Hüte den Morgen - Brigid Kemmerer - E-Book

Hüte den Morgen E-Book

Brigid Kemmerer

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Beschreibung

Tessa hat es geschafft: Sie ist von der verfolgten Rebellin zur königlichen Beraterin aufgestiegen. Prinz Corrick sucht verzweifelt nach einem Weg, den Adel und das Volk zu versöhnen, doch die Kluft zwischen den Menschen wird immer größer. Vor allem, weil die Seuche noch immer in Kandala wütet und die Vorräte an Mondflor-Elixier langsam zur Neige gehen. Dann taucht eines Tages ein geheimnisvoller Bote am Königshof auf und unterbreitet Tessa und Corrick ein verlockendes Angebot. Gemeinsam begeben sie sich auf eine gefährliche Reise, um Kandala zu retten und tappen geradewegs in eine Falle. Schon bald können sie niemandem mehr trauen – auch einander nicht ...

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Seitenzahl: 598

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Das Buch

Mit Tessas Hilfe sucht Prinz Corrick verzweifelt nach einem Weg, den Adel und das Volk zu versöhnen. Doch noch immer wütet die Seuche in Kandala und die Vorräte an Mondflorelixier gehen langsam zur Neige. Die Kluft zwischen den Menschen wird immer größer, und Corrick erkennt, dass er eine neue Mondflorquelle finden muss, wenn er sein Volk retten will.

Dann taucht eines Tages der geheimnisvolle Kapitän Blakmer mit einem verlockenden Angebot am Hof auf: Das Königreich Ostria versorgt Kandala mit Mondflor, wenn es im Gegenzug dringend benötigten Stahl erhält. Tessa und Corrick treten die gefährliche Seereise an, doch Blakmer alles andere als vertrauenswürdig …

Währenddessen muss sich Tessa über ihre Gefühle klar werden. Sie vermisst Wes, den Gesetzlosen, in den sie sich verliebt hat, gleichzeitig kann sie der Anziehungskraft zwischen ihr und Corrick nicht widerstehen. Doch kann sie dem Prinzen wirklich vertrauen?

»Ein umwerfendes Fantasy-Abenteuer voller mutiger Rebellen, höfischer Intrigen und romantischer Liebe!«   JENNIFER L. ARMENTROUT

Die Autorin

Brigid Kemmerer wurde 1978 geboren und arbeitete im Finanzwesen, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Mit ihren düsteren, magischen Romanen eroberte sie sich eine riesige Fangemeinde und wird von Millionen von Leser*innen auf TikTok gefeiert. Ihr großes Fantasy-Abenteuer Trotze der Nacht stieg auf Platz 3 der New York Times-Bestsellerliste ein. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Baltimore.

BRIGID KEMMERER

HÜTE DEN MORGEN

ROMAN

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Vanessa Lamatsch

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe DEFENDTHEDAWN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Redaktion: Babette Mock

Copyright © 2022 by Brigid Kemmerer

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DASILLUSTRAT, München,

unter Verwendung des Originalentwurfs von Jeanette Levy

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31070-7V001

www.heyne.de

Für Jonathan und Kara

PERSONEN

DIE POLITISCHE FÜHRUNG VON KANDALA

NAME – AMT – SEKTOR

König Harristan – König – Königlich

Prinz Corrick – Königlicher Vollstrecker – Königlich

Barnard Montague – Konsul – Händlershalt*

(verstorben)

Allisander Sallister – Konsul – Mondscheinebene

Leander Zunft – Konsul – Stahlstadt

Jonas Buching – Konsul – Artis

Lissa Marpetta – Konsulin – Glutkamm

Roydan Pelham – Konsul – Die Trauerlande

Arella Kirsch – Konsulin – Sonnenfeste

Jasper Gold – Konsul – Moosquelle

*  manchmal auch »Hinterhalt« genannt, nachdem der frühere König und seine Königin von Konsul Montague ermordet wurden. Dadurch kamen Harristan und sein jüngerer Bruder Corrick an die Macht.

DIE REBELLEN

Tessa – Pharmazeutin*

Karri – Pharmazeutin

Lochlan – Metallarbeiter

DIE MANNSCHAFT DER TAGJÄGER

NAME – AUFGABE

Rian Blakmer – Kapitän

Gwyn Tagas – Erste Offizierin

Sablo – Zweiter Offizier

Marchon – Steuermann und Zeugmeister

Dabriel – Koch

*  arbeitet jetzt in Diensten des Königs

DAS HEILMITTEL

Das einzig bekannte Heilmittel für das Fieber ist ein Elixier aus getrockneten Blütenblättern des Mondflors, einer Pflanze, die nur in zwei Sektoren heimisch ist: in der Mondscheinebene und in Glutkamm. Mondflorblütenblätter werden streng rationiert an die Sektoren verteilt, und die zur Verfügung stehende Menge ist begrenzt.

Konsul Sallister hat versprochen, der Bevölkerung von Kandala genug Mondflorblüten für acht Wochen zu liefern.

Viele Bürger fürchten, dass das nicht reichen wird.

1  DERGESETZLOSE

Als ich noch ein Junge war, roch der Sommer in der Wildnis immer nach Abenteuer. Die Luft war erfüllt vom Geruch frischer Kiefernzweige und der drückenden Süße von Heckenkirschblüten. Irgendwo brannte immer ein Lagerfeuer, und irgendwer reichte immer einen Krug saures Bier herum. Die Luft war erfüllt von heiteren Gesprächen oder derben Trinkliedern oder den Flüchen von Männern, die bei einer Wette ihre letzten Münzen verloren hatten.

Jetzt hängt im Sommer der vage Geruch von verrottenden Leichen in der Luft. Bei den meisten Feuern handelt es sich um Scheiterhaufen für die Toten. Es wird nur noch selten gesungen.

Getrunken wird immer noch. Vielleicht sogar mehr als früher.

Es wurden zusätzliche Mondflorblüten versprochen, aber die Lieferung läuft nur langsam an. Niemand hier vertraut irgendwem im Palast. Nur wenige trauen den Konsuln. Selbst die Rebellen, die angeblich eine bessere Versorgung mit Medizin ausgehandelt haben, werden inzwischen misstrauisch beäugt.

Die Gerüchte – und davon gibt es unzählige – sind haarsträubend.

Wenn ich hier in der Wildnis bin, halte ich den Kopf gesenkt und tue, was möglich ist.

Die gewundenen Pfade durch den Wald sind um diese Nachtzeit verlassen, aber ich klammere mich an die Dunkelheit wie ein Geist. Ich will auf keinen Fall der Nachtwache begegnen. Der Beutel an meinem Gürtel ist schwer von meinen eigenen Kupfermünzen, aber ich trage eine rote Maske vor dem Gesicht und den Hut tief in die Stirn gezogen. Wenn ich zu dieser Stunde in dieser Aufmachung erwischt werde, werde ich verhaftet. Noch schlimmer, ich werde ins Verlies gesperrt, um auf mein Verhör zu warten. Das wäre das Letzte, was ich brauchen kann.

Ich verlasse den Weg und ziehe ein paar Münzen aus dem Beutel. Das erste Haus ist kleiner als die meisten, besteht wahrscheinlich nur aus einem Raum, aber hinten gibt es einen Hühner- und einen Kaninchenstall. Ich habe nie gesehen, wer hier lebt, aber die Tiere wirken gut versorgt. Ich habe vor, ein paar Kupfermünzen auf einem Getreidefass zurückzulassen, aber dann entdecke ich ein kleines Bündel, das in Stoff eingeschlagen ist. Und im Staub daneben erwartet mich eine falsch geschriebene Botschaft.

Dancke dier

Ich schlage den Stoff zur Seite und entdecke zwei weiche Gebäckstücke, die nach Käse und Knoblauch riechen.

Es ist nicht das erste Geschenk, das ich finde, aber jedes Mal, wenn ich eines entdecke, verkrampft sich mein Magen. Ich tue das nicht, um etwas dafür zu erhalten.

Ich wickele das Gebäck wieder in den Stoff und schiebe das Bündel in meinen Rucksack, lege ein paar Münzen auf das Fass und ziehe weiter.

Im nächsten Haus gibt es mehrere Kinder, unter anderem ein Neugeborenes. Manchmal höre ich es mitten in der Nacht schreien, daher schleiche ich vorsichtig voran, um nicht bemerkt zu werden. Ich schiebe Münzen in die Taschen der Kleidung, die noch auf der Leine hängt. Am nächsten Haus hinterlasse ich Münzen auf der Türschwelle. Beim nächsten auf dem Fensterbrett.

Am fünften Haus lege ich die Münzen gerade neben eine Axt, die noch in einem Baumstumpf steckt, als eine Gestalt aus den Schatten hervorkommt.

»Aha!«, flüstert eine Stimme. »Jetzt habe ich dich erwischt.«

Ich zucke so heftig zusammen, dass die Münzen ins Gras fallen, dann packe ich den Griff der Axt und drehe mich herum.

Ich weiß nicht, was ich tun soll, wenn es die Nachtwache ist. Eine Axt kann gegen eine Armbrust nicht viel ausrichten. Die Männer sollen eigentlich beim ersten Kontakt nicht schießen, aber ich habe genug Geschichten von Rebellen und Gesetzlosen gehört, um zu wissen, dass ihre angeblichen Befehle nicht immer mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Trotzdem halte ich meine Position, die Axt bereit.

