Ich bin Robin - Lena-Eowyn Dienelt - E-Book

Ich bin Robin E-Book

Lena-Eowyn Dienelt

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Beschreibung

Stell dir vor, du wachst eines Tages in deinem Bett auf und um dich herum ist alles, wie du es gewohnt bist - bis auf ein kleines Detail: Dein Körper fehlt. Wohin würdest du gehen und wen würdest du treffen? Fragen über Fragen, mit denen sich auch Robin, die Seele einer kürzlich verstorbenen Fotografin, auseinandersetzt. Wenn du möchtest, begleite sie auf ihrer Reise. Triff mit ihr alte Bekannte dieser Welt, wie die Traurigkeit oder die Wut, und erkunde Ideen, die für Robin völliges Neuland sind. Decke gemeinsam mit ihr Lösungen auf, finde Widersprüche und freue dich über die kleinen Augenblicke des Seelenalltags. Wenn du bereit bist, dann stell dir am Ende auch ihre wichtigste Frage mit ihr zusammen: Wenn du eine Seele wärst, würdest du gehen oder bleiben? Schließlich ist nichts so anstrengend, wie eine nicht getroffene Entscheidung ...

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Für Bu

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1: Ich bin Robin

Kapitel 2: Meet and Greet mit der Traurigkeit

Kapitel 3: Ich bin kein Körper, ich bin frei

Kapitel 4: Waffeln, Eis und ein Baby

Kapitel 5: Die Geister, die ich rief

Kapitel 6: Für immer und ewig?

Kapitel 7: Miri und die Schönheit

Kapitel 8: Du könntest stattdessen Frieden sehen

Kapitel 9: Sinnkrise

Kapitel 10: Eure Hoheit, die Amsel

Kapitel 11: Wie Knete

Kapitel 12: Kuchen und so

Kapitel 13: Die emotionale Komfortzone

Kapitel 14: Sieben Schlangen

Kapitel 15: Das Impuls-Spiel

Kapitel 16: Einklang

Kapitel 17: Weiße Kieselsteinchen

Kapitel 18: Endlich

Kapitel 19: Ich weiß nicht, wozu irgendetwas gut ist

Epilog

Vorwort

Liebe Leser,

hey von mir an euch! Dieses Buch vor euren Augen ist eines meiner Herzensprojekte. Es ist entstanden, nachdem ich meinen Job grundlegend verändert sowie meine Wohnung gekündigt habe und gemeinsam mit einem verrückten, uralten Chihuahua-Mischling in einen Bus gezogen bin, um durch die Welt zu reisen. Irgendwann, an einem einsamen Strand in Sardinien im Februar 2022, fing ich an zu schreiben. Das Ergebnis haltet ihr heute in euren Händen.

Wenn ihr euch entschließt weiterzulesen, könnte es sein, dass ihr im Laufe des Buchs Irritationen oder sogar inneren Widerstand in euch erlebt. Wenn das so ist, dann bitte: Haut rein und macht genau so weiter! Lest dieses Buch mit wachem Geiste, seid kritisch, deckt Widersprüche auf, diskutiert sie und findet Lösungsansätze, die zu euch und eurer Wahrheit passen. Das wäre mir zumindest die liebste Herangehensweise an diese Geschichte.

Ein kleiner Disclaimer darf an dieser Stelle nicht fehlen. Sämtliche Ähnlichkeiten von Figuren in dieser Geschichte zu realen Personen sind selbstverständlich rein zufällig.

Und nun: Viel Spaß mit dem Geschriebenen. Es war mir ein Fest, es zu verfassen.

Kapitel 1: Ich bin Robin

Die schwere Eichentür mit den bunten, eingelassenen Gläsern fiel geräuschvoll hinter mir ins Schloss, als ich aus dem Treppenhaus in den Wohnungsflur glitt und ich erntete, wie meistens, wenn so etwas geschah, irritierte Blicke. Wenn ich ein Geräusch verursachte, zu laut oder zu präsent war, wirkte das in der Regel erschreckend auf die Menschen um mich herum. Normalerweise gelang es mir gut, leise zu sein, doch manchmal vergaß ich es einfach. Hin und wieder war ich auch schlicht unachtsam, stieß an einen Blumentopf, der dann zu Boden fiel oder fegte aus Versehen Blätter von einem Tisch. Alles kein Problem, könnte man meinen, und für einen Menschen aus Fleisch und Blut wäre das auch zutreffend gewesen. Da ich mich von meiner körperlichen Hülle jedoch bereits einige Monate zuvor - es müssten etwa drei oder vier gewesen sein - getrennt hatte, waren die Reaktionen der anwesenden Personen auf meine kleinen Ausrutscher entsprechend angstvoll.

