Ich bin dein Ende - Anne Frasier - E-Book

Ich bin dein Ende E-Book

Anne Frasier

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Beschreibung

Du hast mit der Vergangenheit abgeschlossen. Dann holt sie dich wieder ein – unbarmherziger als je zuvor.

Unter der Eisschicht eines Sees in Minneapolis taucht die Leiche eines Jungen auf. Der schreckliche Fund bringt Detective Jude Fontaine und ihren Partner Uriah Ashby auf die Spur weiterer toter Jungen. Alle zwölf Jahre alt und alle seit zwanzig Jahren vermisst.

Nachdem ein schlimmer Blizzard die Stadt verwüstet, findet Jude auf ihrer Veranda einen Vierjährigen. Er weiß nicht, wo er herkam und wer seine Eltern sind. Nicht einmal seinen Namen kennt er. Doch Jude beschleicht ein grauenvoller Verdacht. Gibt es eine Verbindung zu den toten Jungen im See? Ist er der Schlüssel zu dem Fall?

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Das Buch

Unter der Eisschicht eines Sees in Minneapolis taucht die Leiche eines Jungen auf. Der schreckliche Fund bringt Detective Jude Fontaine und ihren Partner Uriah Ashby auf die Spur weiterer toter Jungen. Alle zwölf Jahre alt und alle seit zwanzig Jahren vermisst. Nachdem ein schlimmer Blizzard die Stadt verwüstet, findet Jude auf ihrer Veranda einen Vierjährigen. Er weiß nicht, wo er herkam und wer seine Eltern sind. Nicht einmal seinen Namen kennt er. Doch Jude beschleicht ein grauenvoller Verdacht. Gibt es eine Verbindung zu den toten Jungen im See? Ist er der Schlüssel zu dem Fall?

Die Autorin

Anne Frasier ist eine New York Times und USA Today Bestsellerautorin. Sie teilt ihre Zeit zwischen der Stadt Saint Paul in Minnesota und ihrem Schreibstudio im ländlichen Wisconsin auf. »Ich bin dein Ende« ist der dritte Fall für Detective Jude Fontaine.

Lieferbare Titel

Ich bin nicht tot

Ich bin nicht dein

ANNEFRASIER

ICHBINDEINENDE

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Anu Katariina Lindemann

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe The Body Keeper erschien erstmals 2019 bei Thomas & Mercer, Seattle.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Copyright © 2019 by Theresa WeirCopyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Catherine BeckUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München, unter Verwendung von Vögel: © Getty Images / Marco Redaelli RF; Risse: FinePic®, MünchenSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN978-3-641-26760-5V001www.heyne.de

Kapitel 1

Minneapolis, Mitte November

Als die Leichen erst einmal verladen waren, rutschte sie auf den Fahrersitz, drehte den Zündschlüssel … und hörte nichts als ein fürchterliches Klicken. Ihr Herz hämmerte wie verrückt, während sie panisch aufs Gaspedal trat und den Schlüssel noch einmal drehte. Der Van wackelte, der Motor stotterte, bevor er verstummte. Dann roch es besorgniserregend nach Benzin. All ihre Instinkte schrien, sie solle so schnell wie möglich loslaufen, einfach nur laufen. Sich vielleicht ein Taxi nehmen und dann den nächsten Flieger nach Mexiko oder anderswohin, egal.

Sie versuchte noch einmal, den Motor zu starten.

Das Fahrzeug ruckelte und spuckte schwarze Rauchschwaden aus, aber dieses Mal lief der Motor. Ohne den Wagen lange im Leerlauf zu lassen, legte sie den ersten Gang ein, und er schoss vorwärts.

Sie nahm eine Seitenstraße. Für sie gab es heute keine Autobahn. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen könnte, wäre eine Panne auf einem viel befahrenen Highway. Schließlich schlängelte sie sich durch das Stevens-Square-Viertel in Minneapolis, irgendwie landete sie in der Franklin Avenue. Eine Rechtskurve, eine Steigung, eine Brücke, die übers Wasser führte, und der Motor geriet erneut ins Stottern. Dann ging er komplett aus.

Sie nahm den Fuß vom Bremspedal und rollte hoch, murmelte: »Komm schon, komm schon, komm schon.« Aber das Fahrzeug schaffte den höchsten Punkt der Brücke nicht ganz und blieb dann allmählich stehen. Danach begann es rückwärts zu rollen. Jetzt machte sie eine Vollbremsung, blieb mit dem Van stehen und versuchte anschließend, erneut zu starten. Ein paar sinnlose Minuten später sah sie rotes Licht, das in ihrem Seitenspiegel reflektiert wurde.

Ein Polizist bremste hinter ihr.

Mit einer Taschenlampe in der Hand stieg der Officer aus seinem Streifenwagen und kam näher. Sie ließ das Wagenfenster runter. Nur Routine. Sie reichte ihm Führerschein und Fahrzeugpapiere, versuchte dabei, ihre Stimme und Hände ruhig zu halten. Aber die ganze Zeit über war sie sich der Leichen hinter ihrem Sitz bewusst, die sie mit einer Plane abgedeckt hatte.

»Kalte Nacht heute, um so spät noch unterwegs zu sein«, sagte der Cop.

»Ich hatte ein paar Besorgungen zu machen. Eine Freundin von mir liegt im Krankenhaus, und ich kümmere mich so lange um ihre Hunde.« Sie war schon immer eine gute Lügnerin gewesen, auch wenn es früher – als junge und attraktive Frau – einfacher gewesen war. Damals hatte sie es geschafft, aus jeder Zwangslage herauszukommen.

Er nahm ihren Führerschein und ging damit zu seinem Streifenwagen, kehrte wenige Minuten später wieder zurück, reichte ihr den Führerschein durchs heruntergelassene Wagenfenster. »Gibt es jemanden, der kommt, um Ihnen zu helfen?«

»Ich habe einen Abschleppwagen herbestellt.«

»Möchten Sie in meinem Auto warten, bis er kommt? Es sind minus achtzehn Grad. Ich will nicht, dass Sie auch noch krank werden und im Krankenhaus landen.«

»Nein, ist schon okay. Die haben gesagt, dass sie in spätestens zehn Minuten hier sind.«

»Ich komme in zehn oder fünfzehn Minuten noch mal vorbei, um nach Ihnen zu sehen. Gehen Sie so lange nirgends hin. Es ist immer das Beste, im Wagen zu bleiben.«

Als er weg war, sprang sie aus dem Van und ließ den Blick über die Umgebung schweifen. Sie befand sich in einem dieser Viertel, die es mitten in der Stadt gab – auf merkwürdige Weise war es hier einsam, außer dass sie die I-94 hören konnte. Die Häuser waren nah, aber nicht zu nah. Und es gab viele immergrüne Bäume. Es wäre schwierig, sie aus einem der Fenster zu sehen. Zusätzlich war es auch noch dunkel, die nächsten Lichter waren weit weg. Irgendwo hatte sie gelesen, dass Vandalen auf die Straßenlaternen geschossen und sie dadurch kaputt gemacht hatten, aber Minneapolis gehörte auch zu den Städten, in denen die Straßenbeleuchtung generell nicht allzu grell war.

Mit einer Scheißangst, weil der Polizist versprochen hatte, wieder zurückzukehren, eilte sie zur Hintertür des Vans und zog eine der Leichen heraus, schleifte sie über Eis und Schnee. Vor lauter Adrenalin klopfte ihr Herz schneller, sodass sie wahrscheinlich einen Truck über ihren Kopf hätte heben können. Nicht nötig. Der Rand der Brücke war ohnehin ziemlich niedrig.

Es fühlte sich leicht an und so, als ob sie übernatürliche Kräfte besäße, während sie die steif gewordene Leiche auf die Betonkante balancierte und deren Füße anhob – so als ob es sich um das Ende einer Wippe handeln würde. Der Rest erledigte sich dann praktisch wie von selbst, und die Leiche verschwand über den Brückenrand in der Dunkelheit. Aber anstelle des Platschens, mit dem sie gerechnet hätte, hörte sie nur einen dumpfen Aufprall. Sie schaute rüber, konnte aber kaum die dunkle Gestalt ausmachen, die nun auf dem Eis lag.