Die Gestalt weicht mit erhobenen Händen zurück. »Oha!«

Es ist nicht die Nachtwache. Es ist ein Mädchen. Eine junge Frau. Sie ist groß, fast so groß wie ich, was mich vermuten lässt, dass sie schon älter ist, aber ihr Gesicht zeigt noch die weichen Konturen der Kindheit, und ihre Gliedmaßen sind lang und schlank. Sie trägt ein fahles Nachthemd ohne Ärmel, lang genug, dass der Saum über das Gras schleift. Ihr blondes Haar ist zu einem unordentlichen Zopf gebunden, der ihr bis auf die Hüfte hängt.

»Ich will keinen Ärger«, sage ich zu ihr.

»Du hast eine Axt.« Sie spricht leise, klingt aber nicht verängstigt. »Ich werde dir keinen Ärger machen.«

Ich lockere den Halt am Griff und lasse die Axt sinken. »Dann geh dahin zurück, wo du hergekommen bist, und ich ziehe weiter.«

Jetzt, wo ich keine Waffe mehr habe, nimmt sie die Hände runter, wendet sich aber nicht ab. Sie mustert mich aus zusammengekniffenen Augen, dann huscht ihr Blick über die Dunkelheit in meinem Rücken. »Du bist allein.«

»Das bin ich.«

»Als plötzlich diese Münzen aufgetaucht sind, dachte mein Cousin, Weston und Tessa würden wieder ihre Runden drehen. Du bist nicht Wes, oder?«

»Nein.« Ich suche mit meinem Blick die Dunkelheit ab, weil ich mich frage, ob sich noch jemand zwischen den Bäumen verborgen hält. Mein Herzschlag hat sich nicht beruhigt, seitdem das Mädchen aus dem Nichts erschienen ist.

»Nun«, meint sie, immer noch leise, »laut den Gerüchten war Weston Lark sowieso in Wirklichkeit der Bruder des Königs. Prinz Corrick.«

»Diese Geschichten habe ich gehört.«

»Einer der Rebellen hat ihn erwischt«, fährt sie fort. »In Artis, glaube ich. Er war gekleidet wie ein Gesetzloser. Mit Maske und allem. Die Armee des Königs musste ihn retten.«

Überall kursieren Gerüchte darüber. Ich schaue zum Himmel. Noch ist keine Helligkeit am Horizont zu erkennen, aber es wird nicht mehr lange dauern. Bald bricht der Morgen an, und ich muss zurückkehren. Ich zögere nachdenklich, dann schlage ich die Axt wieder in den Stumpf. Das Geräusch hallt durch die Nacht, und ich verziehe das Gesicht. Die Augen des Mädchens blitzen auf, und sie schnappt nach Luft, aber ich lasse nur ein paar weitere Münzen auf den Baumstumpf fallen und wende mich ab.

Meine Schultern sind angespannt. Ich rechne halb damit, dass sie Alarm gibt – aber ich vergesse, dass die Leute in der Wildnis gewöhnlich auf sich selbst aufpassen. Stattdessen läuft sie durchs Gras, um sich neben mir einzureihen.

»Wenn du nicht Weston Lark bist«, meint sie, »wie heißt du dann?«

»Spielt keine Rolle.«

»Deine Maske ist rot«, plappert sie weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Ich habe sie für vierzehn oder fünfzehn gehalten, aber inzwischen glaube ich, dass sie jünger ist. »Mit dieser roten Maske siehst du aus wie Reineke Fuchs. Ich habe gehört, dass Westons Maske schwarz war.«

»Geh nach Hause.«

Sie hört nicht auf mich. »Manche Leute denken, dein Geld wäre eine Falle«, sagt sie, während sie neben mir hergeht. »Mein Onkel nennt dich …«

»Eine Falle?« Ich drehe mich herum, um sie zu mustern. »Wie sollen Münzen, die mitten in der Nacht heimlich abgelegt werden, eine Falle sein?«

»Nun, laut den Gerüchten hat Prinz Corrick nur vorgegeben, Weston Lark zu sein, damit die Leute sich als Schmuggler zu erkennen geben.« Ihre Augen sind groß und arglos. »Damit er sie hinrichten lassen kann.«

Ich schnaube und gehe weiter. »Das klingt nach ziemlich viel Mühe für einen Mann, der jeden beliebigen Menschen hinrichten lassen kann.«

»Also glaubst du nicht, dass es stimmt?«

»Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass der Bruder des Königs sich heimlich als Gesetzloser verkleidet hat, um Schmuggler gefangen zu nehmen.«

»Nun, man nennt ihn aus gutem Grund den grausamen Corrick. Oder glaubst du, in Wirklichkeit ist der König der barbarisch … – Aua!« Sie stolpert, zieht abrupt einen Fuß nach oben und umklammert meinen Arm, um sich aufrecht zu halten.

Sie ist so laut, dass ich nicht übel Lust verspüre, mich aus ihrem Griff zu befreien und sie zurückzulassen. Aber ich bin nicht herzlos, also senke ich mit einem Seufzen den Blick.

Sie ist barfuß und hält einen Fuß nach oben gezogen. Eine Blutspur glänzt auf der fahlen Haut ihrer Ferse, schwarz im Mondlicht.

»Ist es schlimm?«, fragt sie, ein leises Zittern in der Stimme.

»Kann ich noch nicht sagen. Setz dich.«

Sie setzt sich, legt den Knöchel über das andere Knie. Blut tropft ins Gras. Etwas glänzt in der Wunde, entweder ein scharfer Stein oder ein Stück Metall.

Sie verzieht das Gesicht. »Ma wird mich umbringen.«

»Du warst so laut, dass die Nachtwache ihr vielleicht zuvorkommen wird.« Ich lasse meinen Rucksack ins Gras fallen, dann gehe ich in die Hocke, um ihre Wunde zu mustern. »Du hättest einfach nach Hause gehen sollen.«

»Ich wollte wissen, wer du bist. Mein Cousin wird mir nicht glauben, dass ich dich erwischt habe.«

»Du hast mich nicht erwischt. Halt still.« Ich ziehe das Gebäck aus der Tasche und löse den Stoff darum, um ihr das Essen zu reichen. »Hier.«

Stirnrunzelnd nimmt sie das Essen entgegen. Ich strecke die Hand aus, um den Fremdkörper aus ihrem Fuß zu entfernen, dann überlege ich es mir noch mal anders. Ich werfe ihr einen strengen Blick zu. »Das könnte wehtun. Du musst still sein.«

Sie beißt die Zähne zusammen und nickt heftig.

Mit den Fingerspitzen packe ich den Gegenstand und ziehe ihn heraus. Sie kreischt und hätte mir fast den Knöchel entrissen, aber ich halte sie fest und werfe ihr einen warnenden Blick zu. Sie schnappt nach Luft und erstarrt.

Die Wunde blutet jetzt heftiger, aber ich drücke den Stoff gegen die verletzte Stelle und wickele ihn um ihren Fuß, reiße das Ende in Streifen, um diese zu verknoten.

Sie blinzelt gegen Tränen an, aber sie weint nicht. »Was war es? Ein Stein?«

Ich schüttele den Kopf. »Eine Pfeilspitze.«

»Von der Nachtwache?«

Ich zucke mit den Achseln. »Wahrscheinlich von jemandem, der Schuhe trägt.«

»Sollte das ein Witz sein?«

»Du wirst die Wunde ausspülen müssen, wenn du nach Hause kommst«, sage ich. Ich richte mich auf und werfe mir den Rucksack über die Schulter. Ich werde eine neue Route finden müssen. Ich kann es nicht brauchen, dass Leute in der Dunkelheit auf mich warten – nicht mal, wenn es sich um ein Mädchen handelt, das fast noch ein Kind ist. »Pass auf dich auf«, sage ich. »Ich muss jetzt gehen.«

Sie kämpft sich auf die Beine, schont humpelnd den verletzten Fuß. »Aber ich kenne deinen Namen noch nicht!«

»Nenn mich, wie auch immer du willst«, sage ich. »Ich werde nicht noch mal hier entlangkommen.«

»Nein!«, ruft sie. »Warte. Bitte. Das ist meine Schuld – du …« Ihre Stimme bricht, als wolle sie gleich weinen. »Du weißt nicht, wie dringend wir alle …«

Ich drehe mich zu ihr herum und presse ihr die Hand auf den Mund. »Willst du die Nachtwache alarmieren?«

Sie schüttelt eilig den Kopf. »Aber dein Essen«, murmelt sie hinter meiner Handfläche und streckt mir die Brötchen entgegen.

Du weißt nicht, wie dringend wir alle …

Ich weiß, wie dringend sie alle das Geld brauchen. Früher haben sich die Gesetzlosen Wes und Tessa um eine Menge dieser Leute gekümmert. Ich habe so viele Geschichten gehört, dass mir der Kopf schwirrt. Ich kann das Verschwinden der beiden nicht mit ein paar Münzen hier und dort ausgleichen. Ich bin mir nicht mal sicher, warum ich es weiterhin versuche.

»Behalte das Essen.« Ich lasse die Hand sinken, dann ziehe ich weitere Münzen aus meinem Beutel. »Und halte den Mund.« Ich strecke ihr das Geld entgegen.

Sie mustert die Münzen auf meiner Handfläche, dann greift sie mit einem Nicken zu.

Im Königlichen Sektor beginnt eine Alarmglocke zu schrillen. Sie zuckt zusammen. Ich seufze nur. »Geh nach Hause.«

»Du wirst zurückkommen?«

Ich bedenke sie mit einem strengen Blick. »Solange das nächste Mal niemand in der Dunkelheit wartet.«

Sie strahlt übers ganze Gesicht. »Ich verspreche es.«

»Wie heißt du eigentlich?«

»Viola.«

»Kümmere dich um deinen Fuß, Viola.«

Sie nickt. »Danke dir, Reineke.«

Das bringt mich zum Lächeln. Ich tippe mir an die Hutkrempe, dann sprinte ich in die Dunkelheit.

