Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach dem Tod seines Vaters, erkennt der Erzähler, dass seine Mutter an Demenz leidet und begibt sich mit ihr auf eine fünfzehnjährige Odyssee, in deren Verlauf viele ungewöhnliche und schräge Situationen gemeistert werden müssen. Der Wunsch der Mutter nicht vorzeitig in die Hände der Betreuungs- und Pflegebranche zu geraten, respektiert ihr Sohn und schafft stattdessen über eine Distanz von sechshundert Kilometern ein Netzwerk von Alltagshilfen und Kommunikationsstrukturen, die seiner unerschrockenen und freiheitsliebenden Mutter einen möglichst ungefährdeten Alltag ermöglichen. Immer wieder brechen tragende Säulen dieses Konstrukts ein und erfordern eine Neuausrichtung ihres Lebens. Dabei erwächst zwischen Mutter und Sohn ein Band der Liebe und des Vertrauens, das für ihre letzten Jahre unersetzlich ist. Hyundai! gewährt tiefe Einblicke in die Auswirkungen einer Krankheit, die unsere Gesellschaft zunehmend beschäftigt, bleibt dabei aber leicht und optimistisch und ist ein Vergnügen zu lesen: "Da standen wir nun beide um Mitternacht in dem hell erleuchteten, langen viktorianischen Gang; meine Mutter in ihrem blauen Nachthemd und ich splitternackt. Es war die Zeit, zu der die letzten London-Besucher von den Spätvorstellungen im Kino und Theater zurückkehren..."
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 372
Veröffentlichungsjahr: 2025
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
FÜR JOHN UND THERESE WILLIAMS
Ich danke meiner Frau, Martine Cherboa, die jede Zeile dieses Buches mehrmals gelesen und mir gute inhaltliche Hinweise und Korrekturen vorgelegt hat. Nicole Osterwalder, für ihre wertvollen Ratschläge und Ermunterungen. Lore Fiedler, die viele Seiten unermüdlich Korrektur gelesen hat und mehreren Verlagen, die mich ermutigt haben, an dem Buch weiterzuarbeiten.
1. Hi Mom! - 2002
2. Die Feuertreppe – 2011
3. Vermisst (In Cochin) – 2012
4. New Order - 2002-2009
5. Wir Vagabunden 2004-2011
6. Straight Story – 2009
7. Die Whistleblower - 2009-2011
8. Und ich dachte Laibach ist `ne Band - 2011-2012
9. Der Mut zur Fremde - 1989-2012
10. Die Fahrt zum Münchener Singkreis – 2012
11. Führerschein die Zweite - 2011
12. Die Wende - 2012/2013
13. Das Christopherus - 2013-2015
14. Die letzten Jahre - 2016-2017
15. Der Abschied – 2017
16. Angela‘s ashes: Die Asche meiner Mutter – 2017
17. Nachwort: „Was geblieben ist…..“
18. Anhang: „Die Suppe der Erleuchtung“ – 2009
Mein Vater war auf der Bühne unseres Lebens der Hauptdarsteller, während meine Mutter eher im Hintergrund als Souffleuse auftrat. Aus ihrem Kasten unter den Brettern hielt sie durch ihre Übersicht, ihr Wissen und ihre Ruhe das Stück am Laufen, bestimmte die Einsätze und half über gelegentliche Hänger hinweg. Mein Vater sorgte dagegen für die Dramatik und Unterhaltung in unserem Leben, stellte seine Schwächen zur Schau und teilte überschwänglich seine Lebensfreuden und -leiden mit uns. So lernten wir ihn besser kennen und lieben als meine Mutter. Wenn wir als Kinder auf jemanden herumtobten, dann war es mein Vater. Wenn uns jemand an die Hand nahm und in den Zoo mitnahm, dann er. Und wenn es Auseinandersetzungen in der Familie gab, hielten wir zu ihm. In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahr starb meine Schwester bei einem Autounfall. In den Jahren seiner Trauer, und vor allem in den anderthalb Jahren vor seinem Tod, wuchs er mir sehr ans Herz. Wir standen uns nahe und fühlten uns im Beisein des anderen wohl, ohne viele Worte zu verlieren.
Obwohl ich meine Mutter auch liebte, war sie mir weniger vertraut. Als Kind war sie mir zu erwachsen und selbstständig vorgekommen, um ihre Nähe zu suchen. Ich hatte ihre Emotionen nicht intuitiv erfasst und oft nicht gewusst, was in ihr vorging. Als sie nach dem Tod meines Vaters alleine zurückblieb, richtete ich zum ersten Mal mein volles Augenmerk auf sie und versuchte, sie neu kennenzulernen. Dabei fielen mir gedankliche Nachlässigkeiten und leichte Verwirrungen auf, die ich im Nachhinein als erste Anzeichen ihrer Demenz ansehe. Genau genommen hatten sich diese Anzeichen bereits in den letzten Lebensmonaten meines Vaters gemehrt, und dazu geführt, dass ich seinen nahenden Tod völlig falsch einschätzte.
2001 lebte ich in Berlin und meine Eltern in der kleinen mittelalterlichen Stadt Marburg in Hessen. Ich wusste, dass mein Vater Krebs hatte und die Ärzte seine Lymphe davon befreit hatten. Einige Monate später entdeckten sie einen Tumor in seiner Leber. Mein Vater führte noch ein relativ normales Leben. Er war mit dem Beginn seiner Krankheit in Rente gegangen, lebte zu Hause und ließ die Chemotherapie und Bestrahlungen über sich ergehen, in der Hoffnung, das Ganze irgendwann zu überstehen. Im November 2001 rief er mich allerdings eines Tages an - wie er es immer nach seiner wöchentlichen Untersuchung beim Onkologen tat - und eröffnete mir mit fester, leiser Stimme, dass der Tumor in seiner Leber gewachsen war, und die Ärzte entschieden hatten, nicht zu operieren. Er versuchte am Telefon gefasst zu klingen, aber ich merkte, dass er mit seinen Emotionen kämpfte. Er ahnte, dass seine Genesungschancen schwanden und diese Tatsache wühlte ihn auf. Ich beteuerte, wie leid es mir tat, und fragte, ob ich etwas für ihn tun könnte. Er sagte, dass die Medikamente den Tumor hoffentlich in Schach halten würden und ihn vielleicht soweit zurückgehen ließen, dass eine Operation zu einem späteren Zeitpunkt infrage käme. Er wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Ich merkte, dass er mein junges, aufstrebendes Leben nicht belasten wollte, und nahm den Pfad, den er mir wies, dankbar an: Zeit gewinnen. Hoffnung. Das hörte sich für mich besser an als ein endgültiger Abschied.
