Ich bin nicht dein - Anne Frasier - E-Book
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Ich bin nicht dein E-Book

Anne Frasier

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Beschreibung

Zahlen sind seine Leidenschaft ... Mord ist es auch.

Monate nachdem sie den Drahtzieher hinter ihrer eigenen Entführung dingfest gemacht hat, geht Detective Jude Fontaine mit der Vergangenheit auf die einzige Art und Weise um, die sie kennt: sie stürzt sich in die Arbeit. Schon bald hält eine neue Serie von Massenmorden sie in Atem. Anfangs können Jude und ihr Partner, Detective Uriah Ashby, kein Muster in den scheinbar zufälligen Methoden, den Tatorten oder den Opfern erkennen – bis sie von einem brillanten Mathematikprofessor angesprochen werden. Er glaubt, den nächsten Schritt des Wahnsinnigen berechnen zu können; tatsächlich ist alles Teil eines raffinierten Zahlenrätsels und seine Theorie geht auf. Doch die Zahl der Leichen steigt an. Als aber das jüngste Opfer in Judes Wohnung gefunden wird, nimmt das Puzzle eine persönliche Wendung, die ihren ohnehin schon angeknacksten Gemütszustand auf die Probe stellt. Und Jude ist sich sicher: Ihre Zeit ist dieses Mal wirklich abgelaufen ...

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Das Buch

Monate nachdem sie den Drahtzieher hinter ihrer eigenen Entführung dingfest gemacht hat, geht Detective Jude Fontaine mit der Vergangenheit auf die einzige Art und Weise um, die sie kennt: Sie stürzt sich in die Arbeit. Schon bald hält eine neue Serie von Massenmorden sie in Atem. Anfangs können Jude und ihr Partner, Detective Uriah Ashby, kein Muster in den scheinbar zufälligen Methoden, den Tatorten oder den Opfern erkennen – bis sie von einem brillanten Mathematikprofessor angesprochen werden. Er glaubt, den nächsten Schritt des Wahnsinnigen berechnen zu können; tatsächlich ist alles Teil eines raffinierten Zahlenrätsels, und seine Theorie geht auf. Doch die Zahl der Leichen steigt an. Als aber das jüngste Opfer in Judes Wohnung gefunden wird, nimmt das Puzzle eine persönliche Wendung, die ihren ohnehin schon angeknacksten Gemütszustand auf die Probe stellt. Und Jude ist sich sicher: Ihre Zeit ist dieses Mal wirklich abgelaufen …

Die Autorin

Anne Frasier ist eine New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerautorin. Sie teilt ihre Zeit zwischen der Stadt Saint Paul in Minnesota und ihrem Schreibstudio im ländlichen Wisconsin auf.

Lieferbare Titel

Ich bin nicht tot

ANNEFRASIER

ICHBINNICHTDEIN

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Anu Katariina Lindemann

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Body Counter« bei Thomas & Mercer, Seattle.Dieses Werk erscheint mittels einer Lizenzvereinbarung mit Amazon Publishing.
Copyright © 2018 by Theresa WeirCopyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Dr. Katja BendelsUmschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung von plainpicture/LohfinkSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-23906-0V002
www.heyne.de

KAPITEL 1

Die Frau in dem Apartment im Stockwerk über ihm schrie schon wieder.

Das waren keine normalen Schreie – sofern irgendeine Art von Schreien überhaupt als normal bezeichnet werden konnte. Es waren keine Schreie der Lust oder Schreie der Überraschung. Das hier waren Klänge des Grauens, des Schmerzes, der Angst, die dermaßen entsetzlich waren, dass Elliot, als er sie zum ersten Mal hörte, die Polizei rief.

Die Polizisten waren mit Sirenen und Blaulicht angerückt, und er hatte das Geräusch von Stiefeln auf der Treppe gehört. Schreie, dann das Gemurmel von Stimmen.

Als es vorbei war, hatte ein Officer an Elliots Tür geklopft. »Alles in Ordnung«, wurde ihm versichert.

»Ist irgendjemand verletzt?«, hatte Elliot gefragt. Oder noch schlimmer: »Tot?«

»Nur ein böser Traum.«

Böser Traum. Das musste aber ein verdammt böser Traum gewesen sein.

Einer von vielen, so schien es, weil er die Schreie dermaßen oft hörte, dass er irgendwann direkt neben sein Bett einen Besen stellte. Sobald das Rumgeschreie begann, schlug er mit dem hölzernen Besenstiel gegen die Zimmerdecke, woraufhin die Klänge des Grauens versiegten und er weiterschlafen konnte.

Der Name der Frau, die über ihm wohnte, lautete Jude Fontaine, und sie war ein Detective. Immer wenn Elliot ihr in der Eingangshalle begegnete, lächelte sie ihm zu, und manchmal sagte sie sogar Hallo. Aber dieses Hallo war keine Einladung. Dieses Hallo lud nicht zu einer genaueren Betrachtung ein oder dazu, sie zu fragen, ob sie mal auf einen Kaffee bei ihm vorbeikommen wollte. Eigentlich konnte sich Elliot auch gar nicht vorstellen, dass Detective Fontaine an seiner Küchentheke hockte, Kekse aß und sich mit ihm über Bücher oder Filme oder Musik unterhielt.

Und trotzdem …

Elliot hatte eine Ahnung, was sie durchmachte. So wie jeder in Minneapolis und Umgebung kannte auch er ihre Geschichte. Er wusste von den mehr als drei Jahren in Gefangenschaft, in denen sie vergewaltigt und gefoltert worden war. Und von ihrer anschließenden Flucht. Wenn sie auch nur annähernd den Eindruck erweckt hätte, dass sie mit ihm reden wollte, dann hätte ihr Elliot vielleicht etwas von seiner eigenen, ungewöhnlichen Kindheit erzählt. Stattdessen beobachtete er sie aus der Ferne und fragte sich zweifelnd, ob es ihr wohl gut ging.

Jetzt griff er – resigniert und wie ferngesteuert – nach dem Besen und schlug damit gegen die Zimmerdecke. Ein paar Minuten später hörte er das Klingeln eines Telefons, gefolgt von Schritten, eine sich leise schließende Tür und die Geräusche einer Person im Treppenhaus. Er nickte wieder ein, schreckte jedoch erneut auf, als das Aufheulen eines Motorrads ertönte, das aus der Tiefgarage fuhr.

Jude Fontaine hatte das Gebäude verlassen.

KAPITEL 2

Eine Stunde zuvor

In dem dunklen Independent-Kino lief der Abspann. Mitchell stand in der Nähe des Ausgangs und bewegte den Lichtstrahl seiner Taschenlampe zwischen den drei letzten Kinobesuchern hin und her – alles Männer, die sich gleichmäßig in dem riesigen Raum verteilt hatten. Der schmale Lichtstrahl beleuchtete ihre Hinterköpfe. Mitchells Hauptaufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es während einer Filmvorführung kein Rumgeknutsche oder gar Sex gab, aber er war auch dafür verantwortlich, diejenigen rauszuschmeißen, die einschliefen. Seine Mom nannte dieses Kino immer die letzte Spelunke, aber der Besitzer besaß einfach nicht das Geld, um es renovieren zu lassen.

Mitchell räusperte sich. »Die Show ist vorbei. Verlassen Sie bitte den Saal.«

Keiner der Gäste reagierte.

Er hasste diesen Teil seines Jobs. Selbst kaum alt genug, um Auto fahren zu dürfen, stand er hier und schmiss erwachsene Leute raus – die meistens entweder zu besoffen waren, um zu laufen, oder dermaßen besoffen, dass sie sich prügeln wollten.

Er zupfte an seiner roten Platzanweiserweste herum und ging dann den Gang herunter, wobei er seine Taschenlampe auf höchste Stufe schaltete und damit in das Gesicht des Typen leuchtete, der ihm am nächsten saß. Er war vornüber zusammengesackt. Die Vorderseite seines hellgrünen T-Shirts war mit irgendetwas Dunklem, Rotem durchtränkt, und Mitchells Herz schlug schneller, beruhigte sich dann aber wieder. Er schämte sich ein wenig für seine anfängliche Panik. Performance Art, richtig? Unechtes Blut, oder? Es gab bei ihnen in der Stadt einen Künstler, der ständig so einen verrückten Scheiß machte. Mitchell wusste nicht besonders viel über ihn, weil der Mann es scheinbar mochte, ein Geheimnis aus seiner Person zu machen, aber die Mädchen in Mitchells Alter fuhren allem Anschein nach ganz schön auf diesen Typen ab.

Er lenkte den Lichtstrahl um, ließ ihn durch den Saal wandern und strahlte damit jetzt auch die anderen verbliebenen Besucher an. Auch die saßen völlig reglos, mit hängenden Köpfen, da.

Ein abgrundtiefer Seufzer entfuhr ihm. »Ich will echt nicht die Bullen rufen«, sagte er zu dem Mann, der gut einen halben Meter von ihm entfernt saß, »aber ich werde es tun, wenn’s sein muss. Komm schon, Kumpel.« Er schüttelte den Typen an der Schulter, zuerst noch ganz leicht, dann heftiger. Durch die Berührung kippte der Kopf des Mannes nach hinten – wie bei einem PEZ-Spender.

