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Der Zeitreisende Karl Glogauer ist auf der Flucht vor den Schrecken des 20. Jahrhunderts. Er gerät ins Zeitalter Jesu. Doch als er in den biblischen Zeiten ankommt, bricht für ihn die Welt zusammen. Warum kennt niemand einen Jesus von Nazareth? Glogauers Suche nach der Wahrheit wird zu einer bizarren Reise ohne Wiederkehr, die die biblische Geschichte auf den Kopf stellt. Michael Moorcocks Klassiker »I.N.R.I.« war lange Zeit nicht auf Deutsch erhältlich. Nun liegtendlich einer der bedeutendsten phantastischen Romane in komplett neuer Übersetzung vor.
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Übersetzung aus dem Englischen von Jürgen Langowski
Mit einem Nachwort von Carsten Polzin
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe
1. Auflage 2007
ISBN 978-3-492-98198-9
© für diese Ausgabe: Fahrenheitbooks, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2015
© 1969 Michael Moorcock
Titel der englischen Originalausgabe: »Behold the Man«, Allison & Busby Ltd., London 1969
© des Nachworts: Carsten Polzin 2007
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2007
Deutsche Erstausgabe: Marion von Schröder Verlag, Düsseldorf 1972
Covergestaltung:FAVORITBUERO, München
Covermotiv: diuno / shutterstock.com
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Die Zeitmaschine ist eine Kugel, gefüllt mit einer milchigen Flüssigkeit, in der der Zeitreisende schwebt, geschützt von einem Plastikanzug und atmend durch eine Maske, die über einen Schlauch mit der Außenwand der Maschine verbunden ist.
Bei der Landung platzt die Kugel, die Flüssigkeit versickert im Boden. Die Kugel rollt los und holpert über nackte Erde und Steine.
O Jesus! O Gott!
O Jesus! O Gott!
O Jesus! O Gott!
O Jesus! O Gott!
Himmel, wie wird mir?
Ich bin im Arsch. Das war’s dann wohl.
Das verdammte Ding funktioniert nicht.
O Jesus! O Gott! Wann hört das Mistding endlich auf, solche Bocksprünge zu machen?
Karl Glogauer rollt sich zusammen, während der Flüssigkeitspegel fällt und er auf die nachgiebige Plastikschicht sinkt, die das Innere der Maschine auskleidet.
Die geheimnisvollen, ungewöhnlichen Instrumente geben keinen Ton von sich, zeigen nichts an. Die Kugel bleibt stehen, schwankt und rollt weiter, als die letzten Tropfen aus dem breiten Riss in der Hülle rinnen.
Warum habe ich das getan? Warum habe ich das getan? Warum habe ich das getan? Warum habe ich das getan? Warum habe ich das getan?
Glogauer blinzelt einige Male, dann öffnet er den Mund zu einer Art Gähnen. Er stöhnt – und der Laut verwandelt sich in ein Geheul.
Als er das Heulen hört, denkt er abwesend: die Stimme der Zungen, die Sprache des Unbewussten … allerdings kann er selbst nicht verstehen, was er von sich gibt.
Zischend entweicht die Luft, während die Plastikhülle in sich zusammensackt, bis Glogauer mit dem Rücken an der Metallwand lehnt. Seine Schreie brechen ab, er betrachtet den gezackten Riss in der Kugel. Auf das, was jenseits davon existiert, ist er nicht neugierig. Sein Körper ist völlig taub und will sich nicht bewegen. Er schaudert, als durch den Spalt in der äußeren Wand der Zeitmaschine kalte Luft hereinweht. Offenbar ist es Nacht draußen.
Seine Reise durch die Zeit war schwierig. Nicht einmal die zähe Flüssigkeit konnte ihn völlig schützen, auch wenn sie ihm ohne Zweifel das Leben gerettet hat. Wahrscheinlich sind ein paar Rippen gebrochen.
Dieser Gedanke weckt Schmerzen. Er stellt jedoch fest, dass er Arme und Beine strecken kann.