Zu Weihnachten besuchte ich meine Eltern und verbrachte - ohne es zu wissen - die letzten Tage mit meinem Vater. Zum Jahreswechsel hatte ich eine sechswöchige Reise mit meiner Frau nach Sri Lanka und Indien geplant und war unsicher, ob ich sie unter diesen Umständen antreten sollte. Mein Vater verbot mir allerdings, seinetwegen unsere Pläne zu ändern und sagte, die Medikamente zeigten Wirkung. Die sechs Wochen würden im Flug vergehen und wir sollten uns keine Sorgen machen und fahren. Ich danke ihm, und so verabschiedeten wir uns wie immer in den Jahren seiner Krankheit: er mit feuchten Augen, weil er wusste, dass jeder Abschied sein Letzter sein könnte, und ich mit einem Kloß im Hals, weil ich ihn so liebte. Einen Tag später flog ich mit meiner Frau nach Sri Lanka.
Wir lebten in einer simplen Hüttenanlage im Süden Sri Lankas am Rande der Kleinstadt Tangalle und die Situation in Marburg rückte in immer weitere Ferne. Abends gingen wir gerne in einer Strohhütte am Strand essen, die zwei bis drei Paaren Platz bot und nur von Kerzen beleuchtet wurde. Der Koch bereitete das Essen auf einem offenen Feuer zu, und wir schauten jeden Morgen nach dem Schwimmen bei ihm vorbei, um zu sehen, welchen Fisch er hereinbekommen hatte. Er kaufte direkt von den Fischern am Strand, die ihren überschaubaren Fang frühmorgens mit großen Netzen aus dem Meer zogen.
Eines Tages teilte er uns mit, er hätte einen schönen Hummer bekommen, den er uns am Abend zubereiten wollte. Wir waren begeistert. Der Hummer war köstlich, es war Vollmond und wir gingen nach dem Essen mit ihm am Strand auf eine singhalesische Vollmond-Party, kifften zusammen und hatten insgesamt einen tollen Abend. Und dann fing meine Frau in der Nacht zu fiebern an und lag am nächsten Morgen wie im Delirium flach. Als ich die Jungs an unserer Rezeption fragte, was sie sich eingefangen haben könnte, wollten sie wissen, was wir am Abend zuvor gegessen hatten und ob meine Frau ihre Periode hatte. Ich war etwas konsterniert, erzählte ihnen aber von dem Hummer und bestätigte das mit ihrer Periode. Sie antworteten, dass Frauen, die während ihrer Menstruation bei Vollmond Schalentiere aßen, schwer erkranken konnten. Woran wussten sie nicht. Mir kam das rätselhaft vor, also eilte ich zu unserem Koch, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. Als er hörte, dass meine Frau ihre Periode hatte, stand auch für ihn fest, dass der Vollmond, der Hummer und ihre Menstruation eine unheilvolle Verbindung eingegangen waren. Er sagte, Dämonen hätten dabei ihre Hände im Spiel. In Tangalle kam das öfter vor. Ich konnte mit dieser Diagnose wenig anfangen, fragte ihn aber, was ich machen sollte. Er riet mir, meine Frau zu einem singhalesischen Schamanen, einem Yakadura, zu bringen. Er selbst würde mich begleiten. Der Yakadura würde in einer Zeremonie die Dämonen aus ihrem Körper vertreiben. Ich wusste nicht, was ich von dem Ganzen halten sollte. Die Vorstellung, meine Frau zu einer Hütte im Wald zu tragen, sie im Delirium auf den Boden zu legen und zuzuschauen, wie ein wildfremder Mann in einem schwarzen zotteligen Fell und mit Affenzähnen behangen, ihr in Trance mit einem Schwert die Dämonen austrieb, war mir doch zu viel Lokalkolorit. Ich sagte dem Koch, ich müsste mir das überlegen, und eilte zurück zu unserer Hütte.
Obwohl unsere Hüttenanlage zu den einfacheren in Tangalle gehörte, lag eine schöne verglaste Hütte etwas abseits mit Blick aufs Meer an einem kleinen Strand. Dort wohnte der Besitzer der Anlage, ein älterer amerikanischer Millionär, mit seiner vierzigjährigen Freundin, die mich an Gena Rowlands erinnerte. Der Millionär besaß in den USA eine Fabrik für Kugellager und verbrachte jedes Jahr die Wintermonate in diesem Haus. Er war Anfang sechzig und sehr sportlich. Jeden Morgen schwamm er um die ganze Landzunge herum und kam anderthalb Stunden später glücklich und gestählt aus dem Wasser. In der vergangenen Nacht, als das Fieber bei meiner Frau eingesetzt hatte, war ich um drei Uhr morgens in die offene Hütte des Millionärs getreten, hatte Gena im Bett geweckt, und gefragt, ob sie mir helfen könnte. Sie war sofort aufgestanden, hatte nach meiner Frau geschaut und ihr ein fiebersenkendes Mittel gegeben.
Als ich vom Koch zurückkam, ging es meiner Frau nicht besser. Die Lösung mit dem Schamanen überzeugte mich nicht, also ging ich erneut zu Gena und bat um ihren Rat. Sie empfahl mir, einen singhalesischen Arzt aufzusuchen und ließ sofort eine Rikscha kommen, um mich zu ihm zu bringen. Der Arzt war ein kleiner dunkler Mann und führte seine Praxis in der dritten Generation, was mich beruhigte. Bilder seiner praktizierenden Vorfahren hingen im Flur seines Hauses, in dem auch seine Praxis untergebracht war. Als ich ihm von den Leiden meiner Frau erzählte, schnappte er sofort seinen Arztkoffer, ließ seinen weißen Ambassador vorfahren und fuhr mit mir zu unserer Hütte. Er untersuchte sie und diagnostizierte eine schwere Darminfektion, die er mit indischen Antibiotika behandeln wollte. Er drückte mir einen Beutel kleiner weißer Tabletten in die Hand und sagte, ich sollte meiner Frau alle sechs Stunden eine von ihnen geben. Dann fuhr er wieder davon.
Der Zustand meiner Frau änderte sich in den nächsten Tagen kaum. Sie lag weiter im Koma auf der Veranda unserer Hütte und bekam jeden Tag Besuch von dem singhalesischen Arzt und von zwei Meter langen Echsen, die wild auf dem Grundstück unseres Resorts herumliefen und sie gerne beschnupperten. Ich machte mir von Tag zu Tag mehr Sorgen und wusste mir nach einigen Tagen nicht anders zu helfen, als meinen Vater in Marburg anzurufen und ihm zu berichten, was vorgefallen war. Er hatte immer eine Lösung parat, wenn mir etwas über den Kopf wuchs. Er könnte mir bestimmt helfen. Ich erzählte ihm, dass ich Angst hatte, meine Frau könnte sterben, und fragte, ob er mir helfen würde, sie nach Hause zu fliegen, falls es nötig war. Er sagte mir wie immer uneingeschränkt seine Hilfe zu und erzählte, dass sein Tumor und sein Zustand sich wenig verändert hätten. Wir verabschiedeten uns voneinander und legten auf.