Ein Rauschen dröhnte in Mitchells Ohren, und er bekam weiche Knie. Irgendjemand hatte dem Mann die Kehle durchgeschnitten. Mitchell hätte schwören können, dass er Arterien sehen konnte … und etwas, das wie eine Wirbelsäule aussah. Und jetzt bemerkte er, dass er sogar das Blut riechen konnte.

Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand und rollte langsam unter die Sitze, wobei ihr Griff gegen die Stuhlbeine schlug. Mitchell brüllte über seine Schulter hinweg in der Hoffnung, dass entweder der Filmvorführer oder der andere Platzanweiser ihn hören würde: »Macht das Licht an!«

Irgendjemand drückte auf den Schalter, und der Raum wurde in gedämpftes Licht getaucht, das die schäbigen Sitze und die Mengen von Einwegbechern zum Vorschein brachte, die auf dem Boden herumlagen. Der andere Platzanweiser musste Mitchells Rufe gehört haben, denn er erschien mit einem gelangweilten Ausdruck auf dem Gesicht und einem Schokoriegel in der Hand im hinteren Bereich des Kinosaals.

Die Taschenlampe hörte auf zu rollen und blieb irgendwo liegen.

»Ruf die Bullen!« Mitchells Stimme klang angespannt und merkwürdig, und ein säuerlicher Geschmack füllte seinen Mund. Er würde die Polizisten ja selbst anrufen, doch er fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen.

Sein Kollege, der nicht sofort kapierte, wie ernst die Situation war, meinte nur: »Bring sie einfach nur dazu, dass sie gehen.«

Auf der Suche nach etwas Banalem, in dem er Trost finden könnte, blieb Mitchells Blick an einem Popcorn-Eimer hängen, der auf dem Boden herumlag. »Sie können nicht!«

Die Hysterie in seiner Stimme musste den anderen Platzanweiser schließlich aufgerüttelt haben, weil er jetzt sein Telefon hervorzog. Plötzlich klang er nervös. »Was soll ich denn sagen?«

»Sag ihnen, dass hier drei tote Typen sitzen!« Mitchell dachte an all die Leute, die sich in der Dunkelheit auf ihrem Weg aus dem Kino an ihm vorbeigedrängelt hatten. Irgendeiner von denen war für das hier verantwortlich. Irgendeiner von ihnen hatte in der Dunkelheit des Kinosaals einen Mord begangen. Vielleicht hatte Mitchell sogar das Ticket des Mörders gelöst. Und dann fragte er sich, ob er jetzt wohl in Gefahr schwebte. Die Polizisten würden ihn fragen, ob ihm jemand verdächtig vorgekommen sei, und er würde mit Nein antworten, aber vielleicht glaubte ja der Mörder, dass Mitchell ihn wiedererkennen könnte.

Während der Kollege telefonierte, übergab Mitchell sich in den leeren Popcorn-Eimer. Dann machte er ein Foto von den Leichen.

KAPITEL 3

Es war bereits nach Mitternacht, als Jude tief über ihr Motorrad gebeugt die I-94 in Richtung Mordkommission runterbrauste. Normalerweise fuhr sie nicht ohne Helm, aber heute Nacht konnte sie einfach keine Vollgesichtsmaske ertragen – nicht mit der Klaustrophobie aus ihrem Traum, der in den Winkeln ihres Hirns zurückgeblieben war. Seltsam, sich über einen Mord zu freuen, aber sie war ehrlich gesagt erleichtert gewesen, Uriahs Stimme am Telefon zu hören, die ihr mitteilte, dass sie gebraucht wurde. Nur wenige Minuten vor dessen Anruf hatte der Mann in dem Apartment unter ihr gegen die Zimmerdecke geschlagen, und Jude war verschwitzt und mit klopfendem Herzen aufgewacht. Im Laufe der letzten Wochen hatte genau jener Nachbar im Flur ein paar schwache Versuche unternommen, sich mit ihr zu unterhalten, aber Jude hatte ihn jedes Mal abblitzen lassen. Was hätte sie denn sagen sollen? Sorry, dass meine Schreie Sie geweckt haben?

Zwei Monate waren mittlerweile seit der Schießerei auf der Autobahn vergangen. Zwei Monate, seit Jude ihren Vater und ihren Bruder getötet hatte, um ihrem Partner und einem Entführungsopfer namens Octavia das Leben zu retten. Und obwohl es handfeste Beweise für die Schuld der beiden Männer an etlichen Morden gab – die Ermordung von Judes eigener Mutter eingeschlossen – , weigerten sich viele Leute in dieser Gegend zu glauben, dass der Gouverneur – Judes Vater – hinter solchen Gräueltaten gesteckt hatte. Schließlich hatte dieser Mann mit ihren Babys für Fotos posiert und sie in schweren Zeiten unterstützt.

Der Tod des Gouverneurs hatte ganz Minnesota polarisiert und aus Jude – je nachdem, wie man den Fall betrachtete – entweder eine Heldin oder eine Verbrecherin gemacht. Sie hatte die negative Berichterstattung über sich natürlich mitbekommen und gerne behauptet, dass es ihr nichts ausmachte, aber das wäre eine Lüge gewesen. Es war auch so schon schwer genug, einem Menschen das Leben zu nehmen, aber besonders schwer war es, wenn es sich dabei auch noch um Personen handelte, mit denen man aufgewachsen war und die man irgendwann sogar geliebt hatte. Ganz gleich, dass sie dabei das Leben anderer gerettet hatte.

Die Psychologin des Polizeireviers hatte ihr vorgeschlagen, sich ein Jahr freizunehmen. Aber ein Jahr ohne Arbeit hätte bedeutet, sich monatelang noch mehr mit sich selbst auseinandersetzen zu müssen. Stattdessen war sie in der Mordkommission geblieben, pflichtbewusst zur Therapie gegangen und insgeheim von bestimmten Dingen besessen in einer Weise, die als ungesund betrachtet werden könnte. Hinzu kam, dass sie eine große Leere in ihrem Inneren mit sich herumtrug, die allerdings nichts mit dem Verlust ihres alten Ichs zu tun hatte. Das wäre eine zu einfache Erklärung gewesen.

Das Minnehaha Creek Kino befand sich in Longfellow, einem Viertel in Minneapolis mit kleinen Bungalows, die in den Dreißigerjahren gebaut worden waren und jetzt von Singles oder jungen Paaren bewohnt wurden. Jude war schon ein paarmal in dieser Gegend gewesen, allerdings nicht in letzter Zeit, nicht in dieser neuen Ausgabe ihres Ichs.

Sie stellte ihr Motorrad vor dem Kino ab und marschierte an den blinkenden Krankenwagen, am Van des Coroners und den Einsatzfahrzeugen der Polizei vorbei den Bürgersteig hinunter. An der Straßenkreuzung blickte sie auf und stellte erleichtert fest, dass dort eine Überwachungskamera installiert war. Hoffentlich gab es Filmmaterial. Der Aushang des Kinos bewarb zwei Actionfilme, die bereits einige Jahre alt waren.

Ein junger Polizist stand in der Nähe des Eingangs, um ungebetene Gäste fernzuhalten, und nickte ihr zu als Zeichen, dass er sie erkannt hatte. Durch die offene Tür schwebte ihr der Geruch von Popcorn, zusammen mit einem Gefühl des Grauens entgegen. »Kino 2.«

»Wer war der Erste am Tatort«?, fragte Jude.

»Bin mir nicht sicher, aber einer der Platzanweiser hat die Leichen entdeckt, nachdem die Vorstellung vorbei war.«

Eine Mitarbeiterin der Spurensicherung quetschte sich mit einem Koffer in der Hand an ihnen vorbei. Jude bedankte sich bei dem Officer und betrat das kontrollierte Chaos der Lobby.

Ein paar Polizisten mit Notizblöcken und Stiften in der Hand nahmen die Aussagen von mehreren jungen Leuten in roten Westen auf. Mit einem verstohlenen Blick las Jude Körperhaltung und Gesichtsausdruck der Befragten, achtete darauf, ob jemand schwitzte oder nervös zu sein schien – alles Indizien für eine mögliche Mittäterschaft oder Schuld. Aber ihr fiel nichts Verdächtiges auf.

Während sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge bahnte, überprüfte sie den oberen Bereich der Wände und die Decke auf der Suche nach Sicherheitskameras, sah aber keine. Eine Spur von nummerierten gelben Plastikkarten, die in der Mitte des roten Teppichs im Gang standen, markierte einen Pfad von dunklen Schmutzflecken, die aus Kinosaal 2 hinausführten. Blut, das unter Schuhen geklebt hatte. Es konnte von jedem, der das Kino verlassen hatte, hinausgetragen worden sein. Trotzdem hockte sie sich hin, überprüfte die Fußabdrücke und machte Fotos mit ihrer Kamera.

Direkt hinter der schweren Tür zum Kinosaal trat Jude zur Seite und ließ den Tatort einige Minuten lang auf sich wirken. Das Kino hätte eine ordentliche Renovierung bitter nötig gehabt. An den Wänden blätterte die Farbe ab, und einige der roten Samtsitze waren schief und stellenweise schon stark abgenutzt. Wie die meisten Kleinunternehmen in Minneapolis kämpfte auch dieses Kino ums nackte Überleben, erst recht seit der Zeit nach den Stromausfällen und den Bränden, die eine weitere Steigerung von Kriminalität und Vandalismus in eine ohnehin schon unberechenbare Stadt gebracht hatten. Stromausfälle gab es zwar mittlerweile nicht mehr, aber die Gewalt – beflügelt durch die Dunkelheit – klang immer noch nach. Einige der besten Polizisten hatten sich versetzen lassen und die Macht den Anfängern, den Nervösen und den Unerfahrenen überlassen.