2  TESSA

An diesem Tisch sitzen fünf Männer, und die meisten von ihnen wollen sich gegenseitig umbringen. Das macht Verhandlungen schwierig.

Es ist auch noch eine andere junge Frau anwesend, aber ich glaube nicht, dass eine von uns mörderische Gedanken hegt. Karri wirkt vollkommen überwältigt von der Tatsache, dass sie sich innerhalb des Palastes aufhält. Ihre braunen Augen sind weit aufgerissen, und sie fummelt mit ihren schlanken Fingern nervös an ihrem Rock herum. Vor einem Monat hätten wir uns flüsternd über die Situation ausgetauscht, hätten uns unsere Sorgen anvertraut und versucht, uns gegenseitig dabei zu helfen, mit allem umzugehen, was geschehen ist. Aber jetzt ist sie in einen der Anführer der Rebellion verliebt, während ich an der Seite des Bruders des Königs stehe. Das hat eine Mauer zwischen uns errichtet, die mir im Herzen schmerzt – aber ich weiß nicht, wie ich diese Barriere einreißen soll. Im Moment wirkt sie fester als die Mauer um den Königlichen Sektor.

Quint will wahrscheinlich auch niemanden töten. Der Palastmeister sitzt am gegenüberliegenden Ende des Tisches. Vordergründig ist er anwesend, um alle Gespräche schriftlich zu dokumentieren. Sein Jackett ist nur halb zugeknöpft, und eine rote Haarsträhne fällt ihm in die Stirn. Er schreibt mit einem Füller in ein großes, ledergebundenes Buch.

Lochlan, der Anführer der Rebellen, sitzt links von mir. Alle paar Sekunden schaut er böse zu Quint. Wenn es nach ihm ginge, würde er wahrscheinlich jeden hier töten. Er hat es bereits einmal versucht.

»Was schreibt er?«, fragt Lochlan. »Was tut Ihr da?«

Quint beendet die Zeile, dann sieht er auf. »Ich bin hier, um Eure Forderungen zu dokumentieren«, erklärt er in gelassenem Ton. »Und die Antworten darauf.«

»Ich habe noch keine Forderungen gestellt«, knurrt Lochlan.

Quint lässt sich nicht leicht einschüchtern. Ich habe ihn die Haltung bewahren sehen, während der Königliche Sektor wortwörtlich in Gefahr war, bis auf die Grundmauern niederzubrennen, also reagiert er jetzt wenig auf die unterschwellige Aggression. Außerdem ist er einer der aufmerksamsten Männer, die ich je kennengelernt habe, und besitzt ein fast absurdes Talent dafür, den Leuten selbst in den angespanntesten Situationen die Befangenheit zu nehmen.

Quint legt seinen Stift zur Seite und dreht das Buch, sodass die Seiten leichter zu erkennen sind. »Gerade eben habe ich die Namen der Anwesenden notiert«, erklärt er sachlich, ohne jede Herablassung, »zusammen mit dem Datum und dem Ort unseres Treffens. Ich kann gerne eine Kopie für Euch anfertigen lassen, wenn Ihr das möchtet.«

Lochlan wirft einen Blick auf das Papier, dann sieht er wieder Quint an. Sein Kiefer wirkt verspannt.

»Er macht doch nur Notizen«, sagt Karri leise, mit einem entschuldigenden Blick zu mir. Sie legt eine Hand auf Lochlans Unterarm, doch er entspannt sich nicht.

Gegenüber von Karri sitzt Allisander Sallister, der Konsul der Mondscheinebene. Er sollte im Gefängnis schmoren – oder wahrscheinlich am Ende eines Henkerseils baumeln –, doch es ist ihm gelungen, sein Todesurteil abzuwenden, indem er behauptet hat, niemand anderes könnte die Ernte und die Verteilung der Mondflorblüten mit der nötigen Effizienz organisieren, um die Rebellen zufriedenzustellen. Das Schlimmste ist, dass er damit wahrscheinlich recht hat. Acht Wochen sind nicht viel Zeit, um das Heilmittel zu verteilen. Es hat allein schon zwei Wochen gedauert, alle in diesem Raum zu versammeln.

Allisanders Miene zeigt eine Mischung aus Langeweile und Arroganz. Seufzend zieht er eine goldene Taschenuhr hervor, um aufs Zifferblatt zu schauen.

»Habt Ihr andere Verpflichtungen, Konsul?«, fragt Corrick, der an einem Ende des Tisches sitzt, direkt rechts neben mir. Seine Stimme ist kalt, seine blauen Augen eisig. Das ist der Prinz Corrick, den ich einst gefürchtet habe. Der Prinz, den viele Leute in Kandala immer noch fürchten.

Wenn es ihm möglich wäre, würde er Konsul Sallister an Ort und Stelle in Flammen aufgehen lassen.

Der Konsul sieht auf. »Es gibt unzählige Orte, an denen ich mich lieber aufhalten würde. Ihr hättet meine Anwesenheit doch sicherlich erst fordern können, nachdem diese ignoranten Personen über die üblichen Abläufe einer solchen Sitzung informiert wurden.«

Lochlans Stuhl kratzt über den Boden, weil er Anstalten macht, sich zu erheben. »Wollt Ihr mich beleidigen, Ihr verwöhnter …«

»Das müsst Ihr noch fragen?« Konsul Sallister streicht sich über den Ziegenbart. »Wahrscheinlich sollte mich das nicht überraschen.«

»Genug«, sagt König Harristan. Ich kann nicht genau sagen, ob er mit Konsul Sallister, Lochlan oder den Wachen spricht, die sich vom Türrahmen gelöst haben, um eventuelle Probleme abzuwenden. Aber der König redet leise, seine Stimme erfüllt von sanfter Kühle. Ein ruhiger Befehl, gesprochen von einem Mann, der an sofortigen Gehorsam gewöhnt ist. Seine Augen, die von einem dunkleren Blau sind als die seines Bruders, wandern zu mir. »Tessa, du solltest anfangen.«

»In Ordnung«, sage ich. »Natürlich.« Ich streiche meinen Rock glatt, um mich zu beruhigen, aber die glatte Seide hilft nicht gegen meine Nervosität. Wahrscheinlich hinterlasse ich gerade feuchte Flecken auf dem Stoff.

Ich wünschte, ich wäre wieder im Hospital, um dort zusammen mit den Palastärzten Dosierungen zu berechnen. Bleigewichte und Waagen und Phiolen kümmern sich nicht um Diplomatie.

Doch wenn ich wirklich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, wieder in der Wildnis zu sein und dort mit Wes durch die Dunkelheit zu schleichen. Schlösser knacken und Medizin stehlen mag gefährlich gewesen sein – und illegal –, aber ich hatte immer das Gefühl, etwas zu erreichen.

Hier im Palast, gefangen in dem Versuch, alle zur Kooperation zu bewegen, fühle ich mich, als würde ich nur Chaos anrichten. König Harristan und Prinz Corrick wurden so lange als herzlos und grausam angesehen, dass es schwerfallen dürfte, an diesem Tisch eine Einigung zu erzielen.

Allisander senkt den Blick mit einem Seufzen wieder auf seine Taschenuhr. Harristan räuspert sich.

Corrick sieht mich nicht an, aber er greift nach seinem Stift und kritzelt etwas in seine eigene Dokumentenmappe, bevor er den Stift beiläufig zur Seite legt. Die Bewegung lenkt meinen Blick auf die geschriebenen Worte.

Immer mit der Ruhe.

Fast wäre ich errötet. Das hat er immer zu mir gesagt, als wir noch Gesetzlose waren: wenn wir in Gefahr waren oder ich das allgegenwärtige Leid der Krankheit kaum noch ertragen konnte. Es hat immer geholfen.

Und es hilft auch jetzt.

Ich nicke leicht, dann sehe ich mich am Tisch um. »Konsul Sallister hat Medizin für acht Wochen versprochen, aber darüber hinaus …«

»Es hätten zwei sein sollen«, sagt der Konsul.

»Es waren acht«, antwortet Harristan.

»Es hätten zwei sein sollen. Ich habe Corrick erklärt, dass acht Wochen unmöglich sind, als er diese lächerliche Garantie abgegeben hat. Bevor das alles geschehen ist, hatte ich bereits angemerkt, dass die Frühjahrsregen für Lieferschwierigkeiten …«

»Ihr habt gesagt, es könnte Lieferschwierigkeiten geben«, wirft Corrick ein.

»Und die gibt es«, gibt Allisander zurück. »Wenn ihr die Medizin für diese acht Wochen nicht bezahlt, habe ich die garantierten Einnahmen nicht, um meine Arbeiter zu entlohnen, also könnt ihr es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie die Felder verlassen.«

»Also wird es … nicht für acht Wochen Medizin geben?«, fragt Karri.

»Die Medizin wird geliefert«, sagt der König voller Überzeugung. »Konsul Sallister hat, wie bezeugt und niedergeschrieben, ein Versprechen abgegeben. Wenn Ihr aufgehört habt, Eure Arbeiter zu bezahlen, Konsul, dann könnt Ihr selbst auf den Feldern arbeiten. Tessa, fahre fort.«

Ich atme tief durch. »Ich habe meine Erkenntnisse den Palastheilern zur Verfügung gestellt, und wir glauben, dass eine Kombination aus Mondflorblüten und Rosensamenöl ein länger wirkendes Elixier erzeugt, das eventuell eine bessere Wirkung bei kleinerer Dosis hat.«

»Oder es könnten mehr Leute sterben«, sagt Konsul Sallister. Er klingt, als würde ihn das nicht stören.