Dank der indischen Antibiotika überlebte meine Frau ihre mysteriöse Krankheit, und die Dämonen zogen sich nach zehn Tagen zurück. Die zwei Meter langen Warane auch, die Furcht einflößend aussahen, aber in Wirklichkeit gutmütige Vegetarier sind. Meine Frau und ich atmeten auf und beschlossen, unsere Reise fortzusetzen. Aber ein ungutes Gefühl begleitete mich seit diesen Tagen: die Scham, meinen Vater mit meinen Sorgen belästigt zu haben, obwohl seine so viel größer waren und er im Sterben lag. Ich hätte eigentlich bei ihm sein müssen. Diese Scham hat mich nie verlassen.
Durch die Krankheit meiner Frau hatten wir uns mit Gena und dem Millionär angefreundet. Da wir wieder reisefähig waren, stand als Nächstes die Reise nach Colombo an, wo wir in einigen Tagen ein Flugzeug nach Indien besteigen wollten. Gena und der Millionär mussten ebenfalls nach Colombo, also buchten sie einen Fahrer und fragten, ob wir sie nicht begleiten wollten. Wir sagten begeistert zu. Als uns der Millionär fragte, wo er uns in Colombo absetzen sollte, wo wir also zu übernachten pflegten, wusste ich keine Antwort. Bei unserer Ankunft vor drei Wochen waren wir für zehn Dollar die Nacht in einem dunklen Zimmer in einem christlichen Konvent untergekommen. Das Bett war voller Kakerlaken gewesen. Dorthin wollten wir auf keinen Fall zurück. Also schlug er vor, uns im Galle Face Hotel einzuführen, einem gediegenen Kolonialhotel direkt am Galle Face Green mit Blick auf den Golf von Bengalen. Es wurde als einer der Tausend Orte dieser Erde geführt, die man unbedingt besucht haben sollte und beherbergte in seiner über hundertjährigen Geschichte Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi, John D. Rockefeller, Richard Nixon und Yuri Gagarin. Wir wendeten ein, dass das Hotel unsere Urlaubskasse sicherlich sprengen würde, aber unser amerikanischer Freund hob abwehrend die Hand und sagte, dass sollten wir ihm überlassen.
Wir erreichten Colombo am späten Nachmittag und fuhren vor das Galle Face als der nachmittägliche High Tea serviert wurde. Auf der Veranda im Hof des Hotels wurde in silbernen Kannen Tee gereicht und livrierte Diener brachten Etageren an den Tisch, auf denen kleine petits fours und dreieckige Sandwiches lagen. Unser Gepäck kam in die Obhut des fünfundsiebzigjährigen Doormans, der mit sechzig Dienstjahren - laut dem Guinnessbuch der Rekorde - der dienstälteste Hotelangestellte weltweit war. Nach dieser kleinen Stärkung bat mich unser Millionär ihn zum Hoteldirektor zu begleiten. In dessen Büro stellte er mich als guten Freund vor und verlangte, dass man mir beim Übernachtungspreis entgegenkam. Bei achtzig Dollar pro Nacht runzelte er noch die Stirn und bemerkte, sein Tarif wäre besser. Schließlich bot mir der Direktor einen Übernachtungspreis für die absoluten Freunde des Hauses an: sechzig US Dollar pro Nacht für ein großes Doppelzimmer. Beim Verlassen seines Büros gab er mir die Hand und sagte: „Und unseren besonderen Gästen steht dieser Tarif natürlich bis zu ihrem Lebensende zu.“
So wurde das Galle Face bei diesem Besuch und in den kommenden Jahren zu unserem Heimathafen in diesem Teil der Welt. Immer wenn wir nach Sri Lanka oder Indien fuhren, kamen wir dort unter. Wir liebten die großen alten Zimmer, die mehrere Fenster zum Galle Face Green oder dem weitläufigen Innenhof hatten. Decken-Ventilatoren sorgten für Kühlung und wenn bei starkem Monsunregen die Zimmerdecke leckte, klopfte es kurze Zeit später an der Tür und ein livrierter Diener trat ein und stellte Kochtöpfe auf, um das Wasser aufzufangen. Unsere ersten Besuche fanden in den Jahren 2001-2006 statt, als der Bürgerkrieg im Osten und Norden Sri Lankas voll im Gange war. Colombo war mit MG-Nestern und Artillerie gespickt. Auf dem Meer, an der Rückseite des Galle Face, patrouillierte eine Fregatte mit schweren Kanonen, und beim Sonnenbaden am Pool im Innenhof blickten Wachposten von zwei Wachtürmen auf uns herunter, und ließen ihre MGs lässig von der Schulter baumeln. Man hatte das Gefühl in einem Vietkong-Film zu sein, bei dem der Regisseur gleich „Cut“ ruft und die Uniformierten von ihren Türmen heruntersteigen, um sich beim Catering einen Kaffee zu holen. Immer wenn ich morgens das alte Radio auf unserem Nachttisch anmachte, erwartete ich die Stimme von Robin Williams zu hören, mit seiner berühmten Begrüßung: „Gooood morning Vietnaaaaam…..“.
Bei diesem ersten Besuch blieben wir einige Tage im Galle Face und bereisten anschließend drei Wochen lang Südindien. Als wir Mitte Februar wieder in Berlin ankamen, war mir immer noch nicht klar, wie krank mein Vater war. Ich rief meine Eltern gleich nach meiner Ankunft an und mein Vater sagte, dass sein Tumor ein Stück gewachsen, aber weiterhin nicht lebensbedrohlich war. Also nahm ich einen zehntägigen Film-Job an und sagte, ich würde ihn direkt nach dem Dreh besuchen. Während der Dreharbeiten fand ich keine Zeit mich zu melden, und rief schließlich kurz vor Ende der Dreharbeiten, zehn Tage später, eines Abends zu Hause an. Meine Mutter hob ab und sagte, mein Vater hätte am Morgen nicht mehr vom Sofa aufstehen können. Ein Arzt war gekommen, um ihm ins Bett zu helfen und er hatte gesagt, dass er nicht mehr lange leben würde.
