"Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..." - Gerhard Haase-Hindenberg - E-Book

"Ich bin noch nie einem Juden begegnet ..." E-Book

Gerhard Haase-Hindenberg

0,0

Beschreibung

"Ich bin noch nie einem Juden begegnet …": Diesen Satz haben die meisten der rund 200.000 Jüdinnen und Juden, die heute in Deutschland leben, schon einmal gehört. Höchste Zeit also, mehr über den Reichtum und die Vielfalt jüdischen Lebens hierzulande zu erfahren. Gerhard Haase-Hindenberg erzählt die Geschichten der Kinder und Enkel von Shoah-Überlebenden, von Juden, die aus Russland, Israel und Amerika nach Deutschland gezogen sind, von der jiddischen Mamme und queeren Jüdinnen und Juden ebenso wie von Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen zum Judentum konvertierten. Ihre Erfahrungen, ihre Hoffnungen und ihre Gefährdung durch den ansteigenden Antisemitismus verwebt Haase-Hindenberg gekonnt mit Erklärungen über jüdische Geschichte, Glaubenspraxis und Symbole. Wer den Menschen in den einfühlsamen Porträts nahegekommen ist, wird nicht mehr behaupten: "Ich bin noch nie einem Juden begegnet."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 487

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Haase-Hindenberg

»Ich bin noch nie einem Juden begegnet …«

Lebensgeschichten aus Deutschland

Inhalt

Vorwort

Prolog: Leben mit den Juden – seit 1700 Jahren …

Die zweite Generation

Treffen an Rosh Hashana • Unter dem Schutz des Feindes … • Jüdische Kindheit in der Kreisstadt • Trauer und Erinnerung • Jüdisch sein im Sozialismus • Hammer, Sichel, Davidstern • Das Geheimnis • Kippa und Uniform

Aus aller Welt

Treffen in Hameln • Wege zu einer jüdischen Identität • Dina, Debbie und Jaffa • Das gemeinsame Ziel • New York – Berlin • Der verstummte Blogger • Spurensucher, Sinnsucher

Innovativ, individuell, jüdisch

Kneipendunst und Poesie • Der lange Weg zu sich selbst • Mitzwot • Zelt der Erneuerung • Jüdisch und queer

Die Rückkehr der Jüdischen Kunst

Musische Töchter musischer Mütter • Israelische Kunst am Ort der Shoah • Tania und Marcia • Mobbing • ¿¡Angekommen!?

Dein Gott ist auch mein Gott …

Einsame Wege zur Synagoge • Endlich zu Hause

Epilog: Zurück zu den Anfängen …

Ich möchte leben.

Schau, das Leben ist so bunt.

Es sind so viele schöne Bälle drin.

Und viele Lippen warten, lachen, glüh’n

und tuen ihre Freude kund.

Sieh nur die Straße, wie sie steigt:

so breit und hell, als warte sie auf mich.

Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt

die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.

Der Wind rauscht rufend durch den Wald,

er sagt mir, dass das Leben singt.

Die Luft ist leise, zart und kalt,

die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte leben.

Ich möchte lachen und Lasten heben

und möchte kämpfen und lieben und hassen

und möchte den Himmel mit Händen fassen

und möchte frei sein und atmen und schrei’n.

Ich will nicht sterben. Nein:

Nein.

Das Leben ist rot,

Das Leben ist mein.

Mein und dein.

Mein.

SELMAMEERBAUM

(5.2.1924 –16.12.1942IMKZ MICHAILOWKA)

GESCHRIEBENAM7. JULI1941

Vorwort

Zugegeben, das Titelzitat dieses Buches mag irritieren. Es ist aber nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Nahezu alle jüdischen Personen, deren Geschichten hier erzählt werden, haben bestätigt, diesen Satz so oder ähnlich schon einmal gehört zu haben. Wie aber kommt eine solche Aussage zustande? Auch wenn NS-Rassenkundler einst etwas anderes verkündeten und damit mancher blonden Jüdin mit Stupsnase oder manchem schmallippigen Juden mit blauen Augen das Überleben ermöglichten: Man sieht es Juden in aller Regel nicht an, dass sie Juden sind. Zumindest nicht, wenn sie ohne Schtreiml und Schläfenlocken unterwegs sind, was hierzulande kaum vorkommt. Selbst die Kippa trägt fast kein deutscher Jude außerhalb der Synagoge. Woher also weiß man, ob man einem Juden begegnet ist oder nicht? Man weiß es nicht! Das mussten selbst die Endlösungs-Fanatiker der Nazis einsehen. Welchen Sinn hätte sonst die diskriminierende Kennzeichnung mit dem gelben Stern ergeben?

Ob jemand ein Jude oder eine Jüdin ist, erfährt der nichtjüdische Deutsche eher zufällig im direkten Gespräch, durch eine Bemerkung vielleicht oder weil es sich für jemanden thematisch anbietet, sein Judentum zu erwähnen. Manchmal ist es ein schlichtes Halskettchen mit dem Davidstern oder die öffentliche Lektüre der Jüdischen Allgemeinen, die jemanden zu der Frage animiert, ob das Gegenüber wohl jüdisch sei. Gern wird dabei das Adjektiv jüdisch, und das entsprechende Substantiv sowieso, zaghaft durch die Formulierung »jüdischen Glaubens« ersetzt. Übrigens: Würde diese Frage verneint, hieße das noch lange nicht, dass es sich nicht um einen Juden handelt. Kein Jude muss nämlich gläubig sein. Wenn er eine jüdische Mutter hat, wird das jedem Rabbiner genügen. Bei Konvertiten sieht das anders aus. Wer sich im Beth Din, dem Rabbinatsgericht, beim Übertrittsverfahren selbst als Atheisten bezeichnet, hat kaum eine Chance, anerkannt zu werden. Für einen gebürtigen Juden aber gibt es in einem solchen Fall keine Institution, die ihm den jüdischen Status absprechen kann.

Wenn nun aber eine jüdische Person bei der zufälligen Begegnung mit dem fremden anderen – sagen wir im Speisewagen des ICE – keinen Davidstern um den Hals trägt, die Süddeutsche Zeitung liest und sich lieber über die Subventionspolitik der EU unterhält? Dann wird an diesem Tag jener titelgebende Satz garantiert nicht fallen. Im Übrigen ist das ein ziemlich heutiger Satz, den es in dieser Form vor der NS-Zeit in Deutschland vermutlich gar nicht gab. Damals lebten Juden nicht nur in den Städten mit den großen Gemeinden von Berlin bis Worms, sondern auch im unterfränkischen Gochsheim, dem schwäbischen Berlichingen oder in unzähligen anderen jüdischen Landgemeinden. Die Menschen handelten mit jüdischen Viehhändlern, besuchten jüdische Ärzte und kauften in den Warenhäusern von Hermann Tietz und anderen jüdischen Kaufleuten. Man kannte die Juden damals vielerorts aus der Nachbarschaft.

Die Frage, woher die Juden ursprünglich ins Gebiet des heutigen Deutschlands kamen und vor allem wann, wird seltener gestellt. Entweder wissen es die Leute oder sie halten das für eine Bildungslücke und unterdrücken diese Frage deshalb. Auf den nächsten 18Seiten gibt es einen kleinen historischen Abriss jüdisch-deutscher Geschichte, ehe auf den 351Seiten danach Juden und Jüdinnen vorgestellt werden, die sich seit dem Ende der Shoah wieder in Deutschland angesiedelt haben. Es sind rund 200000, wovon nur knapp die Hälfte in den jüdischen Gemeinden organisiert sind. Inzwischen sind die Kinder und Enkel der Shoah-Überlebenden in der Minderzahl, die meisten kamen aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion oder sind deren Nachfahren. Aber auch aus den USA, Israel, Australien oder Südamerika kommend haben Juden wieder zwischen Hameln und Barnim ihren Wohnsitz genommen. Jeder und jede von ihnen hat eine individuelle jüdische Lebensgeschichte. Einige davon werden hier erzählt und nach der Lektüre wird kein Leser und auch keine Leserin mehr sagen: »Ich bin noch nie einem Juden begegnet …«

PROLOG

Leben mit den Juden – seit 1700Jahren …

Der Große Tempel von Jerusalem war 581Jahre lang das Heiligtum des Volkes Israel, dann begann die Revolte. Lange schon war die Unterdrückung durch die römischen Besatzer als demütigend empfunden worden, aber erst die Forderung des Prokurators Gessius Florus, Teile des Tempelschatzes seinem Kaiser im fernen Rom zu übereignen, brachte das Fass zum Überlaufen. Vier Jahre lang tobte der erste jüdische Krieg, dann endete er im Jahre 70 nicht nur mit der Zerstörung des Tempels, sondern auch mit der Verwüstung Jerusalems und der Zerschlagung jüdischer Verwaltungen in Judäa. 66Jahre später rief der Rebell Simon bar Kochba die letzten Juden erneut zu den Waffen. Nach anfänglichen Erfolgen wurde er im dritten Jahr des Aufstandes von römischen Truppen eingeschlossen. Seine Leute erkannten die ausweglose Lage offenbar eher als er. Durch die Belagerung ausgehungert, wandten sie sich gegen ihren Anführer. Gedankt wurde es ihnen von römischer Seite nicht. Dort, wo einst Jerusalem stand, wurde die römische Kolonie Aelia Capitolina errichtet, die zu betreten Juden fortan bei Androhung der Todesstrafe verboten war. Zum zweiten Mal in der Geschichte der israelitischen Stämme – nämlich seit der Vertreibung durch die Assyrer fast 800Jahre zuvor – begann eine Zeit der Verstreuung und die Griechen steuerten hierfür das Wort »Diaspora« bei. Rund um das Mittelmeer wurden jüdische Gemeinden gebildet und auch in Rom entstand am rechten Ufer des Tibers eine Siedlung mit zahlreichen Synagogen. Die Juden waren ihrer Heimat beraubt, nicht aber ihrer Identität.

