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"Das Thema Altenheim ist für die meisten nicht gerade ein angenehmes. Mir geht es anders. Ich bin seit mehr als 13 Jahren Altenpfleger, und ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen. Er ist nicht nur abwechslungsreich, sondern auch höchst amüsant. Sie glauben mir nicht? Hey, ich nehme Sie einfach mal mit. Auf die Station für Langzeitpflege, auf der ich arbeite. Ich verspreche Ihnen, von Schmunzeln über Staunen bis Brüllen vor Lachen ist alles drin. Denn "meine" Alten sind immer für eine Überraschung gut. Da komme sogar ich selbst schon mal ins Grübeln: Wenn ich böse beschimpft werde, weil ich das Bett frisch beziehe. Oder wenn ich wieder einmal Kaiserin Sissi den Löffel zum Mund führe. Oder, wenn ich selbst für einen ganz bekannten Schauspieler gehalten werde – aber: Wie hieß er nur gleich? Oh nein, ich soll ihn selbst spielen? In welchem Jahrhundert? Und bitte, wo bin ich hier denn überhaupt?" Altenpfleger Sven hat witzige, kuriose und haarsträubende Schilderungen aus dem Mikrokosmos Altenheim gesammelt und zeigt, wie es dort "wirklich" ist. Sven kennt keine Peinlichkeiten, keine Tabus, aber er führt die Alten und Dementen niemals vor. Im Internet hat der "Altenheimblogger" damit schon eine riesige Fangemeinde erreicht - lachen Sie mit!
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Seitenzahl: 215
Sven Bramert
Ich habe den Führer rasiert
Skurriles aus dem Altenheim
Knaur e-books
Altenpfleger Sven hat witzige, kuriose und haarsträubende Schilderungen aus dem Mikrokosmos Altenheim gesammelt und zeigt, wie es dort »wirklich« ist. Sven kennt keine Peinlichkeiten, keine Tabus, aber er führt die Alten und Dementen niemals vor. Im Internet hat der »Altenheimblogger« damit schon eine riesige Fangemeinde erreicht - lachen Sie mit!
»Sitzt da hinten nicht Helmut Schmidt?«
Das Thema Altenheim ist für die meisten nicht gerade angenehm. Keiner möchte einmal dort hin, viele haben Angehörige im Altenheim, die sie eigentlich längst mal wieder besuchen sollten. Schlechtes Gewissen, gepaart mit Unbehagen und Lustlosigkeit.
Mir geht es anders.
Ich bin seit 13 Jahren Altenpfleger, und ich kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen. Er ist abwechslungsreich und mitunter auch höchst amüsant.
Sie glauben mir nicht?
Hey, ich nehme Sie einfach mal mit ins Haus Brunhilde, meinen langjährigen Arbeitsplatz in einer kleinen norddeutschen Stadt. Auf die Station für Langzeitpflege, auf der ich arbeite – hier finden pflegebedürftige Menschen ihr meist letztes Zuhause. Und ich verspreche Ihnen, von Staunen über Schmunzeln bis Brüllen vor Lachen ist alles drin. Denn unsere Bewohner sind immer für eine Überraschung gut. Da komme sogar ich selbst schon mal ins Grübeln: Wenn ich böse beschimpft werde, weil ich das Bett frisch beziehe. Oder wenn ich wieder einmal Kaiserin Sissi den Löffel zum Mund führe. Oder wenn ich selbst für einen ganz bekannten Schauspieler gehalten werde – aber: Wie hieß er nur gleich? Oh nein, ich soll ihn selbst spielen? In welchem Jahrhundert? Und bitte, wo bin ich hier denn überhaupt?
Auf einem der Flure unserer Station, die zum Speisesaal führen, kam mir einmal Bernd Bruder entgegengeschlurft. Er schien etwas in der Hand zu transportieren und war sehr bemüht, es nicht fallen zu lassen. Ich konnte aber in der hohlen Hand nichts erkennen.
Da raunte er verschwörerisch:
»Ah, hier, für dich, Sven!«, und reichte mir etwas Unsichtbares rüber.
»Ooooooh, danke«, sagte ich höflich und nahm den imaginären Gegenstand ebenfalls in die hohle Hand.
»Schenke ich dir«, sagte Bernd noch und nickte mir gönnerhaft zu. Große Erleichterung, dieses Nichts selbst losgeworden zu sein, schwang anscheinend auch mit.