Die Tat war geschehen, und es gab jetzt nichts mehr, das sie daran hätte ändern können. Es war ausgeschlossen, die Leiche zurückzuholen. Also kehrte sie zum Van zurück und entsorgte die restlichen Leichen – eine nach der anderen. Aller guten Dinge sind drei, weil bei der dritten das Eis brach und die dunklen Gestalten allesamt im See verschwanden. Als sie die vierte Leiche über den Rand warf, hörte sie endlich das ersehnte Platschen, auf das sie gewartet hatte. Als sie fertig war, schloss sie die Türen des Vans, kletterte auf den Fahrersitz und rief beim Pannendienst an.

Wie versprochen kam der Cop noch einmal zurück, um nach ihr zu sehen. Er schien gerade aus seinem Fahrzeug steigen zu wollen, als auch schon die Notlichter des Abschleppwagens hinter einer Straßenkurve auftauchten. Der Polizist ließ sein Wagenfenster herunter, winkte und rief ihr zu, dass er ihr noch eine schöne Nacht wünsche. Dann fuhr er davon.

Kapitel 2

Minneapolis, 31. Dezember

Er war immer vorsichtig, hatte nie versucht, sie zu küssen, hatte sie nie wirklich berührt, ihr nicht einmal zu lange in die Augen gesehen. Sie hatte viel durchgemacht, und er vermutete, dass sie einen platonischen Freund jetzt nötiger hatte als eine romantische Beziehung. Deshalb war er auch überrascht, als er ihre Hand fühlte, die über seine strich.

Zuerst dachte er, es sei ein Versehen gewesen. Vielleicht hatte sie ja auch nur ein bisschen zu wild mit den Armen herumgefuchtelt, während sie auf dem zugefrorenen Stadtsee Schlittschuh liefen, und war ihm dabei aus Versehen zu nah gekommen. Aber als es wieder passierte, wusste er, dass es Absicht gewesen war. Bevor er das richtig begriffen hatte, hielten sie auch schon Händchen. Hielten richtig Händchen, zumindest so richtig, wie es Leute tun konnten, die Fausthandschuhe trugen. Und selbst da sagte er sich noch, dass es wohl nur daran lag, dass sie bei ihm nach einem sicheren Halt suchte. Aber in Wirklichkeit war er der miese Schlittschuhläufer und nicht sie.

Der Loring Park, in dem es diesen wunderschönen See gab, umgeben von rötlich braunen Sandsteinhäusern, war seine Idee für Silvester gewesen. Heute war die letzte Nacht einer Veranstaltung namens Holidazzle – Feierlichkeiten im Freien, die zwei Wochen andauerten und bei denen es jede Menge Essensverkäufer und ein beheiztes Bierzelt gab. Es wurde sogar Die Eisprinzessin auf einer Außenleinwand gezeigt, während dick angezogene Familien und Pärchen auf Heuballen hockten. Viel mehr Minnesota als das konnte man gar nicht bekommen. In der Ferne führte eine bogenförmige Fußgängerbrücke über die I-94 zum Walker Art Center und dem Spoonbridge and Cherry – diese riesige Skulptur, die einen mindestens genauso großen Symbolcharakter hatte wie die Mary-Tyler-Moore-Statue.

Elliot war gesagt worden, dass Loring Park einst eine der coolsten Gegenden der Stadt gewesen war. Aber die Stromausfälle und die darauf folgende Welle der Kriminalität des letzten Jahres sowie die Künstler, die weg- und in weniger teure Wohnungen zogen, hatten Loring Park zu einer Gegend gemacht, die krampfhaft versuchte, ihren kulturell bedeutenden Platz in der Stadt zu behalten.

Für Elliot spielte das keine Rolle. Er kam aus Texas, vom flachen, trockenen Land, und Loring Park war für ihn so fremd, als wäre es ein anderes Land. Er liebte es hier. Ihm schwoll jedes Mal förmlich das Herz, wenn er die engen Straßen mit den vielen Autos sah – diese Mischung aus schmalen, dreistöckigen viktorianischen Gebäuden und rötlich braunen Sandsteinhäusern mit bogenförmigen Durchgängen, die am Bürgersteig begannen und an den im frühen 20. Jahrhundert gebauten Holztüren endeten. Er liebte sogar die Art, wie die ineinander verschlungenen Fahrspuren der Autobahn in die Stadt und dann in den Lowry Tunnel mit dessen ausgekleideten Wänden führten. Dann machten die Straßen eine scharfe Kurve, um in dem nicht mehr modernen Uptown zusammenzulaufen.

Dies war Elliots erste richtige Erfahrung mit dem Winter. Er war erst vor wenigen Monaten nach Minneapolis gezogen. Seiner Nachbarin über ihm hatte er zuerst erzählt, er sei Student, bevor er schließlich zugab, dass er ein Buch über sie schrieb. Der bekannte weibliche Detective Jude Fontaine. In Wirklichkeit war nichts davon der Hauptgrund gewesen, warum er in diese Stadt gezogen war. Aber während er wartete, dass die Dinge ihren Lauf nahmen, fasste er irgendwann den Entschluss, tatsächlich dieses Buch zu schreiben. Und nicht nur über Jude.

Neben ihm hielt Ava Germaine immer noch seine Hand. Schnell liefen sie nebeneinander Schlittschuh, immer auf dem Teil des Sees, der vom Schnee befreit worden war. Die glänzende Oberfläche wurde durch Fackeln beleuchtet, und die Fußwege waren von aufwendig verzierten Straßenlaternen umgeben. Altmodische Laternen, die in den bürgerlichen Gegenden aufgestellt worden waren, um ihnen wieder einen gewissen Ordnungssinn zu verleihen und den Makel zu bekämpfen, der durch das Problem mit dem Stromnetz zurückgeblieben war, das die Stadt vor fast zwei Jahren in Dunkelheit gestürzt hatte.

Avas blonde Haare wehten hinter ihr her, und sie lächelte ihn an. Die Basilika der Heiligen Maria war hinter ihr zu sehen, in den Ästen der kahlen Bäume hingen Lichterketten, der Geruch von Holzrauch vom Grill eines Verkäufers hing in der Luft. Feuerwerke donnerten und explodierten im Himmel. Große. Violett und weiß. Ava sah glücklich aus. Wenn Fremde sie gesehen hätten, dann hätten sie ihr niemals ihre Geschichte geglaubt, und auch nicht die schrecklichen Dinge, die sie durchgemacht hatte.

Elliots und Avas erste Begegnung war alles andere als typisch gewesen. Er hatte wegen eines Interviews Kontakt aufgenommen. Zuerst hatte sie noch Nein gesagt, aber er konnte charmant und hartnäckig sein – das waren seine Superkräfte – , und schließlich hatte sie dann doch eingewilligt. Und jetzt, einen Monat später, waren sie hier. Ein Interessenkonflikt, mochten manche sagen. Er hatte sich sogar schon selbst gefragt, ob es ihm wirklich darum ging, sich einen Exklusivbericht über die Mutter-Tochter-Story zu schnappen. Eigentlich glaubte er das nicht, aber vielleicht machte er sich auch nur selbst etwas vor. Vielleicht war er ja wirklich das Arschloch, für das ihn manche hielten.

Während Ava ihn beobachtete, verschwand plötzlich das Lächeln aus ihrem Gesicht. Sie schrie seinen Namen, ihr Mund und die Augen waren weit aufgerissen.

Gerade noch rechtzeitig änderte er seine Richtung, um nicht mit einem anderen Pärchen zusammenzustoßen. Dabei ließ er Avas Hand los, die beiden wurden auseinandergerissen, der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer, während ihre Arme auch weiterhin ausgestreckt blieben. Zuerst wirkte es noch geradezu poetisch – die Trennung ihrer Fausthandschuhe, besonders weil seine von Ava selbst gestrickt und ihm von ihr schüchtern zu Weihnachten geschenkt worden waren. Er hatte ihr einen Gutschein für einen Café-Besuch geschenkt, weil er nicht zu aufdringlich sein wollte. Hinterher hatte er das bereut.

Und hier endete die Poesie.

Er schrie auf, als er abhob, stürzte und schließlich mit voller Wucht aufs Eis knallte. Aber das Spektakel war noch nicht zu Ende. Er schoss über das Eis wie eine sich drehende Bowlingkugel. Leute schrien und sprangen zur Seite. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber wenn jemand die Zeit gestoppt hätte, wären es – so vermutete er zumindest – in Wirklichkeit wohl nur Sekunden gewesen. Er wurde langsamer, bis er zum völligen Stillstand kam.