Im Jahre 212 erklärte Kaiser Caracalla alle Bürger seines Reiches zu Vollbürgern mit völliger Niederlassungsfreiheit und bezog die »römischen« Juden dabei explizit mit ein. Das führte dazu, dass sich viele von ihnen als Legionäre zum römischen Heer meldeten, was der Imperator als positive Folge im Hinterkopf gehabt haben mag. Aber auch jüdische Zivilisten begleiteten die Legionen bis in die neu gegründeten römischen Städte am Rhein. Dort ließen sie sich als Händler und Handwerker nieder. Kaiser Konstantin der Große war es, der im Jahr 321 in einem Brief an den Stadtrat der Colonia Claudia Ara Agrippinensium – jenem Gemeinwesen, aus dem später die Stadt Köln wurde – erklärte, dass es ab sofort »durch allgemeines Gesetz gestattet« sei, Juden in die kommunalen Verwaltungen aufzunehmen. Historiker haben daraus geschlossen, dass es in der Colonia bereits eine größere jüdische Gemeinde gegeben haben muss. Wenn man dieser nachvollziehbaren Annahme folgt, so wäre dies vor 1700Jahren der urkundlich verbriefte Beginn jüdischen Lebens in jenem Gebiet, das heute Deutschland heißt.

Anderthalb Jahrhunderte später ging das Weströmische Reich unter. Längst hatten sich entlang des Rheins in den großen Verwaltungszentren jüdische Gemeinden gebildet. Deren Mitglieder waren die Nachfahren jener, die ursprünglich aus so unterschiedlichen Gegenden wie Judäa, Idumäa, Galiläa und Peräa jenseits des Mittelmeeres stammten. Was sie in der Ferne einte, war das Bemühen, ein Leben nach den Gesetzen der Tora zu führen, den fünf Büchern Mose in der jüdischen Bibel. Wie aber sollte ein solch bibeltreues Leben aussehen? Darüber gab es in jener Zeit teils heftige Diskussionen unter den Rabbinern. Seit dem 2. Jahrhundert entstand in Babylon und in den wenigen verbliebenen Gemeinden in Palästina eines der bedeutendsten Schriftwerke des Judentums – der Talmud. Dieser besteht aus zwei Teilen: der Mischna und der Gemara. Als Mischna gilt die erste Niederschrift jenes Teils der Tora, den Gott nach jüdischer Überlieferung Moses gegenüber mündlich am Berg Sinai offenbart haben soll. Die rabbinischen Diskussionen darüber wurden dokumentiert. Diese bestehen aus Analysen und sich teils widersprechenden Kommentaren, die über juristische Fragestellungen hinaus Gebiete wie Medizin, Naturwissenschaften, Geschichte, Pädagogik und Sexualität berühren. Diese bilden den zweiten Teil des Talmuds und der wird eben Gemara genannt. Nach und nach kamen die Niederschriften ins aschkenasische Gebiet, also den »teutschen« Landen, was in der Folge auch hier zu sehr tiefen philosophischen Diskursen unter jüdischen Gelehrten geführt hat. Diese wurden in die Synagogen und die angeschlossenen Schulen getragen, was ein intellektuelles Klima in den jüdischen Gemeinden förderte.

Der erste Jude, der es in die deutschen Geschichtsbücher geschafft hat, hieß Isaak, war ein Aachener Kaufmann, seiner vielseitigen Sprachkenntnisse wegen aber auch von König Karl an dessen Hofe mit Dolmetscheraufgaben beauftragt. Ende des 8. Jahrhunderts war König Karl, sicher schon im Hinblick auf die angestrebte Kaiserkrone, darum bemüht, die politischen Beziehungen nach verschiedenen Seiten hin zu vertiefen. Dazu gehörten die zum Kalifen Hārūn ar-Raschīd in Bagdad. Karl hielt Isaak für den richtigen Mann, um diesen als Gesandter zu besuchen und ihm Geschenke zu übergeben. In königlichem Auftrag machte sich Isaak auf die Reise und kam nach mehr als zwei Jahren am 20.Juli 802 wieder nach Aachen zurück. Fast die gesamte Schar seiner Begleiter hatte den Trip in den Orient nicht überlebt. Er aber freute sich des Lebens und übergab seinem König, der inzwischen von Papst Leo III. zum Kaiser gekrönt worden war, als Geschenk des Kalifen einen (angeblich) weißen Elefanten namens Abul Abbas. Mehr aber wissen die Geschichtsbücher nicht über den Juden Isaak. Dennoch gilt er als ein früher Repräsentant jener Eigenschaften, die vielen der weit gereisten Juden eigen waren. Dafür stand nicht nur ihre Vielsprachigkeit, was in einem zunehmend globalen Handel allein schon ein erheblicher Vorteil war, sondern auch die traditionellen Verbindungen nach Rom, Byzanz, Marseille oder anderswohin, wo sie vor Ort wiederum in den jüdischen Gemeinden vertraute Glaubensbrüder vorfanden. So verfügten sie über ein internationales Netzwerk, das sich Fürstenhöfe zunutze machten, ebenso wie Grafen, Ritter und zunehmend auch das neu entstehende städtische Bürgertum.

Der zweite Jude, der sich einen Platz in den Geschichtsbüchern sicherte, hieß Kalonymus. Von ihm weiß die Nachwelt etwas mehr als von Isaak. Am 13.Juli 982 rettete er Kaiser Otto II. bei dessen Flucht vor den Sarazenen im kalabrischen Cotrone durch einen körperlich wagemutigen Einsatz das Leben. Der Kaiser revanchierte sich, indem er seinem jüdischen Retter nach der Rückkehr in Mainz ein Haus schenkte und ihm die vollen Bürgerrechte verlieh. Dies war der Beginn des Aufstiegs der Kalonymiden zu einer einflussreichen Familiendynastie, die über eine lange Zeit nicht nur Kaufleute, sondern auch Gelehrte und Männer von politischer Bedeutung hervorbrachte.

Bald zählten die jüdischen Gemeinden in Köln, Mainz, Speyer und Worms mehr als tausend Mitglieder, die Juden waren geschätzte Bürger der jeweiligen Kommunen oder zumindest als solche akzeptiert. Bis auf die Beschaffung von koscheren Lebensmitteln, was die Existenz von schächtenden Metzgern und rituell produzierenden Brotbäckern voraussetzte, ging man zu denselben Handwerkern und besuchte dieselben Schankwirtschaften wie die christlichen Nachbarn. Man wohnte Wand an Wand, denn noch gab es keine Ghettos. Trotz aller religiösen und ethnischen Unterschiede (Assimilation hatte bis dahin noch nicht stattgefunden) lebte man friedlich miteinander, bis es Ostern 1096 zu einer folgenreichen Katastrophe kam. Fünf Monate zuvor hatte Papst Urban II. ins französische Clairmont (dem heutigen Clermont-Ferrand) zur Synode gerufen. Der französischstämmige Oberhirte war ein machtgieriger Mensch, weshalb er nicht nur den Gegenpapst Clemens III., sondern auch weltliche Konkurrenten mit dem Kirchenbann belegt hatte. Nun holte er zu einem vermeintlich ganz großen Schlag aus, der ihm seine Macht auch im Jenseits sichern sollte. Am zehnten Tag der Synode ließ er seinen Thron vor die Tore der Stadt tragen, wo er einer Menge von 13 Erzbischöfen, 315 Bischöfen, zahlreichen Äbten und einer großen Menge von Adligen und einfachen Leuten zurief, dass er, »der höchste Priester dieser Erde«, dazu berufen sei, das Heilige Land von den Muslimen zu befreien. Das Auditorium wurde aufgerufen, das eigene Hab und Gut zu veräußern, vom Erlös Waffen zu kaufen und gen Jerusalem zu ziehen. An jenen Ort, wo Christen bis dahin ebenso friedlich mit den Muslimen zusammenlebten wie an Rhein und Donau mit den Juden. Dem Papst aber ging es um die Ausweitung seines Machtbereichs, nicht um gegenseitige religiöse Toleranz. Um seine Söldnertruppen bei Laune zu halten, stellte er ihnen in Aussicht: »Ich gelobe euch, wer auf dem Weg dorthin sein Leben lässt, dem werden alle Sünden vergeben sein.« Vor allem die einfachen Leute gerieten in Verzückung und schlossen sich den beiden vom Papst ausgewählten Führern an: einem mittellosen Ritter und einem Mönch von geradezu demagogisch-charismatischer Überzeugungskraft. Bald formierten sich 20000 Menschen zu einem Kreuzzug, dem sich auf ihrem Weg weitere Kämpfer anschließen sollten. Keinem war die geografische Dimension dieser Reise klar – hinüber nach Deutschland, entlang der Donau über den Balkan und den Bosporus bis nach Palästina. Knapp fünf Monate später hatten sie gerade einmal 400 Kilometer geschafft. Tag für Tag war man durch karge Landschaften mit armer bäuerlicher Bevölkerung gezogen, dann kam das bereits desolate Heer mit durchgelaufenen Schuhen und lahmenden Eseln in die reichen Städte am Rhein. Dort gab es volle Lebensmittellager und wohlgenährte Bewohner. Und die Söldner erfuhren zu ihrem Erstaunen, dass in einigen der schönsten Häuser Juden lebten, jenes Volk also, das einst »den Herrn gekreuzigt« habe. Obgleich auch zu Ostern 1096 in den Kirchen die wundersame Auferstehung des zuvor Gekreuzigten gefeiert wurde, begann ein brutaler Raubzug an den vermeintlichen Heilandsmördern. Nachdem die verängstigten Juden all ihren Besitz herausgegeben hatten, wurden die ersten antijüdischen Pogrome auf deutschem Boden verübt, denn die fanatischen Geistlichen hatten nun die Parole ausgegeben: »Wer einen Juden erschlägt, dem werden die Sünden vergeben!« Einigen Juden gelang die Flucht, nun aber waren sie mittellos und für kaum jemanden von Nutzen. In Mainz konnte der berühmte Gelehrte Kalonymos ben Meschullam, ein Nachfahre jenes Kalonymos, der einst Kaiser Otto II. das Leben gerettet hatte, gemeinsam mit seiner Familie und einigen Freunden dem Massaker entkommen. Der Mainzer Erzbischof Ruthard hatte ihnen, gegen »angemessene« Bezahlung, ein Schiff überlassen. In Rüdesheim wurde der kleinen Gruppe jüdischer Flüchtlinge eröffnet, dass man von ihnen erwarte, sich aus Dank für die Rettung taufen zu lassen. Enttäuscht und verzweifelt ertränkten sie sich im Rhein. Die Kreuzzügler hingegen bekamen immer mehr Zulauf. Man lief gen Jerusalem und auf dem Weg dorthin zog sich eine Blutspur durch die jüdischen Gemeinden von Köln über Xanten nach Regensburg und Prag …