Es war nicht so, dass ich Leute gern erschreckte, aber die menschlichen Gewohnheiten loszulassen, die oft exakt dazu führten, war kein leichtes Unterfangen. Wie lange ich mir, nachdem ich meinen Körper verlassen hatte, noch abends die Zähne putzte oder mein Handy suchte, war absurd. Ich musste mich bei manchen Dingen ungemein konzentrieren, um die Automatismen des menschlichen Alltags zu unterlassen. Einmal wollte ich mir eine schöne, kalte Limonade aus dem Kühlschrank genehmigen und richtete eine riesige Sauerei an, weil die Aufnahme jeglicher Nahrung für mich so gut wie unmöglich ist. Das Loslösen aus dem Autopilotenmodus und den damit verbundenen, unbewusst ablaufenden Handlungen, die ich als Mensch Tag für Tag wiederholt hatte, war anstrengend, wenn auch spannend. Mir wurde überraschend langsam bewusst, in wie viele kleine, dünne und unsichtbare Fädchen ich in meinem Alltag versponnen gewesen war. Jedes einzelne dieser Fädchen musste ich nun in mühevoller Kleinstarbeit ablösen, hinter mir lassen, loslassen. Ja, Loslassen war mein großes Thema, seitdem ich dahingeschieden war.

Wie dem auch sei: Heute stand ich im Flur meiner Wohnung in einem schicken Altbauviertel einer mittelgroßen, mitteleuropäischen, mittelalten und mittelschönen Stadt und fühlte mich ziemlich verloren und allein.

Zu Lebzeiten war ich eine junge, aktive Frau gewesen, die ihre berufliche Bestimmung in der Fotografie gefunden hatte. Ich kannte mich aus mit Kameraeinstellungen und Bildbearbeitungsprogrammen, wusste, in welchen Winkeln ich Models ablichten musste, um ihre optischen Vorzüge zu unterstreichen, und wie ich ihnen Anweisungen gab, die sie gut umsetzen konnten.

Vom Sterben allerdings hatte ich keine Ahnung gehabt. Rückblickend betrachtet wahrscheinlich auch nicht vom Leben, doch diese Erkenntnis war noch recht frisch. Als Mensch hatte man mich Susan genannt. Ich hatte das Meer geliebt, viele Reisen unternommen und am liebsten Sushi gegessen. Ich war Realistin gewesen und hatte mich als Atheistin bezeichnet. Mit Spiritualität oder gar übermenschlichem Krimskrams außerhalb des wissenschaftlichen Spektrums hatte ich nie viel am Hut gehabt. Ganz im Gegenteil hatte ich die Heilsteinfanatiker und Esoteriktanten, wie ich sie damals unfreundlich getauft hatte, meist mit einem abwertenden Lächeln betrachtet. An Geister zu glauben, lag mir fern. Aber nun war ich wohl einer oder jedenfalls so etwas Ähnliches.

Konnte man etwas sein, an das man gar nicht wirklich glaubte? Als ich mir das erste Mal diese Frage stellte, erfüllte sie mich mit Angst und Selbstzweifeln. Dann entsann ich mich, wie oft Menschen etwas taten, wovon sie nicht überzeugt waren, woran sie offensichtlich selbst nicht glaubten. Beim sorgfältigeren Nachdenken darüber schien es mir regelrecht in Mode zu sein, das eigene Leben nach äußeren Richtlinien zu gestalten, ob man an diese glaubte und hinter ihnen stand oder nicht. Ich erinnerte mich an eine entfernte Bekannte, die mir nach einem Workshop zum Thema Sportfotografie in einem stillen Moment offenbart hatte, wie sehr sie ihren Beruf verabscheute.

Sie hatte damals gesagt: „Wenn ich das Geld nicht bräuchte, würde ich nie wieder eine Kamera anfassen. Ich würde mit Kindern arbeiten und Jugendprojekte aufziehen. Eine Umschulung könnte ich mir allerdings im Leben nicht leisten. Ich glaube, ich werde niemals richtig zufrieden sein, aber das ist Jammern auf hohem Niveau.“

Sie war Fotografin, obwohl sie keine sein wollte, und sie widmete ihr Leben dem Geldverdienen, obwohl sie nicht glaubte, dadurch glücklich zu werden.