»Schön, das ist ja nett.« Ich nickte und wollte schon weiter.
»Ja, sehr gut. Kann man mittags gut gebrauchen«, sagte er.
Aha, wahrscheinlich etwas zu essen.
Ich hob die hohle Hand zum Mund und tat so, als würde ich mir das imaginäre Geschenk in den Mund stecken, kaute ein paar Mal überdeutlich und gab vor, es runterzuschlucken.
Bernd schaute mich an, als ob ich sie nicht mehr alle hätte.
»Was ist?«, fragte ich.
»Das waren STAHLNÄGEL, Mensch!«
»Ja und?«, raunzte ich. »Macht mir nichts aus.«
Bernd blickte mich voller Respekt an, wich sogar einen Schritt zurück.
»Du bist mir einer, Sven!«, sagte er, bevor er weiterschlurfte.
Später hatte er angeblich noch eine Schnur in der Hand, davon wollte er mir aber nicht mal ein winziges Stückchen abgeben.
Hätten Sie gedacht, dass man als Altenpfleger als Pantomime oder gar in einer Fakirnummer geübt sein muss?
Bernd Bruder, im früheren Leben selbständiger Tischler, ist heute dement, aber immer noch ganz mit seinem Beruf verbunden. Durch ihn komme ich an so manchen phantasierten Zweitjob: In der Pause mal eben eine Ladung Holz vom Lkw abladen oder nach der Arbeit noch die Werkstatt fegen. Für anspruchsvollere Tätigkeiten werde ich jedoch nie eingesetzt. Keine Ahnung, woran das liegt.
Als ich einmal in Bernds Zimmer kam, um nach dem Rechten zu schauen, saß der schwere alte Mann auf dem Sofa und versuchte gerade aufzustehen, fiel aber immer wieder zurück ins Polster.
»Bernd, was ist los?«, fragte ich verwundert. So was kannte ich gar nicht von ihm.
»Ach, ich komm nicht hoch«, klagte er.
»Warte, ich helfe dir«, sagte ich und stand schon vor ihm.
»NEIN! Vorsichtig!«
»Wieso? Ich will dir nur helfen.«
»Mensch, Sven, ich bin komplett aus Glas.«
»Wie aus Glas? Hast du Glasknochen?«, fragte ich überrascht.
»Ach, Quatsch. Komplett aus Glas bin ich.«
»Pfandglas oder Einweg?«
»MENSCH, HÖRAUFMITDEINENSCHERZEN, ICHZERSPLITTERE!«, brüllte er, stand dann aber doch noch mit meiner Hilfe und wundersamerweise ohne Glasbruch auf.
Bei den meisten Bewohnern kann man sich eben nicht sicher sein, auf welchem Fuß man sie erwischt, auch wenn man ihnen gleichbleibend freundlich begegnet. Elisabeth Teuber ist in dieser Hinsicht eine begnadete Überraschungskünstlerin.
»Leben deine Eltern noch?«, fragte sie vor einiger Zeit interessiert.
»Ja«, gab ich bereitwillig Auskunft.
»Dann nimm dir aus meinem Schrank das blaue Kleid und schenk es deinem Vater, er wird sich freuen.« Elisabeth nickte mir lächelnd zu.
»Oh«, sagte ich und war wirklich erstaunt. »Dass er so etwas trägt, wusste ich gar nicht.«
»Da kennste den aber schlecht, der wird es schon leiden mögen«, erklärte sie.
»Na, wenn du meinst, Elisabeth … Ich hole es mir dann kurz vor Feierabend.« Bis dahin würde sie es sicher vergessen haben.
»Danke schon mal!«
Nur fünf Tage später zischte Elisabeth mich an:
»Haste ’n Auto?«
»Ja, hab ich.«
»Aha, dann warst du derjenige, der mich zweimal angefahren hat!«
»Nee, das war ich nicht«, setzte ich mich zur Wehr.
»Deine Lügen bringen dich auch nicht weiter, du kleiner Zigeuner!«, legte sie noch mal nach.
Mein Strafregister würde bestimmt für eine lebenslängliche Haft reichen, wenn ich all das getan hätte, was mir die lieben Alten auf der Station so nachsagen.
Als ich etwa am selben Abend bei Hedwig Gerlach ins Zimmer schaute – eine tagsüber eher ruhige alte Dame, die jedoch abends und nachts schon mal aktiver wird –, sah ich, dass sie ohne ihr Kopfkissen im Bett lag. Selbiges lugte zwischen Wand und Bett hervor.