Kaiser Heinrich IV., der sich zu politischen Verhandlungen in Rom aufhielt, erfuhr davon, was sich zu Hause im Zeichen des Kreuzes abspielte, und war entsetzt. Umgehend erließ er ein Dekret, wonach alle zwangsgetauften Juden zu ihrer Religion zurückkehren konnten. Gegen Erzbischof Ruthard leitete er ein Verfahren ein, dem sich der Mainzer Oberhirte durch Flucht entzog. Schließlich ließ der Kaiser den »Reichslandfrieden« verkünden, womit er alle Juden des Reiches unter seinen persönlichen Schutz stellte, was in letzter Konsequenz zu den ersten antisemitischen Klischees führen sollte. Fortan nämlich durften die Juden keine Waffen mehr tragen, denn schließlich standen sie ja unter dem Schutz der kaiserlichen Truppen. Bis zu den Freiheitskriegen 700 Jahre später wird diese erzwungene Wehruntüchtigkeit andauern und das öffentliche Bild des feigen Juden befeuern. Unter dem kaiserlichen Schutz aber konnten die verbliebenen Juden neu beginnen, sich ein Leben in den Städten aufzubauen. Auch das religiöse Leben erblühte wieder. Mehrfach noch gab es bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts Bedrohungen durch weitere Kreuzfahrer, die Juden aber konnten sich nun in die Königspfalzen und die Burgen der Ritter retten. Gefahren gingen allerdings nicht nur von fremden Kreuzrittern aus. Ende des 12. Jahrhunderts schwappte aus England die Ritualmordlegende auf den Kontinent und fand auch in deutschen Landen rasch Verbreitung. Demzufolge wurde in christlichen Gemeinden der Aberglaube verkündet, dass die Juden an den Pessachfeiern für magische Rituale das Blut christlicher Kinder benötigten. Kaiser Friedrich II. ließ einen solchen »Fall« untersuchen. Als er erfuhr, dass der Genuss von Blut im Judentum verboten ist, sprach er die Juden von diesem Vorwurf frei und stellte sie als sogenannte »Kammerknechte« unter seinen persönlichen Schutz. Auf der Straße hingegen waren sie jederzeit zu erkennen, nachdem Papst Innozenz III. schon auf dem Laterankonzil von 1215 verkündet hatte, dass sich Juden in ihrer Kleidung fortan deutlich von Christen abzuheben hätten. Sie trugen nun den sogenannten Judenhut, eine gelbe, konisch zulaufende breitkrempige Kopfbedeckung, dazu bestimmte lokal unterschiedliche Kleidungsstücke. Vielerorts vorgeschrieben war ein gelber Stoffflecken, später ein gelber Ring auf der Kleidung, worauf im 20. Jahrhundert die Nationalsozialisten zurückkamen und ab September 1941 das Tragen des »Judensterns« anordneten.

Der Antijudaismus des Mittelalters erklärte die Juden für schuldig für nahezu alles, was an Schicksalsschlägen auf die Gesellschaft zukam. So ist es nicht verwunderlich, dass sie auch verantwortlich gemacht wurden, als im Sommer 1348 der »Schwarze Tod« an den Rhein kam. Erst mehr als 500Jahre später werden Mediziner herausfinden, dass die Pest von Flöhen übertragen wurde und nicht von jüdischen »Brunnenvergiftern«, wie das einst von den Kanzeln gepredigt worden war. Nun tranken die Juden angeblich kein Kinderblut mehr, sondern vergifteten das Trinkwasser. Manch einem gebildeten christlichen Theologen mögen Zweifel beschlichen haben angesichts der Tatsache, dass die jüdischen Familien selbst ja auch vom Pesttod betroffen gewesen sind. Öffentlich geäußert aber wurden diese Zweifel von kirchlicher Seite nur in Ausnahmefällen. So verfing solcher Aberglaube bei den einfachen Schichten der Bevölkerung. Wer den Herrn ans Kreuz genagelt habe, dem seien auch Giftmorde zuzutrauen, lautete die Logik jener Tage. Unterstützung erfuhren die Juden zeitweilig von Ratsherren in Thüringen, Köln oder Worms, die sich den aufgestachelten Massen entgegenstellten. Es war ein lobenswerter, gleichwohl aber erfolgloser Versuch, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Am Ende mussten die Ratsherren überall die Segel streichen oder wurden gar, wie in Worms, erschlagen. In ihrer Verzweiflung steckten nun vielerorts die Juden selbst ihre Häuser an. In Mainz, der mit 6000 Mitgliedern größten Gemeinde in Deutschland, leistete die jüdische Bevölkerung noch eine ganze Weile bewaffneten Widerstand, ehe auch sie vor der zahlenmäßig überlegenen Meute kapitulieren musste und ebenfalls in den eigenen Häusern Brände legte.

Immer neue Thesen von antijüdischem Aberglauben vergifteten das Zusammenleben. So wurde zunächst in Frankreich der Vorwurf des Hostienfrevels verbreitet, ehe er schon bald auch in Deutschland auftauchte. Diesmal gab es durchaus Priester, die dagegen predigten und sich dabei auf Papst Innozenz III. (der die Judenkleidung verordnet hatte) beriefen, welcher schon hundert Jahre zuvor davor gewarnt hatte, derlei Gerüchte leichtfertig zu verbreiten. Jedoch ließ sich der Aberglaube nicht ausrotten. Am 30. September 1337 führte der vermeintliche Hostienfrevel in Deggendorf an der Donau zu einem mörderischen Pogrom. Danach auch im brandenburgischen Beelitz, im württembergischen Ehingen, im fränkischen Röttingen, in Würzburg, Nürnberg, Rothenburg ob der Tauber … Nach dem Ende der Pest-Epidemie waren mehr als 200 jüdische Gemeinden ausgelöscht, ihre Mitglieder erschlagen oder verjagt, deren Synagogen und Friedhöfe zerstört.

Im Laufe des 14. Jahrhunderts nahmen deutsche Städte nach und nach wieder Juden auf; zuletzt Köln und Mainz im Jahr 1372. Doch sie mussten nun in geschlossenen Siedlungen leben – die ersten Ghettos entstanden. Auf die Kleiderordnung für die Juden wurde streng geachtet, und da nun die Zünfte der Handwerker keine Juden mehr in ihren Reihen akzeptierten, war ihre Existenz bedroht. Jüdischen Meistern war es fortan verwehrt, Lehrlinge auszubilden, woraufhin in der Folge viele ihrer Betriebe an Nachwuchsmangel eingingen. Die Kaufmanns-Gilden folgten dem Beispiel der Zünfte und schließlich durften Juden auch keinen Grund und Boden mehr erwerben. Dies war das (vorläufige) Ende der jüdischen Bauern und Winzer. Somit blieben den Juden in ihrem Überlebenskampf nur Tätigkeiten außerhalb der streng gegliederten Gesellschaftsordnung: je nach sozialer Stellung als Hausierer oder Geldverleiher.