»Vielleicht könntet Ihr im Verlies warten«, sagt Corrick mit kalter Stimme. »Ich bin sicher, Quint wird auch Euch gerne eine Kopie des Sitzungsprotokolls zukommen lassen.«

»Tessa«, sagt Harristan ruhig, als hätte niemand ein Wort gesprochen. »Fahre fort.«

»Wenn wir die Dosierung auf diese Weise anpassen, könnten wir die Medizin für acht Wochen auf zwölf Wochen strecken …«

»Hat er recht?«, fragt Lochlan. »Würden mehr Leute sterben?«

»Ich glaube nicht«, antworte ich ehrlich. »Als ich die Medizin in der Wildnis verteilt habe, haben wir eine ähnliche Dosierung verwendet und es hat gewirkt.«

Lochlan mustert mich durchdringend. »Behauptest du.«

Ich halte seinem Blick stand. »Du hast es selbst gesehen! Du weißt, dass die Leute uns vertraut haben!«

»Die Leute haben dir vertraut.« Er richtet seinen harten Blick auf Corrick. »Niemand vertraut dem Königlichen Vollstrecker, wenn er keine Maske trägt.«

Ich rechne damit, dass Corrick zurückblafft, wie er es bei Allisander getan hat, aber er hält nur Lochlans Blick. »Mein Ziel ist es, diesen Umstand zu ändern.« Er hält inne. »In diesem Punkt müsst Ihr mir nicht vertrauen. Ich behaupte nicht, Pharmazeut zu sein. Tessa hat recht. Ich habe die Wirkung des Heilmittels gesehen.«

Lochlan bewegt sich nicht. Es ist klar, dass er niemandem mehr vertraut.

Quints Füller kratzt weiter über das Papier, laut in der Stille. Ich frage mich, ob er nur niederschreibt, was gesagt wird, oder ob er weitere Notizen macht. Quint bemerkt alles. Ich könnte mir vorstellen, dass er jeden Blick, jede nervöse Bewegung festhält.

»Ich vertraue Tessa«, sagt Karri leise.

Lochlan sieht sie an. Für diesen kurzen Moment wird sein Blick sanft. Seit er den Mob, der Corrick beinahe getötet hätte, aufgehetzt und später eine Rebellion in den Königlichen Sektor getragen hat, fällt es mir schwer, irgendetwas an ihm sympathisch zu finden. Aber jedes Mal, wenn er Karri so ansieht, wird mir warm ums Herz. Diese Blicke erinnern mich daran, dass sie ihm wirklich etwas bedeutet. Und nicht nur sie. Die gesamte Bevölkerung.

Und dasselbe gilt für mich.

»Also erkauft uns das mehr Zeit«, sagt Lochlan schließlich. »Und dann? Was geschieht in zwölf Wochen?«

»Wenn wir beweisen können, dass die niedrigere Dosierung in der Wildnis funktioniert«, sage ich, »dann können wir die Leute in den Sektoren ermuntern, ebenfalls niedrigere Dosierungen einzunehmen. Damit würde weniger Medizin für mehr Menschen reichen.«

»Also wollt ihr euer Heilmittel an Leuten testen, die zu arm sind, um sich dagegen zu wehren«, meint Lochlan.

»Nein! Ich würde es nicht so beschreiben …«

»Ja«, sagt Allisander.

»Wir testen es auch an ihm«, sagt Corrick. »Er weiß es nur noch nicht.«

Der Konsul schnappt nach Luft, und seine Miene verfinstert sich.

»Was?«, meint Corrick. »Dachtet Ihr wirklich, wir überlisten die Bevölkerung, während alle im Palast die volle Dosis erhalten?«

»Das ist absurd!«, stößt Konsul Sallister hervor. »Ihr … Ihr nehmt Eure volle Lieferung ab und dann …«

»Sorgen wir dafür, dass der Vorrat länger hält«, sagt König Harristan.

Karri lächelt, dann sieht sie Lochlan an. »Siehst du?«, fragt sie in erleichtertem Ton. »Ich vertraue Tessa.«

Ich erwidere ihr Lächeln voller Dankbarkeit.

Lochlan allerdings lächelt nicht. »Ich vertraue keinem von denen.« Er hält inne. »Ich kann damit nicht zu den anderen zurückkehren. Sie werden dieser Sache auch nicht vertrauen. Gebt uns die volle Dosierung. Testet Eure neue Medizin hier.«

»Vertrauen muss gegenseitig sein«, meint Harristan.

»Ihr habt immer noch nicht gesagt, was nach Ablauf der zwölf Wochen geschieht.«

»Wir sind hoffnungsvoll, dass die Leute erkennen werden, dass eine niedrigere Dosierung uns erlaubt, mehr Menschen gesund zu halten und sie bereit sind …«

Lochlan schnaubt. »Verstehst du nicht?« Er bedenkt mich mit einem bösen Blick. »Die Hälfte der Leute in diesem Sektor horten seit Monaten Mondflorblüten. Und du hoffst, dass sie innerhalb von wenigen Wochen beginnen werden, weniger zu verwenden? Weil du sagst, dass es bei den Menschen in der Wildnis funktioniert?« Er richtet seinen bösen Blick auf Allisander. »Ihr wirkt nicht besonders hoffnungsvoll.«

»Mir ist eigentlich egal, was mit den Leuten in der Wildnis geschieht«, sagt Allisander. »Wenn Ihr mehr Medizin wollt, als ich erzwungenermaßen liefern muss, kauft sie.« Sein Blick wandert zum rechten Arm des Rebellenführers, immer noch geschient und verbunden, weil Corrick ihn ihm im Verlies gebrochen hat. »Ah. Ich vermute, Ihr könnt gerade nicht in der Schmiede arbeiten, oder? Also müsst Ihr betteln? Unter dem Vorwand, anderen zu helfen …«

Lochlan wirft sich quer über den Tisch.

Oder er versucht es. Zwei der Wachen packen ihn, bevor er Hand an den Konsul legen kann, aber trotzdem stürzen zwei Gläser um, sodass sich Wasser über den polierten Holztisch ergießt. Allisander zieht genervt eine Augenbraue hoch und schiebt seinen Stuhl zurück, macht aber sonst keine Anstalten, das Chaos zu beseitigen. Ein Diener mit einem Tuch in der Hand löst sich von der Wand.

Die Wachen zwingen Lochlan zurück in seinen Stuhl. Er flucht. Scheinbar haben sie seinen verletzten Arm berührt, weil er keucht und sich Schweiß auf seiner Stirn bildet.

»Unternimm etwas«, flüstere ich Corrick zu.

Seine blauen Augen suchen meinen Blick. »Soll ich sie beide hängen?«

»Corrick«, flüstere ich. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Scherz war.

»Sie sind beide im Unrecht«, bemerkt er spitz, laut genug, dass alle ihn hören können. »Wir werden niemals Fortschritte erzielen, wenn diese beiden sich ständig nur gegenseitig angreifen.«

»Schön«, stößt Lochlan hervor. »Lasst mich frei.«

Karri hat sich erhoben und sieht immer wieder zwischen Lochlan und mir hin und her. Die Wachen dagegen sehen zum König.

»Gebt ihn frei«, sagt Harristan, bevor er Allisander ansieht. »Ihr werdet schweigen, Konsul. Wenn Ihr nicht in gutem Glauben sprechen könnt, dann sprecht gar nicht.«

»Ich spreche in gutem Glauben, Eure Majestät.« Allisanders Stimme trieft förmlich vor Verachtung. »Ihr könnt mich aus den Sitzungen verbannen und meine Dosierungen verringern und so viele Regelungen treffen, wie Ihr möchtet, aber in diesem Punkt stimmen dieser Rohling und ich überein. Die Leute in den Sektoren werden keine Hypothese akzeptieren, die Ihr lediglich an denjenigen getestet habt, die nichts zu verlieren haben. Die Grund hätten zu lügen, wenn das zu besserer Versorgung führt. Es sind nicht nur die Rebellen, deren Vertrauen Ihr gewinnen müsst.«

Corrick und Harristan wechseln einen Blick. Quint schreibt ohne Unterbrechung.

»Die Leute würden nicht lügen«, sagt Karri in hitzigem Ton.

Allisander mustert sie herablassend. »Ihr wart bereit, den gesamten Sektor niederzubrennen. Ich bezweifele, dass solche Menschen vor Lügen zurückschrecken.«

So sehr ich Konsul Sallister hasse, er hat nicht ganz unrecht. Hier geht es nicht nur darum, die Rebellen dazu zu bringen, Harristan und Corrick und … na ja, mir … zu vertrauen. Alle müssen das tun.

Lochlan rückt seine Kleidung zurecht und lässt sich wieder auf den Stuhl fallen. »Niemand lügt. Wir sind ebenfalls in gutem Glauben gekommen, habt Ihr das schon vergessen?«

»Weil ihr knapp einer Hinrichtung entkommen seid?« Allisander rümpft die Nase.

»Genau wie Ihr«, blafft Lochlan.

»Es reicht«, sagt Harristan, und ich höre einen Anflug von Wut in seiner Stimme. Er atmet flach ein, dann räuspert er sich. Zweimal.

Ich bemerke sofort, wie Corrick seine gesamte Aufmerksamkeit auf seinen Bruder richtet. Der König versteckt diesen Husten schon seit Monaten. Zuerst dachte ich, es läge daran, dass er tatsächlich mehr Medizin braucht als alle anderen – wegen der Nachwirkungen seiner Krankheiten in der Kindheit. Allisander hat zugegeben, dass er dem Palast auch falsche Mondflorblüten geliefert hat, aber dieses Problem wurde vor Wochen geklärt. Der Husten sollte verschwunden sein.

Aber das ist er nicht.