Mich traf diese Nachricht wie ein Schlag. Ich hatte nie geglaubt, dass mein Vater wirklich im Sterben lag. Meine Mutter anscheinend auch nicht. Sie hatte nie mit mir darüber gesprochen. Ich bat sofort darum, mit ihm zu reden. Er atmete am Telefon schwer und sagte, ich solle mir keine Sorgen machen und meinen Job in Berlin zu Ende bringen. Wir würden uns ja in einigen Tagen sehen. Ich bat ihn, die zwei Tage durchzuhalten und legte auf. Nach dem Telefonat war ich aufgewühlt und machte mir Vorwürfe. Falls er wirklich im Sterben lag, wie konnte ich erwarten, dass er seinen Tod hinauszögerte, damit ich meinen Dreh beendete? Das war absurd. Es ging nicht um mich. Dieser Gedanke ließ mich nicht los. Einige Stunden später ging ich zu Bett und sprach in Gedanken zu meinem Vater. Über die Entfernung von sechshundert Kilometern bat ich ihn um Entschuldigung und sagte, dass es immer mein Wunsch gewesen wäre, bei ihm zu sein, wenn er starb. Falls er aber in meiner Abwesenheit gehen wollte, dann sollte er das ruhig tun. Ich würde es ihm niemals nachtragen. Ich wünschte ihm nur, dass er sich nicht unnötig quälte. Zehn Minuten später legte sich meine Unruhe und ich fühlte mich erlöst und leicht wie eine Feder. Dann sank ich in einen friedlichen, ruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen klingelte um halb sieben das Telefon und meine Mutter war dran. Sie sagte, sie glaube, mein Vater sei gestorben. „Wie, du glaubst, er ist tot?“, entgegnete ich. Sie sagte, er rühre sich nicht mehr. Sie hatte sich am Vorabend neben ihm ins Bett gelegt und durchgeschlafen. Und tatsächlich war mein Vater in dieser Nacht an ihrer Seite gestorben. Ich wurde eine halbe Stunde später abgeholt, um nach Babelsberg ins Studio zu fahren. Wir drehten eine große Mobilfunk-Werbung, mit Ed Lachmann an der Kamera, der Filme wie The Virgin Suicides, Erin Brockovich oder einen meiner Lieblingsfilme, Light Sleeper von Paul Schrader gedreht hatte. Ich stieg in den Wagen und erzählte dem Regie-Duo und Ed, was ich gerade von meiner Mutter erfahren hatte. Ich wollte den Drehtag mit ihnen beenden, aber alle bestanden darauf, dass ich sofort ausstieg und nach Marburg fuhr. Nachdem sie mich fest in den Arm genommen hatten, ließ der Fahrer mich an der nächsten Kreuzung raus. Ich rief meine Frau an und sagte, wir würden den nächsten Zug nach Marburg nehmen. Alles ging plötzlich so schnell, dass ich emotional kaum hinterherkam. Aber ein Gefühl trug ich seit dem Morgen in mir: das Glück und die große Ruhe, die ich am Abend zuvor nach dem inneren Gespräch mit meinem Vater empfunden hatte.
Am Bahnhof in Marburg holte uns meine Mutter in Begleitung eines lieben Freundes und ehemaligen Kollegen ab. Ich nahm sie auf dem Bahnsteig eine Viertelstunde lang in den Arm, während Daniel und meine Frau geduldig neben uns warteten. Der Amtsarzt hatte den Tod meines Vaters auf elf Uhr dreißig am Abend zuvor in den Totenschein eingetragen. Also genau zu dem Zeitpunkt, als ich mit ihm gesprochen und mit einem Gefühl unendlicher Leichtigkeit eingeschlafen war. Obwohl ich nicht an seiner Seite gewesen war, waren wir vereint gewesen, als er starb. Er hatte dieses wichtige Ereignis mit mir geteilt, und das erfüllte mich mit großem Glück. Ich begriff, dass er immer für mich da gewesen war. Wenn ich mit sechzehn mitten in der Nacht beim Trampen mehrere hundert Kilometer von zu Hause entfernt stecken geblieben war, holte er mich ab. Als die Waschmaschine in meiner Kreuzberger Wohnung im vierten Stock leckte, und alle Wohnungen darunter durchnässte, kam er für den Schaden auf. Einmal hatte ich morgens nach dem Ausgehen ein Hähnchen in den Backofen geschoben und war kurz darauf eingeschlafen. Im verqualmten Treppenhaus musste die Feuerwehr sämtliche Eingangstüren auf vier Etagen eingeschlagen, um den Brandherd zu orten. Auch diesen Schaden hatte seine Versicherung übernommen. Ich hatte ihn angerufen, mit Mitteilungen wie: „Ich habe gestern Nacht betrunken mein Auto zu Schrott gefahren.“, oder „Ich muss für einige Monate nach Hause, habe gerade einen miesen LSD-Trip hinter mir.“, und er hatte mir immer uneingeschränkt seine Hilfe angeboten. Seine Fürsorge hatte mich geschützt, wie ein warmer Mantel. Durch ihn hatte ich Vertrauen ins Leben gefasst. Das sah ich an diesem Morgen in aller Deutlichkeit und diese Erkenntnis legte sich nachhaltig um mein Herz. Sein letzter Liebesbeweis im Sterben am Abend zuvor besiegelte für immer meine Liebe und Dankbarkeit zu ihm. Er lag mit einem leichten Lächeln auf dem Sterbebett und hatte eine Hand erhoben, als hätte er im Moment seines Todes nach etwas greifen wollen. Wir ließen ihn in dieser Haltung und wachten eine Nacht lang an seiner Seite. Und am Morgen darauf begann ich, seine Beerdigung zu organisieren.
Die Trauer um meinen Vater dauerte einige Monate, und war eine glückliche und erfüllte Zeit meines Lebens. Ein halbes Jahr nach seinem Tod verbrachte ich mit meiner Frau einige Tage im Ruchenhüttli, im Unteren-Schächental in der Schweiz. Das Hüttli war nur über einen mehrstündigen Fußmarsch erreichbar und hatte weder Strom noch warmes Wasser. Wir kochten auf einem alten Holzherd und badeten auf der Alm vor der Tür in einer hölzernen Tiertränke, die von einer eiskalten Quelle gespeist wurde. Wir waren ganz alleine dort oben, und eines Abends, als meine Frau zu Bett gegangen war, saß ich vor der Hütte, schaute in den unendlichen Sternenhimmel und dachte an meinen Vater. Ich erinnerte mich, wie er in meinen ersten Jahren in Berlin zu Besuch gekommen war. Ich teilte damals eine Wohnung mit einem älteren schwulen Modedesigner. Nach einer durchtanzten Nacht, mittags um zwölf, hatte ich meine Eltern zum Frühstück eingeladen. Ich weiß noch, wie unwohl sich mein Vater in der kleinen Küche fühlte, als mein Mitbewohner in seinem engen, dünnen Bademantel zum Frühstück erschien, und uns rauchend von den Eskapaden seiner Nacht und seines Lebens erzählte. Tags darauf wollte ich meine Eltern ins Andere Ufer mitnehmen, um ihnen ein schwules Café von innen zu zeigen. Mein Vater kam nicht mit und saß zwanzig Minuten vor der Tür im Auto, während meine Mutter mich begeistert begleitete. In meinem Leben hatte ich vieles gemacht, das ihm fremd vorgekommen sein musste. In dieser Hinsicht hatte er es nicht immer leicht mit mir gehabt. Daran dachte ich, als ich unter dem unendlichen Sternenhimmel vor dem Ruchenhüttli saß. Plötzlich bemerkte ich ein helles Licht, das wie eine Leuchtkugel über den Gipfeln schwebte. Zehn Minuten lang stand sie laut- und bewegungslos am Himmel, hatte keine Verbindung zu den Bergen darunter und bewegte sich nicht. Ich rätselte, was es sein könnte und fand keine Antwort. Dann erlosch es plötzlich. Einige Tage später legte sich meine Trauer und die Beschäftigung mit meinem Vater. Er hatte sich wohl ein letztes Mal gezeigt und schließlich seine letzte Ruhe gefunden.