Drei Bereiche im Kinosaal waren mit gelbem Band abgesperrt worden. Es war eigentlich unüblich, das Band in einem Gebäude zu benutzen, aber der Grundriss repräsentierte ein ungewöhnliches Problem, und der Tatort musste schließlich eingegrenzt werden. Drei Gruppen von Tatortmitarbeitern verteilten sich auf die drei Bereiche. Von ihrem Standort aus konnte Jude allerdings keine Leiche erkennen.

Ihr Partner und Leiter des Morddezernats Uriah Ashby erblickte sie und kam durch den Kinosaal auf sie zu. Er hatte sich ganz offensichtlich nur eilig ein paar Klamotten übergezogen, um so schnell wie möglich am Tatort zu sein. Wie sie trug auch er Jeans, nur dass er einen schwarzen Kapuzenpulli trug, und sie eine Lederjacke. Sein lockiges braunes Haar war zerzaust, aber er sah wach aus, trotz der Uhrzeit und seiner Vorliebe fürs Schlafen.

Morde machten einen augenblicklich hellwach, aber selbst dieses neue Grauen reichte nicht aus, um Judes düstere Stimmung zu vertreiben, die durch ihren Traum ausgelöst worden war. Obwohl sie sich nicht mehr an die Einzelheiten ihres Albtraums erinnerte, gelang es ihr nicht, die Wolke des unbeschreiblichen Schmerzes und der Angst abzuschütteln, die er in ihrem Herzen hinterlassen hatte, mitsamt einer Verzweiflung, die diesen Tatort, diesen Mord, weniger echt wirken ließ als diesen Raum in ihrem Kopf, an den sie sich nicht einmal mehr richtig erinnern konnte.

Mit einer Kopfbewegung gab Uriah Jude zu verstehen, ihn in eine etwas abgesonderte Nische zu begleiten, ein wenig entfernt von den nächststehenden Kollegen. Als Jude an ihnen vorbeiging, sah sie Caroline McIntosh inmitten der anderen Detectives. Ihr unübersehbares Interesse für Uriah und besonders ihr Hang zu unangemessenen Bemerkungen waren eine Quelle der Belustigung im gesamten Dezernat. Jude hatte einmal versucht, ihr den Rat zu geben, sich nicht ganz so leicht durchschauen zu lassen, aber dieser war nicht auf fruchtbaren Boden gefallen.

»Nicht jeder will ein emotionsloser Roboter sein«, hatte McIntosh entgegnet. Von da an hatte Jude sich auf Distanz gehalten.

»Kehle durchgeschnitten«, flüsterte Uriah, und in seinen Worten schwang eine düstere Vermutung mit.

Interessant – das war eine Vorgehensweise, die sie vorher schon mal gesehen hatten und das erst vor Kurzem. »Zeugen?«

»Noch keine.«

Drei Leichen, gleichmäßig verteilt, keine Zeugen. Es schien eine unmögliche Leistung zu sein, so etwas überhaupt hinzubekommen. Und die durchgeschnittenen Kehlen … Jeder im Raum hatte vermutlich sofort an die beiden ungelösten Mordfälle gedacht, die nicht einmal drei Wochen zurücklagen. In jedem gab es ein Opfer, dessen Kehle an einem öffentlichen Ort durchgeschnitten worden war – ein Mord war in einer öffentlichen Toilette passiert, der andere in einem Stadtpark. Mit so etwas davonzukommen, war heutzutage schon aufgrund der zahlreichen Überwachungskameras, die es in der ganzen Stadt gab, ausgesprochen schwierig. Das waren keine Verbrechen aus Leidenschaft. Sie waren geplant worden.

»Sieht aus, als wäre da wieder jemand von der Mordlust getrieben gewesen«, vermutete Uriah.

Jude nickte. Und die Morde von Unbekannten waren am schwierigsten zu lösen.

»Die Sitze und der abgeschrägte Boden machen es schwierig, den Tatort zu untersuchen«, fügte er hinzu. »Zu viele Leute, zu wenig Platz, deshalb schicken wir die Teams hintereinander rein. Wir können uns die Leichen genauer ansehen, sobald die Spurensicherung erst einmal die Vorarbeit gemacht hat.«

»Opfer?«

»Alle männlich.« Waren die früheren Opfer auch gewesen. Aber das hatte ja nicht unbedingt etwas zu bedeuten.

»Ausweise?«

Er rasselte drei Namen herunter, die zu diesem Zeitpunkt allerdings noch keine Bedeutung hatten. »Einer von denen hat einen Eintrag wegen Trunkenheit am Steuer, einer ein paar Strafzettel. Macht den Eindruck, als ob das hier ganz durchschnittliche Bürger gewesen wären.«

Aber jeder konnte auf dem Papier durchschnittlich wirken. »Wir müssen ein bisschen tiefer gehen und herausfinden, ob sie einander kannten.« Auch wenn das unwahrscheinlich war.

Uriah zeigte auf die Polizistin, die als Erste am Tatort gewesen war, und Jude entschuldigte sich, um mit ihr zu sprechen. »Keine Zeugen?«, fragte sie zum zweiten Mal.

Die Frau legte die Hand auf ihren Gürtel und schüttelte den Kopf.

»In einem Kino voller Menschen hat niemand die Morde gesehen und nicht einmal gemerkt, dass diese Typen tot waren?«

»Es war nicht ausverkauft.«

Jemand, der alleine dasaß, auf einem Platz in der Mitte einer Sitzreihe, könnte durchaus unbemerkt bleiben, wenn keiner an ihm vorbei oder um ihn herum gehen musste. »Hat man eine Waffe gefunden?«

»Ein paar von unseren Leuten kontrollieren gerade die Mülleimer – drinnen und draußen, aber bis jetzt wurde noch nichts gefunden.«

»Was ist mit dem Platzanweiser, der die Toten entdeckt hat?«

»Er steht ziemlich unter Schock und hat mir nicht viel erzählen können. Ich hab gehofft, dass Sie vielleicht mehr aus ihm herausbekommen. Groß, schlank, rote Haare, heißt Mitchell Davidson. Stand eben noch in der Lobby.«

Und dort fand Jude ihn dann auch.

Der arme Junge war völlig durch den Wind. Sein Gesicht war blass, die Augen blutunterlaufen, und eine verdächtige Duftwolke von Erbrochenem ging von ihm aus, während er einen Popcorn-Eimer fest vor der Brust umklammert hielt.

»Mitchell Davidson?«, fragte Jude, obwohl sie wusste, dass das hier der junge Mann war, nach dem sie suchte. Bei näherem Hinsehen bemerkte sie, dass er stark schwitzte. Jude erkannte eine nahende Ohnmacht, wenn sie eine kommen sah, und drängte ihn dazu, sich erst einmal zu setzen. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, als hätte man ihm die Beine weggetreten.

»Nach unten.« Sie nahm ihm den Eimer ab und gab seinem Hinterkopf einen sanften Schubs nach vorn. »Zwischen die Knie.«

Während er sich langsam erholte, schlüpfte sie hinter den Getränkestand und schnappte sich eine Wasserflasche aus dem kleinen Kühlschrank mit der Glastür. Dem Kinobesitzer würde es unter den gegebenen Umständen wohl nichts ausmachen. Sie öffnete die Flasche, bot sie Mitchell an und half ihm dabei, sich wieder aufrecht hinzusetzen. »Kleine Schlucke.« Während er das Wasser geradezu aufsaugte, schob sie einen Stuhl neben ihn und setzte sich schweigend. Erst als sein Gesicht allmählich wieder Farbe bekam, begann sie, ihm ihre Fragen zu stellen.

Er erzählte ihr von dem Moment, in dem er gemerkt hatte, dass der Mann im Kinosaal tatsächlich tot war. »Ich hab noch nie zuvor einen Toten gesehen.« Er sah sie zwar an, wich ihrem direkten Blick jedoch aus. »Sie sind ja wahrscheinlich an so etwas gewöhnt.«

»An so etwas gewöhnt man sich nie«, erwiderte sie.

Dann stellte sie ihm die Frage, die sie besonders interessierte. Sie wollte, dass er versuchte, sich wieder daran zu erinnern, bevor sein Abend von dem Grauen der letzten Stunde überrollt worden war. »Hast du irgendjemanden gesehen, der dir verdächtig vorkam? Irgendjemanden, der dir vielleicht ein Gefühl gegeben hat, das du dir nicht erklären konntest? So etwas kann passieren. Die Leute nennen es einen sechsten Sinn, aber ich glaube, es ist eine Rückkehr zum Überlebensinstinkt. Absolut jeder besitzt so etwas, man muss nur aufmerksam genug sein.«

Sie kannte sich mit dem Überlebensinstinkt aus. Schließlich war es genau das, was ihre Fähigkeit, die Unschuld oder das Böse in einem Menschen zu sehen, verfeinert hatte. Aber in letzter Zeit – besonders nach einer Nacht voller Albträume – ertappte sie sich oft dabei, wie sie versuchte, ihre Sinne zu betäuben.