Schon seit der Jahrtausendwende, mit dem Beginn der mittelhochdeutschen Periode, hat sich im deutschen Sprachgebiet eine eigene Mundart entwickelt, in der sich die Juden untereinander verständigten und die Jiddisch genannt wurde. Man hat für die mittelhochdeutsche Umgangssprache das hebräische Alphabet angepasst und aus der Sprache der Tora eine Reihe von Begriffen eingefügt, in geringerem Maße auch aus dem Aramäischen. Im Laufe der Verfolgungen während der Pestzeit hatte eine große Fluchtbewegung in Richtung Osten eingesetzt, speziell ins Königreich Polen und ins Großfürstentum Litauen. Die Entwicklung dieser Sprache sollte sich unter den Aschkenasim, also den »deutschen« Juden, wie sie sich auch weiterhin nannten, als großer Vorteil erweisen. Im Jiddischen konnten sich die jüdischen Zuwanderer untereinander verständigen, ohne die dort vorherrschenden Landessprachen erlernen zu müssen. Im jungen Polen fanden jene, die seit Jahrhunderten an Rhein und Donau, am Main und an der Elbe sesshaft waren, ein neues Siedlungsgebiet und mit dem polnischen König Kasimir (der zeitweilig selbst mit einer Jüdin verheiratet war) einen Herrscher, der ihnen die gesellschaftliche Gleichstellung verschaffte. Es entstand eine reiche jiddische Kultur – nach und nach auch in den anderen neu entstehenden Ländern in Osteuropa. Ein halbes Jahrtausend später, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, zogen viele der sogenannten Ostjuden wieder nach Deutschland zurück und vielfach von dort weiter in die USA oder nach Palästina. Die prominentesten unter ihnen sind Chaim Weizmann und Shimon Peres aus Weißrussland, Leo Baeck und Rosa Luxemburg aus Polen, Joseph Roth aus Galizien, Golda Meir und Elisabeth Bergner aus der Ukraine …

Das Zeitalter der Renaissance mag mit dem Begriff des Humanismus in Verbindung gebracht und als Beginn der Neuzeit apostrophiert werden – für die Juden aber herrschte in ganz Europa noch finsteres Mittelalter. Kaiser Maximilian I. hatte im August 1509 eine Verfügung erlassen, die die Vernichtung jeglichen jüdischen Schrifttums zum Ziel hatte. Mit der Durchführung wurde ein Mann namens Johannes Pfefferkorn aus Köln beauftragt. Der hatte einige Jahre zuvor noch Joseph geheißen und in Prag gewohnt. Damals ist er noch Jude gewesen und war von seinem Onkel Meir in den Lehren des Talmuds unterwiesen worden. Inzwischen aber war er unter den Einfluss der Dominikaner geraten, hatte sich taufen lassen und war nun davon überzeugt, dass die jüdische Religion die Verwirklichung eines messianischen Gottesreiches verhindere. Dem gelte es entgegenzutreten. Bald schon fanden an den ersten Universitäten öffentliche Talmud-Verbrennungen statt. Unter Anleitung der Dominikaner verfasste Pfefferkorn Schriften wie den »Judenfeind«, in dem er die Ansicht vertrat, jüdische Kinder müssten getauft und deren Eltern zur Zwangsarbeit herangezogen werden. Solcherlei Propaganda blieb jedoch nicht unwidersprochen. Kein Geringerer als der Kurfürst zu Mainz erwirkte beim Kaiser, dass Gutachten von theologischen und philosophischen Autoritäten eingeholt wurden. Einer dieser Gutachter war Johannes Reuchlin und er war beides, Theologe und Philosoph. Er war des Hebräischen mächtig, hatte dies einst bei Jacob ben Jechiel Loans gelernt, dem Leibarzt von Kaiser Friedrich III. Reuchlin las also das jüdische Schrifttum im Original und setzte sich vehement für dessen Erhaltung ein und für Toleranz gegenüber den Juden. Das brachte ihm drei Prozesse wegen Ketzerei ein, zuletzt vor Papst Leo X. und dem V. Laterankonzil in Rom. Dort konnte der charismatische Reuchlin mit theologischen Argumenten überzeugen, wobei es sich als vorteilhaft erwies, dass auch der päpstliche Leibarzt jüdischen Glaubens war. Am Ende sah sich der Pontifex maximus gar dazu veranlasst, Werken in hebräischen Lettern eine Druckgenehmigung zu erteilen (und absurderweise kurz darauf die des Reuchlin zu verbieten). So kam die kurz zuvor von Johannes Gutenberg erfundene Buchdruckkunst erstmalig auch jüdischem Schrifttum zugute. Dieses erschien etwa zeitgleich wie die religiösen Schriften des Martin Luther. Viereinhalb Jahre nach dessen vermeintlichem Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg starb in Stuttgart Johannes Reuchlin. Nun ruhte die Hoffnung der Juden auf Luther, war er doch ein gebildeter Mann, der neben Latein auch Griechisch und Hebräisch sprach. Es konnte ihn ja wohl nicht gleichgültig lassen, dass die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft unter menschenunwürdigen Bedingungen leben musste. Zunächst schien solch eine Hoffnung berechtigt. In seinen frühen Schriften erkannte Luther die Juden als »vom Geblüte Christi« an, nannte sie »Vettern und Brüder unseres Herrn«. Darin aber lag die Erwartung, dass »viele von ihnen rechte Christen werden« mögen. Als sich solcherart Erwartungen nicht erfüllten, mutierte Martin Luther vom Freund der Juden zu deren erbittertem Feind. Er forderte gar, dass man »ihre Synagoga oder Schule mit Feuer anstecke, und was nicht brennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke sehe davon ewiglich …« Dieser Aufforderung kamen in dieser Radikalität landesweit erst 400 Jahre später SA-Verbände in der Reichspogromnacht nach – es war die Nacht zu Luthers 455. Geburtstag.

Die Regensburger Hebammenordnung von 1452 untersagte es christlichen Hebammen bei Androhung von Strafe, jüdischen Gebärenden beizustehen. Das war vielerorts allerdings gar nicht nötig, da es unter den Juden bereits eine hoch entwickelte Medizinwissenschaft gab, die teils auf uralten Traditionen beruhte. In vielen Städten des Reiches praktizierten jüdische Ärzte und – wie nicht nur im Fall von Sara in Würzburg – auch Ärztinnen. Die jüdischen Mediziner hingegen gingen ihrer Profession auch außerhalb der Ghettos in christlichen Haushalten nach. Jener Jacob ben Jechiel Loans, der Johannes Reuchlin einst das Hebräische lehrte und Leibarzt von Kaiser Friedrich III. war, wurde sogar zum Ritter geschlagen – als erster Jude in der Geschichte. Auch einer seiner Nachfahren, der Rabbiner Yoselmann Ben Gerschon Loans, schrieb sich, wenngleich unter anderem Namen, in die jüdische Historie ein. Man weiß so gut wie nichts über dessen Kindheit und Jugend, umso mehr aber über sein spätes Leben. Da war er zum einflussreichen Schtadlan avisiert, wie Fürsprecher jüdischer Gemeinden nicht nur in juristischen Fragen gegenüber der Außenwelt genannt wurden. Zunächst lebte Yoselmann Ben Gerschon Loans in Personalunion als Rabbiner, Händler und Geldverleiher im elsässischen Mittelbergheim. Im Jahr 1514 wurde er gemeinsam mit sieben anderen Juden angeklagt, Hostien geschändet zu haben. Es gelang ihm, diese Anschuldigung zu entkräften. Danach siedelte er ins schöne Rosheim an der Weinstraße um. Als Rechtsvertreter jüdischer Gemeinden machte er sich bald weit über das Elsass hinaus einen Namen, und der lautete fortan so, wie er heute in den Geschichtsbüchern steht: Josel von Rosheim. Im Oktober 1520 erwirkte er in Aachen anlässlich der Krönung Karls V. einen Schutzbrief für alle Juden des Reiches. Fünf Jahre später, als sich während des Bauernkrieges elsässische Rebellen anschickten, die Stadt Rosheim zu stürmen, verwickelte Josel den Bauernführer Erasmus Gerber in einen längeren Disput. Dabei überzeugte er ihn, die Stadt und die Juden zu verschonen. Bald galt Josel von Rosheim in weiten Teilen Europas als Anwalt der Judenschaft. Er war bereits ein prominenter jüdischer Advokat, als er auf dem Reichstag von 1530 in Augsburg seinen Takkanot verlas, wie innerhalb jüdischer Gemeinden eine rechtsverbindliche Bestimmung genannt wird. Nun tat er dies mit dem Ziel, die Geldgeschäfte der Juden mit Christen verbindlich zu regeln. Damit sollten auch eine ganze Reihe von antijüdischen Verordnungen verhindert werden, die immer wieder als Vorwand herhalten mussten, um den Juden Wucherzinsen und Geldbetrug vorzuwerfen. Im Jahr 1548 klagte er im Auftrag der jüdischen Gemeinde von Colmar vor dem Reichskammergericht. Dabei ging es um das Marktverbot, das die Stadt den Juden auferlegte und das nach Ansicht von Josel von Rosheim unzulässig war. Er führte dabei eine bemerkenswerte Argumentation ins Feld. Demnach seien die Juden »civibus romanis«, also römische Bürger, und insofern stehe ihnen, gleich den Christen, der freie Zugang zu allen Märkten im Reich zu. Als Josel von Rosheim im Alter von 74 Jahren starb, war ein ebenbürtiger Nachfolger nicht in Sicht. Einen solchen aber hätte es gebraucht, als die Frankfurter Zünfte sich anlässlich der Wahl von Kaiser Matthias in ihrer Stadt an diesen wandten. Die Handwerker der Mainmetropole wollten sich in jenem Mai 1612 der jüdischen Konkurrenten entledigen und bedrängten den frisch ernannten Monarchen, nur eine limitierte Zahl an Juden in ihrer Stadt zuzulassen. Den Großhandel solle er ihnen generell verbieten und bei der Kreditvergabe deren Gewinnspanne drücken. Der Kaiser aber war keineswegs davon zu überzeugen, dass sich eine weitere Benachteiligung der Juden zum Vorteil der Zünfte auswirken würde und der Frankfurter Stadtrat schloss sich seiner Meinung an. Zwei Jahre gingen ins Land, dann beschlossen die Frankfurter Zünfte, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Unter Führung des Lebkuchenbäckers mit dem bildhaften Namen Fettmilch kam es am 22. August 1614 zu einem blutigen Pogrom im Frankfurter Ghetto. Anderthalb Jahre dauerten die Plünderungen und die Morde an jenen Juden, die sich schützend vor ihre Familien stellten. Dann gelang es den kaiserlichen Truppen, wieder Ruhe und Ordnung herzustellen. Der Lebkuchenbäcker wurde auf Befehl des Kaisers vor Gericht gestellt und schließlich hingerichtet. Die vertriebenen Juden zogen im Schutz der kaiserlichen Truppen nach Frankfurt zurück und die Stadt musste ihnen den Schaden ersetzen. Ferner garantierte der Kaiser den Frankfurter Juden auf ewige Zeiten freies Wohnrecht. Allerdings war dieses »freie Wohnrecht« auf das Ghetto beschränkt.