Leider kannte ich viele Menschen, die taten, woran sie nicht glaubten und Rollen spielten, die sie nicht mochten. Also konnte auch ich wohl etwas sein, an das ich nicht glaubte. In meinem Fall eben eine Art Geist. Vielleicht traf es auch das Wort Seele besser, denn wie ein klassisches Gespenst aus Kindererzählungen und Gruselgeschichten erlebte ich mich eigentlich nicht. Vollkommen klar war mir demzufolge nicht, was ich war, aber ich wusste, als Susan hätte ich niemals daran geglaubt.

Nach dem Abdanken aus meinem atmenden Körper hatte ich beschlossen, mir einen neuen Namen zuzulegen. Ich hatte zwar Arme, Beine, Knochen und so manche Nervenzelle eingebüßt, mein Bewusstsein und mein Ich-Empfinden jedoch behalten. Mir schien es trotzdem unpassend, als ein Wesen ohne Susans lange Wimpern, ihre knubbeligen Knie und ihre wilde blonde Mähne noch den gleichen Namen zu tragen. Da mir auch jegliche geschlechtertypischen Merkmale fehlten, nannte ich mich Robin. Ich mochte den Namen, denn er passte sowohl für Mädchen wie auch für Jungs und außerdem mochte ich Rotkehlchen, deren englische Bezeichnung robin lautete.

Als Robin warf ich also die Tür meiner Altbauwohnung ins Schloss und die jetzige, lebendige Mieterin der Wohnung, die diese mit vielen Einkaufstüten bewaffnet unmittelbar vor mir betreten hatte, fuhr erschrocken zusammen.

Sie blickte sich irritiert um und rief nervös: „Ist da jemand?“

Ihre hellen blauen Augen zuckten dabei von links nach rechts und von oben nach unten. Wenn die Menschen den Lebenden so viel Aufmerksamkeit schenken würden, wie den Toten, was wäre diese Welt wohl für ein Ort?

Birte, so hieß die Einkaufstütenfrau, war eine 30-jährige Psychotherapeutin, die Spaghetti Bolognese und Musik der 70er-Jahre liebte, zu der sie ausgelassen tanzte, wenn niemand zusah. Ihr langes glattes hellbraunes Haar mit dem sanften Rotstich, das sie sonst meist zu einem praktischen Zopf geflochten hatte, der ihr bis fast auf die Hüften baumelte, schüttelte sie dann wild und genoss das Gefühl, wenn ihre lange Mähne durch die Luft flog. Sie hatte lebhafte Augen und Sommersprossen auf der Stupsnase, die sie manchmal zählte, wenn sie vor ihrem Spiegel im Badezimmer stand.

Außerdem lebte sie gemeinsam mit einer Dalmatiner-Mischlingsdame, die den einfallslosen Namen Dotty trug und mit der sie eine innige Freundschaft verband. Bei ihren vielen gemeinsamen Waldspaziergängen erzählte Birte der Hündin all ihre Probleme und neuen Erlebnisse, während Dotty geduldig an ihrer Seite lief, die zahllosen Gerüche der Natur genoss und ihrem Frauchen andächtig lauschte.

Neulich war mir aufgefallen, wie gut ich Birte bereits kannte, obwohl wir noch gar nicht so lange zusammenwohnten. Ich wusste vermutlich eingehender über sie Bescheid als über viele Freundinnen, die ich als Susan gekannt hatte.

Um Frauchen und Hündin nicht weiter aus der Fassung zu bringen, öffnete ich leise das Fenster der Gästetoilette und kreierte so einen Windhauch. Birte verstand sofort und nahm an, die Haustür sei durch den Luftzug zugefallen. Die dadurch eintretende Erleichterung in dieser nicht ganz freiwilligen Wohngemeinschaft wurde von Dotty geteilt.

Zu der Hündin hatte ich von Beginn an eine ausgesprochen besondere Beziehung. Sie war eine aufgeweckte, vorlaute Hundedame, deren Gedanken häufig ungetrübt und deutlich bei mir ankamen. Es war nicht so, dass wir telepathisch miteinander kommunizieren konnten, doch wenn ich mich darauf einließ, konnte ich ihrem fortwährenden inneren Hundemonolog lauschen. Sie hingegen nahm mich anscheinend wie einen absolut normalen Menschen wahr und hatte mich prompt in ihr Herz geschlossen. Ich sprach also nicht mit ihr, sie auch nicht mit mir, ich konnte allerdings zwischendurch ihre Gedankengänge verfolgen. Eine irgendwie übergriffige Situation, wie ich fand, aber diese neue Geisterfähigkeit von mir war nun einmal da.

