Der Himmel in deinen Worten - Brigid Kemmerer - E-Book
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Der Himmel in deinen Worten E-Book

Brigid Kemmerer

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Beschreibung

Immer hat Juliet Briefe an ihre Mutter geschrieben - selbst nach deren Tod vor Monaten hinterlässt sie ihr Nachrichten am Grab. Eines Tages findet sie eine Antwort - von einem Jungen, der genauso verzweifelt ist wie sie. Spontan schreibt sie zurück, und der Gedankenaustausch wird ihr zunehmend wichtiger. Doch dann erfährt Juliet, wem sie ihre tiefsten Gefühle offenbart hat. Sie kann nicht fassen, dass die Worte, die sie so berührt haben, von einem Loser wie Declan stammen. Oder ist seine raue Fassade nur ein Schutz, hinter dem sich eine verletzliche Seele verbirgt? "Man fühlt und fiebert mit Declan mit und möchte selbst Juliet Herz gewinnen." School Lobrary Journal "Ein besonderes Leseerlebnis, eine Geschichte, die einen packt!" bn bibliotheksnachrichten

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Seitenzahl: 473

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HarperCollins YA!®

Copyright © 2017 by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Letters to the Lost Copyright © 2017 by Brigid Kemmerer erschienen bei: Bloomsbury Children’s Books, New York

Published by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc. All rights reserved.

Covergestaltung: Formlabor, Hamburg Coverabbildung: Maria Lozovska, Robert Adrian Hillman, Only background / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959677318

www.harpercollins.de

Widmung

Für Michael Ich bin so froh, zusammen mit dir auf dieser verrückten Reise zu sein. (Vor allem weil wir einander davon abhalten auszusteigen.)

1. KAPITEL

Es gibt da dieses Foto, das ich einfach nicht aus dem Kopf kriege. Ein kleines Mädchen in einem Blumenkleid, das im Dunkeln dasteht und schreit. Überall ist Blut. Auf den Wangen der Kleinen, ihrem Kleid und in Spritzern auf dem Boden. Neben ihr wird eine Waffe auf die unbefestigte Straße gerichtet. Den Mann, der sie hält, kann man nicht sehen, aber seine Stiefel. Du hast es mir vor Jahren gezeigt und von dem Fotografen erzählt, der die Aufnahme gemacht hat. Ich erinnere mich aber nur noch an den Schrei, die Blumen, das Blut und die Waffe.

Ihre Eltern waren auf der falschen Straße unterwegs oder so. In einem Kriegsgebiet vielleicht. War es im Irak? Ich glaube, es war der Irak. Es ist schon eine Weile her, und ich bin mir nicht mehr sicher. Sie sind falsch abgebogen, und irgendwelche panischen Soldaten fingen an, auf ihr Auto zu schießen. Die Eltern waren sofort tot.

Das kleine Mädchen hatte Glück.

Oder war es Pech?

Keine Ahnung.

Als Erstes sieht man das Entsetzen, weil es dem Kind so eindrücklich ins Gesicht geschrieben steht.

Dann erkennt man die Einzelheiten. Das Blut. Die Blumen. Die Waffe. Die Stiefel.

Einige deiner Fotos sind genauso ergreifend. Wahrscheinlich sollte ich sowieso lieber an dein Werk denken, denn irgendwie kommt es mir falsch vor, dass ich gegen deinen Grabstein gelehnt über das Talent eines anderen nachgrüble.

Ich kann nicht anders.

Man sieht es in ihrem Gesicht. Ihre Welt ist gerade zerstört worden. Und sie weiß es.

Ihre Mutter ist tot, und sie weiß es.

Da ist so viel Leid in diesem Bild.

Jedes Mal, wenn ich es mir ansehe, denke ich: Ich verstehe genau, wie sie sich fühlt.

Ich muss aufhören, diesen Brief anzustarren.

Den Umschlag habe ich nur aufgehoben, weil wir das mit allen persönlichen Gegenständen vor den Grabsteinen machen sollen, bevor wir dort Rasen mähen. Normalerweise lasse ich mir Zeit dabei, weil acht Stunden nun mal acht Stunden sind und ich dafür ja ohnehin nicht bezahlt werde.

Meine ölverschmierten Finger haben Flecken am Rand des Blatts hinterlassen. Ich sollte es lieber wegwerfen, bevor noch jemand merkt, dass ich es angefasst habe.

Aber meine Augen starren wie gebannt auf die mit Füller geschriebenen Buchstaben. Die Schrift ist ordentlich und gleichmäßig, aber nicht perfekt. Zuerst merke ich gar nicht, was mich daran irritiert, doch dann erkenne ich es: Eine zitternde Hand hat diese Worte geschrieben. Es war ein Mädchen, das ist offensichtlich. Weil die Buchstaben relativ rund sind.

Ich werfe einen Blick auf den Grabstein. Er ist ziemlich neu. Klare Buchstaben, in polierten Granit gemeißelt. Zoe Rebecca Thorne. Geliebte Ehefrau und Mutter.

Das Sterbedatum trifft mich wie ein Schlag. Es ist der 25. Mai dieses Jahres. Genau an dem Tag habe ich eine ganze Flasche Whiskey vernichtet und anschließend den Pick-up meines Vaters in ein leeres Bürogebäude gefahren.

Seltsam, wie sich dieses Datum in mein Gedächtnis eingebrannt hat – und in das von jemand anderem aus einem völlig anderen Grund.

Thorne. Der Name kommt mir bekannt vor, doch ich kann ihn nicht zuordnen. Sie ist erst seit ein paar Monaten tot und war fünfundvierzig. Vielleicht wurde in den Nachrichten darüber berichtet.

Ich wette, dass ich mehr Presse gekriegt habe.

„Hey, Murph! Was ist los, Mann?“

Ich zucke zusammen und lasse den Brief fallen. Melonhead, mein „Vorgesetzter“, steht oben auf dem Hügel und wischt sich mit einem schweißgetränkten Taschentuch über die Stirn.

Er heißt mit Nachnamen nicht wirklich Melonhead, genauso wenig wie ich Murph. Aber wenn er sich erlaubt, das mit Murphy zu machen, tue ich das Gleiche mit Melendez.

Der einzige Unterschied besteht darin, dass ich es ihm nicht ins Gesicht sage.

„Sorry!“, rufe ich und bücke mich, um den Brief wieder aufzuheben.

„Ich dachte, du würdest den Teil noch fertig mähen.“

„Werde ich auch.“

„Sonst muss ich es eben machen. Aber ich will nach Hause, Junge.“

Immer will er nach Hause. Er hat eine kleine Tochter. Und die ist total verrückt nach Disney-Prinzessinnen. Sie kennt schon alle Buchstaben und Zahlen. Letzte Woche hat sie mit fünfzehn Kindern aus ihrem Kindergarten Geburtstag gefeiert, und Melonheads Frau hat einen Kuchen gebacken.

Mir ist dieser ganze Mist natürlich total egal. Ich schaff es nur nicht, dass der Typ den Mund hält. Das ist auch der Grund, warum ich dieses Stück allein mähen wollte.

„Ich weiß“, meine ich. „Ich erledige das schon.“

„Wenn nicht, unterschreibe ich deinen Zettel für heute nicht.“

Ich richte mich drohend auf, erinnere mich allerdings noch rechtzeitig daran, dass er es wahrscheinlich der Richterin melden wird, wenn ich jetzt Theater mache. Die hasst mich sowieso schon. „Ich sagte, ich erledige es.“

Er winkt ab, kehrt mir den Rücken zu und geht den Hügel auf der anderen Seite hinunter. Anscheinend denkt er, dass ich ihn bescheiße. Vielleicht hat mein Vorgänger das getan. Was weiß ich.

Einen Augenblick später höre ich, wie sein Rasenmäher anspringt.

Wahrscheinlich sollte ich zusehen, dass ich die Erinnerungsstücke wegräume, damit ich endlich weiterarbeiten kann, aber ich tue es nicht. Die Septembersonne brennt auf den Friedhof, und ich muss mir die feuchten Haare aus der Stirn streichen. Man könnte meinen, wir befänden uns im tiefen Süden und nicht in Annapolis, Maryland. Melonheads Bandana sieht immer so klischeemäßig aus, doch jetzt beneide ich ihn darum.

Ich hasse das hier.

Klar sollte ich für diese gemeinnützige Arbeit dankbar sein. Ich bin siebzehn, und eine Zeit lang schien es, als würde man mich als Erwachsenen anklagen. Dabei habe ich keinen umgebracht oder so. Es war nur Sachschaden. Und Rasenmähen auf einem Friedhof ist ja auch nicht gerade wie die Todesstrafe, selbst wenn ich dabei von lauter Toten umgeben bin.