Direkt nach seinem Begräbnis im März 2002 fuhr ich mit meiner Mutter auf die Kanarischen Inseln nach La Palma. Der Trubel, der mit der Verabschiedung eines geliebten Menschen einhergeht, hatte uns einige Wochen nicht zur Ruhe kommen lassen. Seit meiner Kindheit waren wir nicht mehr miteinander alleine gewesen, und es war für uns beide ungewohnt, ohne meinen Vater als Bindeglied auszukommen. In diesen Tagen war ich oft ungeduldig mit ihr, weil sie den gleichen Gedanken nachhing und zerfahren und orientierungslos wirkte. Dinge, die wir einen Tag zuvor besprochen hatten, oder Anekdoten, die sie mir erzählte, wiederholte sie vierundzwanzig Stunden später, als hätten die Unterhaltungen vom Vortag nicht stattgefunden. Dies lag wahrscheinlich an ihrer beginnenden Demenz. Ich führte es aber damals noch auf ihre Trauer und die Überforderung der letzten Monate zurück. Vor etwas mehr als einem Jahr hatte sie noch täglich als Lehrerin vor ihrer Klasse gestanden, eine Tätigkeit, die sie über alles geliebt und fünfundzwanzig Jahre lang mit viel Anerkennung ausgeübt hatte. An ihrer Schule war sie sozial eingebunden gewesen. Die Schüler hatten sie gemocht und diese Bindungen gab es nicht mehr. Meinem Vater zuliebe war sie im Sommer zuvor frühzeitig in Rente gegangen. Sie hatte alle Hände voll damit zu tun gehabt, ihm während seiner Krankheit beizustehen. Nun musste sie ihr Leben neu strukturieren. Mit dreiundsechzig Jahren war sie nicht alt, aber die Ereignisse der letzten fünfzehn Monate hatten es in sich gehabt. Neben dem Verlust ihres Lebenspartners musste sie den Verlust ihres früheren Lebens verarbeiten. Ich hatte gelesen, dass Menschen, die lange zusammenlebten und sich liebten, eine starke gemeinsame Aura bildeten. Das traf auf meine Eltern zu. Als mein Vater starb, nahm er einen Teil dieser gemeinsamen Aura mit, und meine Mutter verlor ihren Halt. Ohne es zu wollen, hatte mein Vater ein Loch in dem Beet unserer Familie hinterlassen, und meine Mutter musste nun versuchen, sich neu zu verwurzeln. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich nicht an Demenz. Ich dachte, sie müsste sich nur wieder richtig erden.
Jahre später, als ihre Demenz fortgeschritten war, entdeckte ich in einem Haufen von Erinnerungsstücken in ihrer Wohnung eine Karte, die den Beginn ihrer Demenz noch weiter zurückdatierte. Seit den ersten Tagen ihrer Beziehung, hatten sich meine Eltern gegenseitig Karten zum Valentinstag geschrieben, und in ihnen ihre Liebe füreinander zum Ausdruck gebracht. Die Karte, die ich in Händen hielt, war von meinem Vater. Sie zeigte auf dem Deckblatt einen Bären, der auf eine Abbruchkante zulief, vor der ein Schild steckte: „Edge of the World“. Der Bär trug einen Korb mit roten Herzen und ließ sie hinter sich als Wegmarkierung fallen. Über dem Bären stand: „I would go anywhere to find you!“ Auf der Innenseite der Karte hatte mein Vater handschriftlich geschrieben: Er, der große Bär, hätte meiner Mutter, dem kleinen Bären, vor langer Zeit versprochen, überall mit ihr hinzugehen. Und nun, da sie in letzter Zeit etwas vergesslich wurde, würde er keine Mühen scheuen, sie zu finden, wenn sie vom Weg abkam. Er beendete die Karte mit dem Satz, dass der große Bär allerdings Gefahr lief, als Erster vom Weg abzukommen und von der Klippe zu stürzen. Es war die vierzigste und letzte Valentinskarte, die meine Mutter von ihm erhielt, ein Jahr bevor er starb. Auf seine liebevolle Art hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass er auf sein Ende zusteuerte, während sie auf ihre Vergesslichkeit achten sollte.
Nach den ersten Tagen auf La Palma war ich von meiner Mutter befremdet und wusste nicht, wie wir in Zukunft miteinander umgehen sollten. Der vertraute Austausch, der mit meinem Vater so mühelos gewesen war, funktionierte zwischen uns nicht. Ich musste lernen, ihre Gefühle und Befindlichkeiten zu verstehen, damit wir uns gegenseitig vertrauten. Ein Vertrauen, das ich rückblickend, gerade für die Beziehung zu Menschen mit Demenz für besonders wichtig halte, weil die Fähigkeit, Wünsche und Gefühle auszudrücken, irgendwann nachlässt. Auf unseren holprigen Start reagierte meine Mutter, wie Demente es oft tun, wenn sie merken, dass sie ihr Umfeld strapazieren: Sie tat so, als sei alles in Ordnung und saß ein Problem lieber aus, anstatt es zu klären. Unsere ersten Versuche, gemeinsam Entscheidungen für ihr Leben zu treffen, endeten oft in Standpauken von mir, die sie mit Schweigen quittierte. Ich merkte, dass ich ihr Unrecht tat, wenn ich ungeduldig Entscheidungen von ihr verlangte, die sie nicht treffen konnte. Und sie litt darunter. Ich sah, dass sie mit vielem überfordert war, merkte aber nach der Rückkehr aus unserem ersten gemeinsamen Urlaub, dass meine Mutter bereit war, viel Energie und Mut aufzubringen, um ihre Angelegenheiten selbst in Angriff zu nehmen. Sie wollte auf Menschen zugehen, wollte kreativ sein und ihr Leben ausleben, anstatt über Schwierigkeiten und Verluste nachzudenken. Das beeindruckte mich. Mir gefiel, dass sie ihre Freiheit liebte und auf unkonventionelle Weise versuchte, sie zu verteidigen. Sie wollte keine Hilfe in Anspruch nehmen. Mir hatte sie immer vertraut und mich auch in meinen jungen, chaotischen Jahren bedingungslos unterstützt. Sie hatte mir beigebracht, so zu leben, wie ich es für richtig hielt. Und ich begann nun das Gleiche für sie zu tun. Wir waren dabei, die Rollen zu tauschen. Sie wurde immer mehr zu einem wilden Kind und ich zu der Instanz, die mit langer Leine beurteilen musste, ob alles gut gehen würde. Für mich stand fest, dass ihr Wohlergehen im Vordergrund stehen musste, trotz aller Defizite. Und ihr Wohlergehen maß ich an ihrem Gemütszustand und ihrer Ausstrahlung, und nicht an Gedanken über das Abwenden abstrakter Gefahren oder erschwerender Konflikte in ihrem Leben. Ich bot ihr also an, alle wichtigen Entscheidungen für sie mitzutragen, die Verantwortung für sie zu übernehmen und ihr bei allem zur Seite zu stehen, solange sie mir ehrlich sagte, wie sie zu einer Sache stand. Und sie schlug ein. Später, als ihr die Worte dazu fehlten, lernte ich ihre Blicke und ihre Haltung zu lesen, um zu ergründen, wie es ihr ging und was sie brauchte. Ein Schulterzucken hieß oft „Nein!“. Ein Lächeln in Verbindung mit dem Satz, „Das können wir im Auge behalten“, bedeutete Zustimmung. Ich wollte, dass sie so lebte, wie sie es für richtig hielt, dass sie Fehler machen durfte und die Konsequenzen dafür trug. Das bedeutete für sie zu leben. Und wenn sie sich zu viel zumutete, verurteilte ich sie nicht, sondern machte mir erst Sorgen, wenn es wirklichen Grund dazu gab. Treu nach Sven Hedin, einem schwedischen Entdeckungsreisenden, der zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts bekundete: „Von allen Sorgen, die ich mir machte, sind die meisten nicht eingetroffen.“
Nach dem Tod meines Vaters fuhren meine Mutter und ich jedes Jahr nach London und Pontllanfraith in Wales. Nach Wales, um den britischen Teil der Familie zu besuchen, und nach London, weil meine Mutter diese Stadt einfach liebte. Wir fuhren in der Vorweihnachtszeit, weil der Besuch bei Auntie Megan und meinen Cousinen und Cousins zu dieser Jahreszeit etwas besonders Festliches hatte. Mein Vater hatte in seinen letzten Lebensjahren die Bindungen zu seiner Familie in Wales gefestigt, indem er sie zur Weihnachtszeit besuchte. Nun war ich an der Reihe, diese Tradition mit meiner Mutter fortzuführen.