Irgendwann während dieses Sturzes auf der Eisfläche hatte er sich auf den Bauch gedreht. Sein Wollmantel hatte sich um seinen Oberkörper gewickelt, und sein entblößter Bauch wurde gegen den zugefrorenen See gedrückt. Hinter ihm schrie Ava wieder seinen Namen. Er hörte, wie ihre Schlittschuhe das Eis aufschnitten und wie sie abrupt bremste, indem sie einen Hockeystopp hinlegte. So verdammt gut war sie.

»Ich bin keine gute Schlittschuhläuferin«, hatte sie ihm vorher erzählt.

Und jetzt wunderte er sich über das Händchenhalten. Und dass sie behauptet hatte, keine gute Schlittschuhläuferin zu sein. Ein Trick? Das hoffte er zumindest.

Ihre Tochter Octavia holte sie ein. Er konnte sehen, wie sie sich das Lachen verkniff, schließlich könnte er ja auch verletzt sein. Aber er konnte ihr Verlangen, lachen zu wollen, auch nachvollziehen, ihm ging es ja sogar selbst ein bisschen so.

Octavia war ein unglaubliches Kind. Na ja, nicht wirklich ein Kind, sie war jetzt fast schon zwanzig Jahre alt, wirkte aber jünger. Er vermutete, dass ihre Entwicklung irgendwie gehemmt war. Sie war drei Jahre lang verschwunden gewesen, war gegen ihren Willen festgehalten worden – eine Geschichte, die der von Jude nicht gerade unähnlich war, außer dass es in Octavias Fall Judes Vater gewesen war, der das Mädchen entführt hatte. Das Gleiche hatte er auch vielen anderen Mädchen angetan. Nach ihrer Befreiung war Octavia in ein ziemlich normales Leben zurückgekehrt, aber er wusste, dass sich Ava, die früher als Psychologin gearbeitet hatte, Sorgen machte, dass ihre Tochter die Augen vor der Wahrheit verschloss.

»Alles okay bei dir?« Ava beugte sich über ihn, ihre Stimme klang ernsthaft besorgt, was seiner Scham allerdings keinen Abbruch tat.

Er ließ die Stirn aufs Eis sinken. »Mir geht’s gut.« Atemlos stützte er sich auf seinen Ellenbogen ab, hoffte, dass sich die sich ansammelnde Menschenmenge wieder auflösen würde, während er sich noch einen Moment lang ausruhte. Er blickte in die neugierigen Gesichter, dann wieder zurück auf das Eis unter seinem Kinn.

Und da sah er es: ein Gesicht, das zu ihm aufblickte.

Er blinzelte, rieb mit einer behandschuhten Faust über das Eis und fragte sich, ob er sich wohl während dieses Trauerspiels den Kopf gestoßen und ob sein Atem eine Zeichnung aufs Eis projiziert hätte, die wie ein Gesicht aussah.

Er fummelte in seiner Manteltasche herum, zog sein Telefon heraus, das seine Rutschpartie über den See glücklicherweise unbeschadet überstanden hatte, aktivierte die Taschenlampen-App und leuchtete damit in das zugefrorene Eis. Nein, er hatte es sich nicht eingebildet. Irgendjemand war tatsächlich im Eis eingeschlossen!

Zuerst verspürte Elliot den Drang wegzukrabbeln, aber stattdessen hielt er seine Arme über das Gesicht im Eis, weil er nicht wollte, dass Ava oder Octavia es sahen. Sie brauchten nicht auch noch so etwas wie das hier – was auch immer das letztendlich überhaupt sein mochte – , zusätzlich zu ihren mentalen Wunden, die immer noch nicht ganz verheilt waren.

Er reckte den Hals und sah Mutter und Tochter, die auf dem Eis standen. Ava hatte eine Hand ausgestreckt, um ihm aufzuhelfen. Hinter ihr standen immer noch ein paar besorgt aussehende Zuschauer herum, auch wenn die meisten glücklicherweise verschwunden waren, nachdem sie gemerkt hatten, dass er unverletzt war. Er drehte sich, um sich im Schneidersitz aufs Eis zu hocken, und verdeckte dabei das Gesicht im Eis mit seinem Hintern.

»Ich muss nur ein bisschen verschnaufen.« Er bemühte sich, seine Stimme überzeugend klingen zu lassen, und winkte den Leuten zu, die hinter Octavia herumstanden. Hier gibt’s nichts zu sehen. Die Menschen, die zurückgeblieben waren, fuhren daraufhin weiter, aber er konnte noch hören, worüber sie sprachen.

»Er ist wirklich hart aufgeschlagen«, sagte jemand. Ein anderer lachte, aber es war ein Lachen des Mitgefühls, zumindest hoffte Elliot das.

Aber die Leiche …

Das Gesicht hatte ausgesehen, als ob es das eines Kindes wäre oder zumindest das eines jungen Teenagers. Und war es denn überhaupt wirklich eine Leiche gewesen? Vielleicht war es ja auch nur eine Maske. Ein Dummy. Irgendein kranker Scherz. Wenn auch zugegebenermaßen ein ziemlich überzeugender.

Octavia grinste ihn an und fuhr dann weiter.

Als ihm klar wurde, dass Ava nicht zu verschwinden beabsichtigte, versuchte Elliot, sie mit einer Handbewegung zum Weggehen zu bringen. »Ich brauche einen Moment für mich allein.« Hinter ihr schoss gerade ein besonders beeindruckendes Feuerwerk in den Nachthimmel. Es war weiß, mit Schweifen, die wie Sterne aussahen, wenn sie explodierten und dann zur Erde fielen. »Geh ruhig mit Octavia. Ich warte hier auf dich, solange du eine Runde drehst.«

Mit einem verwirrten Ausdruck nickte sie nur, drehte sich dann aber um und fuhr weg.

Sobald sie ein Stück entfernt war, rollte er sich wieder auf den Bauch, aktivierte seine Taschenlampen-App und richtete den Lichtstrahl erneut auf das Eis. Das Licht prallte zu ihm zurück. Er hielt das Telefon in einem bestimmten Winkel, und jetzt war das Gesicht, sofern es sich wirklich um ein Gesicht handeln sollte, deutlicher zu erkennen. Ja, es sah aus wie ein Kind.

Er musste Jude anrufen, aber sie wusste nicht, dass er Zeit mit den Germaines verbrachte. Gut möglich, dass sie davon nicht besonders begeistert wäre.

Er rief sie an. Als sie nicht sofort ans Telefon ging, schickte er ihr eine SMS.

Ich glaube, ich habe eine Leiche gefunden. Loring Park, Eislaufbahn. Beeil dich.

Kapitel 3

Unruhig rutschte die drei Jahre alte Alice auf Judes Schoß hin und her, nahm zum dritten Mal eine bequemere Position ein, während sie sich angestrengt bemühte, wach zu bleiben. Warum fühlten sich Kinder und Tiere eigentlich immer zu Leuten hingezogen, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollten?

»Sie mag Sie«, sagte Chief Ortega lächelnd.

Vivian hatte sich für den heutigen Abend schick gemacht – sie trug ein funkelndes rotes Kleid, das gut zu ihrer dunklen Haut und dem roten Lippenstift passte. Jude vermutete, dass ihre Chefin versuchte, etwas Normalität in Judes Leben zu bringen, indem sie sie zu solchen typischen Familienfeiern einlud. Sie wusste die Anteilnahme zwar durchaus zu schätzen, aber bei so einer traditionellen Feier mit dabei zu sein verstärkte Judes Gefühl, ausgeschlossen zu sein, sogar noch. Das hier war einfach nicht ihre Welt. Sie fühlte sich wohler, wenn sie entweder mit ihrer Katze in ihrer eigenen kleinen Wohnung war oder gerade an einem wichtigen Mordfall arbeitete. Entweder abgeschottet oder bis zum Hals in Arbeit steckend – für sie gab es nichts dazwischen.

Small Talk war ihr unerträglich, und Enthüllungen anderer Menschen, die entweder Lügen waren oder sie nicht interessierten, riefen einen dumpfen, hohlen Schmerz in ihrer Magengrube hervor. Es war besser, sich von Erinnerungen an die andere Richtung, die ihr Leben hätte einschlagen können, fernzuhalten. Aber noch schlimmer waren die Erinnerungen, von denen die anderen Leute wollten, dass sie mehr davon hätte. Und dass sie ihr dabei helfen wollten, gesund zu werden, um sie irgendwie wieder zur Alten zu machen. Aber dazu würde es nicht kommen. Jude hatte sich bereits mit dem, was passiert war, arrangiert und wünschte, dass die anderen das auch endlich tun würden.