Quints Schreibgeräusche verklingen. Er sieht auf, schätzt die Situation in einem Wimpernschlag ab und sagt: »Finn, ich glaube, alle könnten eine Erfrischung gebrauchen.«

Ein Lakai löst sich von der Wand, und das Husten des Königs geht im Geklapper von Geschirr und Besteck unter.

Corrick starrt seinen Bruder immer noch an. Ein Ausdruck der Sorge huscht über sein Gesicht, so schnell, dass ich ihn fast nicht bemerkt hätte.

Ich greife nach meinem eigenen Stift, strecke den Arm aus und kreise die Worte ein, die er vorhin geschrieben hat.

Immer mit der Ruhe.

Er sieht mich an und nickt leicht, doch die Sorge in seinem Blick bleibt. Ich wünschte, ich könnte die Hand über seine legen oder beruhigende Worte flüstern, aber solche Gesten wären hier nicht angemessen. Alles ist so unsicher. Ich will seine Position nicht schwächen.

Finn stellt eine Tasse Tee vor jede Person am Tisch, zusammen mit einem kleinen Teller mit einem kleinen Gebäckstück mit Schokoladenüberzug, einem Stück Apfel neben einer kleinen Schale Honig und einer dünn geschnittenen Erdbeere, die mit pinkem Zucker bestäubt ist.

Karri starrt den Teller mit großen Augen an. Ich weiß noch, wie ich ähnlich reagiert habe.

Lochlan starrt das Essen böse an.

Allisander wirkt gelangweilt.

Der König hat einen Schluck Tee getrunken und seinen Hustenreiz scheinbar auf diese Weise gestillt. Ich wünschte, er würde den Husten nicht verstecken. Ich bin mir sicher, dass er nicht als schwach wahrgenommen werden will, aber ich vermute, es gäbe genau den gegenteiligen Effekt: Die Leute würden ihn mehr schätzen, wenn er genauso verletzlich ist wie sie.

Andererseits weiß ich auch, warum er das nicht möchte. Harristans und Corricks Eltern wurden vor ihren Augen ermordet, also verstehe ich ihre Sorge.

Auch meine Eltern sind direkt vor mir gestorben.

Karri wirkt, als fürchte sie sich davor, das Essen zu berühren, also schenke ich ihr ein Lächeln, greife nach meinem Apfelschnitz und tauche ihn in den Honig. »Die Äpfel schmecken am besten«, sage ich zu ihr.

Sie erwidert mein Lächeln und greift nach ihrer Frucht.

Lochlan zögert, aber vielleicht sieht das dekadente Essen einfach zu verlockend aus, weil er unserem Beispiel folgt. Das ist kein Zugeständnis, aber es fühlt sich so an.

Draußen hallen Stimmen durch den Flur, aber die Türen sind geschlossen, daher verstehen wir nicht, was gesagt wird. Trotzdem ist es ungewöhnlich, dass jemand in der Nähe des Königs mit erhobener Stimme spricht. Abgesehen von den Wachen im Raum steht noch mal ein halbes Dutzend Männer vor der Tür. Vielleicht sogar mehr.

Harristan sieht zu Corrick, der seinen Blick erst auf einen der Wachmänner richtet und dann auf Quint: eine bizarre, stumme Konversation, in der scheinbar innerhalb von wenigen Herzschlägen unzählige Informationen übermittelt werden.

Quint legt den Stift zur Seite und erhebt sich vom Tisch. »Ich werde gleich zurückkehren.« Einer der Wachmänner schließt sich ihm an der Tür an.

Karri sieht mich an. »Was ist los?«, flüstert sie.

Ich will mich nicht aufregen, aber mein Herz rast in meiner Brust. Ich war anwesend, als die Rebellen zum ersten Mal den Palast angegriffen haben. »Ich … ich weiß nicht …«

Corrick legt eine Hand auf meine. »Eine Palastangelegenheit«, erklärt er mit glatter Stimme. »Kein Grund zur Sorge.«

Die Anspannung, die ich in seinen Fingern fühle, steht im Widerspruch zu seinen Worten.

Niemand isst noch. Selbst Konsul Sallister wirkt besorgt.

Glücklicherweise kehrt Quint schon nach einer Minute zurück. Er beugt sich vor, um leise Worte zum König zu sprechen. Harristan ist geübt in höfischer Politik, also verrät seine Miene nichts. Aber sein Blick wandert erneut zu Corrick.

»Anscheinend müssen wir unser Treffen verschieben«, erklärt Quint ruhig. »Es ist eine Situation entstanden, welche nach der Aufmerksamkeit des Königs verlangt.«

»Was für eine Situation?«, fordert Lochlan.

»Ich fürchte, das darf ich nicht …«

»Es hat zwei Wochen gedauert, dieses Treffen zu arrangieren. Ich werde nicht zulassen, dass ich wegen eines Tricks noch länger warten muss.« Er sieht sich am Tisch um. »Besonders, nachdem ich mir ziemlich sicher bin, dass jeder in diesem Raum bald von diesen wichtigen Angelegenheiten erfahren wird.«

Quint schnappt nach Luft, aber Harristan hebt eine Hand. »Ihr habt recht. Und nicht nur jeder in diesem Raum. Wenn das Schiff vor Stunden angelegt hat, dürften die Gerüchte bereits bis in den Königlichen Sektor vorgedrungen sein.«

»Schiff?«, fragt Corrick. »Was für ein Schiff?«

»Gerade«, sagt Harristan, »ist ein Abgesandter aus Ostria angekommen.«

Ich wende den Kopf ruckartig herum und starre Corrick an. Ostria ist das Königreich westlich von Kandala, auf der anderen Seite eines breiten, gefährlichen Flusses. Aufgrund der schwierigen Reisebedingungen und der Geißel des Fiebers gab es nie irgendeine Art von Handelsabkommen zwischen den Ländern. Ich hatte Corrick vor Wochen gefragt, ob vielleicht die Chance besteht, dass Ostria mehr Mondflorblüten liefern könnte, aber er meinte, das wäre fast unmöglich herauszufinden. Oder zumindest wäre es sehr teuer, einen Versuch zu unternehmen, es herauszufinden.

Er wirft mir einen kurzen Blick zu, und sofort weiß ich, dass auch er an unser Gespräch denkt. »Ostria hat einen Abgesandten geschickt?«

»Nicht ganz«, sagt Quint.

»Sie haben keinen Abgesandten geschickt.« Harristan reibt sich den Nacken, seine erste nervöse Geste heute. »Anscheinend haben wir das vor sechs Jahren getan.«

3  CORRICK

Ich bin sehr behütet aufgewachsen, doch bei Weitem nicht so behütet wie Harristan. Als kränklicher Kronprinz wurde er immerzu verhätschelt und umsorgt. Heiler und Krankenschwestern waren immer in Rufweite. Wenn er in seinem Zimmer war, brannte stets ein Feuer. Er wurde nur auf die verlässlichsten Pferde gesetzt, in die dichtesten Kutschen, er bekam die ruhigsten Tutoren und Lehrer. Auf mich als zweitgeborener Sohn – der gesunde Sohn – wurde nicht so streng geachtet. Ich konnte an Jagden in den bewaldeten Teilen von Kandala teilnehmen, konnte auf Pferden hinter den anderen Adeligen herreiten, die viel zu temperamentvoll waren für einen Abkömmling des Königshauses. In einer Kutsche fahren? Habe ich nie getan. In meiner Ausbildung? Durften Lehrer mir auch mal auf die Finger schlagen. Im Trainingsring durfte ich mit jedem kämpfen, weil kein Waffenmeister sich je Sorgen machen musste, ob ich blaue Flecken davontrug.

Aber ich war trotzdem behütet. Umgeben von Wachen und Ratgebern, die mich an der kurzen Leine hielten, auch wenn ich mir dessen manchmal gar nicht bewusst war.

Harristan allerdings wusste es. Er war derjenige, der mir beigebracht hat, mich aus dem Palast zu schleichen und in der Wildnis unterzutauchen. Deswegen ist es mir so schwergefallen, meine nächtlichen Abenteuer mit Tessa für mich zu behalten.

Mich überrascht immer noch, dass er mir nie auf die Schliche gekommen ist. Er war immer viel cleverer, als unseren Eltern bewusst war.

Und er ist auch heute clever. Ich dachte, er würde direkt in den Thronsaal gehen, um unsere überraschenden Besucher zu begrüßen, aber er hat Quint angewiesen, es dem »Abgesandten« so angenehm wie möglich zu machen … und hat mich dann in seine Privatgemächer eingeladen.

»Glaubst du, es könnte wahr sein?«, frage ich ihn.

Mein Bruder lässt sich auf einem Stuhl am Tisch fallen und starrt aus dem Fenster. »Wenn es stimmt, wurde er von Vater ausgeschickt.«

»Vor sechs Jahren warst du siebzehn. Erinnerst du dich, dass je ein Schiff nach Ostria erwähnt wurde?«

Ich rechne damit, dass er mir einen vernichtenden Blick zuwirft, gefolgt von einem leidgeprüften Seufzen. Ich weiß, wie alt ich war, Cory. Aber stattdessen denkt er schweigend eine Weile nach. Auf seiner Stirn bildet sich eine steile Falte, als er die Lichtstreifen auf dem Boden mustert. Er ist beunruhigt.

»Nein«, sagt er schließlich. »Vater hat mich nicht in alle Staatsangelegenheiten eingeweiht.«

Aber in die meisten. Ich erinnere mich. Ich habe mich ihnen erst mit vierzehn angeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt wollte ich unbedingt erfahren, was für faszinierende Dinge bei diesen Sitzungen besprochen wurden. Ich habe schnell gelernt, dass diese Treffen vor allem eines sind: langweilig.

