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«Die kleine Meise hackte wie wild auf dem Meisenknödel herum. Ich saß am Küchenfenster und beobachtete das gefiederte Geschöpf. Warum fliegt sie nicht in den Süden?, fragte ich mich und fand gleich darauf die Antwort: Warum sollte sie? Millionen Meisenknödel, aufgehängt von tierliebenden Mitbürgern, machten ihr die Entscheidung leicht. Warum sollte sie die soziale Hängematte verlassen, wenn sie es sich darin bequem machen konnte …?» Geduldig erträgt der sympathische Schmarotzer Robert Naumann die Versuche seiner PAP (Persönliche Ansprechpartnerin), ihn in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Eine feste Stelle hat er so zwar noch nicht gefunden, dafür jede Menge kuriose Erfahrungen mit der Bundesagentur für Arbeit gesammelt. Selbstironisch und böse erzählt er aus dem Leben eines Langzeitarbeitslosen.
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Seitenzahl: 237
Robert Naumann
Ich hartz dann mal ab
Bekenntnisse eines kleinen Schmarotzers
Mit Illustrationen von Piero Masztalerz
Rowohlt Digitalbuch
Prolog
Die kleine Meise hackte wie wild auf dem Meisenknödel herum. Ich saß am Küchenfenster und beobachtete das gefiederte Geschöpf.
Warum fliegt sie nicht in den Süden?, fragte ich mich und fand gleich darauf die Antwort: Warum sollte sie? Millionen Meisenknödel, aufgehängt von tierliebenden Mitbürgern, machten ihr die Entscheidung leicht. Warum sollte sie die soziale Hängematte verlassen, wenn sie es sich darin bequem machen konnte?
Ich fühlte eine tiefe Verbundenheit mit diesem zarten, zerbrechlichen, aber anscheinend nicht dummen Vogel. Lieber fror er zu Hause ein bisschen und nahm mit dem eintönigen Speisenangebot vorlieb, das man ihm vorsetzte, als sich auf eine unsinnig lange Reise voller Strapazen zu begeben.
Es war diese Neigung, sich mit wenig zufriedenzugeben, aber auch nur das minimal Notwendige dafür zu tun, welche uns zu Brüdern im Geiste machte. Wenn wir auch unterschiedliche Motive hatten. Die Meise handelte aus politischen Gründen, bei mir war es schlicht Faulheit. Oder war es umgekehrt? Gut, ich war faul, aber vielleicht war ja meine Faulheit politisch motiviert?
Ich war zu dem Schluss gekommen, dass das wirtschaftliche Überleben Deutschlands nicht von meiner Arbeitskraft abhing. Ebenso wie die Meise den Flug in den Süden verweigerte, so sträubte ich mich dagegen, einer sinnlosen Tätigkeit nachzugehen.
«Hey du, kleine Meise», flüsterte ich, «wir sind vom selben Fleisch und Blut.»
Sie verdrehte die dunklen Augen, zeigte mir ihren dicken gelben Bauch und flog davon. Ein wenig arrogant fast, könnte man sagen. Ich war enttäuscht.
«Du hältst dich wohl für was Besseres?», rief ich ihr nach. Na ja, sie hatte gut lachen. So ein leckerer Meisenknödel mit urgesunden Cerealien lud den ganzen Winter zum Reinbeißen ein.
Im Gegensatz zu mir musste die kleine Meise nicht einmal Antragsformulare ausfüllen oder stundenlang auf Ämtern herumsitzen. Ich bot ihr mit meinem herausgehängten Futternetz anstrengungslosen Wohlstand, da war etwas Dankbarkeit als kleine Gegenleistung doch das Mindeste, was man verlangen konnte.
Die kleine Meise kehrte zurück, mit etwa einem Dutzend weiterer Meisen im Schlepptau. Die ganze Verwandtschaft wahrscheinlich. Ein Haufen asozialer Faulpelze, der sich wie selbstverständlich über die Futterkugel hermachte.
Ich weiß nicht genau, wie viele Meisen es in Deutschland gibt, aber ich kann mir vorstellen, dass es eine hübsche Stange Geld kostet, die alle mit durchzufüttern. Wer war eigentlich auf die Idee mit den Meisenknödeln gekommen? Bestimmt so ein linker, grüner Spinner. Wahrscheinlich ist die Meise sogar tatsächlich ein ehemaliger Zugvogel, durch falsch verstandene Tierliebe zum Schmarotzer mutiert.
Diese plötzlichen Überlegungen ließen mich den kleinen Vogel in einem völlig anderen Licht betrachten. Das war nicht mehr der bemitleidenswerte gefiederte Freund, der meine Hilfe brauchte, um den Winter zu überstehen.
«Kleine Meise», sagte ich, «man muss auch was dafür tun», öffnete das Fenster und nahm den Meisenknödel rein.