»Irgendwie verdächtig ist die Hälfte der Besucher hier«, antwortete Mitchell. »Besonders in der Spätvorstellung. Mein Job ist es aufzupassen, dass die Leute nicht miteinander rummachen oder … na ja, Sie wissen schon.« Er wand sich vor Unbehagen.

»Masturbieren?«

Langsam kehrte wieder ein bisschen Farbe in sein Gesicht zurück. »Ich kapier’s einfach nicht. Es ist ja nicht mal so, dass wir Pornos zeigen würden, aber sie machen es trotzdem.«

»Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, an einem öffentlichen Ort zu sein«, sagte sie. »In der Nähe von anderen Leuten. Das Risiko und der Nervenkitzel, möglicherweise dabei erwischt zu werden. Der Rausch.«

»Sie sollten stattdessen lieber bei Rot über die Ampel gehen.«

Sie lächelte ein wenig, um ihm zu signalisieren, dass sie seinen Versuch, einen Witz zu machen, zu schätzen wusste, und kehrte dann wieder zurück zu ihren Fragen. »Ist dir irgendjemand aufgefallen – von den üblichen schrägen Vögeln einmal abgesehen?«

Er überlegte einen Moment, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich glaub nicht.«

»Vielleicht fällt dir ja später noch etwas ein.« Während sie das sagte, überlegte sie, ob er womöglich die Verbrechen begangen haben könnte. Dieser Junge, der kaum älter war als ein Kind, machte einen unschuldigen Eindruck, aber Soziopathen waren komplizierte Menschen, und oft war es unmöglich, sie zu lesen, weil sie anders tickten als jemand, der ein Gewissen hatte.

»Ich bezweifle es, aber ich werde es versuchen.«

»Erzwing es nicht.« Das könnte falsche Erinnerungen hervorrufen. »Du musst in die Innenstadt aufs Revier kommen, damit wir deine Aussage offiziell aufnehmen können. Ein Officer wird dich hinbringen.«

»Werde ich etwa verdächtigt?« Er wirkte nicht beunruhigt. Schock hatte so etwas manchmal zur Folge. Die Leute reagierten nie so, wie normale Bürger es von ihnen erwarteten; merkwürdiges und gleichgültiges Verhalten wurde irrtümlicherweise oft für ein Zeichen von Schuld gehalten.

»Das ist Standard bei uns, um eine Befragung offiziell festzuhalten«, erklärte sie ihm.

»Wer macht das? Sie?«

»Ich kann das machen, aber wenn du lieber jemand anderen haben willst, einen männlichen Detective zum Beispiel, ist das auch völlig in Ordnung.«

»Ich würde es gerne bei Ihnen machen.« Er blickte zu Boden, nervös und ein bisschen verschämt, als er die nächsten Worte sagte: »Ich weiß, wer Sie sind. Das war eine ziemlich krasse Sache, die Sie da mitten auf der Autobahn gemacht haben. So wie im Film. Ich hab’s in den Nachrichten gesehen.« Er konzentrierte sich auf den Teil der Geschichte, mit dem er sich am ehesten identifizieren konnte. »Wie Sie das Mädchen gerettet haben und so.«

Es war schwierig für Jude, in Minneapolis unerkannt zu bleiben. Ihr kurzes weißes Haar war schon auffällig genug, aber sie weigerte sich, es zu färben. Sie hatte zu hart dafür gekämpft, wieder in diese Welt zurückzukehren, und würde nicht so tun, als sei sie jetzt plötzlich jemand anders – nun, da sie es endlich geschafft hatte, wieder hier zu sein.

»Glauben Sie, dass ich in Gefahr bin?«, fragte Mitchell.

Sie könnte es ihm erklären, ihm erzählen, dass ein kleines Risiko bestand, aber das war nicht die Antwort, die er hören wollte. Manche Leute wollten die Wahrheit hören, und andere wollten belogen werden. Sie war nicht bereit, für ihn zu lügen, aber sie schwächte ihre Antwort dennoch etwas ab, verharmloste das Ganze ein bisschen. »Ich bezweifle es, aber es kann nicht schaden, wenn du deine Augen offen hältst.« Sie griff in ihre Lederjacke, zog mit zwei Fingern eine Visitenkarte raus und reichte sie ihm. »Wenn du irgendetwas Verdächtiges siehst, ruf mich auf dem Handy an – egal ob Tag oder Nacht. Ich werde rangehen.«

Das gab ihm zumindest ein wenig die Beruhigung, die er hören wollte.

Kurz darauf stellte sie ihm den Officer vor, der ihn in die Innenstadt bringen würde, dann kehrte sie wieder zum Tatort zurück. Die Menschenansammlung um die Leichen herum war kleiner geworden. Die Kriminaltechniker traten zur Seite, damit Uriah, Jude und Caroline McIntosh die erste Leiche begutachten konnten, während die Gerichtsmedizinerin Ingrid Stevenson mit verschränkten Armen wartete.

Männlich. Vermutlich Ende dreißig.

Jude lehnte sich vor, und irgendjemand reichte ihr eine Taschenlampe, damit sie bei der dämmrigen Beleuchtung besser sehen könnte. Sie schaltete die Lampe an und schwenkte den Lichtstrahl über das Gesicht des Mannes. Ledrige, sonnengebräunte Haut. Hände, die ebenfalls dunkel und verwittert aussahen. Möglicherweise ein Bauarbeiter. Verschlissene Jeans und stark abgewetzte Stiefel bekräftigten diese Theorie. Erst als sie ein Gespür für den Mann bekommen hatte, lenkte sie den Lichtstrahl auf seinen Hals, um sich die klaffende Wunde genauer anzusehen.

»Das muss ja einiges an Kraft gekostet haben«, bemerkte Uriah.

»Oder einiges an Adrenalin.« Erst kürzlich war sie einem Mann begegnet, der regelmäßig Einbrüche beging. Er verließ das Gebäude, das er ausgeraubt hatte, jedes Mal, indem er an einem Seil hinunterkletterte, wozu er unter anderen Umständen niemals in der Lage gewesen wäre.

Adrenalin war mächtig.

»Waffe?«, fragte Jude an Ingrid gewandt.

Ingrid Stevenson war immer kurz angebunden, circa fünfzig Jahre alt und eine dieser schwedenblonden Typen aus Minnesota, die ein echtes Original waren. Sie war auch eine der besten Gerichtsmedizinerinnen des Staates. »Sobald ich die Autopsie durchgeführt habe, kann ich Ihnen mehr sagen.« Ingrid hielt nichts von Spekulationen, besonders nicht am Tatort.

Jude knipste die Taschenlampe aus, reichte sie Uriah und trat einen Schritt zurück.

»Ach, ich hab was für dich«, sagte McIntosh plötzlich. Sie holte einen Zettel hervor, faltete ihn auseinander und reichte ihn ihrer Kollegin. Jude rechnete damit, dass er etwas mit dem Fall zu tun hatte, aber nein.

Der bereits schräge Boden verschob sich noch mehr, und sie spannte ihre Beine an, während sie auf den Auktionsflyer in ihrer Hand starrte. Das Bild von einem Haus. Nur ein Haus. Nur Ziegel und Putz und zerbrochenes Glas. Und drin wäre ein Keller. Der Keller, in den sie drei Jahre lang eingesperrt worden war.

»Was zur Hölle soll das, McIntosh?«, fuhr Uriah sie wütend an.

Mit einer steifen und ruckartigen Bewegung riss Jude ihren Blick von dem Zettel los und bemerkte am Rande ihres Blickfelds den Blick ihres Partners.

McIntosh lief rot an, bekam es aber dennoch irgendwie hin, ganz lässig mit den Achseln zu zucken. »Hab mir nur gedacht, sie sollte es wissen.« Offensichtlich hatte sie den Flyer schon die ganze Zeit mit sich herumgetragen und nur auf einen günstigen Moment gewartet, um ihn Jude zu geben. Aber das hier war nicht günstig, das hier schien eher ein Moment zu sein, der speziell dafür bestimmt worden war, um sich an Jude zu rächen und sie vor den Kollegen zu demütigen.

Uriah fiel nicht auf ihre Unschuldsmasche rein. »Keine Ahnung, was du vorhast, aber hör auf damit.«

»Es ist kein Geheimnis.« McIntosh schob trotzig das Kinn vor. »Jeder fragt sich doch, wer so ein Haus überhaupt kaufen würde.«

Einer der Polizisten stimmte ihr zu. »Könnte mir vorstellen, dass irgendjemand es bewusst ausnutzt. Daraus ein Horrorhaus oder so was in der Art zu machen.«

»Wir sollten alle zusammen für das Haus bieten und es abfackeln«, schlug ein anderer Polizist vor.

Jemand murmelte undeutlich, wie unangebracht diese Unterhaltung doch sei. Andere nickten. Wie gebannt starrte Jude wieder auf den Flyer in ihrer Hand.

Ingrid richtete sich auf und zog ihre Handschuhe aus. »Dürfte ich um etwas mehr Professionalität bitten?«

»Wir unterhalten uns doch nur«, erwiderte McIntosh. »Manchmal hilft das.«

»Das Einzige, worüber du reden solltest, ist das Verbrechen«, sagte Uriah. »Dieses Verbrechen hier.«

Wieder riss Jude ihren Blick von dem Foto los. McIntosh sah aus, als ob sie gleich anfangen würde zu heulen. Gemaßregelt von der Gerichtsmedizinerin und von Uriah. An einem Tatort.