Ich hasse das hier trotzdem. Zwar behaupte ich, es wäre mir egal, was die Leute von mir denken, doch das ist gelogen. Es würde wohl jeden stören, wenn einen alle für eine tickende Zeitbombe halten. Das Schuljahr hat erst vor ein paar Wochen begonnen, aber wahrscheinlich zählt die Hälfte meiner Lehrer schon die Minuten, bis ich anfange, Amok zu laufen. Ich kann mir mein Porträt im Jahrbuch der letzten Klasse schon vorstellen: Declan Murphy: vermutlich bald ein Schwerverbrecher.

Es wäre zum Lachen, wenn es einen nicht so deprimieren würde.

Ich lese den Brief noch mal. Schmerz spricht aus jedem Wort. Und zwar ein Schmerz von der Sorte, die dich Briefe an jemanden schreiben lässt, der sie nie lesen wird. Schmerz, der einen von den anderen abgrenzt. Schmerz, von dem du dir sicher bist, dass kein anderer ihn jemals gefühlt hat.

Man sieht es in ihrem Gesicht. Ihre Welt ist gerade zerstört worden.

Und sie weiß es.

Ihre Mutter ist tot, und sie weiß es.

Da ist so viel Leid in diesem Bild.

Jedes Mal, wenn ich es mir ansehe, denke ich: Ich verstehe genau, wie sie sich fühlt.

Ohne weiter darüber zu grübeln, hole ich einen Bleistiftstummel aus meiner Tasche und drücke ihn aufs Papier.

Direkt unter die zittrigen Zeilen des Mädchens kritzle ich zwei Worte.

2. KAPITEL

Ich auch.

Die Worte zittern, und das liegt nicht am Papier, sondern an meiner Hand. Die fremde Handschrift brennt in meinen Augen.

Jemand hat meinen Brief gelesen.

Jemand hat meinen Brief gelesen.

Ich blicke mich um, als sei das eben erst geschehen, doch der Friedhof ist verwaist. Seit Dienstag war ich nicht mehr hier. Jetzt ist Donnerstagmorgen, daher grenzt es schon an ein Wunder, dass der Brief noch da ist. Häufig verschwindet ein Kuvert, weil der Wind es mitnimmt oder irgendein Tier, wahrscheinlich aber die Leute, die hier arbeiten.

Doch der Brief ist noch da, und jemand hat sich auch noch bemüßigt gefühlt, einen Kommentar dazuzuschreiben.

Das Blatt Papier zittert immer noch in meiner Faust.

Ich kann doch nicht …

Das ist …

Was … wer würde … wie …

Ich möchte schreien und kann doch nicht mal in vollständigen Sätzen denken. Wut lodert in mir auf.

Das war was Privates. Was Privates. Zwischen meiner Mutter und mir.

Das muss ein Junge gewesen sein. Fingerabdrücke säumen den Rand, außerdem ist die Schrift klobig. Es zeugt von Arroganz, sich in fremde Trauer einzumischen und einen Teil davon für sich zu beanspruchen. Mom hat immer gesagt, dass Worte etwas von der Seele des Schreibers in sich tragen, und ich kann fast spüren, wie diese nun von dem Blatt Papier tropft.

Ich auch.

Nein, nicht er auch. Er hat keine Ahnung.

Ich werde mich beschweren. Das ist inakzeptabel. Schließlich ist das hier ein Friedhof. Die Leute kommen her, um für sich allein zu trauern. Es ist mein Ort. MEINER. Nicht seiner.

Ich stapfe über den Rasen und weigere mich, meine Wut auch nur etwas von der frischen Morgenluft abkühlen zu lassen. Meine Brust schmerzt, und ich bin kurz davor, loszuweinen.

Das gehörte uns. Ihr und mir. Meine Mutter kann mir nicht mehr zurückschreiben, und seine Worte auf meinem Brief scheinen das noch zu unterstreichen. Als habe er mit seinem Bleistift auf mich eingestochen.

Nachdem ich den Hügel erklommen habe, hängen bereits Tränen an meinen Wimpern, und mein Atem geht unregelmäßig. Der Wind hat meine Haare total zerzaust. In einer Minute werde ich ein menschliches Wrack sein. Erneut werde ich zu spät zur Schule kommen, mit geröteten Augen und verschmiertem Make-up. Wieder einmal.

Die Vertrauenslehrerin zeigte zuerst ein gewisses Mitgefühl. Ms. Vickers nahm mich mit in ihr Büro und hielt mir die Schachtel mit den Taschentüchern hin. Am Ende der Elften wurde mir noch auf die Schulter geklopft, und ich wurde ermutigt, mir alle Zeit zu nehmen, die ich bräuchte.

Jetzt haben wir Mitte September, und Mom ist seit mehreren Monaten tot. Seit die Schule wieder angefangen hat, fragt sich anscheinend jeder, wann ich mich endlich im Griff haben werde. Am Dienstag sprach mich Ms. Vickers an, und anstatt mir einen freundlichen Blick zu schenken, verzog sie den Mund und fragte, ob ich immer noch jeden Morgen auf den Friedhof vorbeischaue. Außerdem schlug sie vor, dass wir darüber reden sollten, wie ich meine Zeit sinnvoller nutzen könnte.

Als ob sie das irgendwas anginge.

Außerdem bin ich gar nicht mehr jeden Morgen da. Sondern nur dann, wenn Dad früh zur Arbeit fährt – auch wenn ich die Hälfte der Zeit davon überzeugt bin, er würde es sowieso nicht merken. Ist er zu Hause, kocht er sich zwei Eier und isst sie mit einer Schüssel Trauben, die ich für ihn gewaschen und von den Stängeln gezupft habe. Dabei sitzt er am Tisch, starrt die Wand an und sagt kein Wort.

Ich könnte das Haus anzünden, und die Chancen stünden nur fünfzig zu fünfzig, dass er es noch rechtzeitig nach draußen schaffen würde.

Heute ist so ein Tag, an dem er früh zur Arbeit aufgebrochen ist. Der Sonnenschein, der leichte Wind und die friedliche Ruhe des Friedhofs erschienen mir wie ein Geschenk.

Doch die zwei auf meinen Brief gekritzelten Worte fühlen sich an wie ein Fluch.

Ein Hispano mittleren Alters bläst Laub und Rasenschnitt von dem asphaltierten Weg. Als ich näher komme, hält er inne. Er trägt so eine Art Hausmeisteruniform, und auf dem Namensschild an seiner Brust steht Melendez.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt er mit ganz leichtem Akzent. Seine Augen wirken nicht unfreundlich, doch er sieht müde aus.

Seine Stimme klingt wachsam. Ich muss einen ziemlich wütenden Eindruck machen. Er rechnet mit einer Beschwerde. Das kann ich ihm ansehen.

Tja, die wird er von mir auch zu hören kriegen. Es sollte doch irgendwelche Vorschriften gegen das hier geben. Meine Faust ballt sich um den Brief, zerknittert ihn. Ich hole tief Luft …

Dann halte ich inne.

Ich kann das nicht machen. Sie würde es nicht wollen.

Immer mit der Ruhe, Juliet.

Mom war stets der ruhige Typ. Besonnen und in einer Krise immer ganz cool. Das musste sie auch sein, während sie von einem Kriegsgebiet ins nächste jettete.

Außerdem würde ich sowieso nur wie eine durchgeknallte Laune der Natur klingen. Aussehen tue ich ja schon so. Was will ich denn sagen? Jemand hat zwei Worte auf meinen Brief geschrieben? Auf einen Brief, den ich an jemanden gerichtet habe, der nicht mal mehr am Leben ist? Außerdem könnte es jeder gewesen sein. Auf dem Rasen rund um das Grab meiner Mutter befinden sich Hunderte anderer Grabstellen. Dutzende Menschen kommen täglich hierher, wenn nicht mehr.

Und was soll der Hausmeister-Typ auch tun? Auf den Grabstein meiner Mom aufpassen? Eine Überwachungskamera installieren?

Um jemanden zu erwischen, der heimlich einen Bleistift bei sich trägt?

„Alles in Ordnung“, sage ich. „Entschuldigen Sie.“

Ich kehre zu ihrem Grab zurück und setze mich dort ins Gras. Sicher komme ich zu spät zur Schule, aber das ist mir egal. Irgendwo in der Ferne legt der Laubbläser von Mr. Melendez wieder los, doch hier bin ich allein.

Seit sie tot ist, habe ich ihr 29 Briefe geschrieben. Zwei pro Woche.

Als sie noch am Leben war, schrieb ich ihr Hunderte. Ihr Beruf sorgte dafür, dass sie, was Technologie betraf, immer auf dem allerneuesten Stand war, aber sie sehnte sich nach der Beständigkeit und Präzision des Altmodischen. Nach von Hand geschriebenen Briefen zum Beispiel. Kameras mit Film. Ihre professionellen Aufnahmen waren immer digital, damit sie sie überall bearbeiten konnte. Aber analogen Film mochte sie am liebsten. Und ob sie sich in irgendeiner Wüste Afrikas aufhielt, um den Hunger dort zu dokumentieren oder Gewalt und politische Unruhen anderswo, immer fand sie die Zeit, mir einen Brief zu schreiben.