Ihr Partner Detective Uriah Ashby war einer der wenigen Menschen, die nicht versuchten, sie aus ihrer Komfortzone hervorzulocken. Und trotzdem … was war denn mit heute Abend? Und hatte sie überhaupt jemals ernsthaft vorgehabt hinzugehen?

An dem Abend bei den Ortegas hätte Uriah eigentlich auch dabei sein sollen, aber dann hatte er ohne Entschuldigung in letzter Minute abgesagt. Widerwillig hatte sie zuvor einem Abend mit Vivian, Vivians Ehemann, ihren zwei Kindern, die ganz in Ordnung waren, und zwei Hunden zugestimmt, weil Uriah auch dabei gewesen wäre, um den Großteil der sozialen Interaktion zu übernehmen. Jude hätte sich zurücklehnen können. Sie hatte ihn schon mit Kindern erlebt, er konnte wirklich toll mit ihnen umgehen. Stattdessen hatte sie dann dabei geholfen, Snacks vorzubereiten, und mit den anderen Pictionary gespielt. Judes schlechte Zeichnungen waren Anlass zur Heiterkeit gewesen. Kinder lachten gern. Was ihre eigene Kindheit anging, konnte sie sich allerdings nicht an solche Situationen erinnern.

Ein echter Weihnachtsbaum mit handgemachtem Schmuck stand vor dem Fenster, ein Gaskamin erzeugte in einem Bereich des Raums Wärme, und Glühwein und Popcorn standen auf dem Tisch neben Judes Stuhl. Der achtjährige Joseph lag auf einem Schlafsack mitten auf dem Fußboden und malte, während er sich bemühte, bis zum Ball Drop wach zu bleiben. Alice, die ihren kleinen Kopf in Judes Armbeuge gelegt hatte, roch nach Erdbeeren, wahrscheinlich wegen des Shampoos in der knallbunten Flasche, die Jude auf dem Badewannenrand gesehen hatte. Das Mädchen trug einen Flanellpyjama mit rosa Schneeflocken-Print und war barfuß, obwohl Vivian ihr gesagt hatte, sie solle sich wieder Hausschuhe anziehen.

Alice tätschelte Judes Wange. Ihre Hand war so klein und weich. »Ich mag dich.«

Jude stockte der Atem, ihre Muskeln spannten sich an. Wie reagierte man auf so eine direkte Bemerkung? Mit der harten Wahrheit? Ich fühle mich zwar deinetwegen nicht wohl, aber ich mag den Geruch deiner Haare? Das wäre wahrscheinlich das Beste.

Jude blickte auf und sah, dass Vivian gespannt auf ihre Reaktion wartete. Selbst ihr war klar, dass ihre Tochter Jude gerade gedrängt hatte – zu sehr und zu schnell. Das Vibrieren von Judes Telefon erlöste sie alle aus dieser unangenehmen Situation.

Gott sei Dank!

Jude warf einen Blick aufs Display.

Ich glaube, ich habe eine Leiche gefunden. Loring Park, Eislaufbahn. Beeil dich.

Für die meisten Menschen wäre wohl das Wort Leiche das Wichtigste des Textes gewesen. Aber für Jude war es das Wort glauben und die Unsicherheit ihres Nachbarn, der im selben Haus eine Etage unter ihr wohnte. Sie fragte ihn nach mehr Informationen. Nach ein paar Minuten, die verstrichen, ohne dass er geantwortet hätte, nahm sie Alice von ihrem Schoß und sagte: »Ich muss gehen.«

»Aber dann wirst du Mitternacht verpassen«, protestierte das kleine Mädchen.

»Das ist schon okay.« Jude hoffte, dass sie keinen allzu erleichterten Eindruck machte. »Ich habe Mitternacht schon mal gesehen.«

Alice stapfte weg, ließ sich mit ausgestreckten Armen dramatisch auf die Couch fallen.

Vivian rollte mit den Augen und begleitete Jude dann bis zur Haustür, holte ihren Mantel aus dem Wandschrank und reichte ihn ihr.

Jude schlüpfte hinein und holte ihre schwarze Mütze aus einer der Taschen.

»Mord?«, fragte Vivian.

»Bin nicht sicher.« Jude zog sich ein Paar schwarze Handschuhe an. »Die Nachricht stammte von meinem Nachbarn. Er glaubt, dass er eine Leiche im Loring Park gefunden haben könnte.«

»Könnte?«

»Das Gleiche hab ich auch gedacht. Ich sehe mir das mal an und gebe Ihnen Bescheid.«

»Tut mir übrigens leid wegen Alice«, entschuldigte sich Vivian. »Normalerweise ist sie schüchtern und hält sich eher von Leuten fern, die sie nicht kennt.«

»Vielleicht hat sie mich für harmlos gehalten.«

»Wohl eher für vertrauenswürdig.«

Es war noch nicht allzu lange her, dass Vivian sich bei ihr dafür entschuldigt hatte, dass sie damals bei Judes Entführung nicht intensiver nach ihr gesucht hatten. Drei Jahre lang hatten alle geglaubt, dass Jude tot sei. Aber um ehrlich zu sein, hätte sie das selbst wohl auch geglaubt, und sie machte niemandem deswegen Vorwürfe. Seit dieser Entschuldigung konnte Jude sehen, wie Vivian auf geschickte Art versuchte, alles wiedergutzumachen. Das war auch eine Erklärung dafür, warum sie Jude so schnell nach deren Flucht wieder zurück in den Dienst aufgenommen hatte. Sie hatte alles in Ordnung bringen wollen und wollte, dass Jude wieder eine gewisse Normalität in ihrem Leben hatte. Aber das Leben eines Detectives bei der Mordkommission würde niemals normal sein. Vivian bemühte sich und bekam ihr eigenes Leben gut in den Griff, aber sie arbeitete auch nicht am Tatort. Deshalb gingen ihr die Verbrechen nicht ganz so nahe, und das war auch gut so.

Als Jude draußen in ihrem Auto saß, rief sie Elliot an, statt sich die Mühe zu machen und ihm noch eine SMS zu schreiben. Er hob ab, klang erstaunt, sie zu hören.

War seine Nachricht etwa nur ein Witz gewesen? »Bist du betrunken?«, fragte sie. Falls das der Fall sein sollte, dann hatte er sie dadurch zumindest vor einem unangenehmen Abend bewahrt. Und dafür konnte sie ihm dankbar sein.

»Nee.«

Als er nicht näher darauf einging und keine weiteren Erklärungen machte, drängte sie ihn weiterzureden. »Ich habe deine SMS bekommen.«

»Ich glaube, ich habe eine Leiche gefunden.« Er sprach leise. Sie stellte sich vor, wie er gerade eine Hand über das Telefon hielt, um ungestörter reden zu können.

»Warum flüsterst du?«

»Ich will nicht, dass Octavia etwas mitbekommt.«

Octavia? Das war nicht gerade ein besonders häufiger Name. »Octavia Germaine?«

»Ava und ich treffen uns manchmal.« Er sprach schnell, stotterte dabei ein bisschen, klang, als sei er außer Atem. »Also mit beiden. Ich habe mich mit beiden getroffen.«

»Wegen deinem Buch?« Sie fuhr los und machte sich auf den Weg in Richtung Loring Park. Ihr Auto war schon zehn Jahre alt, aber für sie war es neu. Sie war auf der Seite einer Nachbarschafts-Facebook-Gruppe darauf gestoßen. Der ehemalige Besitzer war schon älter, und das Auto hatte jahrelang ungenutzt in einer Garage herumgestanden. Es hatte einen niedrigen Meilenstand, roch nach Mottenkugeln, und die Heizung war auch nicht mehr die beste, aber es war billig gewesen und brachte Jude von A nach B. Dennoch vermisste sie die Fahrten auf ihrem Motorrad und zählte bereits die Tage, bis es warm genug war, um es wieder zurück auf die Straße zu bringen. »Weil ich so etwas wirklich nicht leiden kann.«

Es folgte eine lange Pause. »Ich habe sie beide interviewt.«

Sie kannte Elliot nicht besonders gut, aber das, was sie bis jetzt über ihn wusste, war nicht gerade beruhigend. Er war ein Opportunist und würde lügen, wenn es zu seinem eigenen Vorteil wäre. Sie hielt ihn nicht für einen bösen Menschen oder für gefährlich, aber er schien immer alles so darzustellen, dass er den größten Nutzen davon hatte.

