bei den üblichen realistischen Prüf-, Bewertungs-, und Messproblemen die zugrunde liegenden Sachverhalte nicht so augenfällig. Unser Beispiel macht aber sensibel dafür, dass ein ungünstiges Ergebnis bei der Interaktion nicht notwendig immer nur am zu messenden System liegt.
Diese messtheoretische Symmetrie darf wohl auch in dem G-BA Prüfverfahren einmal ernst genommen werden. Im Hinblick auf die „Interessen der Versicherten", um die es ja gehen sollte, lässt sich somit nicht nur in Bezug auf die Gesprächspsychotherapie, sondern auch in Bezug auf das Prüfverfahren des G-BA nach dem Qualitäts-Tripel „nützlich, notwendig und wirtschaftlich" (NNW-Qualität) fragen; nämlich z. B.:
Ist es „
nützlich, notwendig und wirtschaftlich
", Psychotherapie weitgehend denselben Prüfmodellen zu unterwerfen, die für Pharmaprodukte entwickelt wurden?
Ist es „
nützlich, notwendig und wirtschaftlich
", wenn mit hohem Aufwand eine Befragung der Fachwelt vorgenommen wird, deren Ergebnisse offensichtlich nicht umgesetzt werden?
Ist es „
nützlich, notwendig und wirtschaftlich
", wenn ein Therapieverfahren an der legalen ambulanten Ausübung behindert wird, das im Ausland, in deutschen Kliniken und „unter anderer Abrechnung" auch weiterhin erfolgreich angewendet wird?
Ist es „
nützlich, notwendig und wirtschaftlich
", wenn nach 17-jährigem Prüfprozess so getan wird, als handle es sich um ein völlig neues Therapieverfahren und dabei Jahrzehnte klinischer Präsenz und zehntausende (auch in Krankenkassendateien nachweisbar) erfolgreich behandelte Patienten ignoriert werden? Geht es dabei wirklich um die Interessen „der Versicherten"?
Da ich sicher bin, dass den Lesern noch viele Fragen – und vielleicht auch manche Antworten – einfallen werden, kann ich es bei diesen wenigen bewenden lassen. Nochmals: bei aller Asymmetrie institutioneller Machtausübung, die dem G-BA nicht abgesprochen werden kann; geht es zumindest wissenschaftlich gesehen bei einer Prüfung (=Messung) stets um die Qualität beider Systeme. Aus Sicht der vielen erfolgreich behandelten Patienten, der überwiegenden Fachwelt, Kliniken, Kammern etc. hat „Gesprächspsychotherapie" in den vergangenen Jahrzehnten längst nachgewiesen, dass sie „nützlich, notwendig und wirtschaftlich" ist.
Ob die Vorgehensweise des G-BA ebenfalls als „nützlich, notwendig und wirtschaftlich" einzustufen ist, muss sich noch zeigen. Die Versicherten hätten aber ein Anrecht darauf, dass „Nützlichkeit, Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit" nicht nur für ein Psychotherapieverfahren, sondern auch für ein Prüfungsverfahren sichergestellt wird.
„Hast Du eigentlich schon in psychologie heute gelesen, dass es da ein neues Buch gibt, das die Kollaboration von Viktor Frankl mit den Nazis aufdeckt? Und in Auschwitz war der auch nur drei Tage – seine angeblichen KZ-Erfahrungen können also gar nicht stimmen", meinte kürzlich eine Kollegin.
Natürlich habe ich die Rezension über den „Fall Viktor Frankl" (psychologie heute) gleich herausgesucht: Wurde doch gerade erst der 100. Geburtstag Frankls weltweit mit Symposien und Festveranstaltungen gefeiert. Frankl ist Begründer der Logotherapie, seine 32 Bücher wurden in 31 Sprachen übersetzt. Universitäten in aller Welt verliehen ihm insgesamt 29 Ehrendoktorate. Die amerikanische „Library of Congress" zählt ihn zu den zehn einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts.
In Deutschland ist man freilich zurückhaltender. Und das nicht nur mit Ehrendoktoraten: Vielmehr fand sich beispielsweise im von mir durchaus geschätzten Kultursender NDR III niemand bereit, diesen 100. Geburtstag und/ oder die beachtenswerten Veranstaltungen dazu (etwa im Wiener Rathaus) in irgendeiner Weise zu würdigen – obwohl dort sonst durchaus von Kultur-Ereignissen auch im Ausland, bis hinunter zu Mini-Konzerten in Scheunen, berichtet wird. Und 1997 konnte gerade noch verhindert werden, dass die Logotherapie als Verfahren eingestuft wird, das „auf magische ,Kräfte' oder mystische ,Energie' im Körper des Menschen rekurriert" (so der Textentwurf).
Dies belegt m. E. nicht nur absolute Ignoranz und schlampigste Recherche der Autoren, sondern vor allem ein feindliches geistiges Klima gegenüber allem, das sich nicht reduktionistisch auf behaviorale Kategorien operationalisieren lässt. Da die Rezension die spektakuläre Aussage der Kollegin eher zu untermauern schien, habe ich dieses Buch (leider) gekauft – auch wenn mir klar war, dass ein „kritisches Buch" mit dem Titel „Viktor Frankl. Das Ende eines Mythos?" just zum 100. Geburtstag Frankls und der (außerhalb Deutschlands) hohen Beachtung natürlich vor allem verkaufstechnisch gut kalkuliert ist.