Wir nutzten natürlich auch normale Sachen: E-Mails und Videochats, wenn sie die Möglichkeit dazu hatte. Aber die Briefe, die bedeuteten wirklich was. Jedes Gefühl durchdrang das Papier, als ob die Tinte, Staub und Flecken von ihrem Schweiß den Worten mehr Gewicht verleihen würden. So konnte ich ihre Furcht, ihre Hoffnung und ihren Mut spüren.

Ich schrieb ihr immer zurück. Manchmal kriegte sie meine Antworten wochenlang nicht, wenn sie erst über ihre Redakteurin dorthin gelangen mussten, wo sie gerade im Einsatz war. Manchmal war sie auch schon wieder zu Hause, und ich konnte ihr den Brief persönlich in die Hand drücken. Doch das spielte keine Rolle. Unser Gedankenaustausch fand auf Papier statt.

Als sie starb, konnte ich nicht damit aufhören. Normalerweise kriege ich keine Luft, wenn ich an ihr Grab trete, bis ich einen Stift auf ein Blatt Papier drücke und ihr auf diese Weise meine Gedanken mitteile.

Doch nachdem ich diese fremde Antwort entdeckt habe, kann ich ihr kein weiteres Wort mehr schreiben. Ich fühle mich zu verletzlich. Zu schutzlos. Alles, was ich sage, könnte gelesen, verdreht, gewertet werden.

Deshalb schreibe ich einen Brief an ihn.

3. KAPITEL

Privatsphäre ist eine Illusion.

Da du meinen Brief gelesen hast, weißt du das ja offenbar. Er war nicht an dich adressiert. Nicht für dich gedacht. Er hatte nichts mit dir zu tun. Er war eine Sache zwischen meiner Mutter und mir.

Ich weiß, dass sie tot ist.

Ich weiß, dass sie die Briefe nicht lesen kann.

Ich weiß, dass ich nur ganz wenig tun kann, um mich ihr noch nah zu fühlen.

Jetzt habe ich nicht mal mehr das.

Begreifst du überhaupt, was du mir weggenommen hast? Hast du eine Ahnung davon?

Was du geschrieben hast, lässt annehmen, dass du verstehst, was Leiden heißt.

Aber das glaube ich nicht.

Denn wenn es so wäre, dann hättest du dich nicht eingemischt.

Mein erster Gedanke ist, dass dieses Mädchen verrückt sein muss. Wer schreibt schon auf einem Friedhof an irgendeinen Fremden?

Mein zweiter Gedanke ist, dass ich nicht derjenige von uns beiden bin, der das Maul weit aufreißen sollte.

In jedem Fall kennt sie mich nicht. Sie weiß also auch nicht, was ich verstehe.

Ich sollte nicht mal hier sein. Es ist Donnerstagabend, was bedeutet, dass ich auf der anderen Seite des Friedhofs den Rasen mähen sollte. Ich habe auch nicht massenhaft Zeit, um rumzustehen und Briefe von einer Fremden zu lesen. Melonhead hat demonstrativ auf seine Armbanduhr geschaut, als ich fünf Minuten zu spät den Geräteschuppen betreten habe. Wenn er mich jetzt beim Rumtrödeln erwischt, wird mich das teuer zu stehen kommen.

Und wenn er mir weiterhin damit droht, die Richterin anzurufen, werde ich irgendwann die Nerven verlieren.

Es dauert nur einen Moment, bis sich meine Verwirrung legt und ich nur noch ein schlechtes Gewissen habe. Ich stehe hier, weil mich der letzte Brief berührt hat. Ich wollte sehen, ob wieder einer abgelegt worden ist.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass jemand lesen würde, was ich geschrieben habe.

Es ist wie ein Schlag ins Gesicht, als mir klar wird, dass es ihr genauso ergangen sein muss.

Ich wühle in meinen Taschen nach einem Stift, finde aber nur meine Schlüssel und ein Feuerzeug.

Ach ja. In der siebten Stunde brauchte Rev einen Stift. Es passt gar nicht zu ihm, was Geliehenes nicht zurückzugeben. Nicht mal so was Banales wie einen alten Bleistift.

Vielleicht will mir das Schicksal auf diese Weise zu verstehen geben, dass ich es lassen und lieber überlegen soll, bevor ich den Mund aufmache. Oder bevor ich schreibe. Wie auch immer.

Ich falte ihren Wutbrief zusammen und stecke ihn in die Tasche. Dann ziehe ich die Handschuhe an und gehe zu meinem Rasenmäher. Zwar hasse ich es, hier zu sein, aber nachdem ich das nun schon seit Wochen mache, habe ich rausgefunden, dass man bei anstrengender körperlicher Arbeit gut nachdenken kann.

Ich werde also arbeiten und nachdenken.

Und später komme ich zurück, um etwas zu schreiben.

4. KAPITEL

Ich glaube, dass du keine Ahnung von Leid hast. Denn wenn, dann hättest du dich nicht eingemischt.

Schon mal daran gedacht, dass meine Worte nicht für dich gedacht waren?

„Jules?“

Ich schaue hoch. Die Cafeteria ist fast leer, aber Rowan steht da und sieht mich erwartungsvoll an.

„Alles in Ordnung?“, fragt sie. „Es hat schon vor fünf Minuten geklingelt. Ich dachte, wir wollten uns vor meinem Spind treffen.“

Ich falte den zerknitterten Brief zusammen, den ich heute Morgen gefunden habe, stopfe ihn in meinen Rucksack und zerre am Reißverschluss. Ich weiß nicht, wann der Kerl ihn geschrieben hat, aber es muss letzte Woche gewesen sein, weil das Papier so wellig ist, als wäre es nass geworden und wieder getrocknet. Und seit Samstag hat es nicht geregnet.

Das war seit einer ganzen Weile das erste Wochenende, an dem ich nicht auf den Friedhof gegangen bin. Ein kleiner Teil von mir ist verwirrt, weil dieser Brief dort tagelang rumlag. Die Selbstgerechtigkeit des Verfassers hat wahrscheinlich abgenommen, während sich meine frisch und warm in meiner Brust anfühlt.

Ich bin froh, dass ich heute Morgen dort war. Sie mähen immer Dienstagabend den Rasen, und dann hätte ihn wahrscheinlich jemand weggeworfen.

„Was hast du dir denn da gerade angesehen?“, fragt Rowan.

„Einen Brief.“

Sie fragt nicht weiter nach. Sie glaubt, es handle sich um einen Brief an meine Mutter. Ich lasse sie in dem Glauben.

Es muss ja nicht sein, dass man mich für noch verrückter hält als ohnehin schon.

Es läutet zum letzten Mal. Ich muss los. Wenn ich noch eine Mahnung wegen Zuspätkommens kriege, muss ich nachsitzen. Schon wieder. Allein der Gedanke daran lässt mich schneller laufen.

Ich halte noch mal Nachsitzen nicht aus. Ich kann nicht eine ganze Stunde in diesem Raum hocken. Die Stille dort schmerzt mich in den Ohren und lässt mir zu viel Zeit zum Nachdenken.

Rowan ist direkt neben mir. Wahrscheinlich begleitet sie mich bis in mein Klassenzimmer und redet es der Lehrkraft zuckersüß aus, mich aufzuschreiben. Über Verspätungsabmahnungen oder Nachsitzen braucht sie sich keine Gedanken zu machen – die Lehrer lieben sie. Sie sitzt in jeder Stunde in der ersten Reihe und hängt ihnen an den Lippen, als würde sie jeden Morgen mit einem wahnsinnigen Wissensdurst aufwachen. Rowan gehört zu diesen Mädchen, die man liebend gern hasst: zierlich und hübsch, hat für jeden ein freundliches Wort und schreibt anscheinend mühelos immer nur die besten Noten. Sie könnte viel beliebter sein, wäre sie nicht so perfekt. Das sage ich ihr andauernd.

Und wenn wir ganz offen sein wollen, dann wäre sie sogar noch beliebter, wenn nicht das Wrack der zwölften Klasse ihre beste Freundin wäre.

Als ich den Brief heute Morgen fand, erwartete ich eigentlich, dass ich ihn lesen und losheulen würde. Stattdessen erwachte nur der Wunsch in mir, diesen Loser zu finden und ihm ins Gesicht zu schlagen. Mit jedem Mal Lesen werde ich noch ein bisschen wütender.

Schon mal daran gedacht, dass meine Worte nicht für dich gedacht waren?

Die Wut hilft mir, die leise innere Stimme zu überhören, die fragt, ob er vielleicht recht hat.