»Und es geht dich auch nichts an!«, sagte er. »Es hat überhaupt nichts mit dir zu tun.«

Streng genommen hatte er recht, aber Jude hatte Octavias Leben gerettet, und als sie sie fand, hatte sie dadurch den Fall gegen ihren eigenen Vater aufgedeckt. Die beiden Frauen verband etwas, und Jude wollte nicht mit ansehen müssen, dass irgendein Mann jemals wieder das Vertrauen dieses Mädchens ausnutzte. »Es hat etwas mit mir zu tun«, entgegnete sie. »Besonders weil ich davon ausgehe, dass du meinen Namen benutzt hast, um bei ihnen einen Fuß in die Tür zu bekommen. Ich weiß, dass sie keine Interviews geben wollten. Ich habe ihnen ja sogar selbst davon abgeraten.«

Sein Schweigen sagte mehr als tausend Worte.

Sie merkte, dass sie gleich schon die nächste Ausfahrt nehmen müsste; offenbar hatte sie das Gespräch abgelenkt. Sie bekam Elliots genauen Standort und sagte: »Ich bin in fünf Minuten da.«

Im Loring Park angekommen, fand sie einen Parkplatz und ging dann mit großen Schritten in die Richtung der Festlichkeiten. Dabei nahm sie die Gegend um sich herum genau unter die Lupe. Hunderte Leute drängten auf die Gehwege und die Eislaufbahn. Schließlich entdeckte sie Elliot, Octavia und Ava. Sie entschied sich für einen Weg über das Eis, auf dem sie die drei abfangen würde; ihr Schritt geriet dabei nie ins Wanken, auch wenn sie auf der rutschigen Oberfläche etwas unbeholfen war.

Ihr fiel auf, dass die drei wie eine Familie wirkten: Sie lächelten und unterhielten sich miteinander, während sie Schlittschuh liefen – die Frau anmutig, Elliot ein bisschen tollpatschiger. Er war in der Mitte, sein dunkles Haar und mittlerer Hautton stand im Kontrast zu den beiden Blondinen. Das Tempo, mit dem er in ihre Welt eingedrungen war, war besorgniserregend.

Jude drehte sich um und wartete mit angespannten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen darauf, dass sie bei ihr ankämen. Elliot entdeckte sie als Erster und lächelte, zuckte dann aber zusammen. Ihr Gesicht musste jetzt wohl mehr widergespiegelt haben als die gewohnte Leere, die sie während der Jahre in Gefangenschaft perfektioniert hatte, denn Elliots Zusammenzucken ließ ihn stolpern und hinfallen. Aber nun, da er angestrengt versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, fühlte sich Jude ziemlich gemein.

Neben ihm hielten Octavia und Ava. Beiden war der Schreck über Elliots Missgeschick anzuhören, aber gleichzeitig schienen sie sich auch über Judes unerwartetes Auftauchen zu freuen.

Judes Bedenken wegen Elliot waren berechtigt. Er hatte sie damals ausspioniert, sogar heimlich Fotos von ihr gemacht und diese dann an seine Schlafzimmerwände gehängt, während er die ganze Zeit über so getan hatte, als sei er Fotografie-Student an der University of Minnesota. In Wirklichkeit war er ein Journalist, der an einem Buch über Jude arbeitete. Er hatte vorgehabt, es Der Detective in der Wohnung über mir zu nennen oder so ähnlich. Jude interessierte sich nicht mehr für das, was er über sie behauptete. Ihretwegen könnte er seine Geschichte ruhig schreiben. Aber was er über unschuldige Opfer schrieb, interessierte sie durchaus.

»Lass Octavia aus dem Spiel, wenn du dein Buch schreibst.«

Verwirrt sah Ava sie an, danach blickte sie zu Elliot. »Ich dachte, ihr seid Freunde«, sagte sie zu ihm. Und dann zu Jude: »Er hat mir erzählt, dass ihr befreundet seid.«

Aha, eine unerwartete Wendung. Ava schien ihn mehr als nur zu mögen. Das warf gleich ein ganz neues Licht auf die Situation.

»Wir wohnen im selben Haus.« Jude würde Elliot ganz bestimmt nicht als ihren Freund bezeichnen. Andererseits wusste sie auch nicht, ob sie das überhaupt über irgendjemanden sagen würde. War Ava ihre Freundin? Octavia? Vivian? Uriah? Sie war nicht sicher, ob sie sich mit dieser Bezeichnung wohlfühlte.

»Alles okay bei Ihnen?«, fragte ein Mann, der hinter ihnen auftauchte. Er hatte das City-Logo – die Skyline von Minneapolis – auf seiner Jacke. Wahrscheinlich war er für die Veranstaltung eingestellt worden. »Soll ich die Cops rufen?«

Jude sah Elliot nicht an, als sie antwortete: »Ich bin die Cops.«

Dieser Bekanntgabe folgte überraschtes Gemurmel, der Mann flüsterte ihren Namen. Er hatte sie erkannt. Das passierte häufiger, als ihr lieb war. Sie war groß, deshalb fiel sie auf. Dann kam noch ihr kurzes, weißes Haar dazu, das im Moment teilweise von der Strickmütze bedeckt wurde, und ein Gesicht, das auf der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt worden war. Unerkannt zu bleiben war unmöglich. Das bedeutete nicht, dass sie es okay fand – allerdings hatte sie gelernt, das Geflüster auszublenden und Augenkontakt zu meiden.

In der Zwischenzeit versuchte Elliot krampfhaft, nicht wieder hinzufallen. Jude schnappte sich seinen Arm und zog ihn von Ava und Octavia weg, bis die außer Hörweite waren. »Was hat es mit deiner Nachricht auf sich?«

Er erzählte ihr, was passiert war, dann fuhr er los und suchte nach der Stelle, wo er hingefallen war. Skeptisch folgte Jude ihm. Das Eis war dunkel, und die Fackeln um die Eislaufbahn erschufen ein tänzelndes Licht, das verwirrend war und die Augen zu täuschen vermochte.

Jude holte Elliot ein, als er in die Knie ging, sein Telefon herausholte und die Taschenlampen-App aktivierte. »Hier!« Er bedeutete Jude, näher zu kommen, sagte aber Ava und Octavia, die ihnen gefolgt waren, dass sie zurückbleiben sollten. Er versuchte die beiden Frauen davor zu bewahren, etwas zu sehen, das sie vielleicht verstören könnte. Jude würde ihm dafür Pluspunkte geben.

Ein Schwall Feuerwerke erhellte plötzlich den Himmel – Schlittschuhläufer und die Leute auf den Gehwegen jubelten. Mitternacht. Jude fragte sich, ob die kleine Alice wohl noch wach war.

Die Gegend wurde fast taghell, was ihnen klarere Sicht verschaffte. Jude hockte sich aufs Eis. Eine weitere gewaltige Explosion folgte, diesmal über dem See. Elliot bewegte den grellen Lichtstrahl seiner Taschenlampe.

Was nun zu Jude hinaufstarrte, war tatsächlich ein Gesicht.

Augen geöffnet, Mund weit aufgerissen. Es sah aus wie das Gesicht eines Kindes, aber es war schwierig genau zu erkennen. Der Körper lag vielleicht fünfzehn Zentimeter unter der Eisoberfläche. Das Eis selbst war trüb und verfärbt. Ein Ertrunkener? War jemand im Eis eingebrochen, als es noch nicht dick genug gewesen war, um darauf zu gehen oder Schlittschuh zu laufen? Im ganzen Bundesstaat gab es jedes Jahr Menschen, die in Seen zu Tode kamen. Ihr nächster Gedanke war, dass es doch auch sein könnte, dass dies überhaupt keine richtige Leiche war. In Anbetracht des Standorts – ein öffentlicher Platz – war es durchaus möglich, dass es sich in Wirklichkeit lediglich um den Scherz eines talentierten Studenten von einer der nahe gelegenen Kunstakademien handelte.