Die Wohnung, in der wir gemeinsam lebten, hatte ich noch als Susan angemietet und liebevoll renoviert. Für zwei Jahre war sie mir ein gemütliches und wunderschönes Zuhause gewesen. Ich liebte das Echtholzparkett, die hohen Stuckdecken und die Flügeltüren mit den Milchglasfenstern. Wenn ich im Frühling in der Küche bei meinem morgendlichen Kaffee saß, fielen die ersten warmen Sonnenstrahlen direkt durch das schmale Fenster zum Hof auf den Küchentisch und ich konnte die Morgensonne bereits genießen, wenn es draußen noch knackig kalt war. Auch die große Badewanne, die ich mit Susans Körper regelmäßig benutzt hatte, war mir in wohliger Erinnerung geblieben.

Da ich kein Wärme- und Kälteempfinden mehr hatte und auch den Unterschied zwischen nass und trocken nicht wahrnahm, war Baden ziemlich sinnloser Quatsch für mich als Robin. Trotzdem erinnerte ich mich voll Wohlbehagen an das Gefühl, im Wasser zu liegen, von der Wärme getragen zu werden und dabei den herrlichen Duft von Bergamotte und Minze genussvoll zu erschnuppern. Das fehlte mir in der Tat beträchtlich. Außerdem vermisste ich den Geschmack von Zimt in meinem Morgenkaffee und von Kaffee generell. Wenn man nicht schmecken kann, wünscht man sich rasch nichts sehnlicher als einen Moment des achtsamen, geschmackvollen Genusses. Wenn ich heute noch mal richtig essen oder trinken könnte, ich würde mir zehn Minuten Zeit für einen Schluck Kaffee nehmen. Ich würde Schokolade nicht achtlos aufessen, ohne sie zu würdigen, sondern jedes Stückchen langsam vollständig in meinem Mund zergehen lassen, das herrliche Kakaoaroma schmecken und die Süße, die vorne auf der Zunge so herrlich wirkte. Das alles ging nicht mehr. Kein Zimt, kein Kaffee, keine Bergamotte, keine Schokolade.

Genau das löste das Gefühl des Verlorenseins aus, mit dem ich heute in die Wohnung kam. Mir war zuvor in der Stadt, die allmählich aus ihrem Winterschlaf erwachte und den Frühling willkommen hieß, wieder schmerzlich bewusst geworden, was mir alles nicht mehr möglich war. Wie bei vielen Menschen zog es mein Bewusstsein wie magnetisch auf die Dinge, die nicht gingen. Dabei blendete ich den Teil, der ging und funktionierte, fast lückenlos aus. Heute zog mich das runter. Es wirkte auf mich wie ein Strudel aus unangenehmen Gefühlen. Ich versuchte zwanghaft, mich abzulenken, an etwas Schönes zu denken und meinen Fokus zu verändern. Dies gelang mir nicht sonderlich gut, sodass ich noch erbarmungsloser in diesem scheinbar bodenlosen Gefühl versank.

Schon als ich noch ein schlagendes Herz in einem relativ sportlichen Körper gehabt hatte, und meine Gehirnzellen motiviert von A nach B gefunkt hatten, war es mir mit unschönen Gefühlen so ergangen. Je mehr ich sie wegschob, mich ablenkte und mich nicht mit ihnen auseinandersetzte, desto größer wurden sie. Ein bisschen, wie wenn man versuchte, nicht an einen gelben Elefanten mit rosa Punkten zu denken: Je fester man beschloss, es zu unterlassen, desto zahlloser wurden die bescheuerten gelben Elefanten, die durch das mentale Bild spazierten, obwohl man wahrscheinlich vorher noch nie an ein solches Tier gedacht hatte.

Ich blieb also vorerst in meinem gefühlten Abwärtsstrudel und breitete mich über der hellgrauen Couch im Wohnzimmer aus. Sich ausbreiten nannte ich es, wenn ich Raum ausfüllte, was eine der netteren Eigenschaften von mir als Geisterwesen war. Als Robin konnte ich mich, so ähnlich wie eine kleine Wolke, breitmachen und einen großflächigen Raum erfüllen oder mich zusammenziehen und nur ein wenig Luft einnehmen. Ich konnte mich auch unter die Decke hängen, einen Gegenstand umschließen oder mich wie ein nasses Handtuch über eine Stuhllehne legen. Meine Konsistenz war ein gelungenes Konstrukt. Am nächsten kam sie wahrscheinlich einem gasförmigen Zustand, obgleich es das nicht perfekt traf.

