Ich hab's auch nicht immer leicht mit mir - Anne Vogd - E-Book

Ich hab's auch nicht immer leicht mit mir E-Book

Anne Vogd

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Beschreibung

»Eine Frau mit dem Herz auf der Zunge! Sympathisch, urkomisch und ohne Scheu, auch über sich selbst zu lachen!« Guido Cantz, Verstehen Sie Spaß Anne Vogd war viele Jahre Vertrieblerin. Jetzt ist sie Kabarettistin. Man kann am täglichen Spagat zwischen perfekt und defekt verzweifeln – oder ihm mit Selbstironie und Gelassenheit begegnen. Anne Vogd hat sich für Letzteres entschieden. Nach dem Motto 'Vernünftig, das ist wie tot, nur früher' bekämpft sie die kleinen und großen Krisen des Alltags mit einer guten Portion Humor, Gelassenheit und Improvisationstalent. Denn wer immer scheitert, ist auch zuverlässig.    

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Ich hab’s auch nicht immer leicht mit mir

Die Autorin

Anne Vogd, * 1965, arbeitete 25 Jahre lang als Vertrieblerin und Pressereferentin, bevor sie mit 51 Jahren etwas ganz Neues wag­te – und Kabarettistin wurde. Sie gewann den SWR3 Comedy Förderpreis und steht heute auf den Bühnen Deutschlands. Auf SWR3 ist die gebürtige Rheinländerin regelmäßig mit ihrer Serie »Volle Kanne Anne« zu hören und schreibt Kolumnen für diverse Zeitungen. Anne Vogd lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Rheinland-Pfalz.

Das Buch

Dieses Buch sollte jede Frau ab vierzig lesen!

»Ich mache viele Dummheiten, aber die mache ich gut. Schuld daran sind die zwei Persönlichkeiten, die in mir wohnen. Die eine heißt Vergnügen, die andere heißt Vernunft. Beide streiten sich täglich um die Vorherrschaft: Der Partytiger in mir raunt: ›Bleib noch ein bisschen, Liebelein. Es ist doch gerade so schön. Vergiss den Schlaf vor Mitternacht. Lieber 50 Jahre gelebt, als 70 nur dabei gewesen.‹ Während die Tugend wie ein zartes Pflänzchen versucht dagegenzuhalten und flehentlich flüstert: ›Du solltest jetzt lieber gehen. Der Mond ist heute Abend voll. Du musst es nicht auch noch sein.‹«

Ein bisschen mehr Abenteuer, ein bisschen weniger Vernunft – das täte uns allen gut. Anne Vogd zeigt, wie man das Leben genießen kann, ohne sich gleich zu fühlen wie ein Red Bull im Bio­laden.

Anne Vogd

Ich hab’s auch nicht immer leicht mit mir

Prosecco zum Lesen

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage September 2018© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Stephanie Schweigert, mit freundlicher Unterstützung von Procter & Gamble Service GmbHE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-1843-1

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1 Sekt oder Selters? Tofu oder Torte? Fatboy oder Fatburner?

2 Essen ist ein Bedürfnis – Genießen eine Kunst

3 Wer tagelang auskommt, ohne etwas zu trinken, ist ein Kamel

4 Lessons in Love

5 Liebe Lust, wir müssen reden

6 Mütter, diese Wahnsinnsweiber

7 »We are Family« (Sister Sledge)

8 Alles auf Reset

9 Die 5 (!) Jahreszeiten

10 Abenteuer Alter

11 Zwischen Botox-Birne und Falten-Fregatte

12 Ich wäre so gerne eine Hydra

Social Media

Cover

Titelseite

Inhalt

1 Sekt oder Selters? Tofu oder Torte? Fatboy oder Fatburner?

1 Sekt oder Selters? Tofu oder Torte? Fatboy oder Fatburner?

ge – nie – ßen, Verb (mit Obj.) (jmd. genießt etwas), Bedeutung: aus einer Sache für sich Freude, Genuss und Wohlbehagen ableiten.

Beispiel: Er genießt sein Leben in vollen Zügen.

Ich übrigens nicht. Ich fahre lieber Auto. Der Fahrplan der Deutschen Bahn, oder besser, die flexible Abfahrtsinformation mit zwanglosem Gleisvorschlag und stets frisch aufbereiteter Wagenreihung ist nicht so mein Ding. Wenn es sich aber so gar nicht vermeiden lässt, dann ist es immer dasselbe: Gleisnummer raussuchen, merken oder besser abfotografieren, zum Gleis rennen, Gleis und Zugnummer abgleichen, den ohnehin schon überfüllten Waggon entern, sich dort mit anderen Fahrgästen stapeln und die ganze Zeit Angst haben, dass man doch im verkehrten Zug sitzt.

Und dann geht’s erst richtig los: Ich muss Telefongespräche von Leuten mit anhören, die mich bei der Post einen Kopf kürzer machen würden, wenn ich die Diskretionslinie übertrete. Von hinten tritt ein siebenjähriger Lümmel permanent gegen meine Rückenlehne, und seine Mutter sagt nichts, weil sie die Persönlichkeitsrechte ihres Primaten achten will. Ich habe kein Netz, was doppelte Wut bedeutet. Und wenn sich der Schaffner nähert, bin ich deutsch genug, um nervös zu werden – obwohl ich eine gültige Fahrkarte besitze. Was für ein Stress!