Jude holte ihr Telefon heraus. Auch wenn es keinerlei eindeutige Indizien dafür gab, dass sie es tatsächlich mit einem Mord oder überhaupt einem Menschen zu tun hatten, rief sie ihren Partner an. Uriah ging beim zweiten Klingeln ans Telefon.

Sie erzählte ihm von der Leiche. »Das Alter des möglichen Opfers scheint irgendwo zwischen zehn und vierzehn Jahren zu liegen. Aber es ist schwierig, das Gesicht in dem trüben Eis gut zu erkennen.«

»Könnte es nicht auch nur ein Streich gewesen sein?«

»Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber falls das so ist, dann ist hier jemand wirklich sehr talentiert.«

»Bin gleich da.« Jude war bereits im Begriff aufzulegen, als Uriah sie noch fragte: »Wie war eigentlich der Abend bei den Ortegas?«

»Ich musste ein Gesellschaftsspiel namens Apples to Apples spielen und Pictionary.«

Er lachte. Das Kind, das auf ihren Schoß geklettert war, würde sie nicht erwähnen.

»Warte noch, bevor du jemand anderen anrufst. Ich bin auf dem Weg.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, überbrachte sie Ava und Octavia die Nachricht. Die Frauen nahmen es gut auf. Jude fürchtete, dass die beiden nichts mehr richtig schocken könnte. Jude hatte diese wilde Theorie: Wenn einem Menschen einmal etwas dermaßen Ungewöhnliches widerfuhr, zog er solche Dinge fortan wie ein Magnet an. Es gab kein Entkommen. Das war etwas, das Elliot nicht verstand.

Solche Menschen konnten so etwas nicht mehr abwehren.

Fünfzehn Minuten später kam Uriah an. Dem kalten Wetter entsprechend trug er einen Wollmantel, der ihm bis zur Hüfte reichte, er hatte einen grauen Schal um den Hals geschlungen und eine graue Wollmütze über sein dunkles, lockiges Haar gezogen. Neue Accessoires – vermutlich Weihnachtsgeschenke, vermutete Jude.

Sie trafen auf dem Fußweg aufeinander. Jude reichte ihm den Kaffee, den sie zuvor bei einem Verkäufer in der Nähe für ihn gekauft hatte, während sie weiter in Richtung des möglichen Tatorts gingen. Feuerwerke wurden immer noch gezündet, gehörten aber nicht mehr zur städtischen Vorführung. Die jetzigen stammten von Privatpersonen, die Raketen aus Gärten und von Balkonen in die Luft schossen. Einige davon waren genauso beeindruckend wie diejenigen, die sie zuvor gesehen hatte. Jude hasste den Lärm von Feuerwerkskörpern, besonders das Explodieren. Immer hatte sie das Gefühl von tiefen, dumpfen Schlägen auf ihre Brust – Schläge, die fast schon Angst in ihr auslösten. Aber schön anzusehen war Feuerwerk natürlich.

»Wir hauen ab«, sagte Elliot. Seite an Seite fuhren Ava und Octavia bereits los, Ava hatte einen Arm um ihre Tochter gelegt. »Die beiden sind verständlicherweise ein bisschen erschrocken.«

Vielleicht waren sie letztendlich ja doch nicht immun.

Aber je weniger Leute am Schauplatz waren, desto besser. Im Augenblick gab es zwar noch keine Zuschauer, aber das konnte sich ganz schnell ändern, wenn sie zu viel Neugier auf sich zogen. Jude nickte und dachte, dass sie Elliot morgen zu seinen Absichten bezüglich der beiden Frauen befragen würde. Wenn es sein müsste, würde sie ihm gehörig den Kopf waschen und die beiden Frauen warnen.

Uriah holte eine Maglite hervor und hockte sich aufs Eis – auf die Stelle über der Leiche. Er hatte dasselbe Problem mit dem Licht. Es war, als würde man ein Fenster anleuchten. Das Licht prallte ab und wurde zurückgeworfen. Und je heller es war, desto stärker wurde es zurückgeworfen. Indem er die Taschenlampe in einem bestimmten Winkel hielt, konnte er das weiße Gesicht anstrahlen, sodass es zwar immer noch nur undeutlich zu erkennen war, aber trotzdem reichte, um trübe Augen zu erkennen – ein Phänomen, das manchmal nach dem Tod eintrat. Schließlich schaltete er die Taschenlampe aus und erhob sich.

Langsam zogen sie die Aufmerksamkeit der anderen Leute auf sich. Uriah holte sein Telefon heraus und rief die Zentrale an. »Ich brauche ein paar Officer, um einen möglichen Tatort bis morgen früh zu überwachen«, sagte er. »Vergewissert euch, dass die Polizisten warm angezogen sind, sie werden nämlich draußen sein. Detective Fontaine und ich warten hier so lange, bis sie eintreffen. Standort: mitten im Loring Park.« Zu Jude sagte er: »Wie heißt das hier? Loring Park Lake?«

»Loring Lake, aber manche Leute nennen ihn auch Loring Pond.« Der See war groß, aber kleiner als viele andere Seen in der Stadt. Oder vielleicht hatte ja auch jemand gedacht, dass Pond, also Weiher, malerischer klang als Lake.

Uriah gab die Information an die Zentrale weiter. »Das ist richtig. Sag ihnen, dass sie ihre Fahrzeuge auf die Gehwege und aufs Eis fahren sollen. Sie werden uns sehen.«

Er steckte sein Telefon wieder zurück und nahm einen Schluck Kaffee. »Was war dein Pictionary-Wort?«

»Pferd.«

»Das sollte einfach gewesen sein.«

»Das war’s nicht. Die meisten haben auf Affe getippt.«

Er lachte leise, und sie wartete darauf, dass er ihr erzählen würde, warum er nicht zu der Feier gekommen war, aber das tat er nicht.

Es war gar nicht mal so lange her, dass er krank gewesen war, und das hatte ihr Angst gemacht. Sie hatte das Gefühl gehabt, man würde ihr mit einem Vorschlaghammer auf die Brust schlagen, und ihr war das Herz in die Hose gerutscht. Sie hoffte, dass sein Fernbleiben nichts mit seiner Gesundheit zu tun hatte, aber eigentlich ging sie das gar nichts an. Vielleicht hatte er ja auch ein Date gehabt. Dieser neue Schal …

Zwei Streifenwagen kamen über die zugefrorene Oberfläche des Sees angefahren.

Gelbes Absperrband markierte einen kleinen Bereich, während Uriah den Polizisten Anweisungen erteilte. Danach sagte er zu Jude: »Lass uns für heute Schluss machen. Morgen werden wir einen Eisschneider anheuern. Wir werden die Leute von der Spurensicherung herbestellen, auch wenn es für sie wenig zu tun geben wird, mit Ausnahme davon, den Standort zu dokumentieren. Wenn die Leiche erst einmal in der Leichenhalle ist und wir herausbekommen haben, womit wir es hier zu tun haben, können wir mit der Spurensicherung weitermachen.«

Jude fasste den Plan, bei Tagesanbruch sofort wieder draußen zu sein. Vielleicht würde ihr ja dann etwas auffallen. Sie war gut darin, die Körpersprache anderer zu lesen. Und manchmal sogar die der Toten.

Kapitel 4

Die Eisschneider trafen früh ein, in einer Kolonne von hochleistungsfähigen Trucks und einem Schwerlaster. Als es zu schneien begann, sahen die Straßenlaternen aus, als würden sie glühen. Vor einer Stunde, als Jude einen Blick auf die Wetter-App geworfen hatte, hatte sie mit Schrecken festgestellt, dass ein heftiger Schneesturm im Anmarsch war. Die Hauptlast wurde für den morgigen Tag erwartet und sollte ein paar Tage andauern. Es bestand eine kleine Chance, dass die Front südwärts ziehen und sie verschonen würde, aber da es bereits zu schneien begonnen hatte, war sie nicht besonders optimistisch.