Ab 1600 siedelten sich in Hamburg sephardische Juden an, die aus Spanien und Portugal gekommen waren. Die meisten Sephardim, wie sich die spanischen Juden nannten, waren seit der Inquisition gemeinsam mit den Muslimen vor Ferdinand dem Katholischen, König von Aragon, und seiner Gemahlin Isabella von der Iberischen Halbinsel nach Nordafrika geflohen. Dort lebten sie über Jahrhunderte in einigen Ländern, hauptsächlich in Marokko, Tunesien und Ägypten. Bis heute findet man im nordafrikanischen Raum Sephardim, inzwischen vorwiegend in Israel. Jene sephardische Minderheit, die damals in Richtung Norden, also in die Niederlande und nach Deutschland gezogen sind, waren zunächst gar nicht als Juden zu erkennen. Um der Inquisition zu entgehen, hatten sie sich als Katholiken ausgegeben, hielten im Innern aber treu zu ihrem jüdischen Glauben. Diesen hatten und haben sie mit den Aschkenasim, den »deutschen« Juden, zwar gemeinsam, aber schon der synagogale Ritus war gänzlich anders. Außerdem sprachen sie nicht Jiddisch, sondern Ladino – das sogenannte Judenspanisch.

Im Herbst 1743 verabschiedete der arme Tora-Schreiber Mendel in Dessau seinen 14-jährigen Sohn Moses. Der wollte seinem Lehrer David Fränkel hinterherreisen, der in der preußischen Hauptstadt zum Oberrabbiner berufen worden war. 24Jahre später nennt sich Moses ben Mendel, übersetzt also Moses Sohn des Mendel, nun eingedeutscht Moses Mendelsohn. Unter diesem Namen brachte er mit »Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele« einen philosophischen Bestseller auf den deutschen Buchmarkt. Der frühe Aufklärer verstand es, die jüdische Religion mit dem Instrumentarium des Philosophen zu interpretieren. Und er tat dies nicht auf Jiddisch, sondern passend zum neuen Namen in der deutschen Sprache. Moses Mendelsohn verstand sich nicht als Jude in Deutschland, sondern als Deutscher jüdischen Glaubens. Mehr als 300Jahre später, im Jahre 1950, wird wieder eine Dachorganisation der jüdischen Gemeinden gegründet. Nach den schmerzvollen Erfahrungen der Shoah entscheiden sich deren Gründungsmitglieder, entgegen der Mendelsohn’schen Praxis, für die Bezeichnung »Zentralrat der Juden in Deutschland«.

Moses Mendelsohn blieb über seinen Tod 1786 hinaus Europas meistgedruckter jüdischer Autor. Er galt fortan als nachahmenswertes Beispiel dafür, dass es möglich war, als Jude trotz einer Atmosphäre von staatlichem und gesellschaftlich akzeptiertem Antisemitismus die intellektuelle Anerkennung der christlichen Aufklärer zu bekommen. Allerdings war es ihm zu seinen Lebzeiten nicht vergönnt, der jüdischen Gemeinschaft in Preußen die vollen Bürgerrechte zu verschaffen. Das war unter dem judenfeindlichen Monarchen Friedrich II. auch nicht zu erwarten. Das gelang erst 1812 dem Königsberger Seidenfabrikanten und aufgeklärten Autor David Friedländer. Natürlich war dies mit einem Bekenntnis der Juden zum preußischen Vaterland, zur deutschen Sprache und vor allem zum Militärdienst verbunden. Das preußische »Judenedikt« machte sie am 11. März zu preußischen Staatsbürgern, nachdem sie durch die Ständeordnung des Freiherrn vom Stein bereits 1808 zu gleichberechtigten Stadtbürgern geworden waren. In der französischen Nationalversammlung war bereits am 28. September 1791 beschlossen worden, den Juden die uneingeschränkten Staatsbürgerrechte zu gewähren. Die Revolutionstruppen setzten das nach und nach auch in allen besetzten Gebieten in Deutschland um. Die lang ersehnte Freiheit wurde den jüdischen Deutschen ausgerechnet von den Feinden ihrer Heimat gebracht. Ein Vorgang, der sich 1945 wiederholen wird.

Dem Antisemitismus hat die Gleichstellung der Juden keinen Abbruch getan. Zu tief waren die antijüdischen Ressentiments im Denken der Menschen verankert, und das seit vielen Jahrhunderten. Die Sorge um eine angebliche »Übermacht des Judentums« machte im 19.Jahrhundert die Runde. Im Jahr 1879 entstand in Deutschland die »Antisemiten-Liga«, in Kassel wurde 1886 die »Deutsche antisemitische Vereinigung« gegründet. Viele Juden, um gesellschaftliche Anerkennung bemüht, ließen sich taufen. Heinrich Heine etwa, auch Ludwig Börne und die Familie von Karl Marx, dessen Großvater noch Rabbiner war. Von Heine ist allerdings der Satz überliefert: »Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab.« Manch christlich sozialisierter Deutsche, der sich in den 1930er Jahren um Aufnahme in Hitlers SS bemühte und dafür einen »Ariernachweis« retrospektiv ab 1750 vorlegen musste, erlebte bei seiner Familienforschung ein blaues Wunder.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es einerseits eine Ausreisewelle deutscher Juden in die Vereinigten Staaten und nach Südamerika, andererseits eine Hinwendung der in Deutschland Verbliebenen zu kaisertreuen, nationalistischen Haltungen. Ein Teil von ihnen spielt auch in der Arbeiterbewegung eine Rolle, wie zuvor der SPD-Mitbegründer Ferdinand Lassalle oder die aus Polen stammende Rosa Luxemburg. Den Juden erschlossen sich neue Berufe: Apotheker, Juristen, Naturwissenschaftler – wie etwa Albert Einstein, der erste deutsch-jüdische Nobelpreisträger. Sie spielten eine Rolle im aufstrebenden Kulturbetrieb, in der Literatur, im Theater und auch im neuen Medium Film. Mit Hitlers Machtübernahme wurde das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden in Deutschland in kürzester Zeit um Jahrhunderte zurückgeworfen. Am Ende erwartete die ungeheuerliche Zahl von sechs Millionen ermordeter jüdischer Frauen, Männer und Kinder den bitteren Eintrag in die Geschichtsbücher. Auch jene seltener erwähnten Zehntausende, die gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. In nur zwölf Jahren und drei Monaten wurden in der Shoah mehr europäische Juden umgebracht als zuvor in den Pogromen von 1000Jahren zusammen.

Am 27.Januar 1945 befreite die Rote Armee die Überlebenden des KZ Auschwitz, am 15.April britische Truppen die des KZ Bergen-Belsen. Am 7. Mai unterzeichneten Generaloberst Jodl in Reims und am Tag danach General Keitel in Berlin für das Deutsche Reich die bedingungslose Kapitulation. Die NS-Herrschaft existierte nicht mehr. Etwa 15000 überlebende Juden waren zunächst mit anderen ehemaligen KZ-Häftlingen in sogenannten DP-Camps, Lager für »displaced persons«, untergebracht. Wer in Deutschland bleiben wollte, wurde den früheren Wohnorten zugewiesen. Für Palästina gab es zunächst noch eine Kontingentierung der britischen Behörden, die mit der Staatsgründung Israels im Mai 1948 aufgehoben wurde. Viele europäische Juden wanderten dorthin aus. Gleichzeitig kehrten in den nächsten Jahren einstmals emigrierte deutsche Juden in ihre Heimat zurück. Vielerorts wurden die jüdischen Gemeinden wiedergegründet, spielten in den ersten Jahren aber nur in den großen Städten – allen voran Frankfurt, Berlin und München – eine nennenswerte gesellschaftliche Rolle. Das vor der Shoah aktive jüdische Gemeindeleben in kleinen Städten und – vor allem im Süden Deutschlands – auch auf den Dörfern schien für immer verloren. Anfang der 1950er Jahre waren in der gesamten Bundesrepublik und in beiden Teilen Berlins gerade noch knapp 30000 Mitglieder organisiert. Inzwischen haben die Gemeinden des wiedervereinigten Deutschlands, nicht zuletzt durch die jüdische Zuwanderung aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, wieder mehr als dreimal so viele Mitglieder. Der aus Argentinien stammende Kantor Isidoro Abramowicz, der im April 2019 in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße sein Amt antrat, beschreibt die Situation, die er hier 74 Jahre nach der Shoah vorgefunden hat, so: »Heute sind wir Zeugen, wie neues jüdisches Leben entsteht, auch wenn es sicher noch Generationen dauern wird, bis es wieder die alte Blüte erreicht. Daran möchte ich mitwirken.« Das tun freilich auch jene Juden, die nicht in einer jüdischen Gemeinde registriert sind, gleichwohl aber die Feiertage begehen (oder auch nicht), sich aber eine jüdische Neshume, eine jüdische Seele, bewahrt haben. Eine verlässliche Zahl dieser unorganisierten Juden ist nicht bekannt. Nach allgemeiner Schätzung aber dürfte deren Zahl die der Gemeindemitglieder übersteigen.