»Na, soll ich mal?«, fragte ich und deutete in Richtung Kissen, löste mit dem Fuß gleichzeitig schon die Bremsen der Rollen, um das Bett ein wenig von der Wand zu ziehen.
Hedwig schaute mehr als misstrauisch.
»Herr Sven, das können Sie doch nicht machen!«
»Klar doch, geht ratzfatz, Frau Gerlach«, antwortete ich.
»Oh Gott! Was sind Sie nur für ein Mensch! Ich lebe doch noch. Und Sie wollen mich ins Leichenschauhaus bringen!«, rief sie.
Hmm … Ob ihr leichtes Hörproblem da für Missverständnisse sorgte?
»Ich will Ihnen bloß das Kopfkissen aufheben«, sagte ich und angelte mir den lasch gefüllten weißen Stoff.
»Um mich zu ersticken. Ich kenne Sie ganz genau!«, sagte sie. Und machte sehr große Augen, als ich ihr das Corpus Delicti lediglich unter den Kopf schob.
Mir eine gute Nacht wünschen wollte Frau Gerlach dann aber trotzdem nicht.
Sicher haben Sie es schon gemerkt: Ich lege bei der Arbeit Wert auf einen möglichst lockeren Umgangston. Ich denke mir, trostlos ist das Leben von allein, wenn man sich mit einer künstlichen Hüfte, halb taub und inkontinent am Rollator durch den Mikrokosmos Altenheim schiebt. Dafür brauchen mich meine Alten wirklich nicht. Aber wird es einem gedankt, wenn man ein wenig Heiterkeit versprüht? Nicht immer, wie wir gleich sehen werden …
Es war 12.50 Uhr, ich hatte Spätschicht und war auch noch spät dran. Eilig betrat ich mit nasser Hose das Altenheim. Warum ich eine nasse Hose anhatte, ist schnell erklärt. Meinte ich zumindest, bis mich Georg Weber und Rita Paulsen im Eingangsbereich von der Seite anquatschten:
»Na, Meister Sven, was haste denn mit deiner Hose gemacht?«
Georg in seinem Rollstuhl grinste dämlich, nicht unfreiwillig dämlich, sondern absichtsvoll dämlich.
»Ach, hab das Fenster vom Auto offen gelassen, der ganze Sitz war nass und nun die Hose«, sagte ich und wollte schnell weiter in die Umkleide.
»Ach so, bis auf die Unterhose, oder was?«, hakte Rita nach. Sie lehnte sich vergnügt im Sessel zurück, hier unten in der Lobby gab es anscheinend die besten Plätze, wenn man Unterhaltung sucht. Aber für einen langen Plausch hatte ich heute leider keine Zeit.
»Ja«, antwortete ich.
»Ach, der Sven will die Wahrheit nicht sagen«, krähte Rita.
»Meinste, der hat sich mal wieder eingenässt?« Georg grinste echt schäbig.
»Klar, Sven will das aber nicht erzählen, das ist ihm peinlich.« Rita grinste auch.
»Ist das so, Sven? Haste Pipi in der Hose? Ist nicht schlimm. Kann doch jedem mal passieren.«
Okay, okay. Ich spielte mit.
»Ja, ja, ihr habt mich erwischt, ich bin inkontinent, hab’s einfach laufen lassen«, sagte ich im Weitergehen.
»Ach Sven, mach dir nichts draus, bist ja im Altenheim«, rief Rita.
»Genau, bist hier in bester Gesellschaft. Hehehe …«
Die beiden hatten Spaß.
»Ich gehe mich mal lieber umziehen, rede ungern vor dem Dienst mit den Bewohnern, die an Alzheimer erkrankt sind.«
»Pass bloß auf, du kriegst gleich Alzheimer!«, drohte Rita.
»Haben wir oder hast du die Hose nass?« Georg klang auch kampfeslustig.
»Ich hau hier ab, bis später«, verkündete ich.
»Trocken bleiben!«, schallte es mir hinterher.
Ungezogene Bande!
Obwohl sie mich tagtäglich sehen, bin ich oft ein Fremder für die Bewohner, manchmal sogar ein vermeintlicher Mörder. Hin und wieder bekomme ich aber auch schon mal eine Nettigkeit gesagt. In welche Kategorie wohl allerdings folgende historisch wie moralisch nicht ganz einwandfreie Verwechslung gehört? Beleidigung oder Kompliment?