Nun, bis ein Jahr später ein Meuchelmörder in den Raum gestürmt ist und unsere Eltern direkt vor uns getötet wurden.

»Allisander erinnert sich, dass eine Gesandtschaft diskutiert wurde, aber er weiß nicht, ob sie wirklich ausgeschickt wurde«, sagt Harristan. »Aber damals war sein Vater Konsul. Ich habe Boten zu den anderen geschickt, um zu erfahren, ob einer von ihnen sich daran erinnert, dass Vater etwas Derartiges arrangiert hat.«

»Ich habe vor deiner Thronbesteigung nie etwas davon gehört«, sage ich. »Einige Konsuln haben gewechselt, aber ein vermisster Diplomat schein ein Thema, das zumindest einmal hätte erwähnt werden müssen.«

»Ich stimme dir zu.« Harristan denkt erneut eine Weile nach. »Und ich habe keine Ahnung, wen er geschickt haben könnte. Die meisten Schiffsbauer betrachten den Loder als unüberwindbar. Ich glaube nicht, dass es viele Matrosen gibt, die bereit wären, das Risiko einzugehen, wenn man ihnen für ihre Mühe nicht eine ganze Kiste Silber verspricht.«

Das ist wahr. Vor Wochen hat Tessa mich direkt gefragt, ob Ostria als neuer Lieferant für Mondflorblüten infrage käme. Ich erinnere mich an die Hoffnung in ihren Augen; daran, wie schwer es mir gefallen ist, sie enttäuschen zu müssen. In der Wildnis war ich in der Lage, ein Held zu sein. Als Prinz Corrick sind mir oft die Hände gebunden, mit Dutzenden politischen Knoten.

Ich habe ihr erklärt, wie teuer – und schwierig zu organisieren – die Reise nach Ostria wäre. Es ist zwar schon gelungen, den Fluss zu queren, aber nur selten. Der nördliche Teil besteht aus heftigen Stromschnellen mit Eisschollen darauf. Der südliche Teil zeichnet sich durch tückische, unter der Wasseroberfläche verborgene Felsen aus, die so viele Schiffe aufgerissen haben, dass es ein Trinklied darüber gibt, dass der Loder sehnsüchtige Liebende in Witwen verwandelt.

»Der Abgesandte hat in Artis angelegt«, sage ich. »Er ist nicht über den Loder gekommen. Er muss den Königinnenfluss genommen haben.«

»Dann glaubst du, er ist über das Meer aus Ostria gekommen? Das ist sogar noch schwerer zu glauben. Und falls ja, wieso sollte er in Artis anlegen? Es gibt auch Häfen in Sonnenfeste und Händlershalt. Von Ostria aus hätte er um halb Kandala und dann den Königinnenfluss hinaufsegeln müssen, um Artis auch nur zu erreichen.«

Alles richtig. Auch ich denke eine Weile nach. »Der Hafen von Artis liegt dem Königlichen Sektor am nächsten. Quint sagt, er ist direkt in den Hafen gesegelt und hat seine Anwesenheit verkündet. Das ist ein recht dreister Auftritt, falls er schändliche Ziele verfolgt.«

»Ich habe Wachen ausgeschickt, um die Logbücher vom Schiff zu holen«, sagt Harristan. »Und seine Flagge. Wenn es so lange her ist, sollte der Stoff der Flagge gealtert sein. Es muss Beweise geben, dass er von Kandala aus die Reise angetreten hat.«

Er atmet ein, um weiterzusprechen, doch stattdessen hustet er in seine Armbeuge.

»Du hustest immer noch«, sage ich. »Auch während der Sitzung.«

»Es geht mir gut.«

Ich erhebe mich aus meinem Stuhl. »Ich werde Tessa holen. Sie wird dich zur Vernunft bringen.«

»Ich werde sie sofort wieder wegschicken. Wir haben dringendere Probleme.« Er hustet wieder, aber nur leicht, und starrt mich böse an, als ich mich nicht wieder setze. »Ehrlich, Corrick. Dieser Abgesandte hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Nach der Art, wie Allisander sich gegenüber den Rebellen verhalten hat, wird Lochlan in die Wildnis zurückkehren und Geschichten verbreiten, dass wir vorhaben, wilde Experimente an den Bedürftigen durchzuführen.«

»Ich glaube nicht, dass Lochlan etwas Derartiges behaupten wird«, meine ich.

Mein Bruder hebt den Kopf. »Tust du nicht?«

»Nein. Ich glaube, es wird noch schlimmer.« Ich verschränke die Arme und lehne mich gegen den Tisch. »Er wird allen erzählen, dass uns ihre Misere egal ist; dass ihre Mühe umsonst war. Dass wir nicht vorhaben, eine echte Veränderung anzustoßen, sondern nur Betrug und Schwindel im Sinn haben.«

Harristan reagiert gereizt. »Oh, ist das alles?«

»Natürlich nicht. Wahrscheinlich schreit er schon jetzt nach einer Revolution.«

Mein Bruder fährt sich seufzend mit der Hand durchs Haar. »Und dann wären wir wieder, wo wir angefangen haben.«

Ich sollte widersprechen – aber das kann ich nicht. Er hat recht.

Tessa war so hoffnungsvoll … aber nichts an dieser ganzen Situation ist einfach oder leicht. Wenn das der Fall wäre, hätten wir das Problem längst gelöst. Sie hat einmal gesagt, mein Bruder könnte einfach mit den Fingern schnippen und seinen Willen in Gesetze gießen. Ich wünschte, er könnte es. Ich wünschte, ich könnte das. Ich will nicht, dass das Leben im Palast Tessas Hoffnungen zunichtemacht, wie es schon bei so vielen anderen der Fall war.

Harristan wirkt sehr ernst. Ich bin mir sicher, meine Miene ist nicht besser.

»Sollen wir herausfinden, welche Nachrichten uns dieser Abgesandte bringt?«, frage ich. »Vielleicht hat er ein ganzes Schiff voller Mondflorblüten, und wir können Allisander vom Dach des Palastes werfen.«

Das war ein Witz, aber Harristan lacht nicht. Er macht auch keine Anstalten, sich zu erheben. Stattdessen starrt er erneut aus dem Fenster.

Jeder andere würde davon ausgehen, dass er absichtlich Zeit schindet. Ich weiß es besser. Er ist der König – und die Welt hat die Eigenschaft, sich von einem Moment auf den anderen gegen ihn zu wenden –, aber Harristan nutzt seine Stellung nie, um zu manipulieren. Je länger das Schweigen anhält, desto mehr überlege ich, ob mehr hinter der Entscheidung meines Bruders steckt, erst einmal hierher zu kommen – statt unseren Besucher sofort zu begrüßen.

»Willst du dich lieber nicht mit dem Abgesandten treffen?«, frage ich leise.

»Ich traue dieser ganzen Sache nicht.«

»Warum?«

Er schüttelt leicht den Kopf. »Es ist zu viel Zeit vergangen. Der Besuch ist zu … unerwartet. Warum jetzt?« Er zögert. »Wir sind bereits einmal angegriffen worden. Mutter und Vater wurden ebenfalls überrascht.«

Ich sage nichts dazu. Ich erinnere mich.

Ein Wachmann klopft an die Tür, und Harristan ruft: »Herein.«

Die Tür schwingt auf, und der Mann sagt: »Meister Quint bittet um eine Audienz, Eure Majestät.«

»Schick ihn herein, Thorin.«

Harristan klingt freundlich – was mich nicht überraschen sollte, es aber trotzdem tut. Quint und ich sind seit Jahren eng befreundet, also hat mein Bruder ihn mir zuliebe immer widerwillig toleriert, aber die beiden standen sich nie nahe. Ich habe mehr als einmal bezeugt, wie Harristan Quint deutlich mitgeteilt hat, dass er verschwinden soll. Quint erscheint manchmal wirr und dramatisch, und viele Leute im Palast finden, dass er ein wenig … anstrengend ist.

Ich kann die Gelegenheiten, bei denen mein Bruder einfach »Schick ihn herein« gesagt hat, ohne zumindest nachzuhaken, was der Palastmeister jetzt schon wieder will, gefühlt an einer Hand abzählen.

Das Schiff aus Ostria scheint ihn wirklich aus der Bahn geworfen zu haben.

Quint betritt mit großen Schritten den Raum. Falls er überrascht ist, lässt er sich nichts anmerken. »Kapitän Rian Blakmer ist zusammen mit seiner Begleiterin ins Weiße Zimmer geführt worden.« Er öffnet das kleine Notizbuch, das er immer mit sich trägt. »Eine Gwyn Tagas, Erste Offizierin.«

Kapitän Rian Blakmer. Der Familienname ist mir nicht vertraut, dabei kenne ich jeden von Bedeutung im Königlichen Sektor. Ich werfe einen Blick zu Harristan, um herauszufinden, ob ihm der Name etwas sagt.

Er erwidert meinen Blick und schüttelt den Kopf, bevor er zu Quint sagt: »Sind die Wachen schon mit den Logbüchern des Schiffes zurück?«

»Nein, Eure Majestät.« Quint klappt sein Büchlein zu. »Kapitän Blakmer hat darauf hingewiesen, dass es auch eine kleine Mannschaft gibt, die auf dem Schiff verblieben ist. Ich habe die Wachen angewiesen, das ebenfalls zu verifizieren.«

»Wie wirkt er?«

»Sehr direkt, um ehrlich zu sein. An seiner ursprünglichen Erklärung hat sich nichts geändert: Er ist vor sechs Jahren als Teil einer Gesandtschaft nach Ostria gereist, um herauszufinden, ob Beziehungen mit dem anderen Land möglich sind. Jetzt kehrt er mit Nachrichten von seiner Reise zurück.«

»Was für Nachrichten?«, fragt Harristan.