Das schmale Bergarbeiterhaus von Meg und Haydn lag eingebettet in einer Reihe karger, identischer Nachbarhäuser und schimmerte feucht vor Nebel und leichtem Sprühregen, als wir abends im Dunkeln einparkten. Während der Verkehr auf der tristen Durchfahrtsstraße eine Handbreit an uns vorbeidonnerte, drückten wir eine billige Plastikklingel und Sekunden später warf Onkel Haydn zu den elektronischen Klängen des Big Ben die Eingangstür auf, und begrüßte uns freudig wie verloren gegangene Seefahrer. Sein überfütterter, sandfarbener Corgi stand in der offenen Eingangstür und schenkte uns nur ein kurzes Schwanzwedeln, während die Kälte an ihm vorbei ins schmale Treppenhaus strömte.
Wir stellten unsere Koffer in dem engen Flur ab, und die Gerüche von Tescos Yorkshire Pudding und Sausage Rolls, die kurz zuvor für das Abendessen im Ofen und der Mikrowelle gelandet waren, umwehten uns, bevor Auntie Meg aus der kleinen Küche ihren Willkommensgruß rief. Im engen Wohnzimmer lief die übliche Gameshow, bei der man mitraten konnte, und bevor wir in das viel zu weiche Sofa sanken, mussten wir einem dicken Kater den Platz streitig machen, von dem man für den Rest des Abends auf der Armlehne nur den eingerollten Kopf, mit gelegentlich zuckenden Ohren wahrnahm. Vier Tage später, nach unzähligen Tees, Sausage Rolls und kleinen Pastries, langen Gesprächen, die sich in Seufzern verloren und steten Blicken auf die Fragen der Gameshow - die meine Mutter immer am besten beantworten konnte - spuckte uns dieser warme Uterus wieder auf die nasse, kalte, Straße hinaus, und wir machten uns voll neuer Energie und Visionen von glitzernden Weihnachtslichtern und emsigem Leben, nach London auf.
Ich liebte diese Aufbrüche, meine Mutter mit freudig glänzenden Augen neben mir auf dem Beifahrersitz, weil sie ahnte, dass die Stadt, die sie immer geliebt hatte, ihr viele schöne Wiederbegegnungen bescheren würde. Aufgrund ihrer Demenz lag in der jährlichen Reise in die ihr bekannte Metropole, etwas Beruhigendes und Aufregendes zugleich. Was würde sie wieder erkennen, was würde ihr neu erscheinen? Würde sie den Puls der Stadt wieder spüren, in die sie vor fünfzig Jahren mit offenen Sinnen und klopfendem Herzen gezogen war, um der Enge ihrer Familie zu entrinnen und ins kulturelle Weltgeschehen einzutauchen? Sich wieder von ihr mitreißen lassen und den Orten nachspüren, an denen sie meinen Vater kennengelernt und sich verliebt hatte? Meine Mutter hatte keine konkreten Vorstellungen von dem, was sie erwartete, wusste aber bei unserer Abfahrt nach London immer, dass sie kurz davor war, eine alte Liebe neu zu entdecken.
Das Columbia Hotel, in dem wir jedes Jahr unterkamen, war ein imposanter, weißer, viktorianischer Kasten direkt am Hyde Park. Einst die Herberge junger Bands wie Simple Minds und Oasis, bei ihren ersten Auftritten in London in den Achtzigerund Neunzigerjahren, war es um das Hotel in letzter Zeit etwas ruhiger geworden. Ich hatte es bei einem Videoclip-Dreh im Jahr Zweitausend kennengelernt und wusste es sofort zu schätzen. Die Zimmer waren für Londoner Verhältnisse günstig, die Lage gut, und die Leitung des Hotels lag seit Mitte der Siebzigerjahre bei einer Familie Rose, die auf die Budgetsanierung verzichtet hatte, der so viele andere individuelle Hotels zum Opfer gefallen waren.
Der Frühstücksraum war fest in der Hand älterer puertoricanischer Bedienungen, die den wässrigen Tee und die vollen Teller des faden Full-English-Breakfast mit einer stoischen Ruhe austrugen. Diejenigen, die sie nicht mochten, bekamen einen Tisch in der hintersten Ecke des großen Saals, und das Frühstück zog buchstäblich an ihnen vorbei. Uns begrüßten sie von Jahr zu Jahr immer freundlicher und wir zählten uns bald zu den Stammgästen. Allerdings eröffnete mir meine Mutter eines Morgens, dass sie das Gefühl hatte, ihre Wünsche würden von den Damen missachtet werden und männliche Gäste, wie ich, würden mehr Aufmerksamkeit erhalten. Ich beobachtete, wie sie in dem turbulenten, lauten Frühstückssaal vergeblich versuchte, etwas Tee nachgeschenkt zu bekommen, und notierte für mich im Stillen, dass die empfundene Geschlechterbenachteiligung für eine ganz andere Wendung in ihrem Leben herhielt. Die Demenz verunsicherte sie und das wollte sie sich nicht eingestehen. In turbulenten Situationen, wie dieser, setzte sie sich nicht mehr durch. Ihr fehlte dafür die Übersicht. Und da ich an diesem Morgen der Mann an ihrer Seite war, hob ich flugs die Hand und bestellte bei der vorbeieilenden Puertoricanerin den Nachschlag Tee, den meine Mutter sich so wünschte. Was mit der üblichen Nichtbeachtung quittiert wurde, bis kurze Zeit später doch jemand mit einer frischen Kanne an unseren Tisch kam.