Erwin Kroll kann sich nicht allein rasieren, also verteilte ich mal wieder den Rasierschaum in seinem Gesicht, um loszulegen. Plötzlich sah er mich verblüfft an.
»Biste der Metzger?!?«
Hm. Ich rasiere gar nicht mit Messer, sondern mit einem ganz normalen Nassrasierer, aber bitte.
»Wenn du möchtest, ja.«
»Höhö, nee.«
Dann mal los …
Aber wieder blickte er mich so merkwürdig an.
»Was schauste so, Erwin?«
»Ich fühle mich geehrt.«
»Kannste auch, weil ich dich rasiere.«
»Nee, nee, du hast doch auch den Führer mal rasiert!«
Schluck.
»Den Adolf?«
»Ja, ja, sicher doch, er war begeistert von dir. Sauber die Haare entfernt.«
»Ach so, na dann.«
Na super! Jetzt war ich also für den akkurat getrimmten Oberlippenbart des Führers verantwortlich. Ich hab’s ja schon immer gesagt – als Altenpfleger trägt man wirklich viel Verantwortung!
Erwin Kroll hat es generell mit Hierarchien. Einmal fragte er mich:
»Du sach ma, biste eigentlich Meister?«
Er hatte es sich gerade am Fenster einer der Sitzecken in unserem breiten Stationsflur bequem gemacht.
»Ja, ich bin der Obermeister hier.«
»Oh, na ja … nicht schlecht«, sagte er bewundernd.
»Nein, ich habe drei Jahre gelernt, und dann war ich mit der Ausbildung fertig«, korrigierte ich mich.
»Ach so. Ja, ich mache mir ab und an Gedanken, wie das alles hier funktioniert.«
»Kann ich verstehen«, antwortete ich.
»So, drei Jahre gelernt. Und wo arbeitest du dann?«
»Na hier, Erwin. Bin doch fast jeden Tag hier, noch nicht aufgefallen?«
»HIER? Das ist doch keine Arbeit. Du musst doch irgendwo arbeiten, einen festen Job haben!«
Hmmm, hat er eigentlich recht.
»Ja, also, ich bin hier nur in meiner Freizeit und arbeite nebenan in dem großen Gebäude als Meister.«
»Das hört sich schon vernünftiger an!« Erwin nickte zufrieden und schaute aus dem Fenster zum Krankenhaus hinüber.
Als ich weiterging, rief er mich noch mal zurück.
»Du, da in der Ecke, ist das nicht … Nein, das kann ja nicht sein!« Sein Blick wanderte zur Sesselecke am anderen Ende des Flurs.
»Sitzt da hinten nicht Helmut Schmidt?«, fragte er.
»Äh … da sitzt aber eine Frau, Erwin.«
»Ja, ja, ich weiß.«
Ich traute mich nicht, nach den Details dieser Assoziation zu fragen …
Jetzt könnte man auf die Frage kommen, wie es sich wohl in so einem Nobelheim für Promis wie den Altbundeskanzler leben oder wahlweise arbeiten lässt? Ich weiß es auch nicht. Vermutlich besteht dort aber strengste Schweigepflicht, was für dieses Buch eher kontraproduktiv wäre. Denn dann könnte ich gar nicht von den phantasievollen alten Leutchen erzählen, die meinen Arbeitsplatz von einer Sekunde auf die andere an – mal mehr, mal weniger – traumhafte Orte verlegen. Und dabei fängt es oft ganz belanglos an …
»Sven, kommt meine Tochter heute?«, fragte mich Max Wilke, der beinahe jeden Mittwoch und Sonntag Besuch von seiner Tochter bekommt.
»Ja, ich glaube schon.«
Die Tochter ruft sogar an, wenn sie mal nicht kommen kann.
»Du, die will mich doch nicht in ein Altenheim stecken, oder?«
»Neeee, wie kommste denn darauf?«
»Ha, weiß nicht, hab da so ein komisches Gefühl. Hier sind ja auch so viele alte Pflaumen.«
»Nee, nee, so ist deine Tochter ja nicht drauf«, beschwichtigte ich Max.