Die Flure sind menschenleer, was eigentlich nicht möglich ist. Wo sind denn die ganzen anderen Faulenzer? Warum komme immer nur ich zu spät?

Außerdem ist es ja nicht so, dass ich nicht hier bin. Ich bin physisch im Gebäude anwesend. Aber ich verwandle mich natürlich auch nicht gerade in eine Musterschülerin, sobald sich ein Lehrer vorn an die Tafel stellt.

Als wir den Flügel für Sprachen und Kunst erreicht haben, rennen wir fast und schlittern um jede Kurve. Ich halte mich an der Wand fest, als wir in den letzten Flur einbiegen.

Das Brennen spüre ich schon vor dem Zusammenstoß. Heiße Flüssigkeit verbrüht meine Haut, und ich schreie auf. Ein Becher voll Kaffee ist auf meiner Brust explodiert. Dann pralle ich gegen etwas Hartes, rutsche und falle.

Gegen jemand Hartes.

Dann befinde ich mich auf dem Boden, auf Augenhöhe mit abgestoßenen schwarzen Schnürstiefeln.

In einer romantischen Komödie wäre dies das niedliche Treffen des Paars. Dann müsste der Junge so heiß sein wie ein Filmstar, ein knackiger Quarterback und gleichzeitig Jahrgangsbester. Er würde mir die Hand reichen und zufällig ein extra T-Shirt in seinem Rucksack dabeihaben. Das würde ich mir auf der Toilette anziehen, und danach würden meine Brüste irgendwie größer und meine Hüften schmaler wirken. Er würde mich noch bis zu meinem Klassenzimmer begleiten und fragen, ob ich mit ihm auf den Abschlussball gehe.

Im wahren Leben ist der Typ Declan Murphy, und er knurrt regelrecht. Sein Shirt und seine Jacke sind ebenfalls vom Kaffee durchgeweicht, und er zerrt sich den Stoff von der Haut.

Während der Junge in der romantischen Komödie der beste Quarterback wäre, ist Declan der Außenseiter der Zwölften. Er ist vorbestraft und Dauerkandidat fürs Nachsitzen. Er ist groß und gemein, und auch wenn rotbraunes Haar und ein markantes Kinn manche Mädchen vielleicht ansprechen, genügt sein finsterer Blick, um sie wieder abzuschrecken. Eine Narbe geht quer durch eine seiner Augenbrauen, und wahrscheinlich ist es nicht die einzige. Die meisten Leute haben Angst vor ihm, und das aus gutem Grund. Rowan versucht gleichzeitig, mir aufzuhelfen und mich von ihm wegzuziehen.

Er starrt mich höhnisch an. Dazu sagt er mit rauer, tiefer Stimme: „Hast du sie nicht mehr alle?“

Ich reiße mich von Rowan los. Meine Bluse klebt an meiner Brust, und ich wette, er hat durch den hellgrünen Stoff einen tollen Blick auf meinen dunkelroten BH. So heiß der Kaffee zuerst auch war, jetzt fühle ich mich nur noch nass und friere. Das hier ist demütigend und schrecklich. Ich weiß nicht, ob ich losheulen oder Declan doch lieber anschreien soll.

Mein Atem stockt, aber ich reiße mich zusammen. Ich habe keine Angst vor ihm. „Du hast mich über den Haufen gerannt.“

Er schaut böse. „Ich bin nicht derjenige, der gerannt ist.“

Dann macht er eine schnelle Bewegung nach vorn. Ohne es zu wollen, zucke ich zusammen.

Okay, vielleicht fürchte ich mich doch vor ihm.

Keine Ahnung, was ich erwartet habe. Jetzt hält er kurz inne, runzelt über meine Reaktion die Stirn und bückt sich dann, um seinen Rucksack aufzuheben, der runtergefallen ist.

Oh.

Vermutlich stimmt irgendwas mit mir nicht. Ich möchte ihn immer noch anschreien, obwohl das hier meine Schuld war. Mein Kiefer verspannt sich.

Immer mit der Ruhe, Juliet.

Die Erinnerung an meine Mutter trifft mich heftig und plötzlich. Es grenzt an ein Wunder, dass ich nicht sofort in Tränen ausbreche. Nichts hält mich mehr zusammen. Ein falsches Wort, und schon wäre es um mich geschehen.

Declan richtet sich auf, blickt immer noch finster, und ich weiß, dass er gleich irgendwas richtig Gemeines sagen wird. Das und dazu noch der vorwurfsvolle Brief dürften genügen, um mich in ein nasses Häufchen Elend zu verwandeln.

Aber dann sucht sein Blick meine Augen, und irgendwas, was er dort sieht, nimmt ihm den finsteren Gesichtsausdruck.

Da ertönt neben uns eine blecherne Stimme. „Declan Murphy. Mal wieder zu spät, wie ich sehe.“

Mr. Bellicaro, den ich in der Neunten in Bio hatte, steht neben Rowan. Ihre Wangen sind gerötet, und sie sieht fast panisch aus. Anscheinend hat sie den Ärger schon geahnt und ist losgelaufen, um einen Lehrer zu holen. Das passt genau zu ihr. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich mich darüber ärgern oder ob ich erleichtert sein soll. Hinter ihm steht eine Klassenzimmertür offen, aus der Kinder neugierig auf den Flur spähen.

Declan wischt Kaffeetropfen von seiner Jacke. „Ich war nicht zu spät. Sie ist in mich reingerannt.“

Mr. Bellicaro verzieht den Mund. Er ist klein und rundlich, was eine rosafarbene Sweater-Weste noch unterstreicht. Er ist nicht gerade beliebt. „Außerhalb der Cafeteria ist es verboten zu essen …“

„Kaffee ist kein Essen“, sagt Declan.

„Mr. Murphy. Ich glaube, Sie kennen den Weg zum Büro des Direktors.“

„Klar. Ich könnte Ihnen eine Karte davon zeichnen.“ Seine Stimme klingt scharf, und wütend beugt er sich vor. „Das war nicht meine Schuld.“

Rowan zuckt bei seinem Ton zurück. Nervös knetet sie ihre Hände, was ich verstehen kann. Einen Moment lang frage ich mich auch, ob dieser Kerl gleich eine Lehrkraft schlagen wird.

Mr. Bellicaro richtet sich auf. „Muss ich die Security rufen?“

„Nein“, sagt Declan verbittert und hebt die Hände. Seine Augen sind vor Wut ganz dunkel. „Nein. Ich geh schon.“ Das tut er dann auch, leise vor sich hin fluchend. Gleichzeitig knüllt er den Pappbecher zusammen und schleudert ihn in einen Papierkorb.

In mir toben so viele Gefühle, dass ich mich kaum auf eines davon konzentrieren kann. Verlegenheit, weil es ja tatsächlich meine Schuld war und ich trotzdem dastehe und ihn die Sache ausbaden lasse. Kränkung, weil er so mit mir geredet hat. Furcht, weil er so reagiert hat.

Faszination, weil seine Miene gar nicht mehr finster aussah, als unsere Blicke sich trafen.

Ich wünsche mir, ich hätte ein Foto von seinem Gesichtsausdruck in genau diesem Moment. Oder davon, wie er jetzt den düsteren Flur entlanggeht. Durch jedes Fenster, an dem er vorbeikommt, fällt Licht auf sein Haar und lässt es golden aufleuchten, während seine breiten Schultern und die dunkle Jeans im Schatten bleiben. Seit Moms Tod will ich meine Kamera nicht mehr anfassen, aber jetzt wünsche ich mir plötzlich, ich hätte sie zur Hand. Meine Finger zucken regelrecht.

„Für Sie, Miss Young.“

Ich drehe mich um, und Mr. Bellicaro hält mir ein Blatt Papier hin.

Nachsitzen. Wieder mal.

5. KAPITEL

Du hast recht.

Ich hätte mich nicht in deine Trauer einmischen sollen.

Es tut mir leid.

Es bedeutet aber nicht, dass du das Recht hattest, meinen Brief zu lesen. Irgendwie hasse ich dich dafür immer noch. Ich sitze jetzt schon seit einer Viertelstunde hier, starre aufs leere Papier und versuche, mich daran zu erinnern, wie es sich angefühlt hat, ihr zu schreiben und zu wissen, dass meine Gedanken auf diese Weise von größerer Dauer sein würden als in einem Gespräch.

Stattdessen kann ich nur an dich und dein „Ich auch“ denken und daran, was es bedeutet und ob dein Schmerz irgendwie mit meinem vergleichbar ist.

Nicht, dass mich das irgendwas anginge.

Ich weiß ja nicht mal, ob du meine Entschuldigung überhaupt lesen wirst, aber ich muss das bei irgendwem loswerden. Ich habe schon eine ganze Weile ein schlechtes Gewissen.

Nicht dir gegenüber. Sondern gegenüber jemand anderem.