Über das glitschige Plastik kriecht er zum Riss. Er keucht, hält inne und kriecht weiter.
Dann wird er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kommt, ist die Luft wärmer geworden. Durch den Riss sieht er gleißendes Sonnenlicht und einen Himmel wie polierter Stahl. Er zieht sich halb hinaus und muss die Augen schließen, als ihn das volle Sonnenlicht trifft. Wieder verliert er das Bewusstsein.
Winterhalbjahr 1949.
Damals war er neun Jahre alt. Zwei Jahre nachdem sein Vater aus Österreich nach England gekommen war, hatte er das Licht der Welt erblickt.
Auf dem grauen Kies des Schulspielplatzes tobten kreischend und lachend die anderen Kinder, sie spielten. Am Rand des Spielplatzes lagen kleine, schmutzige Schneehaufen, jenseits des Zauns erhoben sich die rußigen Häuser von Südlondon schwarz vor dem kalten Winterhimmel.
Eifrig hatten sie mit dem Spiel begonnen, und Karl hatte nicht ohne Nervosität die Rolle vorgeschlagen, die er übernehmen wollte. Zuerst hatte er die Aufmerksamkeit genossen, inzwischen aber weinte er.
»Lasst mich runter! Bitte, Mervyn, hör auf!«
Sie hatten ihn mit ausgebreiteten Armen an den Maschendrahtzaun des Spielplatzes gefesselt. Der Zaun bog sich unter seinem Gewicht, ein Pfosten drohte sogar aus der Verankerung zu reißen. Er zappelte, um seine Füße zu befreien.
»Lasst mich runter!«
Mervyn Williams, der Junge mit dem roten Gesicht, der das Spiel vorgeschlagen hatte, wackelte am Pfosten, sodass Karl im Maschendraht heftig hin und her schwankte.
»Hört auf damit! Hilfe!«
Wieder lachten sie, und als ihm bewusst wurde, dass seine Schreie sie nur weiter aufstachelten, biss er lieber die Zähne zusammen. Tränen rollten über sein Gesicht, er war verwirrt und fühlte sich verraten. Dabei hatte er geglaubt, sie seien seine Freunde – er hatte Mitgefühl gezeigt, wenn sie unglücklich waren, einigen hatte er bei den Hausaufgaben geholfen und anderen Süßigkeiten geschenkt. Er hatte angenommen, sie mochten und bewunderten ihn. Warum wandten sie sich nun auf einmal gegen ihn? Sogar Molly, nachdem sie ihm ihre Geheimnisse anvertraut hatte?
»Bitte!«, schrie er. »So wollten wir das doch nicht spielen!«
»Und ob, jetzt schon«, gab Mervyn Williams lachend zurück. Seine Augen strahlten, und sein Gesicht lief rot an, als er voller Begeisterung umso fester am Pfosten rüttelte.
Einige Augenblicke lang ließ Karl die Rüttelei noch über sich ergehen, dann sank er in sich zusammen und erweckte den Anschein, ohnmächtig geworden zu sein. Das Gleiche hatte er schon einmal getan, um seine Mutter zu erpressen, von der er den Trick auch gelernt hatte.
Die Schlipse der Schuluniform, die sie als Fesseln benutzt hatten, schnitten in seine Handgelenke. Er hörte die Kinder miteinander tuscheln.
»Was ist denn mit ihm los?«, flüsterte Molly Turner. »Er ist doch nicht etwa tot, oder …?«
»Sei nicht albern«, erwiderte Williams unsicher. »Er tut nur so.«
»Trotzdem, wir sollten ihn lieber runterholen.« Das war Ian Thompson. »Wir bekommen Ärger, wenn wir …«
Er spürte, wie ihre Finger an den Knoten nestelten, als sie ihn losbanden.
»Den hier krieg ich nicht auf …«
»Hier ist mein Taschenmesser, schneide du ihn durch …«
»Geht nicht, das ist mein Schlips. Mein Dad wird …«
»Beeil dich, Brian!«
Am letzten Schlips hängend, ließ er sich zu Boden sinken und hielt eisern die Augen geschlossen.