Autofahren genieße ich hingegen sehr. Ich bin unabhängig, lerne meine Texte derweil oder fange an zu singen und höre erst damit auf, wenn ich andere Verkehrsteilnehmer beschimpfen muss. Und sollte es doch mal einen Stau geben, kann man ja immer noch anrufen und sagen, dass es später wird. Vom Auto aus funktioniert das. Wenn ich losfahre, hänge ich mein Handy immer sofort ans Ladekabel. Aber haben Sie schon mal versucht, ein Handy im ICE aufzuladen? Ich schon. Beim Reinstecken hatte ich noch 13 Prozent Akku, danach nur noch vier: So hatte ich mir das mit der Energiewende nicht vorgestellt. Die Bahn soll gefälligst ihre eigenen Quellen nutzen und nicht mit meinem Strom fahren. Denn wenn sie womöglich noch wegen Verspätungsabbau auf halber Strecke stehen bleibt, bin ich am Ende auch noch schuld.

Dennoch, vernünftiger wäre es, öfter mal Bahn zu fahren. Allein schon wegen der Umwelt und der Zeitersparnis. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich so oft auf der A3 im Stau stecke, dass ich ernsthaft überlege, diese Autobahn, die nicht umsonst auch Deutschlands größter Parkplatz genannt wird, als Hauptwohnsitz anzugeben. Ich stehe da wirklich so häufig und so lang, dass ich manchmal den Überblick verliere und mich dann frage: Bin ich auf dem Weg hin zur Arbeit oder schon wieder auf dem Heimweg? Warum denkt die Automobilindustrie bei den heutigen Staus überhaupt noch über ein selbstfahrendes Auto nach? Ein selbststehendes Auto fände ich viel sinnvoller, genauso wie eine selbstputzende Wohnung oder eine selbstfunktionierende Beziehung. Aber das nur am Rande.

Ich bin ein Mensch, der vieles aus Überzeugung macht und vieles aus Überzeugung nicht. Manchmal gerate ich dabei allerdings etwas durcheinander, was mich nach außen unvollkommen erscheinen lässt. Aber das stört mich nicht. Ich genieße es, nicht perfekt zu sein. Menschen, die perfekt erscheinen wollen, langweilen mich. Ich finde Menschen mit Makel viel menschlicher. Ich habe davon besonders viele. Ich glaube, als der liebe Gott mich gebaut hat, war er noch in der Experimentierphase. Irgendwann zweifelte er dann an der Aufwand-Nutzen-Relation und hat sich gedacht: Komm, den Rest übernimmt jetzt mal die Krankenkasse.

So ähnlich muss es gewesen sein, denn ich mache wirklich viele Dummheiten, aber die mache ich gut. Ich bin viel zu oft hin- und hergerissen, als dass mein Leben gradlinig verlaufen könnte. Schuld daran sind die zwei Persönlichkeiten, die in mir wohnen. Die eine heißt Vergnügen, die andere heißt Vernunft. Beide streiten sich täglich um die Vorherrschaft: Der Partytiger in mir raunt: »Komm, Liebelein, bleib noch ein bisschen. Es ist doch gerade so schön. Vergiss das mit dem Schlaf vor Mitternacht. Carpe diem. Denk dran, lieber fünfzig Jahre gelebt, als siebzig Jahre nur dabei gewesen.« Während die Tugend wie ein zartes Pflänzchen versucht dagegenzuhalten und flehentlich flüstert: »Du solltest jetzt lieber gehen. Der Mond ist heute Abend voll. Du musst es nicht auch noch sein. Morgen ist auch noch ein Tag.« Was dann passiert, liegt in der Natur der Sache. Der Darwinismus macht auch vor mir nicht halt: Der Stärkere überlebt. Und das, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon weiß, dass meine Stimmung am nächsten Morgen durchhängen wird wie eine Lampion-Girlande vom Vorabend. »So what«, raunt es dann wieder in mir, »es ruckelt halt immer ein wenig, wenn man einen Gang höher schaltet.«

Die Mäßigung, eine der vier Kardinalstugenden von Aristoteles, ist nicht mein zweiter Vorname. Für die jüngeren Leser: Aristoteles war kein Dschungelcamp-Teilnehmer und auch kein DJ. Er war ein griechischer Philosoph der Antike und scheint für viele wieder en vogue zu sein. Denn unsere Gesellschaft mäßigt sich heute maßlos. Vernunft & Verzicht gegen Lust & Leidenschaft, Sehnsucht & Sünde. Das Projekt »Dasein« wird effektiv durchgetaktet. Aktive Lebensgestaltung und ein perfekter Biorhythmus sowie ziel- und ergebnisorientiertes Denken sollen unser Leben lebenswert machen. Selbstoptimierung wird auf der Großbaustelle »Ich« als Sinnsuche deklariert. Wozu das alles?