Ich bin bereit für den Gang nach Canossa. Zwar habe ich vor Aufregung Fieber bekommen, und Angstschweiß bricht sich durch die plötzlich rasant gewachsene Schuppenflechtenkruste auf meinem Kopf Bahn, aber ich bin bereit für meine neue Sachbearbeiterin beim JobCenter.
Gestiefelt und gespornt stehe ich im Flur, während meine Frau mir noch rasch die Schuppen von den Schultern wischt, den Kragen richtet und meinen Atem überprüft. Obwohl ich bereits drei Pfefferminzbonbons zum Frühstück hatte, gibt sie mir drei weitere mit auf den Weg, die ich bis zur Ankunft beim JobCenter unter allen Umständen aufzulutschen habe. Den Blumenstrauß und die Packung Mon Chéri habe ich bereits in meinem Beutel untergebracht, wir haben an alles gedacht.
«Gott sei mit dir», sagt meine Frau plötzlich ganz leise und ernst, und ich nicke stumm. Eine letzte Umarmung, dann mache ich mich auf den Weg.
Es ist derselbe wie immer, daran hat sich nichts geändert. Aber das Ziel heißt nicht mehr Arbeitsamt, sondern JobCenter. Und das ist beunruhigend. Einmal im halben Jahr beim Arbeitsamt aufzukreuzen war eine feste Konstante in meinem Leben geworden. Eine Routineangelegenheit, von der man nichts zu befürchten hatte. Man ging hin, zog eine Nummer, wartete eine Weile, bis die Nummer aufgerufen wurde, und erklärte dann im Zimmer des Sachbearbeiters oder der Sachbearbeiterin, in Sachen Arbeit leider noch nicht fündig geworden zu sein. Worauf man sich verabschiedete und den Tipp bekam, auch das Internet bei der Stellensuche zu nutzen.
Auf diesen Ablauf war Verlass, und das schätzte ich daran. Aber nun diese Änderungen.
Vor einigen Wochen war nämlich Hartz IV in Kraft getreten. Wir waren jetzt eine Bedarfsgemeinschaft, meine Frau, die Kinder und ich. Bisher hatte es sich zumindest finanziell noch gelohnt, wenn einer von uns arbeiten ging, da die Arbeitslosenhilfe für den anderen unverändert weitergezahlt wurde. Jetzt würde ich im hoffentlich nicht eintretenden Fall einer Arbeitsaufnahme mein sauer verdientes Geld mit meiner Frau teilen müssen. Jeder Cent in meiner Lohntüte, der über der Grundsicherung liegt, würde meiner Frau abgezogen werden.
Finanziell gesehen schien es also vollkommener Unsinn zu sein, beruflich tätig zu werden. Außerdem war man nun verpflichtet, jede angebotene Arbeit anzunehmen, da im Falle einer Weigerung die Bezüge gekürzt wurden. Die bedeutsamste Neuerung war allerdings, dass nicht nur die Arbeitsämter jetzt JobCenter hießen, sondern die Bundesanstalt für Arbeit war nun die Bundesagentur für Arbeit.
«Ich bin bei einer Agentur beschäftigt», konnte man jetzt stolz beim Smalltalk auf Partys auf die Frage antworten, was man denn beruflich so mache.
Dieser Peter Hartz hatte es geschafft, aus verbitterten Langzeitarbeitslosen, die beim Arbeitsamt stempeln gingen, selbstbewusste Kunden der Agentur für Arbeit zu machen. Allein für diese Leistung gebührt ihm das Bundesverdienstkreuz. Man wurde auch nicht mehr von einem Sachbearbeiter betreut, sondern vom PAP, dem Persönlichen Ansprechpartner. Und wer das Glück hatte, als besonders schwer vermittelbar zu gelten, der bekam sogar einen Fallmanager zur Seite gestellt.
Aber genau diese Veränderungen, weg vom reinen Verwaltungsapparat hin zur modernen Dienstleistungsagentur, waren es, die mir Angst machten. Was, wenn mein neuer persönlicher Ansprechpartner seine Aufgabe wirklich ernst nahm und versuchte, mich in Arbeit zu vermitteln? Allein der Gedanke daran bringt mich zum Weinen, und obwohl ich in der S-Bahn sitze, nun auf dem Weg zum JobCenter, schäme ich mich meiner Tränen nicht. Erst der Blick auf meinen Beutel beruhigt mich ein wenig. Blumen und Mon Chéri. Vielleicht kann ich damit meine neue PAP für die Idee gewinnen, mich einfach in Ruhe zu lassen.
Frau Steputat heißt sie, und in ihrem Brief hatte gestanden, sie wolle mit mir über meine berufliche Situation sprechen. Ich bin mir nicht ganz im Klaren darüber, was es da zu besprechen gibt. Ich bin arbeitslos, das ist meine berufliche Situation. Und das musste sie doch wissen, sonst hätte sie mich nicht eingeladen.