Ich schulde diesem „jemand“ eine Entschuldigung, aber ich kenne ihn genauso wenig wie dich. Und bestimmt fange ich jetzt nicht an, Nachrichten an zwei Fremde zu schreiben. Vorläufig ist das hier das Beste, was ich tun kann, und ich hoffe einfach, dass das schlechte Gewissen nachlässt.

Hast du schon mal von Kevin Carter gehört? Er hat einen Pulitzer-Preis für das Foto eines sterbenden Mädchens gewonnen. Es ist ein ziemlich berühmtes Foto, also hast du es vielleicht schon mal gesehen. Ein kleines hungerndes Mädchen im Sudan versucht, eine Essensausgabe zu erreichen. Die Kleine muss anhalten und sich ausruhen, weil sie nur noch Haut und Knochen ist. Sie muss Rast machen, weil ihr die Kraft fehlt, direkt bis zur Essensausgabe zu laufen.

Also ruht sie sich im Staub aus, dieses winzige Mädchen, während in der Nähe ein Geier hockt und wartet.

Verstehst du? Der wartet. Darauf, dass sie sterben wird.

Manchmal denke ich an dieses Bild. An diesen Moment.

Manchmal fühle ich mich wie das Mädchen.

Manchmal wie der Geier.

Manchmal auch wie der Fotograf, der nichts anderes tun konnte, als zuzusehen.

Kevin Carter brachte sich um, nachdem er den Pulitzer-Preis gewonnen hatte.

Manchmal glaube ich zu verstehen, warum.

Ich brauche eine Zigarette.

Motten flattern um die Lampe auf der Veranda und stoßen gegen ihren Schirm aus Glas. Es ist fast Mitternacht an diesem Donnerstag, und in der Umgebung ist kaum ein Geräusch zu hören.

Das gilt nicht für das Haus, vor dem ich sitze. Mein Stiefvater Alan ist noch wach, und meine Mutter ist mit Freundinnen ausgegangen. Deshalb will ich noch nicht rein.

Alan mag mich nicht besonders.

Wirklich nicht. Das beruht auf Gegenseitigkeit.

Der Brief steckte den ganzen Abend über in meiner hinteren Hosentasche. Ich habe keine Ahnung, wann sie ihn geschrieben hat, aber es muss irgendwann in den letzten 48 Stunden gewesen sein. Als ich Dienstagabend nachgesehen habe, war er noch nicht da. Melonhead ging auf mich los, weil ich zu spät kam und keiner sich meine Erklärungen anhören will.

„Ich musste nachsitzen“, sagte ich ihm.

Er füllte gerade im Geräteschuppen Treibstoff in einen der Rasenmäher. Es war höllisch heiß da drin, und sein Shirt klebte ihm am Körper. Es ist sowieso eng da und riecht immer nach einer Mischung aus Grasschnitt und Benzin. Ich mag das.

Ich mochte nicht, wie Melonhead mich ansah. Mit so einem angewiderten Ausdruck, als wäre ich nur ein weiterer Loser.

„Du kannst die fehlende Stunde am Samstag nacharbeiten“, sagte er.

„Ich kann sie am Donnerstag reinholen.“

„Nein, du wirst sie am Samstag nacharbeiten.“

Ich hielt meinen Zettel hoch. „Ich bin nur verpflichtet, dienstags und donnerstags zu arbeiten.“

Er zuckte nur mit den Schultern und wandte sich zur Tür um. „Du bist verpflichtet, von vier bis acht zu arbeiten. Jetzt ist es zehn nach fünf. Du kannst die eine Stunde am Samstag nachholen.“

„Hören Sie, Mann, ich kann ja bis neun bleiben …“

„Denkst du etwa, ich will wegen dir Überstunden machen?“

Natürlich nicht. Er wollte nach Hause zu Frau und Kind, damit er mich demnächst mit noch mehr Storys langweilen konnte. Ich schlug mit der Faust gegen die Wand neben dem Rasenmäher und fluchte. „Glauben Sie etwa, ich will überhaupt hier sein?“

Er blieb im Türrahmen stehen, und eine Sekunde lang war ich mir nicht sicher, ob er sich umdrehen und mir eine reinhauen würde. Aber er sah mich nur an und sagte mit unveränderter Stimme: „Du solltest dankbar dafür sein, dass du hier sein kannst. Wenn du willst, dass ich deine Bestätigung für acht Stunden unterschreibe, erscheinst du am Samstag.“ Melonhead wollte sich schon wieder abwenden, hielt aber noch mal inne. „Und reiß dich zusammen. Ich will nicht, dass hier geflucht wird.“

Ich machte den Mund auf, um etwas zu entgegnen, aber er stand einfach nur da, mit der Sonne im Rücken, und ich wusste, wenn ich es drauf ankommen ließ, würde er im nächsten Moment die Richterin anrufen.

Ich hasse es, dass er mich so erpressen kann. Als ich die Strafe bekam, dachte ich noch, Rasenmähen auf einem Friedhof wäre easy und dass mich da keiner nerven würde. Damals war mir noch nicht klar gewesen, dass dazu auch ein Typ gehört, dem es eine Art Machtrausch verschafft, mich rumkommandieren zu können.

Das Blatt in meiner Faust war schon halb zerknüllt. „Sie können mich nicht zwingen, am Samstag zu arbeiten.“

„Wenn dir das nicht passt, musst du eben pünktlich sein.“

Heute bin ich früh aufgetaucht, in der Hoffnung, mir damit eine Fleiß- oder Freikarte zu verdienen, aber keine Chance. Dafür habe ich einen Brief von Cemetery Girl, dem Friedhofsmädchen, gefunden.

Irgendwie frage ich mich, ob es mir nicht besser ginge, wenn ich den jetzt nicht in den Händen halten würde. Das Ganze ist deprimierend, faszinierend und furchterregend zugleich.

Ich weiß nicht, von welchem Foto sie da schreibt. Das erste kannte ich auch nicht. Das mit dem Schreien, den Blumen, dem Blut und der Waffe. Ich muss die Bilder eigentlich auch nicht sehen, weil ihre Beschreibung die Einzelheiten schmerzhaft genau wiedergibt.

Aber wenn ich jetzt ihre Zeilen über den Geier und das kleine Mädchen lese, dann will ich es doch recherchieren.

Das Gartentor an der Seite rattert. Ich falte den Brief rasch zusammen und schiebe ihn mir unter den Oberschenkel. Eigentlich rechne ich mit meiner Mutter, doch dann höre ich ein Schniefen und weiß, es ist Rev. Er reagiert auf alles allergisch, auch auf die meisten Menschen.

„Du bist noch spät draußen“, sage ich. Rev würde es ähnlicher sehen, mich um sechs Uhr morgens aus dem Bett zu holen, als um kurz vor Mitternacht aufzutauchen.

„Sie haben heute Nachmittag ein Baby aufgenommen. Das will nicht einschlafen. Mom sagt, weil es Angst vorm Verlassenwerden hat. Dad sagt, die Kleine wird sich bald beruhigen. Ich sagte, da brauche ich erst mal einen Spaziergang.“ Er wirkt nicht irritiert, denn so was ist er gewohnt.

Geoff und Kristin sind Pflegeeltern. Sie wohnen auf der anderen Seite des Blocks, aber ihr Garten liegt schräg gegenüber von unserem. So haben wir immer einen ziemlich guten Blick auf die Kinder, die zu ihnen ins Haus kommen.

Rev war das erste. Er tauchte vor zehn Jahren auf, da war er sieben und dürr, mit Brillengläsern so dick wie Flaschenböden und so heftigen Allergien, dass er kaum atmen konnte. Seine Klamotten waren zu klein, einer seiner Arme war eingegipst, und er sprach nicht. Geoff und Kristin sind die nettesten Menschen der Welt – sie sind sogar zu mir nett, und das will was heißen. Rev haute trotzdem ab.

Ich fand ihn in meinem Kleiderschrank. In eine Ecke gekauert schaute er mich unter seinen strubbeligen Haaren hervor an und umklammerte dabei eine zerfledderte alte Bibel.

Ich hatte eine Schachtel Legosteine dort drin, deshalb dachte ich, er sei zum Spielen da reingekrochen. Als würden öfter Kinder in meinem Schrank auftauchen. Keine Ahnung, was ich mir dabei dachte. Jedenfalls quetschte ich mich noch zu ihm rein und fing an, irgendwas aus den Steinen zu bauen.

Wie sich rausstellte, hatte er Angst vor Geoff und Kristin, weil sie schwarz sind. Sein Dad hatte ihm gesagt, Schwarze wären böse und vom Teufel geschickt.

Ironischerweise hatte ausgerechnet sein Dad Rev regelmäßig verprügelt.

Normalerweise zitierte er dazu auch noch aus der Bibel.