Ein Mann geht zu seinem Hausarzt und sagt: »Herr Doktor, bitte tun Sie alles dafür, dass ich steinalt werde. Es ist mein größter Wunsch, wirklich richtig alt zu werden.« Der Arzt antwortet: »Gut, schauen wir mal nach Ihren Lebensgewohnheiten. Rauchen Sie?« »Nein, das würde ich nie tun.« »Trinken Sie Alkohol?« »Nein, damit habe ich schon vor vielen Jahren aufgehört.« »Bleiben Sie abends lange auf?« »Niemals, Jan Hofer ist immer der Letzte, der mit mir spricht.« »Machen Sie ab und zu noch Liebe?« »Nein, ich wüsste gar nicht mehr, wie das geht.« Daraufhin meint der Arzt: »Und warum wollen Sie dann so alt werden?«

Auf der Suche nach dem »Warum« habe ich ein »Egal« gefunden. Ich bin es leid, mir die Zugangsvoraussetzungen für ein vermeintlich glückliches Leben immer und überall vorschreiben zu lassen. Ich will nicht mehr nach Vorstellungen leben, die mein Leben voll, aber nicht reich machen. Das rastlose Rotieren ums eigene Ich war mir schon immer unsympathisch, auch wenn es heutzutage als Achtsamkeit verstanden werden will und damit schwer angesagt ist. Heute wird ja alles in den Achtsamkeitstopf geworfen, kurz aufgekocht und serviert, ähnlich wie vor ein paar Jahren die Nachhaltigkeit. Mir ist diese permanente Selbstbeobachtung viel zu übertrieben.

Aber sie findet Mittel und Wege, um bis in die Niederungen des menschlichen Daseins durchzusickern: Ernährungsratschläge, diese omnipräsenten Mahnmale im Alltag – sie liegen mir alle schwer im Magen. Das Leben ist zu kurz für Ingwerbrühe und Knäckebrot. Gewicht und Verzicht: Eine Waage sagt dir nur, wie schwer du bist. Das allein ist schon erbärmlich genug, denn meist sagt sie damit auch gleichzeitig, dass du immer noch zu klein für diese Zahl bist. Aber sie wird dir nie verraten, ob deine Rundungen nicht vielleicht sogar sexy sind. Eine Schlaf-App protokolliert nur die Stunden, die wir geschlafen haben. Sie sagt dir aber nicht, ob es sich nicht doch gelohnt hat, so lange in geselliger Runde mitgefeiert zu haben. Ganz ehrlich: Was hat man davon, wenn der Pfarrer am Grab die inneren Werte lobt und damit die Cholesterin- und Melatoninwerte meint? Mir persönlich wäre es lieber, er würde sagen: »Viel war es nicht, was sie ausgelassen hat.«

Ich finde, man kann auch bewusst leben, ohne stundenlang der rasanten Bewegung eines Stundenzeigers zu folgen. Man kann auch bewusst genießen, ohne erst jede Furche und Falte einer Trockenpflaumenoberfläche mit der Zunge ergründet zu haben.

Nein, ich mache bei all diesen Trends nicht mit – nicht mehr. Mir sind generell gesellschaftliche Zwänge aller Art zu viel Stress. Ich nehme mir die Freiheit, anders zu sein, denn ich habe lange dafür gekämpft, loslassen zu können. Ich finde, auf lebendige Art am Leben zu sein bedeutet mehr, als alles perfekt zu planen und zu kontrollieren. Es sind oft die überraschenden, spontanen Augenblicke, die das Leben lebenswert machen, nicht der streng durchchoreografierte Alltag. Aus »So isses« darf auch gerne mal ein Wunschkonzert werden.

Weniger Perfektion heißt oft mehr Gewinn. In meinem Leben hat es sich jedenfalls noch nie ausgezahlt, irgendwelchen Idealvorstellungen hinterherzulaufen. Es hat sich nicht gerechnet, weil man eh nie alle mit seinem Tun begeistern kann. Selbst wenn man übers Wasser gehen könnte, käme noch irgendeiner dahergelaufen und würde fragen, ob man zu blöd zum Schwimmen ist.

Ich plädiere daher für mehr Gelassenheit. Im Kleinen wie im Großen. Ein Völkchen, das für seine Tiefenentspanntheit bekannt ist, sind ja unsere Hauptstädter. Man sollte sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Berlin ist zwar arm, aber die Partystadt Deutschlands. Die Stadt mit den gelassensten Bürgern. Es ist den Leuten da völlig egal, ob ihr Flughafen in zehn oder zwanzig Jahren fertig wird – oder auch gar nicht. Man kommt trotzdem weg, wenn man weg möchte, und findet auch wieder hin, wenn man zurückwill.

Ein bisschen mehr Abenteuer, ein bisschen weniger Vernunft – das täte uns allen gut. Und Abenteuer beginnen dort, wo Pläne enden. Das Leben braucht sie, um spannend zu bleiben. »Wem das zu gefährlich ist, der sollte es mal mit Routine versuchen – sie ist tödlich«, wusste schon Paulo Coelho. Pure Vernunft darf im Leben niemals dominieren. An Leuten, die immer vernünftig sind, die ihr Leben wie ein »Malen nach Zahlen« führen, an denen kann man erkennen: Vernünftig ist wie tot, nur vorher.

Bei mir haben es innere Zuchtmeister wie Disziplin, Effizienz und Optimierungswille zunehmend schwerer. Ich habe lange genug ein Leben geführt, in dem ich Familie, Firma, Figur, Freunde und Fortbildung unter einen Hut bringen wollte. Ich habe rumgezappelt wie Wäsche auf der Leine vor einem einsetzenden Gewitter. Damit ist jetzt Schluss. Im Falle eines guten Buches heißt es jetzt: Wo ein Wille, da auch ein Sofa – auch wenn die Spülmaschine voll und der Kühlschrank leer ist. Dann mache ich halt mal keinen Haushalt, sondern mir lieber Gedanken. Heute steht der volle Wäschekorb manchmal ganze drei Tage im Türrahmen, damit ich ihn nicht vergesse. Ich gebe mir noch ein halbes Jahr, dann müsste ich eigentlich einen dreifachen Salto mit doppelter Schraube beherrschen.