Ich erfüllte also in aller Ruhe den Raum über der Couch und fuhr Plan B mit meinem verlorenen Gefühlszustand: Ich begab mich mit all meinem Bewusstsein in eben dieses Gefühl hinein. Ich nahm es wahr, sein bodenloses, haltloses, verzweifeltes Ziehen, das ich als Susan in der Magengrube gefühlt hatte und als Robin in meiner gesamten Existenz spürte. Dann dehnte ich mich langsam aus, zog mich wieder zusammen und blieb eine Weile dabei, ohne jeden Versuch, die innere Regung zu verändern oder zu beeinflussen. Manchmal dauerte es kurze Zeit, aber in der Regel setzte bald eine Art genussvolle Wahrnehmung des ursprünglich unangenehmen Gefühlszustandes ein, der damit wesentlich angenehmer wurde. Ich fühlte mich augenblicklich nicht weiterhin im Zentrum des Gefühls gefangen, sondern wie jemand, der eine Szene beobachtete, und beschrieb, was da vor sich ging.

So verlor das Gefühl allmählich seinen Schrecken und ein glucksendes, friedvolles Kribbeln machte sich in mir breit.

Kapitel 2: Meet and Greet mit der Traurigkeit

Diese wesentlich tolerantere Form, eine Emotion wahrzunehmen, verdankte ich einer besonderen Begegnung, die ich vor einigen Wochen erleben durfte. Birte war zu dieser Zeit noch nicht lange meine Mitbewohnerin. Sie war gerade frisch von ihrem Partner getrennt, mit dem sie 12 Beziehungsjahre verbracht hatte.

Als sie einzog, steckte sie voller Tatendrang und Aktionismus. Sie rotierte in den ersten Tagen wie ein Brummkreisel durch meine Wohnung, putzte alle Fenster, schrubbte die Fliesen im Bad und strich die Wände neu. Zum Glück in der gleichen, cremeweißen Farbe, die ich damals noch ausgewählt hatte. Unser Geschmack ähnelte sich in vielerlei Hinsicht, was mir hin und wieder eine leise Freude bereitete und mich vor dem ein oder anderen inneren Konflikt bewahrte: Hätte mir die neue Wandfarbe nicht gefallen, hätte ich die Wände wieder umstreichen können. Dinge zu bewegen gelang mir mittlerweile spielend leicht, nur wie hätte das bitte auf meine neue Mitbewohnerin wirken sollen? Im besten Falle schräg …

Birte war also in dieser Zeit überaus motiviert, ihre neue Umgebung hübsch zu gestalten. Sie versuchte damit, ihre Traurigkeit und ihre Ängste im Zaum zu halten. Auch bei ihr funktionierte die Sache mit dem Wegschieben von Gefühlszuständen mehr schlecht als recht. Präziser gesagt, sie funktionierte überhaupt nicht.

Nach etwa einer Woche des Einlebens in der Wohnung klopfte es an einem Nachmittag zaghaft und leise an der Fronttür. Zumindest für mich, die ich das behutsame Klopfen bereits beim ersten Mal hörte.

Birte reagierte nicht und schnippelte unbehelligt munter Zucchini, Paprika und Auberginen für einen Gemüseauflauf. Es klopfte nochmals, diesmal lauter, wenn auch noch immer zögerlich. Keine Reaktion seitens der lebenden Köchin, aber Dotty begann zu bellen. Jetzt hämmerte es an der Tür und Dotty rastete förmlich aus. Birte legte den Kochlöffel beiseite und tappte verwundert durch die Wohnung. Sie kontrollierte die Fenster, die Schränke und Zimmer, um Dottys Irrsinn nachzuvollziehen. Natürlich fand sie nichts und so machte sie sich suchend auf den Weg zur Wohnungstür. Sie murmelte leise:

„Ob diese Klingel tatsächlich schon nach einer Woche ihren Geist aufgibt?“

Ich freute mich über diesen Ausdruck. Den Geist aufgeben, fand ich eine so charmant unzutreffende Redewendung. Sie brachte auf den Punkt, wie schlecht die Menschen verstanden, dass Dahinscheidende alles aufgeben konnten, aber manchmal eben nicht ihren Geist.

Ich konzentrierte mich wieder auf Birte, die soeben die Tür der Wohnung öffnete.