Die zweite Generation

Wer in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland eine jüdische Kindheit erlebte, konnte, wenn es um die Kriegserinnerungen der Väter ging, mit den nichtjüdischen Kindern in der Regel mithalten. Auf den Schlachtfeldern hatten deutsche Soldaten unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit gemeinsam gekämpft, auch die Juden. Nicht im Generalstab, aber in den Schützengräben. Ein grotesker Anlass für eine gesellschaftliche Gleichstellung, wovon deren Kinder ohnehin nur für kurze Zeit profitierten. Nicht dass es in den 1920er Jahren keine antisemitischen Ausfälle und gelegentlich gar Übergriffe gegeben hätte, aber zumindest wenn das deutsche Soldatentum thematisiert wurde, konnte man über die Väter-Generation ähnliche Geschichten erzählen. Wurde aber auf den Gymnasien oder anderswo über die Schuld an der deutschen Niederlage debattiert, kam »der Jude« schnell wieder ins Gerede. Antisemitisch motivierte Attentate auf jüdischstämmige Politiker wie Walter Rathenau und Hugo Haase wurden von nationalistisch eingestellten Jugendlichen heimlich beklatscht. Noch aber stellten sie für ihre Generation in Deutschland eine Minderheit dar. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden viele Shoah-Überlebende von ihrer Kindheit in der Weimarer Republik berichten, dass es in dieser Zeit mit den Altersgenossen mehr Gemeinsames als Trennendes gab. Man schwärmte für dieselben Leinwandstars, tanzte in den gleichen Lokalen miteinander und feuerte in den Stadien die Spieler derselben Fußballvereine an. Das änderte sich mit dem Erstarken der Hitler-Bewegung und ab 1933 durch massive antisemitische Propaganda des NS-Staates. Die gleichgeschalteten Jugendorganisationen blieben den jüdischen Jungen und Mädchen verschlossen. Bald mussten sie die Schulen verlassen …

Auch nach dem Untergang des NS-Regimes blieb diese damals vollzogene Trennung, die schließlich zur Shoah geführt hatte, naturgemäß nicht folgenlos für die nächste Generation, die ihre jüdische Kindheit in einem der beiden deutschen Nachkriegsstaaten verlebte. Unterschied sie sich von ihren nichtjüdischen Altersgenossen doch grundlegend durch die dadurch bedingten ungleichen Familienbiografien. Nicht dass man das ständig und überall zum Thema gemacht hätte, aber es war präsent im Bewusstsein bei jenen, die nun wieder miteinander die Schulbank drückten, gemeinsam Sport trieben oder sich ineinander verliebten, selbst wenn man nicht darüber sprach. Die Integration jüdischer Kinder in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft hing nach dem Krieg vielfach auch davon ab, wo diese aufwuchsen. Gab es eine kinderreiche jüdische Gemeinde, in der man unter sich bleiben konnte? Oder lebte man wie Manfred Levy als einziges jüdisches Kind in der saarländischen Kreisstadt Homburg? Anschaulich wird dieser Unterschied, wenn man hört, wie sich der ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, und dessen Nachfolger Joseph Schuster an ihre jeweilige Kindheit erinnern. Beide sind nach ihrer Geburt in Israel als kleine Kinder mit den Eltern nach Deutschland gekommen. Dieter Graumann wuchs in Frankfurt am Main auf, in einer Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde, Joseph Schuster im fränkischen Würzburg, wo es nur wenige jüdische Kinder gab. Als Dieter Graumann eingeschult wurde, nahmen ihn die Eltern beiseite und teilten ihm flüsternd mit: »David, ab heute heißt du Dieter.« Die Shoah-Überlebenden wollten nicht, dass ihr Sohn schon an seinem Namen als Jude zu erkennen war. Joseph Schuster hingegen erinnert sich, dass er als Gast bei Kindergeburtstagen »beim Wurstschnappen anstatt Würstchen oft Tüten mit Erdnüssen bekommen« habe. Seine Jüdischkeit ist also nicht nur bekannt gewesen, sondern wurde in Bezug auf die koschere Ernährung sogar beachtet und respektiert. Die Geschichten der »zweiten Generation«, wie sich die Jahrgänge der 1950er bis frühen 1970er Jahre selbst nennen, sind bei vielen Gemeinsamkeiten eben auch sehr vielfältig.

Treffen an Rosh Hashana

Niemand, der an diesem Abend die Synagoge in der Berliner Pestalozzistraße besucht, glaubt ernsthaft, dass Gott die Erde vor 5780Jahren erschaffen hat. Zu überzeugend haben die Radiokarbonforscher nachweisen können, dass unser Planet definitiv älter ist. Selbst wenn man, was religiös geprägte Naturwissenschaftler gelegentlich tun, den Urknall als göttlichen Schöpfungstag definieren würde, so läge dieser fast 14Milliarden Jahre zurück. Trotzdem kommen an Rosh Hashana in der Regel mehr Gläubige in die Synagogen als an einem gewöhnlichen Schabbat. Das ist der Tradition geschuldet. Ähnlich den christlichen Kirchen, die zu Weihnachten in der Regel ja auch voller sind als im Rest des Jahres, obgleich auch hier so mancher Besucher nachvollziehbare Zweifel an der Jungfräulichkeit Marias hegen mag.

Rosh Hashana ist der erste der drei hohen Feiertage im Herbst, vor allem aber ist es das jüdische Neujahrsfest. Seit jeher begrüßen sich Juden an diesem Tag mit dem hebräischen Satz »Leshana tova tikatew wetichatem«, wenngleich daraus längst ein verschliffenes »Shana tova« geworden ist. In den alten jüdischen Familien in Preußen grüßte man gelegentlich noch auf Jiddisch mit »A git rosh!«, was ein »Gutes Jahr« bedeutet. In der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft ist daraus zu Silvester der Wunsch nach einem »Guten Rutsch!« geworden. Das ist in jener Zeit gewesen, als jüdische Nachbarn in deutschen Kommunen keine Seltenheit waren und die meisten Gojim, wie die Nichtjuden wertfrei auf Jiddisch genannt werden, sich noch richtig gut mit deren Feiertagen auskannten.

»Leshana tova tikatew wetichatem« heißt wörtlich übersetzt »Mögest du für ein gutes Jahr eingeschrieben und besiegelt werden«. Hinter diesem Wunsch steht die traditionelle Ansicht, dass Gott an diesem Tag die Sünden der Menschen, aber auch deren Wohltaten, etwas genauer unter die Lupe nimmt und in ein Buch einträgt. Zehn Tage haben gläubige Juden nun Zeit, in sich zu gehen und diese Zeitspanne zu einer Periode des aufrichtigen Bekenntnisses und der Reue werden zu lassen. Am letzten dieser Tage steht Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, an dem die Synagogen der Welt dann richtig voll sind. 25 Stunden lang soll nun gefastet und mit knurrendem Magen und vor Durst schmerzender Kehle ein kollektives Bekenntnis über die begangenen Sünden abgelegt werden. Das wird von den meisten Juden genauso ernsthaft betrieben oder auch nicht, wie es deren christliche Nachbarn mit dem Fasten zwischen Aschermittwoch und Ostern halten.

An den Feiertagen ist es ratsam, die Sitzordnung in der Synagoge peinlich genau einzuhalten. Während der üblichen Schabbat-Gottesdienste im Verlauf des Jahres setzen sich Freunde und Bekannte (vielerorts nach Geschlechtern getrennt) gern auch mal zusammen. Während andere beten, werden die aktuellen Neuigkeiten aus dem persönlichen Umfeld besprochen. Hingegen setzt man sich an den Feiertagen üblicherweise auf jenen Platz, der auf der Synagogenkarte ausgewiesen ist. Diese muss alljährlich gegen eine Gebühr bei der Gemeinde erneuert werden, wobei der Sitzplatz immer derselbe ist. Meist hat man da schon als Kind gesessen, weshalb man seine Sitznachbarn oft seit Jahrzehnten kennt, auch wenn viele von ihnen sich immer nur an den Feiertagen hier begegnen.

Marion Schubert, Sigrid Wolff und Dagmar Otschik-Alpern sind »Kinder« der Berliner Gemeinde und durchaus auch außerhalb der Feiertage mal in der Synagoge anzutreffen. Die drei jüdischen Damen liegen altersmäßig jeweils etwa sieben Jahre auseinander, ihre Plätze in der Synagoge hingegen ziemlich nah beieinander. Bedingt durch den Altersunterschied haben sie nur wenig Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes außerhalb der Synagoge. Sie verkehrten zwar alle im jüdischen Jugendzentrum um die Ecke vom Kurfürstendamm, aber eben nicht zur selben Zeit. Der Religionsunterricht im Jüdischen Gemeindehaus fand ebenfalls um sieben Jahren zeitversetzt statt und sie waren in unterschiedlichen Gruppen auf Machane, den jüdischen Feriencamps. Auch beruflich gingen sie sehr unterschiedliche Wege. Zu Rosh Hashana aber winken sie einander vertraut zu und grüßen wie in den letzten 50 Jahren mit einem freundlichen »Shana tova!«. Was die drei Damen gemeinsam haben, ist der Umstand, dass Teile ihrer Familien einst das geliebte Berlin verließen, um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, danach aber wieder zurückkehrten. Solche Lebensläufe sind in jüdischen Kreisen in Deutschland nicht außergewöhnlich. Ebenso wenig wie Großeltern und Eltern, welche die Vernichtungslager überlebten oder sich im Untergrund versteckt halten konnten. Das eben unterscheidet sie von ihren nichtjüdischen Arbeitskollegen und Freunden. Deren Familien hätten, wie manche gelegentlich betonen, »während des Krieges auch einiges durchgemacht«. Eine solche Geschichtsrelativierung aber kommt auf jüdischer Seite angesichts von Deportationszügen und industriellem Massenmord nicht gut an. Auf Betriebsfeiern und privaten Treffen zieht man es daher vor, über jene dunkle Zeit besser zu schweigen. Das war auch schon so, als Marion, Sigrid und Dagmar noch Kinder waren.