Vermutlich bin ich etwas verrückt. Vielleicht liegt das an der Lebensphase, in der ich mich heute befinde; vielleicht aber auch an der Experimentierphase, in der sich mein Schöpfer damals befand. Vielleicht hat sich aber auch einfach nur was von Tante Renate bis zu mir »rübergemendelt«. Sie war diese Art von stinkreicher Tante, die jede Familienfeier ruinierte, weil ihr Konventionen am A… vorbeigingen. Und zwar vierspurig. Sie werden ihr in diesem Buch noch so manches Mal begegnen, immer in der Rolle eines Red Bulls im Bioladen. Verrückte Zeiten brauchen nun mal verrückte Menschen – wie Tante Renate und mich.

Und es sind verrückte Zeiten, wenn man über das, was man seinem Körper zuführt, ein Lebensgefühl ausdrücken und soziale Zugehörigkeit signalisieren will und nicht einfach nur auf solide Art und Weise sein Hungergefühl stillen möchte. In so einer Zeit völlig ungeniert mit gesundem Appetit zu essen, ohne sich gleichzeitig gezwungen zu fühlen, über den Ausstieg aus der Schwerkraft nachdenken zu müssen, ist doch verrückt, oder? Ich finde auch immer einen Grund anzustoßen. Und sei es nur die Tatsache, dass es im Supermarktregal ein neues Geschirrspülmittel gibt. Manch einer wird denken, die ist wohl nicht ganz bei Sinnen. Von mir aus. Wenn eine Schraube locker ist, hat das Leben mehr Spiel.

Auf meinem Teller wurde noch keine Pasta kalt und in meinem Glas noch kein Weißwein warm. Und ich bin sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Ich habe neulich etwas total Abgefahrenes gemacht. Es war fast so gefährlich wie S-Bahn-Surfen: Ich habe ein Deo mit Aluminiumsalzen benutzt und mir vorher die Haare mit einem billigen Shampoo aus dem Supermarkt gewaschen, das vermutlich randvoll mit Silikonen war, und danach habe ich sogar noch eine Tagescreme benutzt mit einem LSF unter 15. Ich bin sozusagen sehenden Auges in mein eigenes Verderben gerannt und dem Tod vermutlich nur durch einen glücklichen Zufall wieder von der Schippe gesprungen.

Aber um Missverständnissen vorzubeugen: Ich gehöre nicht zu den Menschen, bei denen sich die Vernunft durchs Fenster rettet, wenn die Lust durch die Tür hereintritt. Auch die Vernunft sollte ihren festen Platz im Leben haben, denn in ihrem Windschatten kann man sich gut von allen Eskapaden erholen, die das Vergnügen so mit sich bringt. Und ab einem gewissen Alter wird dieser Schatten auch immer größer. Dem hemmungslosen Genießen werden natürliche Grenzen gesetzt. Man merkt plötzlich, dass das Leben nicht ein Leben lang auf der Überholspur stattfindet. Irgendwann geht es mehr in Richtung »Bewusstes Genießen«, das sich dadurch auszeichnet, dass man sich nicht nur fragt, wo der Genuss anfängt, sondern auch, wo er aufhören sollte. Das Leben gibt es nämlich nur als All-inclusive-Paket. Aber man kann das eine haben, ohne auf das andere zu verzichten. Das ist das Schöne daran.

Keine Sorge: Dieses Buch ist nicht die hunderttausendste Anleitung für ein glückliches Leben. Nein, denn Sie können mir glauben: Alle Ratgeber sind gleich – mir auch. Dieses Buch soll auf eine humorvolle Art von der Lust am Leben erzählen und wie trickreich man manchmal sein muss, um ihr gerecht zu werden. Es soll unterhalten – ohne akademischen Anspruch und wissenschaftliche Beweise, dafür aber mit viel Herzblut und einer gehörigen Portion Augenzwinkern.

Viel Vergnügen!

2 Essen ist ein Bedürfnis – Genießen eine Kunst

Ich war schon immer eine Außenseiterin: Als Kind erzkonservativer, katholischer Eltern besaß ich keine Barbie, nur die Skipper, weil die keine Brüste hatte; als Jugendliche keine Vokuhila-Frisur und als junge Erwachsene kein Arschgeweih im Maurerdekolleté. Ich gehörte immer zu irgendeiner Randgruppe unserer Gesellschaft. Und heute? Es hat sich nichts an diesem Stigma geändert. In Zeiten, in denen es für viele bei der Ernährung um Identitätssuche, Disziplin, Kontrolle und Selbstverwirklichung geht, liebe ich Essen in erster Linie, weil es mich zufrieden und satt macht. Pizza zum Beispiel. Es gibt Abende, da rufe ich Richtung Wohnzimmer: »Schatz, Pizza ist da«, obwohl mein Mann gar nicht da ist. Aber ich muss dem Pizzaboten ja nicht aufs Auge drücken, dass zwei Rucola-Pizzen, ein Antipastiteller und ein Salat nur für mich sind. Hinzu kommt die fatale Tatsache, dass ich auch noch alles vertrage und mein Kopf daher auch nichts ablehnt.