Sie und Uriah waren ungefähr zur gleichen Zeit eingetroffen, waren aus ihren Autos gestiegen, mit hochgeschlagenen Kragen gegen die Windstöße gewappnet, die ihnen in den Nacken schlugen. Sie hockten sich unter eine Straßenlaterne, so als könnte die ihnen Wärme spenden, während sie jeglichen Augenkontakt mit der Presse vermieden, die mit ihren Kabeln und Kleintransportern voller Satellitenschüsseln bereits vor Ort waren. Für gewöhnlich konnte die Presse bei einer Ermittlung nützlich sein, aber Jude hatte ihnen im Moment nichts anderes mitzuteilen als das, was sie ohnehin schon wussten. Die sozialen Medien hatten den Alarm ausgelöst: eine Leiche im Eis, die ein Mensch sein könnte oder auch nicht, und es könnte ein Mord sein oder auch nicht. Zu diesem Zeitpunkt war alles noch reine Spekulation.

Ein Mann in einer braunen Latzhose und einem roten Flanellhemd kam auf sie zu. An seinen isolierten Stiefeln waren metallene Steigeisen angebracht, die auf dem Gehweg deutlich zu hören waren. Er war klein und energiegeladen und stellte sich ihnen als Jerry – »der Eismann« – vor. »Eisschneider in dritter Generation«, erzählte er. »Ich mach das schon mein ganzes Leben lang und hab dabei schon viele merkwürdige Sachen gefunden. Hunde, Hirsche, einmal ein Portemonnaie, aber eine Leiche ist für mich eine Premiere.« Er klang aufgeregt.

Bevor Jude ihre Wohnung verlassen hatte, hatte sie sich noch im Internet informiert. Seine Firma schnitt den ganzen Winter über Eis, ihr größter Kunde war der Saint Paul Winter Carnival, für den sie Eisblöcke von einem See hoch oben im Norden einsammelten und die dann in die Stadt transportierten – für Ingenieure, Bauarbeiter und Designer, um daraus Schlösser zu machen. Es war eine schöne Veranstaltung – eine magische Kombination aus Lichtern und klarem Eis, das jeder zumindest einmal im Leben erlebt haben sollte.

Hinter ihm wartete seine Crew in Diesel-Lkws, die im Leerlauf liefen. Der Schwerlaster war mit einer riesigen Maschine beladen, die einem Gabelstapler ähnelte, große Traktorreifen hatte und einen Teleskoparm. Dieser war auf der Ladefläche festgeschnallt, wurde mit Ketten festgehalten, so groß wie ein Arm. Die Feier der vergangenen Nacht war vorbei, und die Leute hatten überraschend wenig Müll hinterlassen. Er wurde von der Veranstaltungscrew eingesammelt, die wahrscheinlich schon früh eingecheckt hatte, um dem Sturm zuvorzukommen.

Die drei gingen über das Eis, Jerry war aufgrund des Halts, den er durch seine Steigeisen hatte, im Vorteil. Jude und Uriah mussten hingegen bei jedem Schritt gut aufpassen. Die Cops, die vor Ort waren, traten zurück, bereit, nach dieser langen Nacht nach Hause zu gehen, aber sie wollten auch nicht die Bergung der Leiche verpassen.

Ohne das blendende Licht der Taschenlampen war es heute einfacher, das Gesicht zu erkennen, aber die Oberfläche war immer noch trüb. Jerry pfiff leise und sagte: »Ich kann das mit einem Schneidbrenner abschleifen, wenn wir erst einmal den Block herausgeschnitten haben.« Als er ihre Skepsis sah, fügte er hinzu: »Dann können Sie besser sehen, was drin ist. So machen wir auch das Eis für die Schlösser gläsern. Es ist, als würde man eine trübe Windschutzscheibe säubern.«

Er gab einem Mann aus seiner Crew ein Zeichen, sich ihm mit einem Truck anzuschließen. Von der Ladefläche holte sich Jerry einen Bohrer, startete den Gasmotor und benutzte das Schneidegerät, um die Dicke des Eises zu testen. »56 Zentimeter«, verkündete er zufrieden. »Das sollte die Lull aushalten können.« Er zeigte auf die Maschine mit dem Teleskoparm auf der Rückseite des Schwerlasters, rief die Crew auf dem Festland an, und nur wenige Augenblicke später schepperten die Ketten.

»Sollte?«, fragte Uriah.

»Normalerweise bleibt die Maschine auf dem Festland, deshalb betreten wir gerade unbekanntes Terrain.«

Tatortermittler trafen ein. Es war ziemlich offensichtlich, dass sie ihre Anwesenheit für unnötig hielten, und wahrscheinlich hatten sie recht. Sie wären jetzt lieber zu Hause oder in einem Café, um sich auf ihren Tag vorzubereiten, aber das durften sie nicht, bis sie wussten, womit sie es hier zu tun hatten.

Orange Ohrstöpsel rein, Schutzbrillen auf. Jerry schaltete eine kleine Maschine an, die seine Jungs ebenfalls abgeladen hatten. Sie sah aus wie eine große Pinne mit einer runden Klinge. Er brauchte ein paar Versuche, um sie zum Laufen zu bringen. Die Maschine hustete und spuckte schwarze Rauchschwaden aus, bevor ein gleichmäßiges Rumpeln einsetzte. Jerry arbeitete allein. Sorgfältig und kontinuierlich schnitt er in weitem Abstand von der Leiche. Das Eis flog umher, vermischte sich mit dem Schnee, der mittlerweile stärker fiel. Während er arbeitete, wurden kleinere Stücke entfernt, um Platz für den größeren Block herum zu schaffen. Uriah sah zu wie eine nervöse Großmutter.

Sie mussten genug Eis entfernen, um die eigentliche Hebevorrichtung ins Wasser zu bekommen. Die ersten Blöcke waren für seine Crew klein genug, um sie mit riesigen Metallzangen zu entfernen, zwei Männer schnappten sie sich und hoben sie aus dem Wasser, schoben die Würfel über das Eis. Als sie eine Öffnung hatten, etwas größer als ein Auto, war es Zeit für den Star der Show – den Lull Gabelstapler, der bereits am Ufer auf seinen Einsatz wartete.

Die Maschine kroch über die Oberfläche und stoppte gute drei Meter von der Stelle, wo das feste Eis aufgeschnitten worden war, um das Wasser freizulegen. Der hydraulische Arm jaulte und schob sich zusammen, der Fahrer im Führerhaus bediente die Steuerung, während Jerry am Boden Handzeichen gab. Die Männer hielten oft inne, um ihre Position abzuschätzen.

Das Telefon in Judes Tasche vibrierte. Es war Elliot. Sie war zwar beschäftigt, ging aber trotzdem ran.

»Ich bin hier drüben, und da gibt’s so einen Cop, der mich nicht an den Tatort lassen will.«

Sie drehte sich um und warf einen Blick zum Ufer, sah Elliot, der Handschuhe trug und ihr zuwinkte. Neben ihm stand ein uniformierter Cop. Elliot war zwar Zivilist, aber schließlich hatte er die Leiche gefunden. »Gib ihm mal dein Telefon.«

Er tat es, und sie sagte dem Polizisten, dass er Elliot durchlassen solle. Einen Moment später duckte sich Elliot unter dem gelben Absperrband hindurch und ging unbeholfen über das Eis, die Kamera hing ihm um den Hals.

Der Schnee fiel wahrscheinlich um die zweieinhalb Zentimeter pro Stunde, was das Eis sogar noch glatter machte. Als Elliot sie erreichte, zog er seine Handschuhe mit den Zähnen aus, bevor er die Schutzkappe vor dem Objektiv abmachte. Sie runzelte die Stirn, fragte sich, wo dieses Foto wohl landen würde, und überlegte, ihm zu sagen, dass er keine Fotos machen dürfe. Andererseits war er ein wirklich guter Fotograf, und seine Bilder könnten noch nützlich sein.

Er sah, wie sie seine Kamera betrachtete. »Ich werde die Fotos nicht verkaufen.«

Die Maschine lief nun auf Hochtouren, der Arm bewegte sich schnell auf und ab. Als der Arm in das Quadrat mit dem offenen Wasser eintauchte, hielt Jude die Luft an. Jerry hatte gut kalkuliert, es war nah dran. Quälend langsam sank der riesige Metallarm in die Dunkelheit. Jerry schrie und hob eine Hand, dann bewegte sich die Gabel vorwärts, schob sich unter den Eisblock, der die Leiche einschloss, und holte ihn heraus. Der Fahrer legte den Rückwärtsgang ein, bis der Eisblock nicht mehr über dem offenen Wasser schwebte. Die Leute jubelten, auch diejenigen, die hinter dem Absperrtape warteten und zusahen.