Erhellendes fand ich allerdings weniger über Frankl, als über den Autor dieses Buches, Timothy Pytell. Ein, keineswegs neuer, Hauptvorwurf an Frankl bezieht sich darauf, dass er Juden, die im NS-besetzten Wien mit Suizid-Versuchen ins (einzige jüdische) Krankenhaus eingeliefert wurden, nicht einfach sterben ließ, sondern versuchte, sie zu reanimieren. Damit habe er, so Pytell, quasi mit den Nazis „kollaboriert", weil Suizid „die verzweifeltste Form des Widerstandes" gewesen sei.
Das Recht auf Suizid und der Umgang damit, vor allem von Medizinern mit ihrem hippokratischen Eid, ist sicher ein komplexes Thema – wie sich auch noch heute an der Debatte um Sterbehilfe zeigt. Man kann daher Pytell seine Sicht zugestehen – so wie dieser allerdings auch Frankl seine Haltung der Suizidverhinderung zugestehen sollte. Was sich nämlich bei Pytell wie Kollaboration liest, lässt sich ganz anders auch dadurch verstehen, dass Selbstmordprävention ein Schwerpunkt in Frankls Arbeit war – und zwar längst vor dem „3. Reich": Bereits Ende der zwanziger Jahre hatte Frankl kostenlose Jugendberatungsstellen organisiert, die erfolgreich die Zahl der Schülerselbstmorde verringerten. Später hatte Frankl im psychiatrischen Krankenhaus „Am Steinhof" mehrere Jahre lang den „Selbstmörderinnen-Pavillon" geleitet.
Weit unerfreulicher wird das Buch aber durch seine subtil entwertenden Formulierungen, die nichts mit einer vermeintlich sachlichen Kritik zu tun haben – allein schon durch Kapitelüberschriften wie: „Als Trittbrettfahrer unterwegs" oder: „Der Herr Doktor stolpert dahin".
Gänzlich geschmacklos wird das Werk, wo Pytell akribisch nachrechnet, dass Frankl nur drei bis vier Tage in Ausschwitz gewesen sein könne (was Frankl zudem selbst in einem Zeitungsinterview gesagt sagt). Diese seitenlangen Berechnungen kulminieren in der Aussage, dass Frankls „Konfrontation mit dem Grauen der Konzentrationslager etwa sechs Monate dauerte" (S. →). Diese Aussage gelingt Pytell freilich nur durch eine begrifflich-kategorielle Trennung der „Konzentrationslager" Auschwitz und Dachau von dem „Lager" Theresienstadt, wo Frankl zuvor zwei Jahre interniert war. Hier starb sein Vater, bevor Frankl mit seiner Mutter und seiner Frau nach Auschwitz kam (wo seine Mutter gleich vergast wurde, während seine Frau erst später in Bergen-Belsen umkam).
Obwohl Pytell selbst einige Seiten zuvor eingesteht, dass das vermeintliche „Musterlager" Theresienstadt „ein in der Hölle ersonnener Witz" war, ist es ihm offenbar wichtig, dieses Lager nicht als „Konzentrationslager" zu werten, um Frankls Erfahrungen damit infrage zu stellen. In der Tat hatte Theresienstadt selbst keine Gaskammern. Aber offizielle Quellen belegen, dass von den 140.000 Juden zwischen November 1941 und Mai 1945 in Theresienstadt 33.000 „starben" und 90.000 weiter deportiert wurden, die meisten zur Vernichtung in Lagern mit Gaskammern. Angesichts dieser Fakten erscheint mir ein Buch mit solch akribischer „Richtigstellung" und subtilen Entwertungen fehl am Platz.
Dass Pytells „Berechnungen" und „Richtigstellungen" begeistert von Leuten aufgegriffen werden, die den Holocaust ganz leugnen (wie ein Blick ins Internet zeigt), mag er (hoffentlich) nicht gewollt haben. Aber auch darüber ist in psychologie heute nichts zu lesen. Sollten wir bei unseren „Fall"-Geschichten nicht etwas vorsichtiger und sorgsamer sein?
Kürzlich hatte Ich Gelegenheit den gerade angelaufenen Film „Good Night and Good Luck" zu sehen: Unter der Regie von George Clooney wird anhand der authentischen Geschichte des Fernsehmoderators Edward W. Murrow die McCarthy-Ära in beklemmender Weise dem Filmpublikum nahe gebracht.
Vor 50 Jahren hatte sich in den USA ein Klima der Angst ausgebreitet. Senator McCarthy, Vorsitzender des Government Operations Committee, führte einen gnadenlosen Feldzug gegen die Kommunisten im Lande. Zunehmend wurden dabei Menschen allein auf Verdächtigungen hin aus ihren Jobs entfernt und zahlreiche Existenzen zerstört. „Wo so ein Verdacht anfängt", so die Inhaltsbeschreibung des Films, „bestimmt McCarthy, ... mit bösartigen theatralischen Anhörungen macht er die Angeklagten fertig, und mit ätzenden verbalen Attacken versucht der Junior-Senator zu verschleiern, dass es eigentlich überhaupt keine Beweise gibt. Und keiner wagt ihm Einhalt zu gebieten, weil jeder Angst hat, sonst auch als Kommunist verdächtigt zu werden".
Heute ist der Kommunismus-Verdacht zumindest hierzulande recht bedeutungslos. Gleichwohl drängten sich mir Ähnlichkeiten zu aktuellen Vorgängen auf: Denn wer es wagt, kritische Reflexionen über die derzeitigen Mainstream-Vorstellungen von „Wissen