»Stimmt. Du, wann legt denn das Schiff wieder ab?«
»Welches Schiff?«
»Mann, Sven, bist du verwirrt? Wir sind doch hier auf einem Schiff!«
»Ach so, Max. Ja, dieses Schiff … in einer Stunde geht’s los.«
»Prima!«
Max Wilke ist an Alzheimer erkrankt. Oft denkt er nicht, er sei auf einem Schiff, sondern in einer Rehaklinik, und dass er bald wieder nach Hause komme. Manchmal, also ungefähr um die hundertfünfzig Mal am Tag, fragt er mich oder meine Kolleginnen, wann er denn endlich abgeholt wird.
Viele antworten ihm dann:
»Sie wohnen doch hier, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, Herr Wilke.« – »Komm, Max, du bist doch schon seit einem guten halben Jahr bei uns. Dein Zuhause ist jetzt hier.«
Daraufhin beschwert er sich:
»Wer hat das angeleiert?«
Wenn ihm dann gesagt wird, dass die Tochter ihn hergebracht hat, ärgert er sich.
»Das war bestimmt mein Schwiegersohn, der ist so dominant und will immer alles bestimmen. Wenn die hier vorbeikommen, oh nee, dann ist was los.«
Und danach gibt er keine Ruhe mehr:
»Wo ist mein Geld?« – »Wer bezahlt das hier?« – »Ich will sofort meine Tochter anrufen!« Er redet sich dann total in Rage.
Ich verfolge mittlerweile eine andere Taktik und antworte einfach:
»Du, Max, übermorgen geht’s nach Hause!«
»Ja?«, fragte er dann erstaunt.
»Sicher! Alles mit deiner Tochter abgeklärt!«
»Und das ist zu hundert Prozent sicher?«
»Zu tausend!«
»Du hilfst mir dann packen und sagst mir das noch einmal, ja?«
»Aber natürlich, Max.«
Danach ist er beruhigt, und man kann sich mit ihm ganz nett über dies und das unterhalten oder ihm eine Zeitung bringen.
Meine Kolleginnen finden das nicht so gut.
»Du kannst ihm doch nicht solche Lügen erzählen. Was ist, wenn er sich übermorgen daran erinnert und dann vor der Tür steht? Das kannste nicht machen!«
Und ob ich das machen kann! Er wird sich das bis übermorgen nicht merken, auf keinen Fall, dafür ist er für den Moment erst mal beruhigt.
Warum soll ich Max oder einem anderen Bewohner den Tag vermiesen? Und das im Zehn-Minuten-Takt?
Doch nicht nur bei unseren Bewohnern oder uns Pflegerinnen und Pflegern regt sich die Phantasie, wenn es um den Ort unseres Zusammenseins geht. Auch Besucher können geistig ganz schön kreativ sein.
Etwa dieser junge Mann, der mir einmal am Ende meiner Frühschicht vor dem Haupteingang unseres Altenheims in die Arme lief. Der sagte ohne großes Hallo:
»Ich suche den Kevin Meier! Der liegt hier.«
»Kevin? Mmmh, glaube ich nicht.«
»Doch, seit Samstag.«
»Aber das hört sich schon vom Vornamen her nach einer jüngeren Person an. Dies hier ist ein Altenheim.«
»WAS? ALTENHEIM? Oh Gott! Ach so. Puh.«
»Du willst bestimmt ins Krankenhaus, das ist direkt gegenüber.« Ich zeigte auf das große Gebäude.
»Hmm … Ja, eigentlich schon. Im Altenheim bin ich hier also. Hmm …«
»Ja, ist doch gar nicht so schlimm, oder?«
»Nee, ich muss dann immer an den einen Film denken, ach, wie war der Titel noch? Ach ja, Einer flog über das Kuckucksnest!«
»Das war aber kein Altenheim, da spielt Jack Nicholson einen angeblich Verrückten in einer Nervenheilanstalt.«
»Ja?«
»Ja sicher!«
»Ach so. Na gut. Vielen Dank für die Infos! Ich will dann mal los …«
»Bitte, gern.«
UNDJETZTZIEHLEINE! Dann kann ich endlich die Station abschließen, die Tabletten und Tropfen nach eigenem Rezept mixen und den Bewohnern in den Rachen stopfen. Andere nette Schikanen habe ich mir auch schon ausgedacht! Wo ist mein Gummiknüppel? Herrlich! MUHAHAHAHAHA!