Vor fünf Jahren haben Geoff und Kristin Rev adoptiert. Er sagt, das wäre keine große Sache gewesen und sie seien sowieso seit Jahren die einzigen Eltern, die er kennen würde. Außerdem wäre es bloß ein Stück Papier.

Aber es war eine große Sache. Irgendwas in ihm ist dadurch zur Ruhe gekommen.

Jetzt trägt er tagsüber Kontaktlinsen, doch seine Haare sind immer noch relativ lang. Meine Schwester Kerry hat immer gesagt, dass er sich dahinter versteckt. Als Rev acht war, erklärte er Geoff, nie wieder solle ihm jemand wehtun können. Daraufhin meldete Kristin ihn am nächsten Tag zum Kampfsport an. Dabei ist er geblieben und hat es vielleicht sogar ein bisschen übertrieben. Selbst wenn man sich wegen der Brille, der Allergien und der Schüchternheit denken könnte, er sei ein Loser, würde man ihm das nie ins Gesicht sagen. Denn inzwischen hat er eine Statur wie ein MMA-Kämpfer. Dazu noch ein bester Freund, der vorbestraft ist – nämlich ich –, und schon machen die meisten Kids in der Schule einen Riesenbogen um dich.

Das ist auch irgendwie witzig, denn Rev ist ungefähr so aggressiv wie ein alter Golden Retriever.

Ich rutsche beiseite, damit er sich neben mich setzen kann, und er lässt sich auf die Stufe fallen.

„Was hast du eben gelesen?“, fragt er.

Er muss es von seinem Garten aus gesehen haben. Ich zögere, bevor ich antworte.

Was albern ist. Er kennt jedes meiner Geheimnisse. Er hat gesehen, wie meine Familie auseinanderbrach, inklusive der fehlgeleiteten Versuche meiner Mutter, wieder alles zu kitten. Er kennt sogar die Wahrheit über Kerry. Dabei dachte ich letzten Mai noch, dass ich die mit mir ins Grab nehmen würde.

Ich zögere trotzdem. Irgendwie kommt es mir vor, als würde ich vielleicht ein Geheimnis verraten, wenn ich jemandem von Cemetery Girl erzähle.

Dabei weiß ich ja nicht mal, wer sie überhaupt ist.

Ich möchte das lieber auf einen anderen Zeitpunkt verschieben. Rev sagt nichts.

Schließlich ziehe ich das Blatt unter meinem Bein hervor und gebe es ihm.

Er liest schweigend, dann reicht er es mir zurück. „Wer ist sie?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Ich schweige kurz. „Die Tochter von Zoe Rebecca Thorne.“

„Wer?“

Ich drehe den Brief in meinen Händen und lasse das Papier durch meine Finger gleiten. „Letzte Woche habe ich einen Brief gefunden, der an einem Grabstein lehnte. Den hab ich gelesen. Er handelte von …“ Ich zögere wieder. Trotz allem, was Rev weiß, war es leichter, einer anonymen Leserin über Leben und Tod zu schreiben. Ich muss mich räuspern. „Es ging darum, plötzlich jemanden zu verlieren.“

„Da dachtest du an Kerry.“

Ich nicke.

Eine Zeit lang sitzen wir schweigend da, und ich höre, wie die Motten gegen die Lampe flattern. Irgendwo weiter unten in der Straße geht eine Sirene los, verstummt aber wieder.

Rev sagt: „Aber das hier ist ein anderer Brief, oder?“

„Ja. Ich hab ihr auf den ersten geschrieben.“

„Du hast zurückgeschrieben?“

„Ich dachte doch nicht, dass sie das liest!“

„Wieso bist du dir so sicher, dass es ein Mädchen ist?“

Gute Frage. Ganz sicher bin ich mir gar nicht. Aber gleichzeitig lautete doch auch seine erste Frage: Wer ist sie? „Wieso bist du dir denn so sicher, dass es ein Mädchen ist?“

„Weil du nicht hier sitzen und über den Brief von irgendeinem Kerl grübeln würdest. Lass ihn mich noch mal sehen.“

Ich gebe ihn ihm. Während er liest, denke ich über seine Worte nach. Grübeln? Grübele ich? Ich kenne sie ja noch nicht mal.

„Manchmal fühle ich mich wie das Mädchen“, zitiert er.

„Genau.“

„Das ist Papier aus einem Heft“, bemerkt er.

„Ich weiß.“ Der Friedhof liegt hier in der Nähe. Mir ist auch schon in den Sinn gekommen, dass sie ebenfalls an der Hamilton High School sein könnte.

„Mann. Sie könnte auch erst elf sein.“

Okay, daran habe ich bisher nicht gedacht.

Ich reiße ihm den Brief wieder weg. „Halt die Klappe. Das ist doch total egal.“

„Ich zieh dich doch bloß auf. Sie klingt nicht wie elf.“ Er schweigt kurz. „Vielleicht war der Brief ja für dich gedacht.“

„Nein, sie war ganz schön angepisst, weil ich zurückgeschrieben habe.“

Jetzt zögert er. „Ich meine auch nicht, dass sie den Brief für dich verfasst hat.“

Ich brauche eine Sekunde, um zu verstehen, was er meint. „Rev, wenn du jetzt anfängst zu predigen, gehe ich rein.“

„Ich predige nicht.“

Nein. Tut er nicht. Noch nicht.

Die alte Bibel, die er umklammerte, als ich ihn in meinem Kleiderschrank fand, hat er immer noch. Sie hat mal seiner Mutter gehört. Er hat sie schon ungefähr zwanzig Mal gelesen. Er ist bereit, mit jedem über Theologie zu debattieren, der dazu Lust hat – ich gehöre nicht zu dieser Sorte Mensch. Geoff und Kristin haben ihn früher in die Kirche gebracht, aber er meinte, ihm gefiele nicht, dass er dann nicht mehr an seiner eigenen Interpretation festhalten könne.

Was er ihnen nicht sagte: dass es ihn zu sehr an seinen Vater erinnerte, wenn er zu einem Mann auf der Kanzel hochschaute.

Rev läuft nicht rum und zitiert Bibelverse oder so – jedenfalls normalerweise nicht –, aber sein Glaube ist felsenfest. Ich habe ihn mal gefragt, wie er an einen gnädigen Gott glauben kann, nachdem er das Zusammenleben mit seinem eigenen Vater nur knapp überlebt hat.

Da sah er mich an und sagte: „Eben weil ich es überlebt habe.“

Und dagegen kann man nicht argumentieren.

Jetzt wünsche ich mir, ich hätte ihm nichts von den Briefen erzählt. Ich will keine religiöse Analyse.

„Dann nenn es eben nicht Gott“, sagt er. „Nenn es Schicksal. Findest du das nicht interessant, dass unter all den Leuten, die den Brief hätten finden können, ausgerechnet du das warst?“

Das ist, was ich an Rev am liebsten mag. Er zwingt niemandem irgendwas auf. Ich nicke.

„Willst du zurückschreiben?“

„Keine Ahnung.“

„Lügner.“

Er hat recht. Ich will tatsächlich zurückschreiben.

Ich überlege mir sogar schon, was.

6. KAPITEL

Ich würde sagen, du bist ein bisschen düster drauf. Aber da ich hier einem Mädchen schreibe, das Briefe auf einem Friedhof hinterlässt, braucht man sich darüber vermutlich nicht zu wundern.

Du hast geschrieben, dass du dich fragst, ob mein Schmerz irgendwie wie deiner ist.

Keine Ahnung. Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll.

Du hast deine Mutter verloren. Ich habe meine nicht verloren.

Findest du es nicht seltsam, dass man sagt „verloren“, als hätte man sie nur verlegt? Aber vielleicht ist es ja auch eine andere Bedeutung von „verloren“, wie wenn man nicht weiß, wo derjenige hin ist. Mein bester Freund glaubt an Gott und den Himmel und das ewige Leben, aber ich bin mir nicht sicher, wie ich zu alldem stehe. Wir sterben, und unsere Körper verwandeln sich in einem biologischen Kreislauf wieder zu Erde, oder? Und unsere Seele (oder was auch immer) soll ewig weiter existieren? Wo war sie dann vorher?

Mein Freund würde sich nicht mehr einkriegen, wenn er wüsste, dass ich dir so was schreibe, weil das was ist, worüber ich mit ihm nie diskutieren werde.

Wenn ich ganz ehrlich bin, überlege ich gerade stark, diesen Brief zu zerknüllen und noch mal von vorne anzufangen.

Aber nein. Wie du schon gesagt hast, gibt es einem eine gewisse Sicherheit, an einen total Fremden zu schreiben. Ich könnte zwar den Computer hochfahren und den Namen von deiner Mom googeln. Und wahrscheinlich würde ich dabei auch irgendwas über dich finden, aber für den Moment gefällt es mir so besser.

Meine Schwester ist vor vier Jahren gestorben. Mit zehn.