»Ist schon okay«, versuchte Jude, McIntoshs öffentlicher verbaler Tracht Prügel die Schärfe zu nehmen. Sie konnte es nicht gut ertragen, wenn es einem anderen Menschen schlecht ging. »Ich bin froh über die Info.«

Mit diesen Worten faltete sie den Zettel zusammen und steckte ihn in ihre Lederjacke. Als das Bild des Hauses erst einmal ganz nah an ihrer Haut war, konnte sie das Vibrieren und das Versprechen förmlich spüren, die davon ausgingen. Die Wahrheit war, dass sie über den in Kürze stattfindenden Verkauf bereits Bescheid gewusst hatte. Und sie wusste auch schon, was zu tun war.

KAPITEL 4

»Könntest du für das Protokoll bitte deinen Namen und deine Adresse angeben?«

An einem kleinen Tisch in einem der Vernehmungsräume des Polizeipräsidiums von Minneapolis saß Jude Mitchell Davidson gegenüber. Das grüne Licht der Deckenkamera leuchtete, und das digitale Aufzeichnungsgerät, das Jude auf den Tisch zwischen sie beide gelegt hatte, war angeschaltet.

Seit dem Anruf bei der Polizei waren acht Stunden vergangen, und weder Jude noch Uriah hatten seitdem geschlafen. Die Autopsien der drei Mordopfer waren mittlerweile beendet, die Videoaufnahmen der Überwachungskameras ins gesicherte Netzwerk des Dezernats hochgeladen worden. Mitchell war immer noch nervös, aber das waren die meisten, die hier saßen. So wie wenn man von einem Polizisten angehalten wurde, auch wenn man nichts falsch gemacht hatte. Die meisten Leute waren dann trotzdem nervös. Und diejenigen, die es nicht waren, hatten oft etwas zu verbergen.

Er nannte ihr seinen Namen und die Adresse. »Ich lebe noch bei meinen Eltern.« Ihre Frage, wie ein typischer Tag bei ihm aussah, beantwortete er mit den Worten: »Ich gehe noch zur Schule.« Das sagte so ziemlich alles.

»Kannst du mir erzählen, was in den frühen Morgenstunden des 15. September passiert ist?«

Stockend berichtete er ihr alles noch einmal. Wie er den Gang im Kinosaal hinuntergegangen war, um dem Mann zu sagen, er solle das Kino verlassen. Wie er den Typen an der Schulter geschüttelt und dann gesehen hatte, wie dessen Kopf zurückkippte. Dann waren die Lichter angeschaltet worden, und man hatte die Polizei alarmiert.

Jude wollte Einzelheiten wissen.

»Und bevor der Film begann? Wie war das so?«

Nichts Außergewöhnliches. Mitchell bemühte sich, aber sie wollte nicht, dass er sich etwas ausdachte, nur um eine Antwort zu haben.

»Du hast die Tickets entgegengenommen.« Vielleicht war es besser, sich erst einmal auf die kleinen Dinge zu konzentrieren. »Hast du dich wegen irgendetwas oder wegen irgendjemandem unwohl gefühlt? Ein Gefühl. Ein Gesicht. Ein Blick. Hände. Gefühllose Hände, weiche Hände. Gerüche, an die du dich vielleicht noch erinnern kannst?«

Er wand sich unbehaglich. »Normalerweise vermeide ich Augenkontakt, wenn ich die Tickets entgegennehme. Ich mach so was einfach nicht.« Er schaute nicht auf. »Andere Leute nennen mich schüchtern, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich bin nur einfach nicht so gesellig. Ich konzentriere mich auf die nächste Hand und das nächste Ticket, nicht auf das Gesicht oder die Person.«

»Manchmal sind schüchterne Menschen die aufmerksamsten.«

»So wie Sie?«

Sie lächelte. »Ich glaub auch nicht, dass ich schüchtern bin. Ich bin nur zurückhaltend.« Sie stand auf. »Ich hol mir etwas Wasser. Hättest du auch gerne was? Eine Limo? Kaffee?«

»Cola.«

Sie ließ ihn ganz bewusst einen Moment allein, damit er in aller Ruhe nachdenken konnte, ohne dabei von ihrer Anwesenheit abgelenkt zu werden. Nach ein paar Minuten kehrte sie wieder zurück, schob ihm eine Dose Cola über den Tisch und öffnete ihre Wasserflasche.

Er ließ den Verschluss aufpoppen und nahm einen kräftigen Schluck. Dann hob er den Blick und sah ihr in die Augen, schaute wieder weg. »Während Sie draußen waren, hab ich nachgedacht, und ich hab mich an etwas erinnert.«

Sie nickte, nicht heftig oder aufgeregt, nur ganz beiläufig. So wie man es zum Beispiel bei einem Kumpel machen würde, der sich gerade über das Wetter aufregte.

»Ich erinnere mich an diese junge Frau … Sie war hübsch. Lange blonde Haare. Ungefähr in meinem Alter. Und sie roch gut. Nach Plätzchen oder so.«

Das überraschte sie nicht. »Ein junger Mann erinnert sich natürlich an ein hübsches Mädchen.«

Seine blassen Wangen erröteten.

»Warum ist sie dir aufgefallen? Hat sie sich komisch verhalten? War sie nervös? Haben ihre Hände gezittert, als du ihr Ticket eingerissen hast? Hat sie auffällig geatmet?«

»Sie war allein.«

»Allein?«

»Haben Sie schon mal ein Mädchen gesehen, das allein ins Kino geht? Mädchen gehen ja noch nicht mal alleine aufs Klo.«

»Gut beobachtet.«

»Ich hätte gar nichts über sie erzählen sollen.« Er nahm noch einen Schluck von seiner Cola. »Ich will nicht, dass sie jetzt meinetwegen Probleme bekommt. Ein Mädchen würde so etwas doch nicht machen.«

Sie machte sich nicht die Mühe, ihn an die Frauen zu erinnern, die 1969 in die brutalen Tate-LaBianca-Morde verwickelt gewesen waren. Außerdem war er sowieso viel zu jung, als dass er davon gehört haben könnte.

»Woher weißt du, dass sie alleine war?«

»Sie hat mit niemandem geredet, und als sie den Gang runterlief, war sie allein.«

»Also schaust du dir manche Leute ja doch genauer an.«

»Ich schätze schon.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum und klemmte die Hände zwischen die Oberschenkel. »Ich wollte nicht lügen.« Wieder nervös.

»Ich weiß«, erwiderte sie, rutschte auf ihrem Stuhl ein wenig tiefer und überlegte sich ihre nächsten Worte. »Ich erzähl dir das hier jetzt ganz im Vertrauen, also erzähl es bitte nicht weiter.« Es war gut, ihn wissen zu lassen, dass sie ihm vertraute, indem sie ihm sachdienliche Hinweise über den Fall erzählte. »Es könnte sein, dass es mehr als nur einen Täter gab. Falls das wirklich so gewesen sein sollte, könnten diese Leute entweder gemeinsam hineingegangen sein, oder eben nicht. Und selbst wenn sie zusammen ins Kino gekommen sein sollten, dann haben sie sich höchstwahrscheinlich getrennt.«

Sie klappte ihren Laptop auf, loggte sich ins VPN ein, zog den Stuhl um den Tisch herum und setzte sich neben ihn, damit sie beide auf den Bildschirm gucken konnten, während sie auf ein paar Tasten klickte und das Video startete, auf dem man die Leute sah, die das Kino betraten.

Auf dem Bürgersteig war es dunkel. Zerbrochene Glühbirnen hatten in der Stadt keine Priorität, und es war durchaus möglich, dass sie zwar ersetzt, aber gleich darauf wieder kaputt gemacht worden waren – vielleicht sogar mehr als nur einmal, weil Vandalen die Dunkelheit bevorzugten. Der Spezialist für audiovisuelle Technik des Dezernats würde versuchen, das Videomaterial aufzuhellen, aber Jude hatte keine besonders großen Hoffnungen. Darüber hinaus war es in der Nacht auch noch kalt und windig gewesen. Die Leute auf dem Video trugen Strickmützen und hielten die Köpfe in typischer Minnesota-Manier, die sie sich in diesem kalten Klima angewöhnt hatten, gesenkt.

Mitchell hatte seiner Aussage nichts mehr hinzuzufügen, also sagte Jude zu ihm, dass sie in Kontakt bleiben würden. »Du hast ja meine Visitenkarte und die Telefonnummer. Ruf mich einfach an, falls dir noch etwas einfällt.«

Ihr nächster Zeuge war ein anderer Platzanweiser, dem es allerdings an jeglicher Beobachtungsgabe mangelte, und nach nur wenigen Minuten war die Befragung beendet. Danach war der Filmvorführer an der Reihe. Keiner der Männer konnte noch irgendetwas hinzufügen, das von Bedeutung gewesen wäre.

Sie erhielt eine SMS von Uriah.

Wir treffen uns oben. Ortega will mit uns reden, bevor wir uns auf den Weg zum Leichenschauhaus machen.