Marions Großmutter ist eine selbstbewusste Frau gewesen, mit Sinn für Mode und einer guten Nase fürs Geschäft. Sie hatte am Kurfürstendamm einen ziemlich exklusiven Hutladen, in welchem sie mit ihrer Tochter – Marions Mutter – auch dann noch Hüte verkaufte, als andere jüdische Läden längst boykottiert oder gar »arisiert« worden waren. Der Grund hierfür war, dass es den SA-Schlägertrupps schlichtweg nicht als jüdisches Geschäft aufgefallen war. Einerseits nämlich sah Marions Oma nicht so aus, wie sich Nazis vorstellten, dass Juden auszusehen haben. Zudem trug die Familie den Namen Leschnik, welcher nicht zwingend Angehörigen des mosaischen Glaubens zuzuordnen war. Das ist bei den Salomons, deren Sohn einmal der Gatte von Marions Mutter werden sollte, ganz anders gewesen. Deren Textilgeschäft in Spandau, einem westlichen Berliner Vorort, wurde hin und wieder zur Zielscheibe der SA und in der Reichspogromnacht geplündert.

Marions Großvater Leschnik ist ein gelernter Konditor gewesen. Während seine Frau am Ku’damm Hüte verkaufte, lieferte er selbst hergestellte Kuchen und Torten in exquisiter Qualität für alle möglichen Festivitäten an private Haushalte. Irgendwann aber erlaubten die neuen deutschen Machthaber ihnen beides nicht mehr, nicht das Liefern von Torten und nicht das Handeln mit Hüten. In der Silvesternacht 1938/39 verließ die kleine Familie ihre deutsche Heimat. Eine Odyssee begann, deren erste Station für die nächsten zehn Jahre Shanghai sein sollte. Dorthin konnte man damals ohne Visum gelangen. Manch einer, dem zionistische Visionen fremd waren, suchte eher Zuflucht in jener geschäftigen chinesischen Hafenstadt als in der Wüste Palästinas. Marions Mutter hatte ihren Freund, den jungen Salomon, in Berlin zurückgelassen, doch er folgte schon bald dem Ruf des Herzens. Er hatte seine Pläne, in die USA zu emigrieren, aufgegeben und traf schon im April 1939 auch in Shanghai ein. Salomon junior und die Tochter der einstigen Hutmacherin gaben sich das Jawort, kurz nach Kriegsende wird hier ihre Tochter Marion geboren.

Das Kaufhaus, das Dagmars Großeltern am Charlottenburger Nettelbeckplatz betrieben, war offenbar als jüdische Firma bekannt, denn es gehörte zu jenen Einzelhandelsunternehmen, die schon im April 1933 vom sogenannten Judenboykott betroffen waren. Auch hier war mit weißer Farbe auf die Schaufenster der Davidstern und die Parole »Kauft nicht bei Juden!« gepinselt worden. Kurz darauf schon wurde Dagmars Großvater von der Gestapo festgenommen. Fast zwei Jahre war er in Sachsenhausen, dem Konzentrationslager nördlich von Berlin, inhaftiert. Dann kam er überraschend unter der Auflage frei, mit seiner Frau und den beiden vier und sieben Jahre alten Söhnen binnen 48 Stunden das Land zu verlassen. Mitnehmen durften sie nur das, was sie tragen konnten. Das Kaufhaus am Nettelbeckplatz gehörte definitiv nicht dazu. In einer solch offensichtlichen Zwangslage war ein fairer Verkaufserlös natürlich nicht zu erzielen. Die NS-Machthaber sorgten sich im Sommer 1936 kurz vor der Olympiade noch darum, alles legal aussehen zu lassen. Als Dagmars Großeltern Mitte der 1950er Jahre zurückkehrten, hatte das zur Folge, dass sie vor Gericht keinen Groschen an Entschädigung zugesprochen bekamen.

Ihr Weg führte die Familie nach Palästina, wo die britische Besatzungsmacht nur ein begrenztes Kontingent an Juden einreisen ließ. Nachdem Dagmars Großeltern innerhalb von zwei Tagen die Heimat hatten verlassen müssen, sahen sie für sich kaum eine andere Wahl, als es zu probieren. Am Ende mit Erfolg.

Der Vater von Sigrid war noch ein halbwüchsiger Junge, als seine Familie zu Beginn des Krieges von den Nazis nach Polen zurückgeschickt wurde. Dorthin, woher die Eltern einst gekommen waren. Für den jüdischen Jungen war das eine große Enttäuschung. War er doch in Berlin zur Welt gekommen, in der Stadt, die für ihn Heimat war. Hier ist er zur Schule gegangen, kannte alle Fußballer von Hertha BSC, und in der Synagoge am Kreuzberger Fraenkelufer hatte er seine Bar Mitzwa gefeiert, jene Zeremonie, mit der der 13-Jährige als vollwertiges Mitglied ins Judentum aufgenommen worden war.

Vorerst hatte der erzwungene Umzug für seine Eltern zwar den Verlust einer beruflichen Existenz bedeutet, aber noch keine physische Bedrohung dargestellt. Das änderte sich zwei Jahre später, als Deportationszüge in Richtung Polen rollten, mit Menschen, die dort nie zuvor gelebt hatten.

Sigrids Großeltern fassen angesichts dieser bedrohlichen Situation einen Entschluss, der allen Eltern schwerfallen würde – sie schickten den Sohn weg, überließen ihn einem unbestimmten Schicksal. Ohne konkreten Plan verließ der junge Mann Polen in Richtung Osten. Außer der kleinen Schwester hat er später keinen aus seiner Familie jemals wiedergesehen. In Stalins Reich hat es ihn bis nach Usbekistan verschlagen, wo damals viele Juden lebten. Dort hat er eine polnische Frau geheiratet und bald wurde eine Tochter geboren. Nach dem Krieg ging diese kleine Familie nach Palästina und betrieb nach der israelischen Staatsgründung in der Nähe von Haifa einen Makolet, einen landestypischen Tante-Emma-Laden. In dieser Zeit wurde eine zweite Tochter geboren. Hier schien die Welt in Ordnung zu sein, sah man davon ab, dass das kleine Israel von nicht sehr freundlich gesinnten Nachbarn umringt war. Sigrids Vater aber hatte ein ganz anderes Problem. Er fühlte sich noch immer als Berliner, hatte Heimweh und brach schließlich die Zelte in Israel ab. Mit seiner Familie zog er in den Westen der nun geteilten ehemaligen deutschen Hauptstadt. Hier traf er seine Schwester wieder, die als Zwangsarbeiterin bei Siemens überlebt hatte. Seine beiden Töchter gingen dann in Berlin zur Schule und hätten ein perfektes Beispiel für gelungene Integration werden können, wenn deren Mutter nun nicht ihrerseits Heimweh entwickelt hätte – nach Israel. Da ihr Gatte ein solches nicht verspürte, beantragte sie die Scheidung und nahm die beiden Töchter mit. Sigrids Vater pachtete in Berlin eine Eckkneipe und heiratete erneut, diesmal eine Berlinerin, die ursprünglich nicht jüdisch war. Da man aber die Ehe unter der Chuppa, dem jüdischen Traubaldachin, mit rabbinischem Segen eingehen wollte, besuchte Sigrids Mutter einen Konvertierungskurs, den sogenannten Giur. Was als reiner Selbstzweck anmutete, führte offenbar zu einigem Erkenntnisgewinn oder zumindest zu positiven spirituellen Erfahrungen, denn sie besuchte fortan die Synagoge regelmäßig. Sehr viel öfter jedenfalls als ihr Mann. Den jüdischen Gastronomen zog es nur zu den hohen Feiertagen dorthin, weshalb er sich selbst als »Dreitage-Juden« bezeichnete. Und wenn er in die Synagoge ging, dann in die am Fraenkelufer, in der er Jahrzehnte zuvor im Kreis seiner Familie die Bar Mitzwa gefeiert hatte. Sigrids Mutter aber besuchte die Synagoge in der Charlottenburger Pestalozzistraße, wo Estrongo Nachama mit mächtigem Bariton die liturgischen Gesänge anstimmte. Jener griechische Sänger, der das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatte, war da schon weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. Die globale Cineasten-Community erlebte ihn gar in dem Hollywoodfilm »Cabaret«, in welchem er in einer Szene eine jüdische Hochzeitszeremonie leitet. Nicht zuletzt seinetwegen erwarb Sigrids Mutter Jahr für Jahr eine Synagogenkarte für jenen Platz, auf dem mittlerweile ihre Tochter das jüdische Neujahrsfest erwartet.