Das Columbia Hotel verfügte über Räumlichkeiten, die ich nur aus alten Grandhotels kannte. Auf fünf Etagen gab es viele verwinkelte Gänge mit engen Zimmern, die auf dunkle Lichtschächte hinausblickten, aber das Hotel hatte auch riesige unbenutzte Treppenhäuser, leerstehende Zwischenetagen und vollkommen in Marmor ausgekleidete Toiletten- und Umkleidesuiten, die verlassen vor sich hindämmerten. Die Krönung waren weitläufige holzgetäfelte Säle in einem abgelegenen Trakt des zweiten Stocks mit Blick auf den Hyde Park, die hotelintern suites genannt wurden. Unter der Woche standen sie leer. Dafür füllten sie sich an den Wochenenden mit Teilnehmern undurchsichtiger Workshops und Orientation Weekends, mit Titeln wie Inspire youself and Others, oder Meditation Evening & Sound Bath. An den Wochenenden machte ich einen großen Bogen um diesen Teil des Hotels, weil ich nicht in einem verwinkelten Flur auf ein versprengtes Individuum treffen wollte, das mich in ein Gespräch über das übernatürliche Selbst oder Lichtaura verwickelte. Unter der Woche floh ich dafür jeden Morgen aus der Enge unseres Zimmers und begab mich in die suites, um zu meditieren. Eine halbe Stunde lang saß ich frierend und vollkommen ungestört zwischen den hohen, holzgetäfelten Wänden, ließ das Licht der aufgehenden Sonne auf mich fallen und lauschte dem Londoner Berufsverkehr, der auf der Lancaster Gate unter den großen viktorianischen Fenstern zunahm, während der Hyde Park zum Leben erwachte. Nie begegnete ich dort einem Menschen. Wenn die Zeit es erlaubte, streunte ich auf dem Weg zurück zu unserem Zimmer durch die unbekannten Gefilde des Hotels, und lernte über die Jahre das labyrinthische Innere des Columbia gut kennen.
Meine Mutter und ich teilten uns im ersten Stock ein Eckzimmer mit zwei Einzelbetten, nach hinten zu einer ruhigen Straße hinaus. Meine Mutter fror leicht, also blieben unsere Fenster im Winter geschlossen. Das Zimmer war warm. Mir zu warm. Deshalb schlief ich nackt unter einem dünnen Laken, während meine Mutter sich in ihrem Nachthemd in ihre Bettdecke einwickelte. Nachts musste sie immer auf die Toilette und begab sich im Dunkeln auf die Suche nach dem Bad, das hinter einer von zwei Türen im Zimmer lag. Die erste Tür, direkt neben ihrem Bett, führte ins Bad und fand nie ihre Beachtung. Die zweite, genau gegenüber, führte direkt in den Gang des Hotels. Aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich, weil sie vom Bett aus täglich auf diese Tür blickte - öffnete meine Mutter bei ihrer nächtlichen Suche immer die Zimmertür, lugte vorsichtig hindurch und suchte dahinter das Klo. Dabei wurde ich wach, machte meine Nachttischlampe an und zeigte ihr die richtige Tür, zu der sie sich erstaunt umdrehte. Nach einigen Tagen erwartete ich, dass sich das nächtliche Schauspiel legen würde, aber Nacht für Nacht tapste meine Mutter weiter zu der falschen Tür, und wie in Und täglich grüßt das Murmeltier, korrigierte ich Nacht für Nacht ihre Suche.
Eines Nachts wachte ich von ihrem Poltern auf und fragte mich, was passieren würde, wenn ich nicht eingriff. Ich ging davon aus, dass sie mit einem Blick in den hell erleuchteten Gang des Hotels in ein Stirnrunzeln verfallen, die Tür wieder schließen und ihre Suche im Zimmer fortzusetzen würde. Also schaute ich zu, wie sie im Dunkeln die vermeintliche Tür zum Badezimmer vorsichtig aufzog und hinausspähte. Sie zögerte kurz und verschwand dann flink durch die offene Tür, die kurz darauf leise hinter ihr zufiel. Ich war verdutzt und brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, was passiert war. Da hörte ich bereits die große Schwingtür einige Meter weiter im Gang aufschwingen und wusste, dass ich keine Zeit zu verlieren hatte. Ich eilte schnell zur Zimmertür, riss sie auf und rief nach meiner Mutter, deren dunkelblaue Silhouette hinter dem Milchglas der Schwingtür immer verschwommener wurde. Ich rief ein zweites Mal und machte einen Schritt weiter in den Gang hinaus, um ihr besser hinterher sehen zu können. Die Silhouette blieb stehen, drehte sich um, und trat zu meiner Erleichterung zurück durch die Schwingtür auf sicheres Terrain. Erleichtert atmete ich auf und reichte meiner Mutter die Hand, um sie ins Zimmer zu ziehen, als es plötzlich hinter mir „klick“ - oder da wir in England waren - „click“ machte. Ich hielt inne und wusste sofort, dass ich gerade ein weit größeres Unheil verursacht hatte: Ich hatte uns ausgesperrt!