»Gib her. Ich schneide ihn durch!«
Als der letzte Schlips zerriss, fiel er ganz hin, schürfte sich die Knie auf und ließ sich mit dem Gesicht voran auf den Boden fallen.
»Blimey, der ist wirklich …«
»Sei nicht so blöd, der atmet doch noch. Er ist bloß ohnmächtig geworden.«
Wie aus weiter Ferne, weil sein Täuschungsmanöver ihn beinahe auch selbst überzeugte, hörte er ihre beunruhigten Stimmen.
Williams schüttelte ihn.
»Wach auf, Karl. Lass dieses Theater.«
»Ich hole Mr. Matson«, entschied Molly Turner.
»Nein, nicht …«
»Ist sowieso ein blödes Spiel.«
»Komm zurück, Molly!«
Seine Aufmerksamkeit richtete sich jetzt vor allem auf die Kiesbrocken, die ihm auf der linken Seite ins Gesicht drückten. Es war leicht, die Augen geschlossen zu halten und die Hände, die ihn abtasteten, nicht zu beachten. Nach und nach verlor er das Zeitgefühl, bis er Mr. Matsons tiefe, ironische Stimme hörte, wie immer unberührt von der allgemeinen Aufregung. Stille kehrte ein.
»Was, um alles in der Welt, hast du jetzt schon wieder angestellt, Williams?«
»Nichts, Sir. Es war doch nur ein Spiel. Eigentlich war es sogar Karls Idee.«
Grobe Männerhände drehten ihn herum. Er schaffte es, die Augen weiter geschlossen zu halten.
»Es war nur ein Spiel, Sir«, bekräftigte Ian Thompson. »Wir haben Jesus gespielt. Karl wollte Jesus sein. Wir haben das schon mal gespielt, Sir. Wir haben ihn an den Zaun gebunden. Es war seine eigene Idee, Sir.«
»Ein bisschen unvernünftig«, murmelte Mr. Matson und legte Karl seufzend die Hand auf die Stirn.
»War doch nur ein Spiel, Sir«, wiederholte Mervyn Williams.
Mr. Matson fühlte Karl den Puls. »Eigentlich hättest du es besser wissen sollen, Williams. Glogauer ist kein starker Junge.«
»Tut mir leid, Sir.«
»Das war wirklich dumm.«
»Es tut mir leid, Sir.« Williams weinte jetzt beinahe.
»Ich bringe ihn zur Hausmutter. Um deinetwillen, Williams, hoffe ich, dass ihm nichts Ernstliches passiert ist. Melde dich morgen nach dem Unterricht bei mir im Gemeinschaftsraum.«
Karl spürte, wie Mr. Matson ihn hochhob.
Ihm war es recht.
Er wurde getragen.
Sein Kopf und die Seite taten ihm so weh, dass er sich beinahe übergeben musste. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, genau zu bestimmen, wohin ihn die Zeitmaschine gebracht hatte. Doch als er den Kopf drehte und die Augen öffnete, verrieten ihm die schmutzige Schaffelljacke und das baumwollene Lendentuch des Mannes zu seiner Rechten, dass er sich mit recht großer Sicherheit im Nahen Osten befand.
Er hatte im Jahr 29 in der Wildnis hinter Jerusalem in der Nähe von Bethlehem landen wollen. Nun fragte er sich, ob sie ihn etwa gerade nach Jerusalem brachten.
In der Vergangenheit war er auf jeden Fall gelandet, denn die Trage, auf der sie ihn da schleppten, war offenbar aus nicht sehr gut gegerbten Tierfellen gefertigt worden. Aber vielleicht auch nicht, dachte er, denn er hatte sich oft genug bei den kleinen Stammesgesellschaften des Nahen Ostens aufgehalten, um zu wissen, dass es immer noch Leute gab, die ihre Lebensart seit der Zeit Mohammeds kaum verändert hatten. Hoffentlich hatte er sich nicht für nichts und wieder nichts die Rippen gebrochen.