Ich verstehe das selbst nicht. Das Nahrungsmittelallergie-Angebot wird immer größer, und für mich ist immer noch nichts dabei: Laktose-, Fruktose-, Saccharose- und Sorbitintoleranz, Glutenunverträglichkeit, Plutonium-, Uranium-, Caesium- und Nussallergie sowie alle anderen Intoleranzunverträglichkeiten. Unsere Toleranz nimmt stetig zu, aber die Körper vieler Menschen wollen da offensichtlich nicht mitspielen.

Warum ausgerechnet meiner?

Fakt ist, Nahrungsmittelallergien liegen im Trend, und auch ich habe den Anspruch, ein modernes Mitglied der Gesellschaft zu sein. Andererseits möchte ich eigentlich gerne so bleiben, wie ich bin, nämlich ohne. Darf ich aber nicht, wenn ich als etwas Besonderes gelten möchte. In diesem Fall muss ich nämlich zur Ausnahme-Esserin werden. Ob ich will oder nicht. Ich bin hin- und hergerissen. Verzicht oder nicht? Nein, ich habe es wirklich nicht leicht mit mir.

Ich kann mich lediglich an eine einzige Situation erinnern, in der mir meine unprätentiöse, fast rudimentäre Einstellung zum Thema Ernährung von Nutzen war. Als ich mich 2011 für einen Job bei einem soliden mittelständischen Unternehmen bewarb, auf dessen Ausschreibung sich mehr als zehn Kandidaten gemeldet hatten, wurde ich vom Personalleiter gefragt: »Was sind Ihre Stärken? Welche besonderen Fähigkeiten besitzen Sie?« Die Antwort auf so eine Frage fällt in einem Fall wie meinem erwartungsgemäß schlicht aus: »Viel Nennenswertes gibt es nicht, aber ich esse gern. Ich vertrage Gluten, Laktose, Fruktose und natürlich sämtliche im Wein enthaltenen Histamine«, worauf der Herr glänzende Augen bekam, aufstand, mich in seine Arme nahm und stammelte: »Willkommen in unserer Firma! Sie haben den Job!!«

Es ist schon verrückt, selbst beim Onlinedating spielt die Ernährung eine entscheidende Rolle, denn dort suchen Algorithmen nach möglichst großer Übereinstimmung zwischen den Bindungswilligen. Ich las neulich im Internet von einer Frau, die überglücklich schrieb: »Wir haben uns über ein Partnerportal kennengelernt. Hundert Prozent deckungsgleich! Karl-Heinrich hat genau die gleichen Allergien und Unverträglichkeiten wie ich.«

Man gilt heute schnell als Außenseiter oder beim Onlinedating möglicherweise sogar als schwer vermittelbar, wenn man einfach alles isst, und dies womöglich auch noch mit Genuss. Und ich esse alles, und das noch nicht einmal nach dem empfohlenen Prinzip – morgens wie ein König, mittags wie ein Kaiser und abends wie ein Bettelmann. Nein, ich esse den ganzen Tag über wie ein Industriestaubsauger, also die Geräte, die auf Amazon gern mit Attributen wie gründlich, extrem robust und Kraftpaket beworben werden.

Eine Studie besagt, dass 23 Prozent der Deutschen bestimmte Produkte nicht kaufen, weil sie davon überzeugt sind, sie nicht zu vertragen. Neun Prozent meinen, dass es sich dabei um eine Glutenallergie handelt. Fakt ist jedoch, dass weniger als ein Prozent der Deutschen davon betroffen ist. Das erscheint mir in der Tat etwas wenig, und ich frage mich: Ist seitens der Experten vielleicht noch nicht intensiv genug getestet worden? Denn wo ein Wille, da ist bestimmt auch eine attestierbare Unpässlichkeit, und sei sie auch noch so diffus. Immerhin verzeichnete das Marktforschungsinstitut Mintel 2013 bei den gluten- und laktosefreien Produkten ein weltweites Umsatzwachstum von 23 Prozent. Das muss doch einen Grund haben. Oder könnte es eventuell sein, dass seitens der Betroffenen nicht ausreichend zwischen Allergie und Aversion unterschieden wird?

Amerikanische Ernährungspsychologen haben Probanden in einem Versuch zwei Kekspackungen angeboten. Auf der einen befand sich ein Aufkleber mit dem sinnfreien Hinweis »miu-frei«. Keiner wusste, was »miu« bedeutet, aber fast alle hielten diese Kekse für gesünder.

Was glauben Sie, lieber Leser, wie viele Lebensmittel auch hierzulande blind gekauft werden, nur weil »frei von …« draufsteht? Wenn das so weitergeht, halten wir irgendwann ukrainischen Wodka mit mindestens 90 % Alkohol für gesund – nur weil diese Tinktur mit dem Hinweis laktosefrei beworben wird –, selbst wenn das Zeug nur bei Dunkelheit, in einem Gefahrguttransporter und ausschließlich durch die Brandschutztür am hinteren Gebäudeeingang des örtlichen Supermarktes angeliefert werden darf.

Die Gesellschaft für Konsumforschung veröffentlichte neulich einen Bericht, aus dem hervorging, dass 80 Prozent der Käufer von laktosefreien Produkten gar keine Milchzuckerunverträglichkeit haben. Ob man selbst betroffen ist, kann man übrigens leicht feststellen, indem man sich im nächsten Spanienurlaub nachts an den Strand legt und die Sterne anguckt. Wenn einem beim Anblick der Milchstraße dann schlecht wird und man die laktosefreie (!) Crème brûlée vom Dessertbuffet nicht bei sich behalten kann, könnte man tatsächlich zum Kreis der Auserwählten gehören.