KAPITEL 5

»Ich erkenne den Tod, wenn ich ihn sehe«, sagte Uriah fünf Minuten später, als Jude oben in der Mordkommission mit ihm zusammentraf. »Da gibt’s kein Lebenszeichen mehr. Tut mir leid.«

Sie starrte auf den welken Kolbenfaden auf ihrem Schreibtisch. Welche Hoffnungen hatte sie in diese Pflanze gesetzt. Auf eine merkwürdige Art und Weise war dieser Farn mehr für sie als nur eine Pflanze. Es symbolisierte ihre Fähigkeit, sich um etwas zu kümmern und es am Leben zu erhalten – ganz egal, um was es sich handelte.

Die Schreibtische hier oben im zweiten Stock des Polizeipräsidiums von Minnesota verteilten sich quer durch das Großraumbüro. Alles war offen, es gab keine Trennwände. An einem sonnigen Tag flutete das Licht durch eine Reihe von Fenstern hinein, die nach vorn zur Straße hinausführten. Wenn jemand einen grünen Daumen hatte, konnten Pflanzen hier gut gedeihen. Ein paar Officers bauten sogar Kräuter an, die dann neben der typischen Aufstellung gerahmter Fotos standen. Jude hatte keine gerahmten Fotos, aber ihr hatte die Idee von einer Pflanze gut gefallen.

»Vielleicht braucht sie einfach nur mehr Licht«, überlegte sie. Sie hatte sich für diese spezielle Sorte entschieden, weil ihr die Frau in der Gärtnerei erklärt hatte, dass ein Kolbenfaden praktisch unzerstörbar sei. Es hatte Jude gefallen, wie sich das angehört hatte. Unzerstörbar.

»Die Pflanze bekommt genug Licht«, sagte Uriah. »Es hat etwas mit dem Wasser zu tun. Du hast sie fast jeden Tag gegossen.«

Den Blick noch immer auf die Pflanze gerichtet, deren Blätter schlaff hinunterhingen, erwiderte Jude: »Ich glaube, sie lebt.«

»Nein, sie ist tot.« Dabei betonte er das Wort tot.

Jude öffnete ihre Wasserflasche und schüttete ein Drittel des Flascheninhalts auf die Pflanze und tränkte die Erde und die Wurzeln.

»Genau das meine ich«, sagte Uriah. »Zu sehr umhegt. Durch Güte getötet. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und weiß, was gelbe Blätter bedeuten. Zu viel Wasser.«

Jude hatte überreagiert und wusste, dass sie es auf sich projezierte. Sie musste ziemlich fertig aussehen, denn Uriah versuchte, sie zu trösten. »Du kannst dir eine andere Pflanze besorgen. Und die kannst du dann auch umbringen. Und wenn das passiert, kannst du es noch mal mit einer anderen versuchen. Die Gärtnerei wird dich lieben.«

»Ich will aber keine andere Pflanze«, erwiderte Jude. »Ich will diese Pflanze.«

»Tut mir leid. Ich versuch doch nur zu helfen.« Uriah wurde langsam besser darin, sie zu lesen. Oder vielleicht verlor sie ja auch allmählich etwas von diesem leeren Gesichtsausdruck, an dessen Perfektionierung sie während ihrer Gefangenschaft so hart gearbeitet hatte. Sie hatte damals schnell begriffen, dass das Ausbleiben einer Antwort oder zumindest einer sichtbaren Reaktion oft dazu führte, dass sie in Ruhe gelassen wurde. Folter machte keinen Spaß, wenn das Opfer nicht reagierte.

»Das mit deiner Katze hast du gut hingekriegt, und die ist doch wichtiger als eine Pflanze.«

»Das ist nicht meine Katze.« Uriah hatte recht, aber sie wollte nicht, dass irgendetwas starb, nicht mal eine Pflanze. Sie hatte genug vom Sterben.

Das Klopfen von Fingerknöcheln auf Glas. Als sie aufschauten, sahen sie, wie Chief Ortega sie in ihr Büro winkte. Irgendetwas an diesem Raum, der von allen anderen durch eine Glaswand getrennt wurde, rief in Jude ein mulmiges Gefühl hervor. Er kam ihr eher vor wie eine Bühne. Sie würde es jedenfalls hassen, hier drin zu arbeiten.

Im Inneren des gläsernen Aquariums informierten Jude und Uriah ihre Chefin über den Fall. »Ich habe gerade die Aussage des Hauptzeugen aufgenommen«, erklärte Jude. »Ein junger Mann namens Mitchell Davidson. Bis jetzt hat er uns allerdings nicht viel erzählen können.«

»Was ist mit Kameras?« Statt sich in ihren Stuhl zu setzen, hatte Chief Ortega sich auf die Ecke ihres Schreibtischs gehockt und die langen Beine übereinandergeschlagen. Sie war eine schöne Frau mit glänzenden dunklen Haaren und trug jeden Tag Lippenstift in einem anderen Farbton. Heute war es rosa, gestern rot. Zu hübsch für den Job, sagten manche. Man tuschelte (was sie mit Sicherheit auch schon mitbekommen hatte), dass sie sich professioneller kleiden sollte, aber sie ignorierte so etwas einfach. Jude hatte das immer an ihr bewundert und versuchte, ihrem Beispiel zu folgen und nichts auf die Meinung anderer zu geben.

»Wir sind das Filmmaterial ein paarmal durchgegangen«, erzählte Uriah. »Aber die Menschenmenge hat es dem Täter leicht gemacht, sich direkt vor unserer Nase zu verstecken, und unter dicken Mänteln und Mützen bleibt Blut auch leichter unentdeckt.«

»Es bedarf keines Fachmannes, um zu wissen, dass dies hier vermutlich kein schiefgelaufener Drogendeal oder ein Rachemord ist«, sagte Ortega. »Willkürlich absichtlich würde ich das nennen. Ich hoffe, dass die Morde nichts mit den vergangenen Fällen zu tun haben, bei denen den Opfern die Kehlen aufgeschlitzt wurden. Aber wenn doch, dann haben wir es hier mit einer sehr ernsten Angelegenheit zu tun.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und ihr Gesichtsausdruck war dermaßen beunruhigt, sodass es jeder hinter dem Glas sehen konnte. Nicht ihr typisches Verhalten. Sonst war sie immer positiv – ungeachtet der Umstände. Auch wenn die Lage, mit der sie es hier zu tun hatten, ernst war, so schien Ortega für ihre Verhältnisse sogar ungewöhnlich stark beunruhigt zu sein.

»Wir haben alle Datenbanken überprüft, einschließlich CISA und CODIS, und nach ähnlichen Vorgehensweisen während der letzten Jahre gesucht«, berichtete Jude. »Nichts.«

»Eines der Mordopfer von letzter Nacht war der Freund eines Freundes«, sagte Chief Ortega schließlich. Sie nannte ihnen den Namen des Mannes und verriet damit den Grund für ihr untypisches Verhalten. »Netter Kerl. Frisch geschieden. Hat eine schwere Zeit gehabt.«

Der Tod eines Bekannten veränderte alles. Die Trennung von Arbeit und Privatsphäre war verletzt worden, zumindest ein bisschen. Für jemanden mit Mann und Kindern musste diese Verletzung eines vermeintlichen Sicherheitsgefühls ganz schön verstörend sein.

Jude verstand, dass Liebe und Angst Hand in Hand gingen; sie war selbst Zeugin dieser Gefühlskombination geworden, wenn sie Eltern ins Gesicht geblickt hatte, die ihre Kinder verloren hatten. Und nun spürte sie dieselbe Angst bei Chief Ortega. Nur einen Schatten davon. Nur einen Hauch. Wie ein leichter Beigeschmack. Aber es war da, bahnte sich seinen Weg in ihr Unterbewusstsein.

»Wir werden Sie auf dem Laufenden halten.«

»Ich will mehr als nur auf dem Laufenden gehalten werden«, erwiderte Ortega. »Bei jeder neuen Entwicklung will ich sofort informiert werden. Schicken Sie mir eine SMS, rufen Sie mich an – egal was – , aber bleiben Sie mit mir in Verbindung.« Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch, ein klares Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Ich will, dass Sie für diesen und die beiden Mordfälle davor leben und atmen, bis sie gelöst sind. Mir ist bewusst, dass das meiner Philosophie widerspricht, die geistige Gesundheit in diesem Job zu wahren, aber das hier erfordert einfach mehr von uns allen.«

»Wir haben heute Abend eine Veranstaltung«, erinnerte Uriah sie.

»Sagen Sie sie ab.«

»Das können wir nicht«, erwiderte Jude. »Heute Abend ist die Benefizveranstaltung des Krisencenters.« Es war die zweite von dreien. Man hoffte, genug Bargeld zusammenzukriegen, um die Krisen-Hotline wieder ins Leben zu rufen, nachdem eine Budgetkürzung das Programm beendet hatte. Bei der dritten und letzten Benefizveranstaltung würde es zudem ein Live-Interview mit Uriah geben. Die Leute vom Center versprachen sich von ihm eine Art Berühmtheitspotenzial, weil seine Frau Suizid begangen hatte. Das Hauptaugenmerk des Programms lag auf Selbstmordprävention, und mit Uriah als Aushängeschild hofften sie darauf, dass mitfühlende Zuschauer ihre Brieftaschen öffnen würden. Uriah hatte zugestimmt, bei dem Interview über seinen eigenen Verlust zu sprechen, auch wenn der Druck, der auf ihm lastete, damit sicher nicht geringer wurde. Einfach würde es garantiert nicht werden.