Zwei Männer trugen die Bahre auf den Schultern, während andere zu beiden Seiten mitliefen. Alle waren bärtig, dunkelhäutig und trugen Sandalen. Die meisten hatten Stäbe dabei. Er nahm den Geruch von Schweiß und tierischem Fett wahr, außerdem etwas Modriges, das er aber nicht genau einordnen konnte. Sie hielten auf eine Hügelkette in der Ferne zu und hatten noch nicht bemerkt, dass er wach war.
Die Sonne schien nicht mehr so stark wie zuvor, als er aus der Zeitmaschine gekrochen war. Vermutlich stand der Abend bevor. Das Land war steinig und öde, die Hügel vor ihnen grau.
Er zuckte zusammen, als die Trage ruckte, und stöhnte über die Schmerzen in seiner Seite, die ganz plötzlich zunahmen. Wieder wurde ihm übel, erneut verlor er das Bewusstsein.
Vater unser, der du bist im Himmel …
Wie die meisten seiner Schulkameraden war er dazu erzogen worden, ein Lippenbekenntnis zur christlichen Religion abzulegen. Morgens das Schulgebet. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, auch abends zwei Gebete zu sprechen. Eines war das Vaterunser und das andere ging so: Gott segne Mummy, Gott segne Daddy, Gott segne meine Schwestern und Brüder und alle braven Leute hier, und Gott segne mich. Amen. Dieses Gebet hatte ihm die Frau beigebracht, die manchmal auf ihn aufpasste, wenn seine Mutter bei der Arbeit war. Ergänzt hatte er es durch eine eigene Reihe von Danksagungen (danke für den schönen Tag, danke, dass ich die Geschichtsaufgaben richtig gelöst habe) und Entschuldigungen (Entschuldigung, dass ich grob zu Molly Turner war, Entschuldigung, dass ich mich nicht bei Mr. Matson bedankt habe …). Erst mit siebzehn Jahren war er fähig gewesen, ohne sein Gebetsritual einzuschlafen, und selbst da hatte ihn eher seine Ungeduld, endlich zu masturbieren, dazu gebracht, mit der alten Gewohnheit zu brechen.
Vater unser, der du bist im Himmel …
Die letzten Erinnerungen an seinen Vater drehten sich um einen Urlaub am Meer. Damals war er vier oder fünf gewesen, der Krieg hatte bereits begonnen, und die Züge waren voller Soldaten gewesen. Sie hatten die Reise oft unterbrechen und umsteigen müssen. Er konnte sich noch erinnern, wie sie über die Gleise gelaufen waren, um zu einem anderen Bahnsteig zu kommen, und wie er seinem Vater Fragen über die Fracht der Waggons gestellt hatte, die nebenan im Sonnenschein rangiert wurden. Hatte es da nicht einen Witz gegeben? Irgendetwas mit Giraffen?
In seiner Erinnerung war sein Vater ein großer, schwerer Mann mit freundlicher, vielleicht etwas trauriger Stimme und einem melancholischen Blick.
Er wusste noch, dass sich seine Mutter und sein Vater damals getrennt hatten und seine Mutter ihm erlaubt hatte, noch einen letzten Urlaub mit seinem Vater zu verbringen. War es in Devon oder Cornwall gewesen? Was er über die Klippen, Felsen und Strände noch wusste, schien zu den Bildern vom Westen zu passen, die er später im Fernsehen gesehen hatte.
Er hatte in einem Obstgarten voller Katzen und in einem zusammengebrochenen, von Unkraut überwucherten Ford gespielt. Auch das Bauernhaus, in dem sie gewohnt hatten, war voller Katzen gewesen – ein Meer von Katzen, das Stühle, Tische und Kommoden überschwemmte.
Am Strand waren Stacheldrahtsperren ausgelegt worden, er hatte jedoch nicht bemerkt, wie sehr sie die Idylle störten. Wind und Wellen hatten Brücken und Statuen aus Sandstein geschliffen. Es gab auch geheimnisvolle Höhlen, aus denen das Wasser lief.