Sofort schlängelte sich eine alte, modisch gekleidete Dame mit riesigen blauen Augen hinter einer dicken Nickelbrille in die Wohnung. Ihr lässig um den Hals geschlungener Schal hing beinahe bis auf den Boden.

Sie brummte verärgert: „Na endlich, meine Güte. Wenn Leute sich ständig so wehren müssen, macht mich das einfach so was von wütend!“ Mit diesen Worten wandte sie sich Birte zu, legte den Kopf schief und überlegte kurz. Mit einer für ihr vermeintliches Alter viel zu raschen Bewegung zog sie dann plötzlich meiner Mitbewohnerin ihren Gehstock über den Schädel. Diese stand verdattert vor der Tür, blickte in den leeren Hausflur und brach beim Aufprall des Stocks auf ihre Schläfe in Tränen aus. Es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass sie die alte Dame nicht sehen konnte, ihre Berührung hingegen sehr wohl zu spüren schien. Birte hatte zwar keinen körperlichen Angriff durch den Stock der seltsamen Frau gefühlt, jedoch offensichtlich einen emotionalen Schlag, so viel verstand ich schnell.

Dotty freute sich trotzdem wie ein kleiner, gepunkteter Keks und hüpfte um die Dame mit ihrem langen Schal und dem schicken Kostüm herum. Sie schien keine Angst vor dem radikalen Auftritt der kleinen Frau zu haben und ebenfalls keinen Anlass zu sehen, ihr Frauchen vor ihr zu beschützen. Die schicke, kleine Person betrachtete warmherzig lächelnd den freudigen Hund. Dann hob sie leicht ihre kleine, mit vielen Juwelenringen bestückte Hand und der Hund beruhigte sich sofort. Schwanzwedelnd verschwand Dotty in ihrem Körbchen.

„Und nun zu dir“, raunte die Frau in Birtes Richtung und legte ihr sanft, aber bestimmt, eine Hand auf den Rücken zwischen die Schultern. Da sie ziemlich klein war, reckte sie sich dabei in die Höhe und musste sich auf ihre Zehenspitzen stellen.

Ich beobachtete gespannt, was geschah. Birte hatte nach der Attacke mit dem Gehstock weinend die Wohnungstür zugestoßen und sich schluchzend mit dem Rücken gegen diese gelehnt. Schließlich hatte sie sich etwas gefasster auf den Rückweg ins Wohnzimmer gemacht. Bei der erneuten Berührung der schicken Dame sank sie jedoch mitten in ihrer Bewegung kraftlos auf den Teppichläufer im Wohnungsflur zusammen und stille Tränen flossen erneut über ihre geröteten Wangen.

Die kleine Frau nahm sie behutsam in den Arm und murmelte leise Worte. Dann ließ sie kurz von meiner Mitbewohnerin ab und flüsterte ihr zu: „Dreh den Herd ab.“

Birte stand wieder auf, wanderte benommen in die Küche und tat, wie ihr geheißen wurde. Da stand die Dame, flink wie eine Wühlmaus, im Nu wieder hinter ihr, strich ihr zart über die Unterarme und löste damit einen erneuten Weinanfall bei Birte aus. Beide setzten sich auf den dicken dunkelgrauen Teppich auf dem Wohnzimmerboden und die kleine Frau hielt zart Birtes Hände. Diese schluchzte und schluchzte, bis sie fast keine Luft mehr bekam.

„So ist es gut, Mädchen“, grummelte die Alte. „Jetzt bekommen wir die Sache so langsam wieder hin.“

Von mir hatte bisher keiner Notiz genommen. Da ich mich leise verhielt und die alte Dame mir den Rücken zukehrte, wunderte mich das nicht.

Umso erstaunter war ich, als die Frau plötzlich in meine Richtung freundlich meinte: „Liebes, ich habe grade zu tun. Wir können uns gleich noch mal zusammensetzen. Du kannst ja schon mal einen Tee kochen.“

Ich fiel vor Schreck von meinem Platz über dem Küchenschrank und knallte auf den Tresen, wobei das Brett mit den Zucchinistückchen hinuntergestoßen wurde.

Birte heulte auf: „Das auch noch, war ja klar! Wenn’s läuft, dann richtig!“, und weinte entschlossen weiter.

Die kleine Dame mit den großen Augen lächelte mir zu und meinte: „Nicht schlimm, so gehört das und so ist es gesund. Wir bekommen das Mädel wieder hin. Lass das mit dem Teewasser, hätte sowieso einen zu hohen Gruselfaktor gehabt, wenn plötzlich der Wasserkocher losblubbert. Mach es dir bequem und schau zu.“

Ich breitete mich in einer Ecke über dem Esstisch aus und beobachtete, wie die Dame einen pechschwarzen Kreis vor Birte in die Luft zeichnete.