»Ich verstehe«, sagte Chief Ortega. Keiner von ihnen nahm das Thema Suizidprävention auf die leichte Schulter. »Natürlich müssen Sie da hingehen.«

Armer Uriah. Zum ersten Mal ein Telefon beim Spendenmarathon zu besetzen, war schon hart genug für ihn gewesen. In Wahrheit hätte er vermutlich selbst eine Hotline gebrauchen können. Auch die Hinterbliebenen bedurften der Unterstützung.

Als sich die beiden Detectives zum Gehen wandten, warf Uriah einen prüfenden Blick auf seine Uhr. Vermutlich rechnete er gerade aus, wie viele Stunden ihm noch bis zur Veranstaltung am heutigen Abend blieben.

»Ich werde es mir zu Hause anschauen«, sagte Ortega mitfühlend. »Und ich werde auch etwas spenden. Es ist eine gute Sache.« Dann fügte sie noch hinzu: »Und vergessen Sie nicht die Yoga-Stunde.«

Uriah und Jude blieben stehen.

»Ich bin nicht so der Yoga-Typ«, erwiderte Jude.

»Sie haben doch gerade gesagt, dass wir nur für diese Mordfälle leben sollen«, erinnerte Uriah ihre Chefin.

»Haben Sie meine E-Mail denn nicht bekommen?«, fragte Ortega. »Es wird nur sehr wenig Ihrer Zeit in Anspruch nehmen, und es könnte bei der Untersuchung behilflich sein. Entspannen Sie Ihren Geist, um Ihr Unterbewusstsein anzuzapfen.«

Ortega hatte vor Kurzem an einer Konferenz über psychische Gesundheit teilgenommen und daraufhin begonnen, einige Aktivitäten ins Leben zu rufen, auf die Jude nur allzu gerne verzichtet hätte.

»Seit den Stromausfällen und den Ausschreitungen haben wir mehr Fälle von Burn-out und posttraumatischen Belastungsstörungen innerhalb der Abteilung«, erklärte Ortega. »Und wir haben gute Männer und Frauen an kleinere, sicherere Städte verloren. Wir haben Officers, die unter Stress falsche Entscheidungen treffen. Ich versuche nur einen Weg zu finden, um dem entgegenzuwirken.«

Jude gefiel nicht, wie Ortega sie dabei ansah.

»Es findet nur ein paarmal im Monat statt, das ist alles. Ich hoffe, dass die Officers überhaupt in der Lage sein werden, die Beruhigungstechniken in der Praxis anzuwenden.«

Die meisten Detectives wären neidisch gewesen auf eine Chefin, die darauf bestand, dass ihre Leute auch ein Privatleben hatten und nicht nur für ihren Job lebten. Bei Jude war das anders. Es gab niemanden, der zu Hause auf sie wartete, und das war auch völlig in Ordnung so. Es machte die Dinge einfacher, machte ihren Job einfacher. Und das Gleiche galt für Uriah. Sie waren beide Einzelgänger. Aber manchmal schaute sich Jude Ortegas Leben an – ein Mann, zwei Kinder, die ganz okay waren, und zwei entzückende Labradorhunde. Und sie fragte sich, ob es so etwas in der Art wohl auch jemals für sie geben könnte.

»Können Sie uns wirklich dazu zwingen, bei so was mitzumachen?«, fragte Jude. Es erschien ihr wie Machtmissbrauch.

Ortega rollte mit den Augen und versuchte gar nicht erst, ihre Verärgerung zu verbergen. »Nein, und ich habe auch nur wenig Einflussmöglichkeiten jenseits der Mordkommission, aber ich hoffe dennoch, dass sie daran teilnehmen werden.« Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder sanfter. »Wenn Sie beide mitmachen, erhöht das die Chance, dass auch die Officers aus den anderen Abteilungen sich nicht verweigern. Und die psychische Gesundheit eines jeden von uns sollte eine unserer Prioritäten sein.«

Uriah nickte. »Ich werde es versuchen, aber hübsch wird das nicht.«

Soweit Jude wusste, verbrachte Uriah den größten Teil seiner Freizeit damit, Bücherflohmärkte zu besuchen und sich düstere Musik anzuhören. Jude wusste nicht, ob er Sport trieb, aber sein Apartmentgebäude in der Innenstadt war eines der höchsten in der ganzen Stadt, und sie wusste, dass er nur selten den Aufzug nahm. Stattdessen versuchte er jedes Mal, seine vorherige Bestzeit zu schlagen. Er verkündete es sogar regelmäßig bei seiner Ankunft im Büro – als ob es selbstverständlich wäre, dass jeder wüsste, wie lange man normalerweise brauchte, um die Treppe in den sechzehnten Stock hochzulaufen. Sein aktueller Rekord lag bei zwei Minuten und neunzehn Sekunden. Er wollte es in zwei schaffen.

Judes und Uriahs Telefone vibrierten gleichzeitig. Sie zogen sie hervor und warfen einen prüfenden Blick auf ihre Displays: Die Gerichtsmedizinerin von Hennepin County bat sie, zu ihr zu kommen.

KAPITEL 6

Im Gebäude der Gerichtsmedizin auf der Chicago Avenue folgten sie Ingrid Stevenson in einen Autopsieraum. Sie war für ihre Tüchtigkeit bekannt, deshalb war es auch keine Überraschung zu sehen, dass die drei Leichen aus dem Kino bereits untersucht worden waren, auch wenn sie noch unter großen runden Lampen auf den Seziertischen lagen. Jude und Uriah waren nicht bei jeder Autopsie dabei, aber es war nicht unüblich, dass Ingrid sie zu sich in ihre Welt bestellte, um ihnen ihre Ergebnisse mitzuteilen. Sie war pragmatisch, rational und einfach großartig, wenn es darum ging, etwas zu entdecken, das andere vielleicht übersehen hätten.

»Ich weiß, dass man davon ausgeht, diese Mordfälle hier könnten etwas mit den zwei vorherigen zu tun haben«, sagte sie, »aber mir ist eine Unstimmigkeit aufgefallen.«

Während Ingrid sprach, wanderte Jude zwischen den Edelstahltischen herum und nickte Ingrids Assistenten zu, als dieser zur Seite trat, um ihr uneingeschränkten Zugang zu der nächsten Leiche zu gewähren. Sie versuchte, selbst die Hinweise zu finden, von denen Ingrid gesprochen hatte, noch bevor diese zu einer Erläuterung ansetzen würde.

Die Gesichtsausdrücke von allen drei Opfern wiesen auf die Überraschung und das Entsetzen hin, das sich manchmal auf den Gesichtern von Toten abzeichnete. Uriah und Ingrid hatten es womöglich gar nicht bemerkt, aber Jude konnte die Andeutung einer Reaktion sehen, einen Moment des Bewusstwerdens vor dem Tod. Seltsamerweise war dieses Spiegelbild der Überraschung und des Entsetzens oft gepaart mit Scham. Auf so eine Weise sterbe ich also. Das ist also mein erniedrigendes Ende. Dieser Gesichtsausdruck spiegelte das Wissen wider, plötzlich und ungewollt in einen seltsamen und rituellen Akt der öffentlichen Demütigung hineingezogen zu werden und nichts dagegen tun zu können, während das Blut austrocknete und die Hauptarterien versiegten.

Wahrscheinlich war es kein stiller Tod gewesen, aber die Geräuschkulisse in einem Kino konnte ohrenbetäubend sein. Wenn alle drei Morde in Augenblicken passiert waren, in denen die Ereignisse auf der Leinwand alle Anwesenden in ihren Bann gezogen hatten – selbst die Fast-Toten – , dann wäre das Keuchen und Gegurgel der Opfer einfach untergegangen.

»Im Kino lief ein Actionfilm«, sagte Jude. »Explosionen, Schießerei, Special Effects – jede Menge Lärm.« Schon die Art des Films fühlte sich an wie ein Teil dieses präzise abgestimmten Tatorts. »Vielleicht haben der oder die Mörder sich den Film vorher zu Hause angesehen, um den optimalen Zeitpunkt für den Mord zu finden? Wenn der Lärm am größten war und am längsten dauerte?«

Sie ging von einer Leiche zur nächsten, beugte sich über sie und blickte schließlich auf. Sah zuerst Uriah an, dann Ingrid. Sie glaubte, die Unstimmigkeit entdeckt zu haben, von der die Gerichtsmedizinerin gesprochen hatte. »Die Wunden sind nicht gleich. Eine ist nicht so tief wie die anderen.«

Ingrid sah ausgesprochen zufrieden aus. »Ich vermute, dass die Unterschiede, die wir hier sehen, auf die unterschiedliche Körperkraft der Täter zurückzuführen sind.« Sie wies mit dem Kinn auf die Leiche vor ihr. »Aber auch wenn die Wunden nicht gleich sind, so würde ich dennoch vermuten, dass sie von ähnlichen Messern stammen.«

Sie ging zu ihrem Laptop und öffnete mit ein paar Tastenklicks die Autopsieberichte und Fotos von den beiden früheren Opfern, die nun auf einem großen Computerbildschirm erschienen. »Wie Sie sehen, haben diese Leichen ähnliche Wunden.« Sie malte kleine Kreise mit der Maus um die Verletzungen. »Optisch sind sie sich alle sehr ähnlich, auch in Bezug auf Länge und Tiefe. Sie wurden mit einer extrem scharfen Klinge, vielleicht einem Jagdmesser, ausgeführt, und zwar von hinten, von einem Rechtshänder. Die linke Hand liegt auf der Stirn des Opfers, der Hals ist ungeschützt. Der flachere Schnitt bei diesem Toten hier deutet auf eine schwächere Einzelperson hin, und er stammt von einem Linkshänder. Schnitte wie diese, die von hinten durchgeführt werden, beginnen immer tief und werden dann flacher.«

»Weiblich?«, fragte Jude. Sie dachte an das Mädchen, das Mitchell Davidson erwähnt hatte.