Da standen wir nun beide um Mitternacht in dem langen, hell erleuchteten viktorianischen Gang des Columbia Hotel: meine Mutter in ihrem blauen Nachthemd und ich splitternackt. Es war die Zeit, zu der die letzten Hotelgäste von den Spätvorstellungen im Kino und dem Theater zurückkehrten. Aus dem Erdgeschoss hörte man, dass die Bar noch gut besucht war und unser Gang bot von Weitem Einblick. Zu allem Überfluss befand sich schräg gegenüber unserem Zimmer ein Fahrstuhl, der ständig fuhr. Mir war klar, dass wir keine Wurzeln schlagen durften. Ich rüttelte vergeblich an unserer Zimmertür, sah mich besorgt um und entdeckte in dem kurzen Ende des Gangs, direkt hinter unserem Zimmer, eine Schwingtür mit runder Fensterscheibe, auf der Emergency Exit stand. Sie führte zu einem unbeleuchteten, engen Treppenhaus, das ich noch nie bemerkt hatte. Dies war wohl der Notausgang zu der ruhigen Straße hinter unserem Zimmer. Der Fahrstuhl begann zu surren, und ich griff sofort die Hand meiner Mutter und zog sie in dieses unverhoffte Versteck. Wir schafften es gerade in die klamme Dunkelheit, als der Fahrstuhl mit einem Pling auf unserer Etage stehen blieb und ein junges Paar lachend in den Gang entließ. Geduckt hinter der runden Scheibe blickte ich ihnen auf dem Weg zu ihrem Zimmer nach und sondierte die Lage. Eines war klar: nackt wie ich war, konnte ich keinen Meter aus dem Treppenhaus heraustreten. Ich musste mich auf die Geistesgegenwart meiner Mutter verlassen. Dazu musste ich ihr klarmachen, dass alles von ihr abhing. Ich stellte mich in den Lichteinfall des kleinen runden Fensters, setzte ein ernstes Gesicht auf und erklärte ihr den relativ einfachen Plan, den ich mir gerade ersonnen hatte: Sie sollte durch die Schwingtür, die sie gerade durchschritten hatte, zu dem Haupttreppenhaus mit dem Kronleuchter gehen, die Treppe herunter ins Foyer nehmen und sich direkt an der Rezeption gegenüber anstellen. Dort sollte sie um einen Ersatzschlüssel für Zimmer Eins-Null-Sieben bitten oder ihren Namen nennen. Das Zimmer würde man ihr schon zuordnen. Das mit dem blauen Nachthemd würde man ihr nachsehen, sie könnte ja erklären, dass sie sich ausgesperrt hatte. Wenn dort eine Rezeptionistin saß, sollte sie bitte unter keinen Umständen mit ihr zurückkehren. Ich wollte ungern in diesem dunklen Treppenhaus von einer osteuropäischen Schönheit entdeckt werden. Auch das verstand sie. Mit dem Ersatzschlüssel sollte sie die Treppe wieder hochkommen, durch die Schwingtür treten und ich würde aus dem Versteck springen und uns schnell die Tür aufschließen. Meine Mutter gab mir mit einem Nicken zu verstehen, dass sie alles verstanden hatte. Ich wiederholte den Ablauf einige Male, vor allem die Eins-Null-Sieben unserer Zimmernummer, aber meine Mutter verdrehte bloß die Augen und sagte, sie sei nicht blöd. Das wäre für sie ein Kinderspiel. Und schon trottete sie davon. Mir kamen kurz Zweifel, als ich sie erneut durch die Schwingtür verschwinden sah, aber im Grunde war alles recht einfach: Treppe runter, Schlüssel holen, Treppe rauf. Das sollte im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegen. In wenigen Minuten würden wir wieder in unseren warmen Betten liegen.
Die Zeit verging. Mir war kalt und ich blickte auf meine Füße, die in dem grauen Staub der Feuertreppe zwei Abdrücke hinterließen, wie die des 800.000 Jahre alten Homo erectus, die wir am Nachmittag im British Museum gesehen hatten. Zunächst dachte ich, meine Mutter müsste vielleicht länger anstehen, weil auch nachts Reisende ankamen, die einchecken mussten. Die Rezeption war um diese Zeit nur mit einer Person besetzt, das konnte also eine Weile dauern. In der Kälte verlor ich mein Zeitgefühl, aber nach dem Grad meines Durchfrierens zu urteilen, war sie bereits länger fort. Draußen herrschten Minustemperaturen, und das Treppenhaus war nicht isoliert. Es führte direkt zur Straße auf der Rückseite unseres Hotels. Vielleicht hatte sie noch einen Zwischenstopp auf der Damentoilette eingelegt, die sich gegenüber der Rezeption befand? Das würde auch einige Minuten dauern. Mein Bein fing an zu zittern und langsam musste ich mir eingestehen, was ich von Anfang an geahnt hatte: Meine Mutter war vom Weg abgekommen. Hoffentlich lief sie nicht gerade in ihrem blauen Nachthemd durch die eiskalte, viel befahrene Lancaster Gate und wich entgegenkommenden Autos aus. Der Strom der heimkehrenden Gäste hatte sich abgeschwächt und mir wurde klar, dass ich handeln musste. Aber wie? Sollte ich durch das runde Fenster der Feuertür versuchen, auf mich aufmerksam zu machen und einem ahnungslosen Gast durch die kleine runde Scheibe mein Anliegen erklären? Oder mit den Händen vor der Scham in den Gang treten und warten, bis jemand mich entdeckte? Mit staubbedeckten Füßen? Beides kam nicht infrage. Nachher alarmierte jemand die Rezeption oder die Polizei und alle würden zuschauen, wie ich nackt aus diesem gediegenen viktorianischen Hotel abgeführt wurde. Da kam mir die erlösende Idee. Die suites, na klar! Am Morgen hatte ich in einem Saal einige gedeckte Tafeln bemerkt, die für das vegetarische Buffet der abendlichen Veranstaltung zur Inneren Transzendenz vorbereitet worden waren; lange Tische, mit langen weißen Tischtüchern…..
Den Weg zu den suites kannte ich im Schlaf. Wenn ich links abbog und Gas gab, würde ich nach etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Sekunden von dem hell erleuchteten Gang durch eine zweite Schwingtür in einen ruhigeren Nebengang gelangen. Nach etwa zehn Metern mündete dieser in ein wenig frequentiertes Treppenhaus. Dort führten zwei weitläufige Treppenabsätze nach oben in den abgelegenen Trakt des Hotels, in dem die suites lagen. Das Treppenhaus führte zwar auch zu der Bar im Erdgeschoss, aber die Gäste bevorzugten das Haupttreppenhaus mit dem Kronleuchter oder benutzten den Fahrstuhl, um in ihre Zimmer zu gelangen. In den suites lief ich Gefahr, auf die letzten Teilnehmer der Veranstaltung zur Inneren Transzendenz zu treffen, bei einem Umtrunk und den Resten des vegetarischen Buffets. Aber das Risiko war überschaubar. Die Räumlichkeiten waren weitläufig und ich würde sicherlich unbemerkt eine nicht einsehbare Ecke finden, in der ich mir ein Tischtuch umbinden könnte. Vielleicht war die Zusammenkunft zur Inneren Transzendenz auch eine Nacktveranstaltung, wie die Mitarbeiterparty bei Toni Erdmann. Dann würde ich mich als verspäteter Gast zu den anderen ans Buffet stellen und auf eine günstige Gelegenheit warten, um mir ein Tischtuch zu stibitzen. Was sollte ich sonst machen? Ich hatte keine andere Wahl.
Seit einer Weile war niemand in den Korridor getreten, und ich nahm mir vor, direkt nach dem nächsten Heimkehrer den Sprint zu wagen. Ich wartete, als plötzlich ein junger Mann aus seinem Zimmer trat und in winterlicher Montur durch die Schwingtür zum Treppenhaus verschwand. „Der gilt auch“, dachte ich, holte tief Luft und legte einen Start hin, der eines Olympialeichtathleten würdig gewesen wäre. Ich muss zugeben, ich bin nicht die schamvollste Person, allerdings im nackten Zustand auch nicht die ansehnlichste. Das Bild, das ich abgab, würde keinem Hotelgast ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Vielmehr musste ich damit rechnen, für einen geistesgestörten Flitzer gehalten zu werden. Mein Vorteil war aber, dass ich das Hotel in- und auswendig kannte und durchaus schnell war.