Quint räuspert sich. »Er hat erklärt, er wäre angewiesen, sich nur mit dem König persönlich zu treffen.«

»Auf keinen Fall«, sage ich.

»Die Wachen haben ihn durchsucht und keine Waffen gefunden. Er hat keine Forderungen gestellt, war geduldig und wohlerzogen. Sogar recht freundlich, um ehrlich zu sein.«

»Konsul Barnard hat niemals die Stimme erhoben«, sagt Harristan, »und hat trotzdem die Ermordung unserer Eltern geplant.«

»Ich werde mich zuerst mit ihm treffen«, sage ich. »Was für eine Nachricht kann das sein, dass sechs Jahre nötig waren, sie zu überbringen?«

»Sicherlich hat Vater nicht erwartet, dass die Reise so lange dauert«, fügt Harristan hinzu. »Welche Erklärung hat er angeboten?«

»Nun, König Lucas hat nicht speziell Kapitän Blakmer ausgesandt«, erklärt Quint. »Er war lediglich Teil der Gruppe. Offensichtlich hat sich die Rückreise aufgrund von Unruhen am königlichen Hof von Ostria verzögert.«

Ich wechsele einen weiteren Blick mit Harristan. »Was soll das nun wieder bedeuten?«

»Es bedeutet, dass er noch ein junger Mann war, als er Kandala verlassen hat. Der Diplomat, den König Lucas ausgesandt hat, war sein Vater.«

Trotz Quints Erklärung hatte ich einen älteren Mann erwartet. Die Kombination aus junger Mann und der Tatsache, dass er der Kapitän eines Segelschiffes ist, hatte in mir die Erwartung erweckt, jemanden um die dreißig zu treffen. Doch als ich das Weiße Zimmer betrete, stelle ich fest, dass Kapitän Blakmer nicht viel älter ist als ich. Auf keinen Fall älter als Harristan. Er hat dichtes, schwarzes Haar und helle Augen, die eher grau sind als blau. Sein Kinn ist kantig und glatt rasiert. Seine Haut weist die Bräune eines Mannes auf, der seine Tage in der Sonne verbringt. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich die Frau an seiner Seite für die Kapitänin gehalten. Die Erste Offizierin Gwyn Tagas ist sicherlich über vierzig, mit wettergegerbter Haut in der Farbe von Treibholz. In ihrem kurzen, dunklen Haar glänzt das erste Grau.

Beide erheben sich, als ich mit Quint den Raum betrete. Ihre Blicke folgen den sechs Wachen, die mit uns zusammen den Raum betreten und Position an der Wand beziehen. Ich beobachte die beiden genau, um zu sehen, ob der Kapitän oder seine Erste Offizierin überrascht oder alarmiert sind, aber entweder sie sind es nicht … oder sie sind sehr gut darin, ihre Empfindungen zu verbergen. Beide sind gekleidet, als wären sie direkt vom Schiff gekommen, mit schweren Stoffhosen und groben Tuniken, auch wenn der Kapitän ein geknöpftes Jackett trägt. Nichts an ihnen spricht von Wohlstand – oder diplomatischem Status, wenn wir schon dabei sind. Andererseits, sie stehen im schönsten Zimmer im obersten Stockwerk des Palastes, und keiner von beiden betrachtet mit großen Augen die Opulenz des Raums. Während unserer misslungenen Sitzung wirkten Lochlan und Karri schon bei der Darbietung des Essens, als wollten sie jeden Moment in Ohnmacht fallen.

»Kapitän Blakmer«, sagt Quint. »Darf ich Euch den Königlichen Vollstrecker, Prinz Corrick, präsentieren?«

Falls er enttäuscht ist, nur mich zu sehen zu bekommen statt meinen Bruder, lässt er es sich nicht anmerken. Er legt die Hände an die Hüften und verbeugt sich, als hätte er sich sein gesamtes Leben an königlichen Höfen bewegt. »Eure Hoheit«, sagt er.

»Kapitän.« Ich sehe die Frau an, die ein kleines Stück hinter ihm steht. »Offizierin Tagas, vermute ich.«

»Ja, Eure Hoheit.« Sie verbeugt sich ebenfalls, wenn auch nicht so geschmeidig wie Kapitän Blakmer. Ihr Blick wirkt wachsamer als seiner. Andererseits, sie ist nicht die Abgesandte. Vielleicht ist sie immer wachsam.

Ich vollführe eine Geste zum Tisch. »Sollen wir uns setzen?«

Das tun wir. Quint tritt zur Seite und spricht kurz mit einem Lakaien. Ich bin mir sicher, dass er eine Mahlzeit bestellt. Ich bin nicht hungrig, aber ein gemeinsames Essen baut immer Barrieren ab, also werde ich mir etwas nehmen, sobald es gebracht wird.

»Wie ich gehört habe, hattet Ihr eine lange Reise«, setze ich an. »Meister Quint meinte, Ihr seid seit sechs Jahren unterwegs. Ihr müsst hungrig sein.«

Es liegt eine gewisse Schärfe in meiner Stimme. Ich nehme den Moment wahr, als Kapitän Blakmer es bemerkt, weil er einen Mundwinkel leicht hochzieht. »Ich habe das Gefühl, dass unsere Geschichte bereits ein paar Zweifel erweckt hat.«

»Mehr als nur ein paar.«

»Ich werde alle Eure Fragen beantworten«, sagt er. »Ich verstehe Eure Vorsicht.«

Jetzt begreife ich, warum Quint ihn geduldig und wohlerzogen genannt hat. Nichts am Auftreten dieses Mannes wirkt verdächtig. Wenn überhaupt ist er direkter als die meisten Konsuln und Höflinge, deren geschliffene Worte oft doppeldeutig sind.

Aber wenn er direkt sein will, werde ich es auch sein.

»Euer Vater war derjenige, der nach Ostria ausgesandt wurde«, sage ich. »Geschickt von meinem Vater, König Lucas.«

»Stimmt.«

»Und wo ist Euer Vater jetzt?«

»Tot.« Es ist eine schlichte, emotionslose Erklärung. »Genau wie Eurer.«

Quint, der auf dem Weg zum Tisch war, erstarrt, als er diese Worte hört. Ich bin mir sicher, dass er sich fragt, wie ich reagieren werde.

Offizierin Tagas seufzt leise. »Rian«, mahnt sie leise.

»Das ist er«, sagt Kapitän Blakmer leise. Er hält meinen Blick und zuckt leicht mit den Achseln. »Das sind sie.«

Ich kann nicht entscheiden, ob ich diesen Mann mag oder ihn zusammen mit Konsul Sallister vom Dach des Palastes werfen will.

»Also habt Ihr seine Pflichten geschultert?«

»Natürlich. Ein Sohn ist verpflichtet, die Arbeit seines Vaters fortzuführen, oder nicht?«

Er bleibt ruhig, doch jetzt höre ich auch in seiner Stimme eine gewisse Schärfe, wie es vorher bei mir der Fall war. Er wartet, um sicherzustellen, dass seine Worte ihr Ziel finden, dann spricht er weiter, als rechne er nicht mit einer Antwort.

»Ich war darüber informiert, dass die erste Reise recht kostspielig war«, meint er. »Ich mag jung gewesen sein, aber ich wusste durchaus um die Bedeutung der Mission meines Vaters.«

»Es scheint, als wäre ich in Bezug auf die Bedeutung der Mission Eures Vaters unwissend«, antworte ich. »Und mir ist Euer Familienname nicht vertraut, Kapitän Blakmer. Mein Bruder erinnert sich ebenfalls nicht.«

»Bitte«, sagt er. »Nennt mich Rian, Eure Hoheit.«

Die Erwartung, dass ich ihm nun im Gegenzug anbiete, mich Corrick zu nennen, steht deutlich im Raum, aber ich bin kleinlich genug, sie zu ignorieren. »Ich werde Euch Gefangener nennen, wenn Ihr Euch nicht besser erklärt, als Ihr es bisher tut.«

Neben mir höre ich Quint leise seufzen – ein Geräusch, das sehr dem ähnelt, das Offizierin Tagas gerade ausgestoßen hat. Er wird kein Wort sprechen, aber ich höre seine Worte trotzdem in meinem Kopf. Ernsthaft, Corrick?

Rian lächelt. »Ich wollte höflich sein, nicht Euch in die Irre führen. Ich erkenne an, dass der Tod Eures und meines Vaters uns sozusagen in eine Sackgasse geführt hat. Ich bin mir bewusst, dass bereits Wachen ausgeschickt wurden, um mein Schiff zu durchsuchen. Dort werdet Ihr das Logbuch meines Vaters von der ursprünglichen Reise nach Ostria finden – genauso wie mein Logbuch zur Rückreise. Meine Mannschaft besteht zugegebenermaßen aus ostrianischen Bürgern, also werden sie Euch keine Antworten liefern können. Aber Ihr könnt sie gerne befragen, wenn Ihr das wünscht.«

»Das werde ich.«

»Gut.« Er nickt, dann zögert er kurz. »Es sind gute Frauen und Männer. Sie werden offen sprechen. Sie sollten keinen Schaden erleiden, nur weil Euch nicht gefällt, was sie sagen.«

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Wieso sollten wir ihnen Schaden zufügen?«

»Ich habe einiges über Euren Ruf gehört«, antwortet er ruhig. »Eure Hoheit.« Er spricht leise, aber er hätte genauso gut eine Kanonenkugel abfeuern können.