»Möglich, aber nicht unbedingt. Es könnte auch auf ein Zögern hindeuten, auch wenn ich keine Anzeichen eines Kampfes sehe. Mehr als ein einzelner Schnitt in der Kehle würde zum Beispiel auf einen Kampf hinweisen.«

Uriah, der hinter ihr stand und auf den Bildschirm schaute, sagte: »Das bestätigt dann also unsere Theorie von mehr als nur einem Mörder.«

»Es gibt mindestens zwei Täter«, stimmte Ingrid ihm zu.

Jude sah auf. »Und möglicherweise drei.«

Uriah öffnete seinen Kittel. »Wir müssen überprüfen, ob jemand irgendwo in den Läden der Gegend zwei gleiche Messer gekauft hat, besonders Jagdmesser.«

»Sie könnten sich die Messer auch online besorgt haben«, warf Jude ein. »So würde ich es jedenfalls machen.« Aber auch clevere Kriminelle konnten manchmal überraschend dumm sein. Nicht wenige von ihnen wurden wegen so simple Dinge wie Seilfasern und anderen Sachen geschnappt, die sie in der Nähe des Tatorts gekauft und dann für ihren Mord benutzt hatten.

»Möglicherweise«, stimmte Uriah ihr zu. »Ich werde Ortega anrufen und sie auf den neuesten Stand bringen. Sie wird bald eine Pressekonferenz einberufen wollen. Wir alle wissen, wie entscheidend die ersten achtundvierzig Stunden sind.«

»Denken Sie, dass es klug ist, damit an die Öffentlichkeit zu gehen?«, fragte Ingrid. »Es könnte eine Panik auslösen.«

»Ich bin auch dafür, diese Information so schnell wie möglich rauszugeben«, sagte Jude. »Aber wir werden ein paar Details für uns behalten, wie zum Beispiel den linkshändigen Mörder.« Eine Pressekonferenz war der direkteste Weg, die Öffentlichkeit zu erreichen. Die Informationen von Bürgern spielten oft eine entscheidende Rolle bei der Verhaftung von Kriminellen.

Uriah zog sein Telefon heraus. »Außerdem sind die Leute wahrscheinlich sowieso schon in Panik.« Er scrollte und drehte das Handy um, um den beiden Frauen eine Nahaufnahme eines der Kino-Opfer zu zeigen. Jude zuckte zusammen. Es war der Freund eines Freundes von Chief Ortega. Irgendjemand – vermutlich Mitchell – hatte das Foto im Internet gepostet.

KAPITEL 7

»Ich habe hier jemanden in der Leitung, der ausdrücklich nach Ihnen verlangt.« Der junge Mann schob ein cremefarbenes Tischtelefon in Judes Richtung, während die anderen Telefonisten gerade mit Unterstützern der Spendenaktion sprachen. Die Pressekonferenz war reibungslos über die Bühne gegangen, und die Nummer des Hinweistelefons würde von nun an während jeder Nachrichtensendung über den unteren Teil des Fernsehbildschirms rollen. Jude und Uriah saßen mittlerweile beim öffentlichen Fernsehsender der Twin Cities in der Fourth Street mitten in Saint Paul, um Anrufe für den Spendenmarathon entgegenzunehmen.

Uriah, ebenfalls einen Hörer am Ohr, warf Jude einen neugierigen Blick zu. Das war mal eine nette Abwechslung zu seinem sonst so gequälten Gesichtsausdruck. Sie hatte sich schon gefragt, wie lange er das hier wohl noch aushalten würde. Es war nicht zu übersehen gewesen, dass Uriah bereits auf der Bahnfahrt von Minneapolis hierher am Rande eines Nervenzusammenbruchs gewesen war. Während die Geschäfte auf der University Avenue an ihrer Fensterscheibe vorbeiglitten, hatte Jude versucht, ihm den Telefondienst auszureden. »Du hast schon genug getan.« Aber er hatte darauf bestanden. Heute Abend verkauften sie Gala-Tickets für einhundert Dollar pro Stück, die Veranstaltung würde am selben Abend stattfinden wie Uriahs Live-Interview. Diese Wohltätigkeitsveranstaltung war unheimlich wichtig.

»Ich muss das hier jetzt durchziehen«, hatte er geantwortet.

Jetzt, dreißig Minuten später, sah Jude die Anspannung in seinem Gesicht und seine verkrampften Schultern. Zudem war es schier unmöglich, seine verstohlenen Blicke auf die Wanduhr zu übersehen, wie er jedes Mal verwundert die Augenbraue hochzog, weil die Zeit so langsam verstrich, und wie er überlegte, ob er wohl schon lange genug da sei, um sich zu entschuldigen. Um vielleicht auf die Toilette zu gehen und einfach nicht wieder zurückzukommen. Das wäre zumindest, was sie tun würde. Es war offensichtlich, wie man Uriah ausnutzte und ihm ein schlechtes Gewissen machte, sodass er etwas tat, das psychisch vollkommen ungesund für ihn war. Soweit sie wusste, betrank er sich mittlerweile nicht mehr bis zur Besinnungslosigkeit, aber nach dieser Geschichte hier konnte sich das schnell wieder ändern.

Seit ihrer Entführung hatte Jude mehr als genug mit Reportern zu tun gehabt. Normalerweise versuchte sie ihnen aus dem Weg zu gehen, außer bei den obligatorischen Pressekonferenzen, aber nun hatte sie von sich aus zugestimmt, bei der Benefizveranstaltung Anrufe entgegenzunehmen, damit sie Uriah währenddessen besser im Auge behalten könnte. Wenn es zu schlimm wurde, würde sie eine höfliche Ausrede für ihn erfinden und ihn zwingen zu gehen. Schließlich waren sie beide Detectives. Es gab immer einen Grund, warum sie gerade woanders sein müssten.

Jude stand auf und ging langsam an den anderen Freiwilligen vorbei, um mit dem jungen Mann, der ihr noch immer den Hörer hinhielt, Plätze zu tauschen. Ein Dutzend Menschen – eingezwängt in einen winzigen Raum – brachte sie fast dazu, sich aus dem Staub zu machen. Es war nicht nur ihre Fähigkeit, andere Menschen zu lesen, die während der Zeit ihrer Gefangenschaft im Kellerverlies geschärft worden war – in dieser Zeit hatte sie gelernt, jede Nuance in dem Gesicht und Körper ihres Geiselnehmers zu entschlüsseln – , auch ihr Geruchssinn hatte sich verändert, und sie hatte sich immer noch nicht an den Ansturm von Gerüchen in der Welt gewöhnt. Die Alchemie von Shampoos und Deos, Cremes und Haarprodukten, kombiniert mit dem Geruch der technischen Ausrüstung und dem Brummen und Flackern der Deckenleuchten, war nervenzermürbend. Detectives der Mordkommission mussten manchmal den strengen Geruch des Todes aus ihrem Haar und ihren Klamotten waschen. Sobald sie nach Hause zurückkehrte, würde sie ebenfalls eine solche Reinigung durchführen müssen.

Sie setzte sich auf den freien Stuhl und griff nach dem Hörer, wobei sie versuchte, den strengen Kaffeegeruch aus der Tasse, die der junge Mann auf dem Tisch vergessen hatte zu ignorieren. Sie antwortete mit der einstudierten Begrüßung. »Krisencenter-Spendenmarathon. Vielen Dank schon im Voraus für Ihre großzügige Spende.«

Zuerst dachte sie, dass der Anrufer vielleicht aufgelegt hatte oder die Leitung versehentlich getrennt worden war, aber schließlich hörte sie jemanden sprechen. Ein Mädchen, das dem Klang nach etwa zwischen vierzehn und achtzehn Jahre alt sein musste. Es sprach mit belegter Stimme und flüsterte nervös. »Spreche ich mit Jude Fontaine?«

Diese wenigen, zaghaften Worte genügten, um Jude wissen zu lassen, dass dieser Anruf nichts mit einer Spende zu tun hatte. Sie drückte den Hörer an ihr Ohr. »Ja. Mit wem spreche ich?«

»Ich heiße Clementine. Zumindest nennen mich die Leute heute so.«

Also nicht ihr richtiger Name. Jude konnte den Wunsch nachvollziehen, seinen Namen und sein Leben ändern und ein anderer Mensch werden zu wollen. »Was kann ich für dich tun, Clementine? Warum wolltest du ausgerechnet mit mir sprechen?«

»Ich dachte, dass Sie es vielleicht verstehen.«

Das hier war keine Suizid-Hotline. Nur wenige im Raum waren überhaupt darin geschult, mit einem Krisen-Anruf umzugehen, aber Jude hatte den Anruf schnell als eine mögliche Bitte um Hilfe erfasst. »Ich denke, du solltest vielleicht lieber mit einem Profi reden«, riet sie dem Mädchen. »Irgendjemand, der qualifizierter ist als ich.«

»Ich will aber mit Ihnen reden.«