»Du wärst ein ganz netter Pfleger, wenn du mich nicht jeden Tag wecken würdest.«
Viele Leute fragen mich, warum ich Altenpfleger geworden bin. Das sei doch so ein typischer Frauenberuf – schlecht bezahlt, Schichtdienst, sich den ganzen Tag um alte Menschen kümmern, die entweder an Alzheimer, Inkontinenz, Lebensverdruss oder an allem zugleich leiden. Aber da gibt es in meinem Fall keine große Enthüllungsstory. Tut mir leid. Richtig, der Job ist unterbezahlt. Aber ich bin weit davon entfernt, völlig selbstlos zu leben, habe gleichaltrige Freunde und sogar eine Freundin. Tatsächlich gibt es Leute, die denken, dass man als männlicher Altenpfleger sozialgestört oder zumindest schwul sein muss. Nichts gegen Homosexuelle, aber das ist wirklich kein Einstellungskriterium.
Ich bin im Pflegebereich hängengeblieben, nach dem Zivildienst, den man bis vor wenigen Jahren noch als Ersatz für den Wehrdienst machen musste. Damals habe ich Kinder an einer Schule für körperlich und geistig Behinderte betreut. Ich hatte aber schon vorher keine Vorbehalte gegen Menschen, die zum Leben die Hilfe anderer benötigen. Alte Menschen zu pflegen ist weder eklig noch ruhmreich. Es ist eine notwendige und sinnvolle Arbeit, die mir meistens auch richtig Spaß macht. Als 17-Jähriger mit der Frage im Kopf, was ich denn nun werden wollte, waren aber noch ganz andere Dinge entscheidend. Mich zog es nie in die Großstadt oder weit weg von zu Hause. Ich wollte irgendwann ausziehen, klar, aber ich hatte keine Nestfluchtgedanken. In dieser Hinsicht müssen meine Eltern irgendetwas falsch gemacht haben, sie waren womöglich zu tolerant und umgänglich. Es lebte sich gut mit ihnen, und auch heute noch besuche ich sie gern und schau vor dem Spätdienst auch schon mal spontan auf einen Kaffee bei ihnen vorbei.
Als ich damals von der Altenpflegeschule in unserer Nachbarstadt hörte, war mein Entschluss schnell gefasst. Diese Lösung war nicht nur praktisch, sondern auch kostengünstig: Ich gründete mit drei anderen Altenpflegeschülern – Altenpflegeschülerinnen versteht sich – eine Fahrgemeinschaft. Hatte keine Mietkosten, bekam mein Essen bei Muttern und hätte danach sogar noch das Fachabi erworben. Alles in allem ein guter Deal.
»Und die Schichtdienste?«, möchten Sie jetzt sicher nachhaken.
Die empfinde ich persönlich nicht als Problem, sehe das sogar eher als Vorteil. Auch meine Freundin Alexandra, mit der ich seit sechs Jahren zusammenlebe, ist examinierte Altenpflegerin. Und seit wir unseren Vierbeiner Fred haben, eine junge Französische Bulldogge – das ist so ein kleines Kraftpaket mit Fledermausohren –, wissen wir unsere Schichtdienste noch mehr zu schätzen. So muss Fred nur ab und an zu den Schwiegereltern, wenn wir mal parallel Früh- oder Spätschicht haben. Nachteil des Schichtdienstes ist natürlich, dass Alexandra und ich höchstens ein- bis zweimal im Monat ein freies Wochenende haben. Dafür entschädigen die gemeinsamen freien Wochentage, die es immer mal wieder gibt.
Okay, das Aufstehen zur Frühschicht um halb fünf ist nicht jedermanns Sache. Da muss man sich schon raushieven aus den Federn. Beim Spätdienst gibt es zum Ausgleich dann ein richtig gemütliches Frühstück. Und vielleicht ist das auch der eigentliche Grund, warum mir das Arbeiten in wechselnder Schicht gefällt: Der Alltagstrott, das Immergleiche wird aufgemischt, und egal welchen Dienst man hat, es bleibt immer noch knapp die Hälfte des Tages zur eigenen Gestaltung. Jeden Tag von acht bis fünf in einem Büro zu hocken, das wäre tödlich für mich.