Der Fahrer ließ die Gabel sinken, und Jerry holte den Schneidbrenner hervor. Mit einem kleinen Gasanzünder, den er aus einer Vordertasche seiner Latzhose zog, zündete er den Brenner an, stellte die Flamme ein und strahlte die Oberfläche des Eises leicht an. Sofort schmolz eine dünne Schicht Eis weg. Er schaltete den Brenner aus und wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über die Oberfläche. Ihm entfuhr ein leises, überraschtes Geräusch, und er trat zurück, damit Jude und Uriah näher kommen konnten.

Weiße Augen wie bei einem Fisch mit Gefrierbrand blickten zu ihnen auf. Sie war sicher, dass die Leiche echt war. Ein Junge, wahrscheinlich ein paar Jahre älter als Joseph, Vivian Ortegas Sohn. Jude spürte das Entsetzen, das von Uriah Besitz ergriff und ihr eigenes widerspiegelte. Jeder Tod war schwer, aber der Tod eines Kindes ganz besonders. Sie mussten ihre Reaktionen und Gefühle vor der sie beobachtenden Öffentlichkeit verbergen.

Jerrys Trick, die Eisoberfläche zu polieren, hatte geholfen, das Gesicht des Jungen klarer erkennbar zu machen. Jude starrte es an, versuchte etwas, irgendetwas, darin zu lesen. Vielleicht, wie sehr der Junge gelitten hatte, oder wie bewusst ihm sein Tod gewesen war …

»Was erzählt es Ihnen?«, fragte jemand. Die Stimme triefte vor Sarkasmus.

Überrascht fuhr Jude zusammen und blickte auf. Sie sah einen Mann, an dessen Mantel ein Presseausweis hing. Sie hatte keine Ahnung, warum es die Presse ständig auf sie abgesehen hatte. Vielleicht, weil sie alle Interviews abgelehnt hatte, nachdem sie Octavia vor fünf Monaten das Leben gerettet hatte. Hinter ihm hängte sich ein Assistent gerade eine Handkamera über die Schulter. Das hier würde in den Abendnachrichten kommen. Irgendwie, vielleicht als alle Augen gerade auf den Eisblock gerichtet gewesen waren, waren die beiden über die Absperrung getreten.

In der Anfangszeit hatte Uriah noch versucht, Jude zu beschützen, hatte sie gewarnt, sie solle ihre Beobachtungen über die Toten lieber für sich behalten. Aber solche Dinge kamen meistens heraus. Vielleicht hatte irgendjemand an einem Tatort von ihrer ungewöhnlichen Fähigkeit Wind bekommen, oder ein oder mehrere Polizisten hatten es erfahren und weitererzählt. Möglicherweise hatten sie auch darüber gelacht. Manche Reporter waren sogar so weit gegangen, sie als die »Körperleserin« zu bezeichnen, was ebenfalls Quatsch war. Sie besaß keine magische Fähigkeit, sondern war einfach nur eine genaue Beobachterin, und selbst das konnte sie im Stich lassen. Das war schon passiert und würde wieder passieren, wenn es um Dinge wie Sozialisation und Beziehungen ging. Aber in letzter Zeit hatte sie festgestellt, dass es bei Vernehmungen durchaus nützlich sein konnte, wenn die Leute darüber Bescheid wussten. Es machte Verdächtige nervös, deshalb stritt sie es auch nicht ab.

Sie ignorierte den Schnee und blickte direkt in die Kamera. Ohne über ihre Miene zu verraten, was gerade in ihrem Kopf vor sich ging, sagte sie: »Wir werden eine Pressekonferenz einberufen, wenn wir Informationen für Sie haben. Bis dahin hoffe ich, dass Sie jegliche Sensationsgier und Mutmaßungen unterlassen. Und wir hätten es gern, wenn Sie wieder hinter die Absperrung treten würden.«

Der Typ trat in die Richtung des gelben Absperrbands, blieb dann aber noch mal stehen, um sich ein letztes Mal zu beschweren. »Der da gehört ja noch nicht mal zur Presse.« Er zeigte auf Elliot, der gerade Fotos schoss, dabei um den Eisblock herumging und sich hinhockte, um Bilder von der Seite und von oben zu machen. Sie fand das nicht schlimm. Und weil er eine Etage unter ihr wohnte, wäre es leichter, diese Fotos später als Beweismaterial zu konfiszieren, wenn sie müsste. Sie und Uriah würden zwar auch Fotos machen, aber Elliots wären besser.

Der Wind wurde stärker, der Schnee malträtierte ihr Gesicht, der plötzliche stürmische Wind brachte ein Gefühl der Dringlichkeit zum Zurückholen und Abtransport der Leiche. Jerry machte ein anderes Handzeichen, die für Jude alle gleich aussahen. Der Gabelstapler wurde auf Touren gebracht, die Rückfahrwarneinrichtung piepte, und die Maschine begann, langsam und vorsichtig über das Eis zu kriechen, kehrte zum Ufer zurück. Tief in ihrem Inneren hatte Jude mit einem Streich gerechnet. Aber jetzt wusste sie, dass der Gabelstapler etwas sehr Wertvolles transportierte, höchstwahrscheinlich war es ein Kind.

Der Rest des Arbeitsvorgangs verlief dann ziemlich zügig. Der Eisblock wurde vorsichtig auf den Anhänger gelegt und mit Nylonriemen befestigt.

»Ich werde ihnen bis zur Leichenhalle folgen«, sagte Uriah finster.

Jude sah sich um, entdeckte Elliot, winkte ihm zu und gab ihm zu verstehen, dass er auf sie warten solle. »Nur zu«, sagte sie zu Uriah. »Wir treffen uns im Büro.«

Dann trennten sich ihre Wege.

Nachrichtenkameras liefen, die meisten waren auf die wegfahrenden Trucks gerichtet, aber einige zoomten Jude näher heran. Sie zog ihren Kragen höher, schob ihre Hände in die Taschen und holte Elliot ein, der unter dem Überstand des kleinen Steinhauses stand, das heutzutage nicht mehr bewohnt und von den Schlittschuhläufern dafür benutzt wurde, sich aufzuwärmen. Arbeiter luden orangene Straßensperren und Pylone ab, stellten sie um das klaffende Loch auf, das von dem Lull zurückgelassen worden war. Die verbliebenen Eisblöcke standen im Halbkreis dort, erschufen eine merkwürdige Außerirdischenlandschaft. Wenn das kalte Wetter weiter andauern würde, dann könnte man dort, wo jetzt das Loch war, in einer Woche oder so schon wieder sicher Schlittschuh laufen.

»Ich würde gern die Fotos sehen, die du eben gemacht hast«, sagte sie.

Elliot beugte sich über seine Kamera, um sie vor dem fallenden Schnee zu schützen, und drehte ihr das Display zu.

»Das hier.« Sie zeigte auf das deutlichste Foto, das er von dem Gesicht geschossen hatte. »Schick es mir sofort, damit ich es durch unsere Gesichtserkennungsprogramme laufen lassen kann.« Sie hoffte bei Minnesota Missing und Unidentified Persons Clearinghouse oder NameUs, der landesweiten Datenbank, einen Treffer zu landen. »Und ich will auch noch mit dir über Ava reden.«

»Da gibt es nichts zu bereden. Ich mag sie. Und ich glaube, sie mag mich auch.« Er schaltete seine Kamera aus und steckte sie wieder zurück ins Etui. »Ich werde sie nicht ausnutzen, falls es das ist, was du glaubst.«

Das tat sie tatsächlich, oder zumindest war es das, was sie befürchtete. »Du wirst nichts über sie schreiben?«

»Das kann ich nicht versprechen. Wenn ich ihre Zustimmung habe, schon. Aber ich würde es nicht tun, ohne es sie vorher lesen zu lassen. Und dann muss sie mir ihr Okay geben.«

Das war immerhin etwas. Vielleicht hatte sie ja überreagiert. Vielleicht hatte es bei ihr den falschen Eindruck erweckt, als sie gesehen hatte, wie sie alle zusammen Schlittschuh gelaufen waren und dabei ausgesehen hatten wie eine Familie. »Vergiss nicht, mir das Foto zu schicken.«

Ihre Gedanken wanderten zurück zu dem Mann mit dem Presseausweis, und sie begriff, dass sie wirklich keine Idee hatte, wenn sie sich die Leiche aus dem Eis ansah. Überhaupt keine.

***