Dies war beinahe die früheste und sicherlich die glücklichste Erinnerung an seine Kindheit.
Danach sah er seinen Vater nie wieder.
Gott segne Mummy, Gott segne Daddy …
Das war albern. Er hatte gar keinen Daddy, er hatte nicht mal Brüder und Schwestern.
Die alte Frau hatte ihm erklärt, sein Daddy lebe irgendwo an einem anderen Ort und alle Menschen seien seine Brüder und Schwestern.
Das hatte er akzeptiert.
Einsam, dachte er. Ich bin einsam. Er wachte kurz auf und glaubte, er sei in den Anderson-Bunker mit seinen rötlichen Stahlplatten und den Drahtgittern geflüchtet, weil ein Luftangriff begann. Die Sicherheit im Anderson-Bunker hatte ihn überzeugt, außerdem war es spannend gewesen, sich dort zu verkriechen.
Die Stimmen erklangen allerdings in einer fremden Sprache. Inzwischen war wohl die Nacht angebrochen, denn es schien sehr dunkel zu sein. Er bewegte sich nicht mehr, ihm war heiß. Sie hatten ihn auf Stroh gebettet. Er berührte das Stroh und war erleichtert, ohne den Grund dafür zu wissen. Er schlief.
Schreie. Anspannung.
Seine Mutter brüllte oben Mr. George an. Mr. George und seine Frau hatten die beiden hinteren Zimmer des Hauses gemietet.
Er rief seine Mutter.
»Mummy! Mummy!«
Darauf ihre hysterische Antwort: »Was ist denn?«
»Komm wieder runter!«
Er wollte, dass sie aufhörte.
»Was ist, Karl? Jetzt hast du das Kind aufgeweckt!«
Sie erschien über ihm auf dem Treppenabsatz, stützte sich dramatisch aufs Geländer und zog ihren Morgenrock enger um sich.
»Mummy, was ist denn los?«
Sie hielt einen Augenblick inne, als könnte sie sich nicht entscheiden, dann brach sie zusammen und stürzte langsam die Treppe hinunter. Unten auf dem dunklen, abgetretenen Teppich blieb sie liegen. Schluchzend schüttelte er sie an der Schulter, doch sie war zu schwer, er konnte sie nicht bewegen. »Oh, Mummy!«, rief er panisch.
Mr. George kam schwerfällig die Treppe herunter. Er wirkte resigniert. »Oh, verdammt«, sagte er. »Greta!«
Karl starrte ihn an.
Mr. George sah Karl an und schüttelte den Kopf. »Es geht ihr gut, Junge. Komm schon, Greta, wach auf!«
Karl stand zwischen Mr. George und seiner Mutter.
Mr. George zuckte die Achseln und schob ihn zur Seite, dann bückte er sich und zog Karls Mutter auf die Beine. Ihr langes, schwarzes Haar war über das schöne, gehetzte Gesicht gefallen. Sie öffnete die Augen, und selbst Karl war überrascht, dass sie so schnell wieder zu sich kam.
»Wo bin ich?«, sagte sie.
»Nun beruhig dich, Greta. Dir ist nichts passiert.«
Mr. George führte sie nach oben.
»Was ist mit Karl?«, fragte sie.
»Mach dir seinetwegen keine Sorgen.«
Damit verschwanden sie.
Im Haus war es jetzt wieder still. Karl ging in die Küche. Dort stand ein Bügelbrett samt Bügeleisen. Auf dem Herd kochte etwas, es roch nicht besonders gut. Wahrscheinlich etwas, das Mrs. George aufgesetzt hatte.
Er hörte jemanden die Treppe herunterkommen und rannte durch die Küche in den Garten.
Er weinte. Er war sieben Jahre alt.