Noch immer hat Marion das dumpfe Dröhnen der Schüsse im Ohr, das sie als kleines Kind in Musrara hören musste. Heute ist dieser Stadtteil von Jerusalem ein hippes Künstlerquartier, damals war es ein Armenviertel an der jordanischen Grenze, in dem vor allem sephardische Juden aus den arabischen Ländern untergebracht waren. Es war gewiss nicht das gelobte Land, in denen sich Marions Eltern und Großeltern eine Zukunft erträumten. Aber als in China die Kommunisten an die Macht gekommen waren, musste die Familie abermals fliehen. Auf abenteuerlichen Pfaden waren sie mit einem Truppentransportschiff in die USA gelangt. Das nämlich war das erhoffte Ziel ihres Vaters gewesen. Hier lebten bereits dessen Eltern und seine zwei Brüder. Da er aber von den US-Behörden kein Visum bekam, wurden sie mit der Eisenbahn im verplombten Pullman-Wagen von San Francisco zur Ostküste transportiert. Vor dem Abteilfenster zog unerreichbar das Land ihrer Träume vorbei. In New York wurden sie tagelang auf Ellis Island in Abschiebehaft festgehalten, dann erfolgte offiziell die Ausweisung aus den Vereinigten Staaten. Von da an ging’s nach Israel, wo sie zunächst mit anderen Neuankömmlingen auf der Ladefläche eines Lkw zu einem Zeltlager gebracht wurden. Hier verbrachten sie die ersten Wochen, ehe ihnen in Musrara ein Zimmer in jenem letzten Haus vor dem Niemandsland zugeteilt wurde. Früher hatte hier mal eine arabische Familie gewohnt, nun waren auf dem Dach israelische Soldaten hinter Sandsäcken postiert. Das aber hielt Scharfschützen jenseits der Grenze nicht davon ab, gelegentlich jüdische Zivilisten unter Beschuss zu nehmen, was mit jenem dumpfen Dröhnen verbunden war, das Marion ein Leben lang im Ohr haben wird. Als Kind war sie in gebückter Haltung an den Hauswänden entlanggeschlichen oder hatte in Hauseingängen Deckung gesucht. Oftmals an der Hand ihrer Großmutter, die es sich nicht nehmen ließ, solche Gefahren in eleganter Garderobe mit Handschuhen und einem ihrer Modellhüte zu überstehen.

Mit sechs Jahren wurde Marion in Jerusalem eingeschult. In der Schule ist aus dem deutschen Namen Marion das hebräische Mirjam geworden. Noch heute kann sie die Texte der Gebete im Siddur, dem jüdischen Gebetbuch, in der Originalschrift lesen. Anderthalb Jahre später musste sich das schüchterne Mädchen Marion Salomon in eine Westberliner Grundschule einleben. Ihre Eltern waren im jüdischen Staat auf keinen grünen Zweig gekommen. Das junge Israel brauchte keine angelernte Hutmacherin und Konditoren gab es mehr als genug. Nachdem Marions Vater wegen eines Herzfehlers und sehr empfindlicher Haut die Arbeit beim Straßenbau in der prallen Sonne hatte aufgeben müssen, landeten beide Elternteile in einer Dampfwäscherei. Schließlich wurde der Vater Hausmeister an einer Schule und die Mutter trug als Putzhilfe zum Familieneinkommen bei. Sie fühlten sich in der orientalischen Umgebung mit dieser gänzlich anderen Sprache als Fremdkörper. Jerusalem war eben nicht Berlin und Musrara nicht der Kurfürstendamm. Nachdem auch der Großvater erklärt hatte, dass er nicht in Israel begraben sein wolle, versuchte Marions Vater abermals ein Einreisevisum für die Familie in die USA zu bekommen. Abermals ohne Erfolg. Wieder wurden sie von den US-Behörden irgendeinem Kontingent zugeordnet, das gerade ausgeschöpft war. Mit gemischten Gefühlen beschloss die Familie nun, nach Berlin zurückzukehren. Für Marion war es der Umzug in eine schaurige Ruinenstadt mit grauem Himmel und herbstlichem Nieselregen. Sie war die Einzige in der Familie, die sich nach Palmen, Olivenhainen und Sand zurücksehnte.

Dagmars Vater, der im Unabhängigkeitskrieg gemeinsam mit seinem Bruder in der neuen israelischen Armee gegen die arabischen Angreifer gekämpft hatte, war Schauspieler geworden. Er war am Nationaltheater Habima in Tel Aviv engagiert, wo er gemeinsam mit Shmuel Rodensky auf der Bühne stand. Viele Jahre später begegneten sich die beiden in der Berliner Synagoge Pestalozzistraße wieder. Zu dieser Zeit war Dagmars Vater nach jahrelanger Odyssee über die USA, England und Dänemark wieder in seiner Geburtsstadt gelandet, wohin auch der Rest der Familie zurückgekehrt war. Shmul Rodensky hatte es in diesen Jahren in der Rolle des Milchmanns Tevje im Musical »Anatevka« auch außerhalb Israels zu einigem Ruhm gebracht. Nun stand er in der Rolle eines Rabbiners für die deutsche Vorabendserie »Levin und Gutmann« in Berlin vor der Kamera. Die Synagoge Pestalozzistraße war einer der Drehorte. Überraschend traf er seinen alten Kollegen wieder, der hier als Schammes, als Synagogendiener, die Schlüsselgewalt innehatte. Gleichermaßen staunend wie gerührt beobachteten die junge Dagmar und ihre ältere Schwester, wie sich ihr Vater und der israelische Schauspielstar weinend in den Armen lagen.

Die Väter von Marion, Sigrid und Dagmar waren Juden, aber sie waren vor allem auch preußisch. Über die sprichwörtliche Disziplin, Pünktlichkeit und allerlei Prinzipien der Jeckes, wie die deutschen Juden in Israel genannt wurden, hat man sich zwischen Haifa und den Kibbuzim in der Wüste Negev oft lustig gemacht. Solche Eigenschaften waren nicht leicht mit der mediterranen Leichtigkeit zu vereinbaren, die südeuropäische Juden auszeichnete. Auch den sephardischen Juden, die Jahrhunderte zuvor nach der Flucht aus Spanien über die arabischen Gegenden nach Palästina zurückgekommen waren, ist ein gewisses Laisser-faire nie fremd gewesen. Im Berliner Alltagsleben hingegen fielen die preußischen Juden nicht auf. So wie Dagmars Vater, der mit ihrer Mutter zunächst einige Restaurants betrieb. Nachdem die Ehe auseinandergegangen war, ist er alleinerziehender Vater gewesen, der den Lebensunterhalt für sich und zwei Töchter als Kellner verdiente. Der Vater von Sigrid war einerseits leutseliger Kneipier, andererseits strenger Vater, der – wie damals weit verbreitet – den Söhnen mehr Freiheiten ließ als der Tochter. Marion wiederum war behütetes Einzelkind und ein eher schüchternes Mädchen, die sich schon im jüdischen Jugendzentrum als Außenseiterin vorkam. Es hat ihr auch nie Spaß gemacht, mit Klassenkameradinnen die Berliner Diskotheken aufzusuchen. Andererseits ging sie manchmal mit, denn schließlich hatte sie das nachvollziehbare Bedürfnis, so zu sein wie alle anderen.

Alle diese jüdischen Väter erwarteten, dass ihre Töchter eines Tages jüdische Bräutigame nach Hause bringen würden. Für die schüchterne Marion war zu diesem Zweck speziell ein Abendkleid geschneidert worden. Damit saß dann der Teenager todunglücklich neben den Eltern auf den jüdischen Bällen, die an Feiertagen wie Purim und Chanukka in Berlin veranstaltet wurden. Sie fürchtete den Moment, in dem sie jemand zum Tanz auffordern würde. Mit 18Jahren dann wollte Marion, was viele in diesem Alter wollen: dazu beitragen, die Welt zu verbessern. Mit dieser Motivation fuhr sie nach Amsterdam zum Kongress der »World Union for Progressive Judaism«. Diese Organisation existierte zwar schon seit den zwanziger Jahren, nun aber gab es eine »Youth Section«, deren Ziel es war, einem jungen liberalen Judentum in Europa eine organisatorische Form zu geben. Es war die Zeit, in der das Reformjudentum weltweit einen Aufbruch entfaltete, in dem halachische Fragen, also die nach den Religionsgesetzen, liberal und zeitgemäß beantwortet wurden. Eine neue Sicht auf etwas hatte Marion auch im Jahr zuvor erlebt, als sie Verwandte in den USA besucht hatte. Sie erlebte, dass man die Zeit der Emigration auch weniger düster als in ihrem Elternhaus betrachten konnte, als eine Zeit des glücklichen Überlebens nämlich. Auf dem Kongress in Amsterdam wurde sie von einer euphorischen Stimmung erfasst, und in dieser verliebte sie sich in einen jungen Juden marokkanischer Herkunft, der in Paris wohnte. Als sie ihn in der französischen Hauptstadt besuchte, erlebte sie einen Menschen, der malte und literarische Texte verfasste. Vor allem bewegte er sich ganz selbstverständlich in der Welt der künstlerischen Boheme. Es war ein faszinierender Kosmos, für Marion aber, das wohlbehütete bürgerliche Mädchen, kaum mit der eigenen Herkunft kompatibel. Es war nicht leicht, ihm das klarzumachen. Kurz darauf erkrankte der geliebte Vater lebensgefährlich und war mit den widersprüchlichen Gefühlen der Tochter nicht zu belasten. Um ihre mentalen Probleme in den Griff zu bekommen, besuchte Marion einen Kurs für autogenes Training, der die Vermittlung von Techniken der Selbsthypnose zum Ziel hatte. Dort lernte sie einen juristischen Referendar kennen, der einige Jahre zuvor seinen Vater verloren hatte. Diesen jungen Mann brachte Marion eines Tages mit zu sich nach Hause und stellte ihn ihrem Vater als einen guten Freund vor, was er nach ihrem eigenen Selbstverständnis zu diesem Zeitpunkt auch war. Es wäre ihr schwergefallen, dem todkranken Vater zu erklären, dass sie sich an der Seite dieses nichtjüdischen Mannes eine Zukunft vorstellen konnte. Diesen Gedanken aber hatte sie damals auch vor sich selbst noch gar nicht zugelassen.