Schon in der Ausbildung konnte ich erleben, was es heißt, hauptsächlich mit Frauen zusammenzuarbeiten. Dieser Frauenüberschuss macht den Beruf des Altenpflegers jedoch nicht zum Traumberuf, zumindest für mich nicht. Sorry, aber die Weiber können auch ganz schön nerven. Der einzige examinierte Kollege, den ich je hatte, arbeitete einen Stock tiefer und ist vor zwei Jahren in Rente gegangen. Dabei würde ich mir mehr Männer auf der Station wünschen. Ja – Männer, denn die zahlreichen männlichen Praktikanten und Schüler sind noch mal eine ganz eigene Spezies. Dazu aber an anderer Stelle mehr. Ich wünsche mir Verstärkung schon deshalb, um den zweifelsohne genetisch bedingten Eigenheiten der weiblichen Mitarbeiter erfolgreicher etwas entgegensetzen zu können.
Typisch für meine Kolleginnen sind zum Beispiel der pünktlich im Rhythmus der Jahreszeiten ausbrechende Dekowahn, zwanghaftes Putzen durch alle Jahreszeiten hindurch und ein übersteigertes Stilempfinden, was die Kleidung der Bewohnerinnen betrifft. Das hört sich dann zum Beispiel so an: »Aber Sven, du kannst doch Frau Teuber heute nicht den gelben Pullover anziehen, heute ist Sonntag! Hier, die rosa Bluse mit den Rüschen ist doch so schön!«
Vor allem eine Kollegin hat so Sätze immer wieder drauf, aber dazu später noch mal mehr.
Ganz schlimm sind besonders die Tage, an denen die Frauen das Heim mit neuem Dekomaterial fluten. Helga, eine sonst eigentlich toughe Endvierzigerin, karrt das Zeug im Frühherbst tütenweise heran und guckt dabei ganz verklärt. Wie wild verhalten sich dann die Kolleginnen, wenn sie sich über Nüsschen, Schleifchen, Herbstlaub und Dekopilze hermachen: »Ui, wie schöööööön.« – »Tooooll, hast du die Kastanien alle aus deinem Garten mitgebracht, Helga?« – »Ich schmücke den Speisesaal!« – »Nein, ich.« – »Nein, ich!«
Manchmal hab ich Angst, dass die sich wegen des ganzen Kitsches im Übermut noch an die Gurgel gehen. Oder sich jemand daran verschluckt. Wie oft in der kalten Jahreszeit irrtümlich angebissene Kunststoffäpfelchen oder Zierkürbisse mit Nagespuren auf den Tischen liegen, das möchten Sie gar nicht wissen. Wir können es den Bewohnern noch so oft erklären, aber dieses Deko-Obst sieht anscheinend einfach zu verlockend aus. Dabei landet das meiste dann früher oder später immer in den Handtaschen von Elisabeth Teuber und Luzie Baumeister. Folge des Pflegerinnen-Dekowahns ist bei diesen dementen Bewohnerinnen eine regelrechte Sammelwut. Da kriegt man schon mal Angst, dass die Nähte ihrer Lederhandtaschen platzen und einem die Nüsse, Kastanien und Kleinkürbisse um die Ohren fliegen. Ich ducke mich dann vorsichtshalber weg und erledige die Arbeiten, die liegen geblieben sind, weil das weibliche Personal nur noch Augen und Hände fürs Schmücken hat. Auch wenn es mit Sicherheit billiger wäre, eine eigns dafür zuständige Dekorateurin einzustellen.
Nun denken Sie vielleicht, ach, so ein Altenpfleger in weißer Robe, der strahlt sicher jede Menge Autorität aus, dem müssen sämtliche Frauen doch einfach nur zu Füßen liegen. Weit gefehlt. Ober besser gesagt: Gut getroffen!
Was hab ich nicht schon alles an den Kopf geworfen bekommen, unschöne Worte, klar. Aber auch Teller, Tassen, eine Kerze, Garderobe – ja, auch Damenunterwäsche in Größe 52 – und einen Gehstock. Der oberen Zahnprothese von Luzie Baumeister konnte ich aber geschickt ausweichen. Sie wirft die Dritten eigentlich auch nicht, sondern versteckt sie lieber. Doch an diesem Tag war eine Dusche nötig, und die mag sie gar nicht.
Luzie, 86, und ich duzen uns schon lange, sie ist bereits seit vier Jahren auf unserer Station. Sie sitzt im Rollstuhl und ist seit ein paar Monaten leider sehr durcheinander, weshalb ihr auch Namen meist nicht mehr einfallen.