Ernährung ist zu einer Art Statussymbol geworden, mit dem man sich von anderen Konsumenten abgrenzt. Man definiert sich durch das, was man isst oder auch nicht isst. Während die Welt um uns herum immer unberechenbarer wird, versuchen wir beim Thema Essen die Kontrolle zu behalten. Wir überregulieren und überfrachten es mit unseren Erwartungen, was leider dazu führt, dass Essen für manche so viel mit Genuss zu tun hat wie McDonald’s mit der Molekularküche. Es geht auch früh los. Schon in der Grundschule lernen Kinder, was gesundes Essen ist und woran man es erkennt. Das ist auch gut so, denn gerade hier besteht hoher Aufklärungsbedarf. »Je bunter, desto gesünder«, erklärte mir neulich die kleine Sophia von nebenan und setzte die XL-Smartiestüte an ihre Lippen wie andere eine Mineralwasserflasche.

Bei einem Geschäftsessen vor einigen Wochen klärte mich mein weibliches Gegenüber stundenlang über ihre Laktoseintoleranz, ihre Glutenunverträglichkeit und ihr Problem mit Histaminen aller Art auf. Nach zwei Flaschen Rotwein (!) und kurz vor dem Dessert gewährte sie mir dann auch noch Einblicke in das derzeit hippste Organ, das wir besitzen: den Verdauungsapparat. Ganz ehrlich, auch wenn »Rücken haben« längst durch »Darm haben« ersetzt worden ist – als Gesprächsthema außerhalb einer medizinischen Praxis ist es für mich immer schwer verdaulich.

Als endlich das Dessert unseres Vier-Gänge-Menüs kam, das mich auf ein baldiges Ende ihrer epischen Ausführungen hoffen ließ, glaubte ich kurzzeitig, aktive Sterbehilfe zu leisten: Vor uns stand ein Schokoladentörtchen (Weizen!!) und dazu ein Cappuccino (Laktose!!). Aber es kam anders. Mein Gegenüber machte sich unverzüglich ans Werk, nicht ohne mir in freudiger Erwartung zuzuflüstern: »Na, heute wollen wir mal nicht päpstlicher als der Papst sein. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.« Ich denke, es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie Russisch Roulette gespielt hat.

Auch sechs Prozent aller Kinder haben bereits eine Nahrungsmittelallergie. Im Frühjahr stand eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn vor mir in der Metzgerei. Die rotwangige, freundliche Metzgerfrau fragte: »Möchte der Kleine ein Wiener Würstchen?« Die Mutter, von dieser Frage in höchste Alarmbereitschaft versetzt, antwortete eiligst mit panischem Unterton: »Nein, danke, Justus Aurelius isst nur Vollkorntofu, frei von Gluten, aus ökologischem Anbau bei aufgehendem Mond fair geerntet.« Ich war fassungslos. Als ich so alt war wie der kleine Mann jetzt, herrschte noch die Denke »A Flönz a day keeps the doctor away«. Oder hieß es »An apple a day«? Ich weiß es nicht mehr. (Flönz: Kölner Ausdruck für Blutwurst.)

Aber das waren ja auch noch andere Zeiten. Da hieß es ja auch noch: Milch macht müde Männer munter. Trotzdem hat mein Vater nie Milch getrunken, weil er nichts mochte, was schon »durch eine Kuh durch war«. Er würde sie lieber essen, war seine Devise. Aber seien wir ehrlich: Die Milch macht es tatsächlich nicht mehr lange, wenn es so weitergeht mit ihr. Sie hat ein massives Imageproblem.

Leute, die es nicht stört, dass sie für dieselbe Menge das Dreifache zahlen müssen, greifen lieber auf Soja- und Mandeldrinks zurück. Pflanzliche Milch ist ein Statussymbol, das ökologisch korrekten Genuss attestiert. Die Tatsache, dass das Soja nicht selten aus genmanipulierten Sorten stammt, spielt in dem Moment keine Rolle. Auch dass die Mandeln aus dem wasserarmen Kalifornien stammen, man zur Produktion einer Mandel 3,8 Liter Wasser benötigt und sie dann noch um die halbe Welt fliegt, wird dabei gerne ausgeblendet.

Wie gehen eigentlich Gastronomen mit den unendlich vielen Vorlieben in Sachen Ernährung um? Immerhin gibt der Deutsche durchschnittlich 48,50 Euro pro Monat für Auswärtsessen aus. Bei 75.240 Restaurants, 11.043 Cafés, 31.086 Imbissstuben und 2.257 US-Fast-Food-Läden erscheint mir persönlich das sogar noch etwas wenig. Vielleicht liegt es daran, dass man zwar gerne mit Freunden ausgehen würde, sich bei den unterschiedlichen Bedürfnissen aber nicht auf ein bestimmtes Lokal einigen kann. Wie müsste ein Restaurant aussehen, das allen Interessensgruppen gerecht wird, in dem sich jeder verstanden fühlt? So ein AWG-Tempel: Alle werden glücklich.