Wenn Leute hören, dass sie so jung gestorben ist, vermuten sie immer, dass wir ihre letzten Tage umgeben von Onkologen und Krankenschwestern verbracht haben. Haben wir aber nicht. Wir wussten nicht mal, dass es ihre letzten Tage sein würden. Sie war kerngesund.

Krebs hat sie nicht umgebracht. Es war mein Vater.

Ich hätte es verhindern können, habe ich aber nicht.

Wenn du schreibst, du fühlst dich wie der Fotograf, unfähig, irgendwas anderes zu tun, als zuzusehen, dann glaube ich jedenfalls genau zu wissen, was du meinst.

Es ist Sonntagnachmittag, und ich sitze seit zwei Stunden in der Sonne. Für einen Besuch auf dem Friedhof ist das ein beliebter Tag, und den ganzen Nachmittag lang habe ich schon Trauernde kommen und gehen gesehen.

Ich habe seinen Brief siebzehn Mal gelesen.

Jetzt lese ich ihn noch mal.

Er hat seine Schwester verloren. Ich denke an den ersten Brief zurück, auf den er geschrieben hat: Ich auch.

Er hat daran gedacht, mich im Internet zu suchen. Also eigentlich meine Mutter. Wenn ich bedenke, dass ich hier fast auf ihrem Grab stehe, um zu sehen, ob er aufkreuzt, dann kann ich ihm eigentlich keinen Vorwurf machen.

Er könnte jede Suchmaschine benutzen, die er will, und würde trotzdem nicht viel über mich finden. Meine Mutter hatte sich schon vor ihrer Hochzeit einen Namen als Fotojournalistin gemacht, deshalb war sie sich auch sicher, ihn nicht ändern zu wollen. Und so führt das Googeln von „Zoe Thorne“ niemanden zu Juliet Young. Mein Nachname stand nicht mal in der Todesanzeige.

Zoe hinterlässt ihren Ehemann Charles und ihre Tochter Juliet.

Hinterlässt. Dieser Typ hat recht. Die Wörter, die wir im Zusammenhang mit dem Tod benutzen, sind bizarr. Als hätten wir irgendwas zu verbergen.

Ich schätze, die Todesanzeige wäre auch seltsam angekommen, wenn darin gestanden hätte: Zoe starb auf dem Heimweg vom Flughafen, nachdem sie neun Monate in einem Kriegsgebiet verbracht hatte. Zurück bleiben ihr Ehemann Charles und ihre Tochter Juliet mit einer Willkommen-Zuhause-Torte, die noch einen Monat lang im Kühlschrank liegen wird, bevor einer von ihnen es über sich bringt, sie wegzuwerfen.

Also vielleicht verbergen wir tatsächlich etwas.

Jetzt verstehe ich auch, warum er nicht imstande war, unseren Schmerz zu vergleichen. Ich bin ein Einzelkind, also kann ich mir nicht vorstellen, wie es ist, ein Geschwister zu verlieren. Seit dem Tod meiner Mutter scheinen mein Vater und ich um verschiedene Planeten der Trauer zu kreisen und haben nur miteinander zu tun, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt. Davon ausgehend bin ich mir ziemlich sicher, dass Dad nicht gemeingefährlich ist. Ich würde sogar sagen, er ist kaum bei Bewusstsein.

Krebs hat sie nicht umgebracht. Es war mein Vater.

Vor vier Jahren. Ich zermartere mir das Hirn und versuche, mich an irgendwas in den Nachrichten zu erinnern, über einen Vater, der seine Tochter umgebracht hat. Vor vier Jahren war ich dreizehn. Und das ist nicht gerade eine Geschichte, die mein Vater beim Abendessen erzählt hätte. Und Mom war eher für Nachrichten aus der weiten Welt zuständig, wenn sie überhaupt mal zu Hause war. Mom konnte über geopolitische Zusammenhänge, Kriege und Staatsoberhäupter berichten, aber lokale Kriminalität? Konnte man vergessen. Unterhalb ihrer Gehaltsklasse, pflegte sie zu sagen.

Moment.

Vor vier Jahren war seine Schwester zehn gewesen. Das bedeutet, sie wäre heute vierzehn.

Ist der Junge mit dem Brief ein älterer oder ein jüngerer Bruder? Könnte es sein, dass ich mir mit einem Zwölfjährigen schreibe? Oder mit jemandem Anfang zwanzig?

Unsere Gedanken sind zu reif, um von einem Zwölfjährigen behandelt zu werden. Sein Brief ist auf Heftpapier geschrieben, genau wie meine es sind. Das bedeutet wegen der Lineatur Highschool oder College.

Er schreibt mit Bleistift, deshalb denke ich an Highschool, aber sicher bin ich mir nicht.

Ein paar Meter weiter legt ein älterer Mann Rosen vor einen Grabstein. Das Sonnenlicht reflektiert von der Plastikfolie.

Das ist pure Geldverschwendung, denn hier wird jeden Dienstag gemäht, und ich nehme stark an, dass sie all die Sachen wegschmeißen, die die Leute so ablegen. Deshalb habe ich auch nie etwas anderes als Briefe hinterlassen.

Sie schmeißen all die Sachen weg.

Die Briefe. Der Hausmeistertyp. Wie hieß er doch gleich? Mr. Melendez?

Plötzlich fühle ich mich bloßgestellt, obwohl es Sonntagnachmittag ist und sonntags nie Rasen gemäht wird.

Igitt. Der ist so um die vierzig.

Er kann es nicht sein. Oder? Der unbekannte Schreiber kommt mir nicht vor wie jemand, der so viel älter ist als ich. Außerdem wäre so ein Altersunterschied zwischen Bruder und Schwester ungewöhnlich. Nicht unmöglich, aber ziemlich selten.

Der Mann mit den Rosen geht jetzt. Er hat mich hier drüben vielleicht bemerkt, aber keiner sieht mich jemals richtig an. Ich sehe die anderen auch nie an. Wir sind alle in unserer Trauer vereint, aber gleichzeitig jeder für sich allein.

Meine Schwester ist vor vier Jahren gestorben.

Ich bin so blöd. Der Junge mit dem Brief ist wahrscheinlich ein Friedhofsbesucher, und er hat mir doch eigentlich beschrieben, wie ich das Grab seiner Schwester finden kann. Sie muss hier irgendwo in der Nähe liegen. Wie hätte er denn sonst meinen Brief sehen sollen?

Ich fange an, die Reihen entlangzugehen. In immer größeren Kreisen, wobei ich auf Steine achte, die schon ein wenig verwittert sind. Ein paarmal stimmt zwar das Sterbejahr, aber nicht das Alter und das Geschlecht. Das Gras raschelt unter meinen Füßen, und irgendwann habe ich den Eisenzaun erreicht, der den Friedhof umgibt. Inzwischen ist es später Nachmittag, und alle anderen sind nach Hause gegangen, um bald im Kreis ihrer Familien zu Abend zu essen. Ich bin allein und habe einen Radius von mindestens dreißig Metern um das Grab meiner Mutter abgeschritten.

Das ist deutlich weiter, als dass ein Besucher zufällig einen Brief sehen könnte, der am Fuß eines Grabsteins liegt.

Hmm.

Das Handy in meiner Hosentasche vibriert. Ich hole es heraus und rechne mit einer Nachricht von Rowan.

Nein, es ist mein Dad. Er hat mir ein Bild geschickt.

Ich runzle die Stirn, denn ich kann mich gar nicht erinnern, wann er mir das letzte Mal auch nur eine Nachricht gesendet hat. Und jetzt ein Bild? Ich wische über den Bildschirm, um die Sperre aufzuheben.

Das ist unser Küchentisch. Kurz kann ich nicht erkennen, was darauf ausgebreitet liegt. Dann stellt sich das Bild scharf, und mein Herz bleibt fast stehen.

Ihre Fotoausrüstung. Alles davon.

Er hätte ebenso ihren Leichnam ausbuddeln, das Skelett auf den Küchentisch legen und mir davon ein Bild schicken können.

Ich kenne jedes Stück ihrer Ausrüstung mit Namen. Wenn man mir eins ihrer Fotos zeigen würde, könnte ich wahrscheinlich erkennen, mit welcher Kamera sie es gemacht hat. Ihre Taschen hängen an einer der Stuhllehnen, und ich meine den Duft des Leders gemischt mit, im wahrsten Sinne des Wortes, Blut, Schweiß und Tränen von ihren Einsätzen zu riechen. Jedes Mal wenn sie nach Hause kam, half ich ihr auspacken. Das Gewicht der Kameras und der Geruch der Taschen werden mir für immer im Gedächtnis bleiben.

So war es jedes Mal, bis auf das letzte Mal.

Seit ihrem Tod habe ich die Taschen nicht mehr angefasst.

Nicht mal angefasst.

Das sind ihre Sachen.

Ihre Sachen.