»MARIA! MARIA! MAAARIIIAAAAA!«, rief sie vor kurzem über die Station, als ich Dienst hatte.
»Hey Luzie, warum so laut?«
»Ich suche Maria, die MAAAAAAAARIAAAAAAAAAA suche ich!«
»Ja, das habe ich verstanden, nur gibt es hier keine Maria.«
»Doch, ihr alle werdet jetzt Maria genannt, ich kann mir keine anderen Namen merken. MAAAARIIIAAAAA!«
Erst als ich ihr einen Kaffee und etwas Gebäck hinstellte, herrschte wieder Ruhe. Später erzählte mir eine ihrer drei Töchter, dass Luzies jüngste Schwester, die im Kleinkindalter an Tuberkulose verstorben war, Maria geheißen habe.
Wenn Luzie nicht gerade sehr durcheinander ist oder unter die Dusche soll, dann ist sie allen freundlich zugewandt und macht anderen auch gern Komplimente. Hat sie mal etwas auszusetzen, was aber selten der Fall ist, dann formuliert sie es mit Bedacht. So schaute sie mich eines Morgens mit ihren großen braunen Augen unter den verwuschelten weißen Locken an und meinte:
»Du wärst ein ganz netter Pfleger, wenn du mich nicht jeden Tag wecken würdest.« Müde schlug sie die Lider für einen Moment noch mal zu.
»Du bist auch zu sehr darauf fixiert, mir die Kleider auszuziehen. Daran musst du noch arbeiten, Sven«, ermahnte sie mich dann noch freundlich.
Zum Schmunzeln sind aber nicht alle Sprüche, die man als männlicher Pfleger zu hören bekommt. Meine Kolleginnen etwa wurden noch nie gefragt, ob sie nicht mal etwas Richtiges lernen wollen. Regelmäßig bekomme ich zu spüren, dass ich in meiner Berufung nicht ernst genommen werde. Dagegen hilft nur ein möglichst gesundes Selbstbewusstsein. Denn nicht nur Bewohner mit Demenz verwundert meine Anwesenheit im Schwesternzimmer. Kürzlich rief eine Apothekenhelferin an. Ich meldete mich am Stationsapparat wie üblich mit:
»Altenheim Haus Brunhilde, Pfleger Sven.«
»Hallo, Apotheke Am Feld hier, ich rufe wegen einer Medikamentenbestellung an.«
»Okay. Was gibt’s?«
»Können Sie mir denn weiterhelfen?«
»Wenn Sie mir sagen, was Sie möchten.«
»Ach, geben Sie mir doch mal eine Schwester!«
»Ich bin eine Schwester, quasi eine männliche. Hab mich doch mit Pfleger Sven gemeldet.«
»Aha.«
»Also, was kann ich denn nun tun?« So langsam wurde ich ungeduldig.
»Es wurde für Frau Käthe Meier L-Thyrox 50 Milligramm bestellt.«
»Genau, ich habe die Tabletten bestellt.«
Frau Meier leidet nämlich an einer Schilddrüsenunterfunktion und wird deshalb regelmäßig von ihrem Hausarzt Dr. Kötter untersucht.
»Jaaa, aber ich habe in meinen Akten Folgendes stehen: Frau Meier soll L-Thyrox 25 Milligramm erhalten, morgens eine Tablette.«
»Stimmt, das wurde auch so von Dr. Kötter verordnet.«
»Und warum bestellen Sie 50, wenn sie 25 Milligramm bekommen soll?«
»Hat der Arzt so bestimmt.«
»Junger Mann, warum soll die Dame morgens 25 Milligramm bekommen, und dann bestellen Sie aber 50 Milligramm?«
Oh Mann, das war ein typischer Fall von Vorurteilen gegenüber männlichem Pflegepersonal, gepaart mit einer üblen Rechenschwäche. Aber gut, immer höflich bleiben.
»Gnädige Dame, kennen Sie die Hälfte von 50?«
»Wie bitte?«
»Die Hälfte von 50!«
»25.«
»Genau. Schön. Wenn ich nun die 50-Milligramm-Tablette teile, was habe ich dann für eine Stärke?«
»… 25 Milligramm …«
»Richtig. Wunderbar.«
»Ach so, dann hat der Arzt das wohl wirklich so verordnet! Die stärkere Dosis, und Sie sollen die Tablette dann teilen. Okay, wenn er das so gesagt hat.«