Zu der Zeit kam Johannes der Täufer und predigte in der Wüste des jüdischen Landes und sprach: Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! Und er ist der, von dem der Prophet Jesaja gesagt hat und gesprochen: »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem HERRN den Weg und machet richtig seine Steige!« Er aber, Johannes, hatte ein Kleid von Kamelhaaren und einen ledernen Gürtel um seine Lenden; seine Speise aber war Heuschrecken und wilder Honig. Da ging zu ihm hinaus die Stadt Jerusalem und das ganze jüdische Land und alle Länder an dem Jordan und bekannten ihre Sünden und ließen sich taufen von ihm im Jordan.
MATTHÄUS 3, 1–6
Sie wuschen ihn.
Er keuchte, als das kalte Wasser über seine Haut lief. Sie hatten ihm den Schutzanzug ausgezogen, mehrere Lagen Schaffell auf seine Rippen gebettet und mit Lederriemen verschnürt.
Die Schmerzen hatten nachgelassen, doch er war schwach und ihm war heiß. Die geistige Verwirrung der Wochen vor der Fahrt mit der Zeitmaschine, die Reise selbst und jetzt das Fieber erschwerten es ihm zu verstehen, was mit ihm geschah. Es war ihm lange wie ein Traum vorgekommen, er konnte immer noch nicht richtig an die Zeitmaschine glauben. Vielleicht war er auch nur high von irgendeiner Droge? Eines sonderlich starken Realitätssinns hatte er sich noch nie rühmen können, und so war es vor allem gewissen Instinkten zu verdanken, dass er in seiner Jugend und während seines Lebens als Erwachsener sein körperliches Wohlergehen hatte sichern können. Doch das Wasser, das sie über ihm ausgossen, das Schaffell auf der Haut, das Stroh unter ihm, all das schien ihm erstaunlicherweise viel wirklicher als alles, was er seit seiner Kindheit erlebt hatte.
Er befand sich in einem Gebäude, vielleicht auch in einer Höhle – es war zu finster, um es genau erkennen zu können. Das Stroh war vom Wasser durchnässt.
Zwei Männer mit Sandalen und Lendentüchern schütteten aus irdenen Krügen Wasser über ihn. Einer hatte sich ein Stück Tuch über die Schultern geworfen. Beide hatten dunkle, semitische Gesichtszüge, große dunkle Augen und Vollbärte. Ihre Gesichter blieben jedoch ausdruckslos, selbst wenn sie innehielten und er zu ihnen aufschaute. Einen Moment lang erwiderten sie seinen Blick und hielten die Wasserkrüge vor den behaarten Oberkörpern.
Glogauer beherrschte die alte aramäische Schriftsprache recht gut, war aber keineswegs sicher, ob er sie auch sprechen und sich in ihr verständlich machen konnte. Zuerst wollte er es jedoch auf Englisch versuchen, denn falls er sich überhaupt nicht durch die Zeit bewegt hatte, wäre es lächerlich gewesen, moderne Israelis oder Araber in einer uralten Sprache anzureden.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte er schwach.
Einer der Männer runzelte die Stirn, und der andere, der mit dem Baumwolltuch, lächelte und sagte ein paar Worte zu seinem Gefährten. Der zweite antwortete in ernsterem Ton.
Glogauer glaubte einige Worte zu erkennen und grinste nun auch selbst. Sie sprachen tatsächlich altes Aramäisch, ganz sicher. Er überlegte, ob er wohl einen Satz formulieren konnte, den sie verstanden.
Er räusperte sich, leckte sich über die Lippen. »Wo – sein – dieser Ort?«, fragte er unbeholfen.
Jetzt runzelten beide die Stirn, schüttelten die Köpfe und stellten die Wasserkrüge auf den Boden.
Da seine Kräfte wieder schwanden, stieß Glogauer drängend hervor: »Ich – suche – einen Nazarener – Jesus …«
»Nazarener. Jesus.« Der Größere wiederholte die Worte, die ihm jedoch nichts zu sagen schienen. Er zuckte die Achseln.
Der andere wiederholte nur das Wort »Nazarener« und sprach es langsam aus, als hätte es für ihn eine besondere Bedeutung. Dann murmelte er seinem Begleiter kurz etwas zu und entfernte sich, bis Glogauer ihn nicht mehr sehen konnte.