Birte weinte restlos verzweifelt, während die Alte ihr sanft den Rücken kraulte, über die langen Haare strich und beruhigende Worte flüsterte.

So saßen die beiden gemeinsam für Stunden auf dem Teppich. Birte schniefte und sprach lange mit sich selbst über ihre vergangene Beziehung: Die schönen Stunden, die sie mit ihrem Ex-Freund erlebt hatte, den wunderbaren Sex, die romantischen Sonnenuntergänge zu zweit und all die gemeinsam erlebten Eindrücke. Es war ein berührendes, weiches Bild voller Liebe und Zuwendung. Schließlich erschuf die kleine Oma ein sanftes Licht, ähnlich einer Kerze, mitten in dem schwarzen Kreis und Birte beruhigte sich langsam. Sie sank in sich zusammen, rollte sich ein und ließ die Augen zufallen. Dotty legte sich zu ihrer Besitzerin, leckte ihr sanft über die tränenfeuchten Wangen und beide schlummerten schließlich ein.

Ich konnte mich nicht zurückhalten und breitete die kuschelige Couchdecke über Birte aus, die ein Bild des Friedens abgab, wie sie dort lag. Leise schnarchend verarbeitete sie im Traum alles, was ihr soeben bewusst geworden war. Sie hatte die alte Frau nicht gesehen, ihre Gegenwart aber scheinbar in aller Eindringlichkeit gefühlt. Birtes Müdigkeit und Erschöpfung waren für mich daher nicht verwunderlich.

Ich hingegen sah die Frau und wandte mich neugierig an sie. „Was ist denn hier eben geschehen?“, fragte ich leise.

„Na ja, Birte ist eine alte Seele, die viel gesehen hat. In ihrem jetzigen Körper hat sie trotzdem noch nicht reibungslos Zugang zu all ihren Gefühlen. Sie hat in ihrer Kindheit von ihren Eltern öfter Sätze gehört wie: ‚Stell dich nicht so an‘ und ‚Reiß dich mal zusammen‘. Diese Sätze haben sie geprägt und sie werden besonders dann noch heute aktiv, wenn Birte eigentlich etwas verarbeiten möchte und zum Beispiel traurig ist. Sie verbietet es sich dann regelrecht, ihr Gefühl zu spüren und versucht, sich mit allen möglichen Handlungen davon abzulenken. Sie funktioniert dann wie ein Roboter. Spätestens in ihrem Studium hat sie eigentlich gelernt, Gefühle nicht wegzudrängen, sondern offen und achtsam mit ihnen umzugehen. Das vermittelt sie ihren Patienten auch nahezu in Perfektion, allerdings übt sie noch, es auch für sich selbst zu tun. Sie hat bereits viel für sich aufgearbeitet und mehr und mehr begonnen, diesen Umgang mit dem Fühlen nicht nur ihren Patienten zu erzählen, sondern auch für sich selbst anzuwenden. Jedoch fällt ihr die eigene Umsetzung vor allem im Bereich der Beziehungen in Kombination mit Trauer noch schwer.

Während ihrer Zeit an der Universität hat sie einen Mann kennengelernt und mit ihm eine Partnerschaft begonnen. Auch dabei haben ihre unterdrückten Gefühle gewirkt und die Beziehung erschwert. Ihr Freund hatte ebenfalls nicht gut gelernt, mit Gefühlen umzugehen, und so fehlte dieser Teil in ihrem Miteinander. Je länger das ging, umso unerträglicher wurde es, ungesunde Muster bohrten sich tief in die gemeinsame Zeit und letztlich sah Birte keinen anderen Weg, als die Trennung. Nun ist sie hier. Getrauert hat sie in all den Jahren selten. Nicht um ihre vor Jahren verstorbene Großmutter, nicht um die aufgegebenen Träume und auch nicht um die Anteile von ihr, die durch das harte Regiment ihrer Eltern ziemlich verletzt wurden. Es wurde also höchste Zeit, dass sie damit anfängt, wie du siehst.“

Als Susan wäre es mir wohl kalt den Rücken heruntergelaufen, denn ich begann zu verstehen, wen ich da vor mir hatte.

Ich nahm allen Mut zusammen und fragte: „Wer bist du?“ Mehr bekam ich nicht heraus.