In jedem Fall müsste es eine separate Vegetarier-Ecke geben, mit Sichtschutz, denn die mögen keinen Tisch mit Steak-Aussicht. Die moderaten Steak-Esser, also die, die sich nicht gleich durch einen Beilagensalat persönlich beleidigt fühlen, würden gebeten, von der Vegetarier-Ecke einen Mindestabstand von 100 Metern einzuhalten. Für die leidenschaftlichen Steak-Esser, also die, für die ein Filet unter 500 Gramm als Aufschnitt durchgeht, verdoppelt sich der Abstand proportional zur Fleischgröße. Beide müssen natürlich in Form einer ordentlichen Lebensmittelkennzeichnung in den Speisekarten darauf hingewiesen werden, dass ihr Steak Spuren von Fleisch enthalten kann. Veganer der Stufe 16 essen bekanntlich nichts, was Schatten wirft, und wären somit gut im hinteren Bereich des Lokals aufgehoben. Also dort, wo es schon mal Spinnweben gibt, die ja auch so gut wie keinen Schatten werfen. Die Fensterplätze wären für die reserviert, die sich ausschließlich von UV-Strahlung ernähren. Und mittendrin müsste eine lange Tafel für die Flexitarier stehen, also die Leute, die mal zum Feldsalat und mal zum Fernfahrerteller greifen. Und da hier der Name Programm ist, wird durch Spiele wie die Reise nach Jerusalem alle zehn Minuten aufs Neue festgelegt, wer wo sitzt und was er dort vorgesetzt bekommt. Damit auch im Untergeschoss bei den Toiletten keine Panik in der Keramik ausbricht, sollten auch hier Warnhinweise an den Wänden wie »kann Spuren von Müssen enthalten« nicht fehlen.

Die größte Herausforderung für einen Gastronomen sehe ich allerdings darin, überhaupt noch Freude daran zu empfinden, seine Gäste mit einer Auswahl an kulinarischen Genüssen zu verwöhnen. Denn schon das Erstellen einer Speisekarte müsste einem dabei ja ordentlich auf den Magen schlagen. Ganz zu schweigen von der Stresssituation, die man seinem Personal bei der Aufnahme der Bestellung zumutet. Wahrscheinlich ist ein Teil des Gehalts, das eine Bedienung heutzutage bezieht, mittlerweile als Schmerzensgeld gedacht.

Wie es auch anders geht, erlebte ich neulich in einem Restaurant mitten in Köln. Am Nachbartisch saß ein Pärchen. Sie erklärte dem Kellner höflich, aber bestimmt: »Wir leben vegan, sind laktoseintolerant, reagieren allergisch auf Gluten und lehnen Soja ab. Dafür lieben wir Chia und Quinoa und essen alles, was kaum gekocht und am besten kalt gepresst ist. Als Getränk bevorzugen wir glückliches rechtsdrehendes Mondwasser. Was raten Sie uns zu bestellen?« Die rheinische Frohnatur gab sich höflich bemüht, indem sie zunächst sagte: »Lassen Sie mich nachdenken«, um dann entschieden hinterherzuschieben: »Ein Taxi!«

Wo sind sie also, die Nischen, in denen man bei Essen gleichzeitig auch an Genuss denkt? Die meisten Beiträge zu diesem Thema triggern nur Selbstvorwürfe und Schuldgefühle. Mit jedem Artikel, den ich zu diesem Thema lese, fühle ich mich unter Druck gesetzt, alles noch kritischer zu hinterfragen. Der Feind in meinem Mund lauert schließlich überall. Und daher sind wir auch stets von Experten umgeben, die uns mit vermeintlich unverzichtbaren Weisheiten weiterhelfen oder uns ebenfalls zu Experten machen wollen. Allen Bemühungen ist eines gemeinsam: Sie möchten mich von dem abhalten, was ich gerne esse, was ich genieße, was den Augenblick, in dem ich es zu mir nehme, besonders macht.

Eine Tätigkeit, die eigentlich Freude bereiten sollte, die unsere Sinne ansprechen soll, hat sich zum besorgniserregenden Zeitgeistphänomen, wenn nicht sogar schon zur Massenpsychose entwickelt. In der Sexualität haben wir im Zuge der 68er viele Freiheiten erkämpft. Beim Essen hingegen haben wir sie verloren. Und das alles, obwohl Essen nie sicherer angebaut, nie besser kontrolliert, nie besser deklariert und nie gesünder war als heute. Ernährungsexperten, die immer und überall besonders militant den Zeigefinger erheben, kommen mir manchmal vor wie Menschen, die jeglichen Bezug zur Realität verloren haben.

Aber ich will fair bleiben. Gute Ökotrophologen sind heutzutage unverzichtbar, denn die Verwirrung, was man essen darf oder sollte, war auch noch nie größer als heute. Die Liste der Inhaltsstoffe, die auf dem Index stehen, wird immer länger. Oliver Hassencamp, ein deutscher Kabarettist, sagte einmal: »Früher hieß es, was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht. Heute müsste es heißen, würde der Städter wissen, was er frisst, würde er Bauer werden.« Ein Einkauf kann heute schnell zum Hindernislauf werden. Wer kennt sich denn da noch richtig aus? Wer weiß denn schon, was sich hinter den ganzen »E’s« auf dem Nutellaglas verbirgt? Ich sag’s Ihnen. E’s sind Emulgatoren, sogenannte Zusatzstoffe, die eigentlich nicht vermischbare Komponenten miteinander verschmelzen. Solche Inhaltsstoffe sind für Gesundheitsfanatiker ein absolut rotes Tuch. Ich nehme sie gerne in Kauf. Sonst gäbe es mein Nutella ja nicht. Viele andere tun es auch – wie der Name ja schon sagt. Allerdings rückwärts gelesen: A L L E T U N (es).