Quint räuspert sich. »Ich glaube, wir alle könnten jetzt eine Tasse …«

Ich hebe eine Hand, ohne den Blick von Rian abzuwenden. Quint bricht mitten im Satz ab. »Ihr seid erst seit ungefähr fünf Minuten hier, aber Ihr habt von meinem Ruf gehört?«

»Das sollte Euch zeigen, wie eindrucksvoll er ist.«

Er betont das Wort eindrucksvoll, als wolle er etwas ganz anderes sagen. Aber gleichzeitig hat dieser Mann mir eine Schwäche offenbart, wenn auch nur eine kleine: seine Mannschaft liegt ihm am Herzen. Und auch er bedeutet seiner Mannschaft etwas, nach der Art, wie Offizierin Tagas seinen Namen ausgesprochen hat, zu urteilen.

»Ich habe immer noch das Gefühl, dass wir uns im Kreis bewegen«, meine ich. »Wenn Ihr nicht wollt, dass Euren Leuten etwas zustößt, eröffnet mir die einfache Wahrheit, Rian. Wenn Euer Vater ein Abgesandter war … wenn Euer Vater ein Mitglied dieses Hofes war … dann sollte ich Euren Namen kennen. Mein Bruder sollte Euren Namen kennen. Aber das tun wir nicht.«

Ein Funkeln tritt in seine Augen. »Ah. Nun, erlaubt mir, diese Verwirrung aufzuklären. Ich habe nicht gesagt, mein Vater wäre ein Abgesandter gewesen, Eure Hoheit. Er war weder ein Diplomat noch ein Höfling. Ich vermute, dass Ihr Euch nicht an ihn erinnern könnt, weil Ihr damals selbst noch ein Junge wart.« Er sieht sich im Raum um. »Vermutlich werdet Ihr nicht viele Leute im Palast finden, die seinen Namen kennen.«

Ich runzele die Stirn, dann werfe ich einen Blick zu Quint, der genauso verwirrt wirkt wie ich. »Was … war er dann?«

Rian lächelt. »Ein Spion.«

4  CORRICK

Ich schicke nach Harristan. Wenn Kapitän Blakmers Erklärungen in Gespräche über von meinem Vater ausgeschickte Spione münden, sollte der König anwesend sein.

Als mein Bruder erscheint, folgen ihm seine persönlichen Wachen … und dahinter zwei Diener, die eine Holztruhe mit einem großen Vorhängeschloss daran tragen. Darauf liegen ein Bündel gefalteter Stoff in Blau und Purpur und mehrere schmale, in Leder gebundene Hefte.

Rian und seine Erste Offizierin stehen sofort auf und erweisen Harristan mit ihren Verbeugungen dieselbe Ehrerbietung, die sie auch mir gezeigt haben. Die Diener heben die Gegenstände auf den Tisch. Mich überrascht, dass die Truhe nicht besonders schwer zu sein scheint. Die Büchlein werden vor mir abgelegt, und der Stoff entpuppt sich als eine Flagge von Kandala mit ausgefransten Rändern. Alles riecht nach Meer – Salzwasser kombiniert mit etwas Saurem.

Harristans Miene ist kühl und verschlossen. Nach einem kurzen Moment der angespannten Stille springt Quint in die Bresche. »Eure Majestät«, sagt er, »erlaubt mir, Euch Kapitän Blakmer und seine Erste Offizierin Gwyn Tagas vorzustellen.«

Die letzte Silbe ist kaum verklungen, als Harristan sagt: »Ihr seid überhaupt kein diplomatischer Abgesandter, Kapitän Blakmer.«

Ich habe keine Ahnung, woher er das weiß, aber Harristan gibt sich niemals mit verbalen Spitzen zufrieden. Seine Worte sind wie Wurfdolche, bei denen er abwartet, ob sein Gegenüber sie abfängt oder davon durchbohrt wird.

Rian zuckt nicht zusammen. »Ah. Ja. Ich bin froh zu hören, dass wir dieses Missverständnis geklärt haben.«

»Und doch habt Ihr den Hafenverantwortlichen in Artis mitgeteilt, genau das wärt Ihr. Auf diese Art habt Ihr Euch das Geleit zum Palast gesichert.«

»Nachdem die Mission meines Vaters geheim war, hielt ich es nicht für angemessen, mich dem Hafenverantwortlichen als Spion vorzustellen, Eure Majestät.« Er zögert. »Ich habe das bei Prinz Corrick sofort richtiggestellt.«

»Seid Ihr wirklich der Meinung, das wäre sofort gewesen?«, frage ich.

»In der Tat. Und Ihr werdet die nötigen Beweise in diesem ersten Logbuch finden.«

Ich strecke die Hand aus und öffne den Einband des ersten Büchleins. Der Ledereinband ist weich und abgewetzt. Über die erste Seite zieht sich eine elegante Handschrift, die ich nicht erkenne.

Im Inneren des Einbandes steckt ein dickes, gefaltetes Dokument. Ich ziehe es heraus. Sobald meine Finger das Pergament berühren, wird mir klar, dass alle mich beobachten, allen voran mein Bruder.

»Lies es«, sagt er zu mir, und sein Tonfall verrät mir, dass er den Inhalt bereits kennt.

Vorsichtig öffne ich das Pergament. Die Knickfalten sind weich, und ganz unten prangt ein dunkler Fleck. Bevor ich die Worte lesen kann, bleibt mein Blick an der Unterschrift und dem Siegel hängen. Beides gehört meinem Vater. Die Unterschrift enthält auch die winzigen Initialen, die er immer in den Schwung des S gekritzelt hat, um Fälschungen zu verhindern. Ich habe diese Unterschrift in den letzten Jahren schon auf Hunderten Dokumenten gesehen. Mein Herz macht einen Sprung. Über der Seite steht ein Datum, das sechs Jahre zurückliegt.

Hiermit erkläre ich Kapitän Jarvell Blakmer zu einem Agenten des Königreichs von Kandala, im Dienst Seiner Majestät, Lucas Ramsay Südwell, der mit voller Befugnis der Krone handelt. Wer auch immer dieses Dokument im Namen von Kapitän Blakmer in seinem Besitz hat, in Kombination mit dem Ring, der dasselbe Siegel zeigt wie unten auf dieser Seite, soll als Agent Seiner Majestät, des Königs von Kandala, anerkannt werden, mit allen Rechten und aller Autorität, welche die Krone ihm gewährt.

Unter der Unterschrift meines Vaters prangt das Siegel des Königreichs in dunkelblauem Wachs, das nur Harristan und ich besitzen. Darunter leuchtet noch ein anderes Siegel in hellerem Purpur, leicht gebrochen, aber immer noch lesbar.

Ich hebe den Blick, um mich nach dem Ring zu erkundigen.

Aber Rian hat bereits die linke Hand gehoben, an deren Zeigefinger ein goldener Ring mit demselben Siegel darauf glänzt.

Nun denn.

Es ist kein Beweis, nicht wirklich … aber doch ziemlich nahe dran. Ein Brief, in welchem dem Träger die volle Autorität der Krone zugesichert wird, hält eine Menge Macht. Meines Wissens hat Harristan nie einen solchen Brief ausgestellt. Als sein Bruder brauche ich so was nicht. Und bisher war die einzige Person, von der ich wusste, dass mein Vater ihr solche Macht eingeräumt hat, Micah Clarke, der ehemalige Königliche Vollstrecker. Er wurde am selben Tag getötet wie unsere Eltern.

Ich greife nach der Flagge auf der Kiste und falte sie etwas auf. Die Kanten sind ausgefranst, das Blau und Purpur verblasst, die Metallösen sind verrostet. Und als ich die Fingerspitzen über die Nähte gleiten lasse, fühle ich die Effekte der Seeluft.

»Wir haben keine etablierten Beziehungen zu Ostria«, sage ich. »Wieso sollte die Reise Eures Vaters geheim gehalten werden?«

Rian hält inne … und dieser Moment des Zögerns wirkt bedeutungsschwanger. Sein Blick wandert zwischen Harristan und mir hin und her, als wolle er unsere Reaktionen abschätzen. »Ihr habt jetzt keine etablierte Beziehung zu Ostria, Eure Hoheiten. Aber einst gab es eine solche.«

»Ich kann mich nicht an eine Kommunikation mit Ostria erinnern«, erklärt Harristan in unnachgiebigem Ton.

Rian hebt die Hände, aber sein Blick ist ebenfalls hart. »Wie ich schon sagte, scheinen wir uns in einer Sackgasse zu befinden. Ich habe nur meine Logbücher und meine Mannschaft.« Neben ihm sitzt schweigend Offizierin Tagas; sie wirkt unerschütterlich und scheinbar ungerührt.

Alle sind höflich und umgänglich, aber trotzdem fühlt es sich an wie ein Patt. Ich kann nicht benennen, wer dafür verantwortlich ist – wir oder sie.

»Ihr habt einiges zu bedenken«, sagt Quint. »Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, um den Tee zu servieren. Ich bin mir sicher, unsere Gäste würden sich über eine Erfrischung freuen.«

Ich sehe meinen Bruder an. Vorhin war er verunsichert. Ich frage mich, ob das immer noch gilt oder ob der Brief von Vater ihm Vertrauen geschenkt hat. Ein Teil von mir will Rian von seiner Mannschaftskameradin trennen, um herauszufinden, was sie zu sagen hätte, wenn er sich nicht im Raum aufhält.

Das ist derselbe Teil von mir, der früher Rebellen und Diebe gezwungen hat, meine Fragen zu beantworten.

Niemand traut dem Königlichen Vollstrecker, wenn er keine Maske trägt.

Ich habe Tessa versprochen, mich zu bemühen. Ich habe Lochlan erklärt, mein Ziel wäre es, diesen Umstand zu ändern.

Also halte ich meine Zunge im Zaum. Das fällt mir schwerer, als es wahrscheinlich sein sollte.