Die alte Frau richtete ihre funkelnden blauen Augen auf mich, schmunzelte und sagte: „Ich, mein Herzchen, ich bin die Traurigkeit.“

Mir fiel die nicht vorhandene Kinnlade herunter. „Im Leben nicht!“, antwortete ich, hatte ich mir die Traurigkeit doch bisher als ein ekelhaftes Monster mit Reißzähnen vorgestellt.

Die alte Dame lachte auf. „Im Leben nicht? Dein Ernst? Du bist tot! Hast du das noch nicht bemerkt?“

Ich blickte kurz beschämt zu Boden, musste dann jedoch selbst kichern. „Okay, das war vielleicht eine verfängliche Ausdrucksweise. Ich hatte nur so ein anderes Bild von dir. Wieso kann ich dich so oft fühlen, jetzt aber zum ersten Mal sehen? Was genau bist du? Auch ein Geist?“

Die Traurigkeit hockte sich auf einen der gepolsterten Stühle am Esstisch, ihr langer Schal fiel auf den Teppich. Sie ließ mit einer Handbewegung ein Tässchen Tee vor sich erscheinen und schlug die Beine übereinander. „Das sind viele Fragen“, meinte sie. „Ich will es versuchen zu erklären. Ich bin, was wir alle sind: Ich bin Bewusstsein, ich bin nichts und ich bin alles in einem“, antwortete sie kryptisch. Dann wurde sie deutlicher: „Normalerweise fühlen mich die Wesen dieser Welt als Emotion, aber manchmal, wenn Not am Mann ist, sozusagen, drücke ich mich in dieser Form aus. Dann bündele ich mich in dieser Gestalt und gehe zu den Menschen. Ich helfe ihnen, mich lebhaft und heftig zu fühlen, damit sie ihre Wunden erkennen und beginnen können, sie zu heilen. Ich lasse sie all die Erkenntnisse, die in mir schlummern, begreifen. In diesen Momenten sehen sie mich natürlich trotzdem nicht, sie fühlen mich allerdings immens kraftvoll. Für Birte brauchte es mich in dieser gebündelten Form, weil sie all ihr Wissen einsetzte, um mich nicht zu fühlen, dabei weiß sie es eigentlich besser und hat gelernt, wie wenig zielführend meine Abspaltung oder Unterdrückung ist. Sie hat fünf Jahre Psychologie studiert und im Anschluss eine Weiterbildung als Verhaltenstherapeutin absolviert. Glaub mir, sie weiß meistens, wie sie ihre Gedanken lenkt und welche Aktivitäten sie braucht, um nicht zu stark in eine Emotion gesaugt zu werden. Bloß braucht es eben diese schonungslosen Gefühle hin und wieder, damit eine Erfahrung wirken kann.“

Gedankenverloren grübelte ich laut: „Du bist die Manifestation der Traurigkeit, also ein Teil des Bewusstseins, das in uns allen ist und du bist … gut?“ Diese komplizierte Erklärung brachte mich noch nicht weiter und so meinte ich verdutzt: „Ich dachte, die Traurigkeit wäre schlecht. Also eigentlich maßlos widerlich und ätzend.“

Schimmernde Tränen traten in die riesigen blauen Augen. Ich hatte sichtlich einen wunden Punkt getroffen.

„Ja“, antwortete die alte Dame berührt, „viele Wesen denken das leider von mir. Sie wollen mich nicht fühlen, aber nur, weil sie nicht verstehen, wie ich wirke. Durch mich kann man wieder eins mit sich selbst werden, Geschehenes verarbeiten, und schließlich verstehen, was wirklich wichtig ist. Bitte lass also zumindest du diese Unterscheidung von gut und schlecht. Ich bin völlig einverstanden damit, Gefühle als angenehm und unangenehm einzuordnen, schlecht hingegen ist keins von ihnen. Sie alle haben ihre Funktion und durch die Bank steckt dahinter ein überaus liebevolles Motiv.“

Ich war anhaltend verwirrt und wollte dies der alten Frau nicht vorenthalten: „So ganz habe ich die Sache mit dem Bewusstsein noch nicht verstanden, aber ich glaube, das Wichtigste ist, du bist hier, um zu helfen. Stimmt das?“

Die Traurigkeit hatte sich wieder gefangen und meinte leise: „Ich bin hier, um zu lieben. Also ja, ich bin sehr hilfreich, wenn man mich denn lässt.“

In mir breitete sich ein wohliges Gefühl aus: „Okay, dann nehme ich mir mal vor, dich künftig netter zu behandeln, wenn du zu mir kommst.“