Inhaltsstoffe haben es nicht leicht. Entweder sie werden gehypt, wie bei Veggie-Produkten, oder sie werden panisch vermieden. Da kann man schnell mal durcheinanderkommen. 2017 hielt ich, auf dem Weg zu einem Auftritt in Mülheim an der Ruhr, an einem Kiosk, um mir noch zwei Müsliriegel zu holen. Vor mir stand eine junge, moderne Frau in Sportsachen. Offensichtlich ein achtsamer Mensch mit ausgeprägtem Gesundheitsbewusstsein, dachte ich noch, bis ich sie sagen hörte: »Ich hätte gern zwei Päckchen Zigaretten, aber die ohne die gesundheitsgefährdenden Inhaltsstoffe.«

Für viele funktioniert das Thema Ernährung wie eine Art Ersatzreligion, die mit der Angst ihrer Jünger spielt, nicht trendig genug zu sein. Die, die laut genug ihre Dogmen propagieren, werden wie der Messias höchstpersönlich verehrt. Wobei der buddhahaft beseelt-erlöste Gesichtsausdruck, mit dem eine Gwyneth Paltrow uns regelmäßig aus Zeitschriften niederlächelt, tatsächlich ja an den eines Heilsbringers erinnert. Vielleicht aber auch nur, weil kurz vor dem Fotoshooting die Darmspülung erfolgreich ihren Job gemacht hat, die sie gerne anpreist, als wäre ein Leben ohne sie nicht lebenswert.

Dabei kann Essen doch auch für Sonnenlicht in dunklen Tagen sorgen. Jeder, der gerne Schokolade isst, weiß das. Gut, Schokolade löst das Problem nicht auf lange Sicht, aber mit vier Riegeln im Mund kann man zumindest auch nicht mehr direkt losheulen. Vier sollten es schon sein, denn erstens funktioniert das sonst nicht und zweitens sagt man Schokolade ja nach, nicht viele Vitamine zu haben. Folglich muss man viel davon essen, um den Vitaminhaushalt ausgeglichen zu halten.

Das beste Seelen-Food waren für mich immer die Frikadellen meiner Mutter. Es waren die besten, die ich jemals gegessen habe. Sie bestanden zu 50 Prozent aus gemischtem Hackfleisch (Bio gab es noch nicht) und zu 50 Prozent aus Weißmehlbrötchen (Gluten!) vom Vortag (!!). Ein solch verhängnisvolles Konstrukt dürfte man heute vermutlich auf einem Bahnsteig nur noch in der markierten Raucherzone konsumieren oder im Flughafen nur noch in einem dieser Terrarien.

Dass Fett, Salz und Zucker aber das Belohnungszentrum im Gehirn aktivieren, habe ich in zahlreichen Testreihen, bei denen ich mein eigener Proband war, eindeutig belegen können. Wenn ich einen richtig stressigen Tag hatte, vertraute ich auf die regenerierenden Kräfte der Nutellawurzel, der Pizzafrucht und der Chipsstaude. Es hat sich immer bewährt. Es ging mir danach immer besser. Wenn ich aber davon im Freundeskreis erzählte, wurde ich oft angesehen, als würde ich von einem Speziallabor für synthetische Drogen in meinem Keller berichten.

Mit meiner Einstellung, welche Nahrung wann und in welchem Umfang für mich einen Genuss darstellt, bin ich unter Gleichaltrigen leider oft allein. Ich weiß weder, warum das so ist, noch, wann sich meine Generation von »nachts besoffen zu McDonald’s« hin zu »mit Chiasamen wird der laktose- und gelantinefreie, fettreduzierte, linksdrehende Naturjoghurt bekömmlicher« gewandelt hat. Aber eins weiß ich: Leicht habe ich es in dieser Gesellschaft nicht.

Ich bin ein Kind der 70er- und 80er-Jahre. Für alle jüngeren Leser: Das war eine Zeit, in der Apple und Blackberry noch Früchte waren und in der Essen noch gegessen und nicht fotografiert wurde. In einem Restaurant wurde man gefragt, ob es geschmeckt hat, und nicht – wie heute –, ob es nicht geschmeckt hat, weil, ich zitiere: »Sie haben Ihr Essen ja gar nicht fotografiert.« Oder der Mettigel, den es manchmal zu Hause zum Abendbrot gab. Mett, das meine Mutter am Nachmittag erst beim Metzger gekauft hatte, das so frisch war, dass man dachte, es hat vor der Küchentür noch gegrunzt. Herrlich!

Wenn meine Eltern früher zu sich nach Hause eingeladen haben, war klar, wer Koch und wer Gast ist. Es wurde gegessen, was auf den Tisch kam. Wenn du heute einlädst, bist du eher so was wie ein Facility Manager, denn einige Gäste bringen ihren eigenen Proviant mit. Da werden nicht selten Tupperdosen mit Quinoa- oder Linsensalat auf den Tisch gestellt oder man gondelt während der Kitchenparty mit selbst mitgebrachten Chicorée-Schiffchen durch die Party Crowd, um mit unaufgeforderter Besserwisserei den anderen Gästen zu erklären, dass es sich bei Chicorée um einen genialen Fatburner handele, bei dessen Verdauung man mehr Kalorien verbrenne, als man durch das Essen zu sich genommen habe. Also ein echter HIT, was allerdings hier für High Intensity Training steht.