Sie und ich haben sie immer zusammen ausgepackt. Dann erzählte sie mir Geheimnisse von ihren Reisen, und wir blieben lange auf, um noch einen Mädelsfilm zu schauen, nachdem Dad schon schlafen gegangen war. Im Tiefkühler liegt immer noch eine unangetastete Packung Ben & Jerry’s Cherry Garcia. Inzwischen ist sie unter der dicken Schicht Eiskristalle kaum noch zu sehen. Das Eis hatte ich ausgesucht, um es mit ihr zu teilen. Die Sorte werde ich nie mehr essen.

Er hat sich nie für ihre Geschichten interessiert. Hat sich überhaupt nie interessiert.

Und jetzt FASST ER IHRE SACHEN AN.

Meine Finger zittern. Schwitzen. Ich kann das Telefon kaum festhalten.

Unter dem Foto taucht ein Text auf.

CY: Ian hat angeboten, uns das abzunehmen. Er kommt vorbei, um mir ein Angebot zu machen. Willst du irgendwas davon, bevor ich es ihm gebe?

WAS?

Ich glaube, ich kriege eine Panikattacke. Ein pfeifendes Keuchen kommt aus meinem Mund.

Irgendwie schafft es das Handy an mein Ohr, und ich höre die Stimme meines Vaters.

„Was tust du da?“, frage ich. Ich möchte brüllen, aber meine Stimme klingt dünn und schrill und den Tränen nah. „Lass das! Tu alles zurück!“

„Juliet? Bist du …“

„Wie konntest du?“ Jetzt weine ich. „Das kannst du nicht. Das kannst du nicht. Das kannst du nicht. Wie konntest du nur?“

„Juliet.“ Er klingt betroffen. So emotional habe ich ihn seit ihrem Tod nicht erlebt. „Juliet. Bitte. Beruhige dich. Ich wusste ja nicht …“

„Das sind ihre Sachen!“ Meine Knie berühren den Boden, und ich presse die Stirn gegen die schmiedeeisernen Stangen des Zauns. „Du hast nie … das sind ihre …“

„Juliet.“ Seine Stimme klingt gedämpft. „Ich hatte ja keine Ahnung …“

Das bringt mich um. Schmerz zerreißt mich. Ich kann das Telefon kaum halten.

Ich hasse ihn. Dafür hasse ich ihn.

Ich hasse ihn.

Ichhasseihnichhasseihnichhasseihnichhasseihnichhasseihn.

Immer mit der Ruhe, Juliet.

Vor meinen Augen verschwimmt alles, und die Welt dreht sich. Gefühlt dauert es ziemlich lange, bis mir bewusst wird, dass ich im Gras liege und seine Stimme nur ein blechernes Echo ist, das aus dem Handy plärrt.

Ich drücke es wieder ans Ohr. Vor meinen Augen blitzt es.

„Juliet!“ Er schreit förmlich. „Juliet. Ich wähle gleich den Notruf 911. Antworte mir!“

„Ich bin da“, würge ich hervor. Schluchzend. „Das kannst du nicht machen. Bitte.“

„Ich mache es nicht“, flüstert er. „Okay? Ich mache es nicht.“

Die Sonne brennt auf mich nieder und verwandelt die Tränen auf meinem Gesicht in juckende Spuren. „Okay.“

Ich sollte mich wohl entschuldigen, aber die Worte wollen einfach nicht über meine Lippen kommen. Es käme mir vor, als würde ich mich dafür entschuldigen, dass jemand einen Eisenpfahl durch meine Brust gebohrt hat. Ich schnappe immer noch nach Luft.

„Soll ich dich abholen?“, fragt er.

„Nein.“

„Juliet …“

„Nein.“

Ich kann jetzt noch nicht gehen. Nicht nach Hause kommen und all ihre Sachen auf dem Tisch sehen.

„Pack es wieder ein“, sage ich.

Er zögert. „Vielleicht sollten wir uns unterhalten …“

Mir wird gleich schlecht. „Pack es wieder ein!“

„Mache ich. Mache ich.“ Er zögert wieder. „Wann wirst du zu Hause sein?“

Das hat er mich seit ihrem Tod nicht gefragt. Es ist der erste Hinweis darauf, dass er überhaupt weiß, ich existiere noch.

Wahrscheinlich sollte ich dem Schicksal dafür danken, dass er sich zumindest die Mühe gemacht hat zu fragen, ob ich irgendwas von ihren Sachen will.

Wahrscheinlich bereut er aus tiefster Seele, dass er mir diese Nachricht geschickt hat.

„Wenn ich so weit bin.“

Dann lege ich auf.

7. KAPITEL

Wenn du willst, kannst du meine Mutter gern googeln. Suchst du nach „Zoe Thorne Syrien Foto“, wirst du eines ihrer bekanntesten Bilder finden. Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen sitzen nebeneinander auf zwei Spielplatzschaukeln und lachen fröhlich in die Kamera. Hinter ihnen sind ein ausgebombtes Gebäude und zwei Männer mit Gewehren im Anschlag zu sehen. Alle tragen schmutzige Kleidung, die verschwitzt und dreckverkrustet ist. Die beiden Männer sind schweißüberströmt und wirken erschöpft, und der Schrecken steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Alles um sie herum ist kaputt, bis auf die Schaukel.

Ich konnte mich nie entscheiden, ob dieses Foto deprimierend ist oder doch hoffnungsvoll.

Vielleicht beides.

Seit meine Mutter tot ist, liegt ihre Fotoausrüstung in der hintersten Ecke unseres Kellers. Niemand hat die Sachen seitdem angerührt – bis heute. Heute Nachmittag war mein Vater bereit, sie dem ehemaligen Chefredakteur meiner Mutter zu verkaufen.

Das habe ich nicht gut verkraftet.

Zur Ausrüstung gehören jede Menge Dinge, die ziemlich wertvoll sind. Tausende von Dollar. Wahrscheinlich sogar Zehntausende Dollar. Wir sind nicht reich, aber wir brauchen die Kohle auch nicht unbedingt. Dad meinte, dass ihn das Geld gar nicht interessiert, und dafür hätte ich ihn am liebsten geschlagen. Denn wenn ihn das Geld nicht interessiert, warum dann die Sachen verkaufen? Das sieht ihm so ähnlich. Ich habe ihn gefragt, ob er auch so lässig wäre, wenn es darum ginge, Moms Ehering zu verkaufen. Er sagte, sie wäre damit beerdigt worden. Dann fing er an zu weinen.

Ich fühlte mich scheiße schrecklich. Und tue es noch.

Bescheuert, das durchzustreichen. Macht der Gewohnheit, glaube ich. Mom konnte ordinäre Ausdrücke nicht leiden. Sie sagte immer, sie hätte zu viel Geld dafür ausgegeben zu lernen, was Wörter bedeuten und Bilder bewirken können, sodass es in ihren Augen eine Schande wäre, mit Schimpfwörtern um sich zu werfen.

Ich habe überhaupt nur deshalb erfahren, dass mein Dad ihre Ausrüstung loswerden will, weil er mich gefragt hat, ob ich etwas von den Sachen haben möchte. Seit sie tot ist, habe ich keine Kamera mehr in den Händen gehabt. Eigentlich bin ich dieses Jahr im Kurs Fotografie für Fortgeschrittene, aber ich habe hingeschmissen. Der Lehrer hat mindestens sechs Mal angeboten, dass ich jederzeit wieder einsteigen könnte, wenn ich meine Meinung ändere, aber die Chance dafür ist genauso groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mom wieder lebendig wird. Ich kann keine Kamera an mein Gesicht halten, ohne an sie zu denken. Ich hatte nicht ein einziges Mal das Bedürfnis, ein Foto zu schießen.

Nein. Das ist nicht wahr.

Vergangene Woche habe ich jemanden gesehen, in dessen Blick so viele Gefühle versteckt waren, dass ich mir genau in diesem Moment gewünscht habe, eine Kamera in den Händen zu halten. Ich kenne den Typen kaum und habe ihn gerade mal eine Minute gesehen, aber es ist, als wäre ein Schalter in meinem Gehirn umgelegt worden. Mom sagte immer, dass Fotos, die keine Reaktion beim Betrachter auslösen, nichts taugen und dass man viel Talent braucht, um Gefühle in einem Bild festzuhalten. Ich glaube, bis zu diesem Moment neulich habe ich nie wirklich verstanden, was sie damit meinte.

Aber ich hatte keine Kamera zur Hand, und es ist ja auch nicht so, dass man einfach ein Foto von einer fremden Person, der man zufällig begegnet, machen kann, ohne ein paar Fragen aufzuwerfen.

Wenn du die Möglichkeit hast, schau dir ihr Syrien-Bild an. Bin gespannt, wie du es findest.

Meine Mom war dort, als die Bomben fielen. Und sie hatte Glück, dass sie überlebte.