Am S-Bahnhof Storkower Straße steige ich aus und reihe mich ein in den Strom der Arbeitslosen, die zum JobCenter unterwegs sind. Kurz davor fallen mir die Pfefferminzbonbons ein, und ich stecke alle drei auf einmal in den Mund. Allein mein Pfefferminzatem muss Frau Steputat den Verstand rauben und sie sanft und milde werden lassen.
Das ganze Haus war im Zuge der Hartz-IV-Reformen umgestaltet worden, und zwar mit dem Zweck, einem erfolgreichen Antrag auf Hartz IV so viele Hürden wie möglich in den Weg zu stellen. Als langjähriger Kunde hatte ich die Formulare für den Antrag per Post erhalten und ausgefüllt zurückschicken können, aber diejenigen, die sich zum ersten Mal hilfesuchend an das JobCenter wandten, waren völlig aufgeschmissen. Genauso fatal war es, wenn man keinen Termin hatte, wie ich später einmal leidvoll erfahren musste.
Hatte man die lange Schlange an der Anmeldung überstanden und dort erfahren, in welchen Bereich man sich begeben musste, und hatte man diesen dann nach einigem Suchen gefunden, hielt man vergeblich nach einem Wartenummernautomaten Ausschau. Diese mir sehr bekannten Geräte waren abgeschafft worden, um die Kommunikation zwischen den Kunden zu fördern. «Wer war denn der Letzte?», musste man jedes Mal die übrigen Wartenden laut und deutlich fragen und hoffen, dass sich jemand meldete. Jene Person durfte man für die nächsten zwei oder drei Stunden nicht aus den Augen lassen, denn wenn sie sich auf den Ruf «Der Nächste bitte!» erhob, dann hatte man es fast geschafft und durfte beim nächsten Aufruf an einem der fünf mit ungeschulten Sachbearbeitern besetzten Tische Platz nehmen. Hier durfte man nun sein Anliegen erläutern und bekam, wenn man Glück und die nötigen Unterlagen schon dabeihatte, einen Termin beim «richtigen» Sachbearbeiter oder der Leistungsstelle.
Die meisten derart Wartenden waren nach dieser Prozedur dermaßen gefügig, dass sie auch Jobs für 4,50 Euro brutto die Stunde annahmen. Und für die diejenigen, denen noch genug Kraft blieb, um aggressiv zu werden, flanierte Security-Personal auf den Gängen.
Zum Glück habe ich neben meinem Termin um 8.30 Uhr auch eine Zimmernummer, die 211. Trotzdem brauche ich gut zehn Minuten, um das Büro zu finden. Ich klopfe zaghaft an Zimmer 211 und drücke die Klinke nieder. Noch bevor ich die Tür geöffnet habe, schreit eine Stimme, die an eine Mischung aus dem Gebrüll eines Pavians und dem Geräusch von quietschender Kreide an der Schultafel erinnert: «Ich rufe Sie auf!»
Schockiert schließe ich die Tür wieder. Durch den geöffneten Spalt habe ich Frau Steputat sehen können, und sie gleicht meiner früheren Kindergartenerzieherin Frau May wie ein Ei dem anderen. Eine unförmige, massige Figur mit einem alles überragenden spitzen Busen, ein teigiges, mit Schminke zugekleistertes Gesicht und ein blonder Dutt von der Größe eines Fußballs. Frau May hatte mir im Kindergarten während der Mittagsruhe immer die Augen zugehalten, um meinen Schlafunwillen zu brechen. Ob sie tatsächlich glaubte, mir damit in den Schlaf helfen zu können, oder ob sie einfach nur böse war, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls war es die Hölle. Probiert das mal aus. Lasst euch eine halbe Stunde lang die Augen zuhalten – und ihr werdet dem Wahnsinn ein Stück näher sein. Es ist durchaus möglich, dass Frau May nicht ganz unschuldig daran ist, dass ich jetzt hier arbeitslos im JobCenter sitze, anstatt Karriere zu machen.
Obwohl im Zimmer von Frau Steputat niemand außer ihr gewesen war, verstreicht eine halbe Stunde, ohne dass ich aufgerufen werde. Es ist inzwischen fünf nach neun und ein spindeldürres, kahlköpfiges Männchen mit Aktentasche läuft hyperventilierend den Gang auf und ab und wiederholt mantraartig: «Ich hab doch Termin um neun, ich hab doch Termin um neun.»
«Ich hab 8.30 Uhr», sage ich zu ihm, um ihn darauf vorzubereiten, dass er wohl noch länger warten müsse. Er schaut mich erschrocken an, dann setzt er seine Wanderung fort.
Schließlich werde ich doch noch aufgerufen, worauf sich sofort das Männchen an meine Fersen heftet und Frau Steputat in Kenntnis setzt, dass er Termin um neun habe.
«Ich ruf Sie dann auf!», schreit Frau Steputat mit ihrer Paviangebrüll-Quietschkreidestimme und schlägt ihm die Tür vor der Nase zu. Etwas weniger laut bittet sie mich, Platz zu nehmen, anschließend versinkt sie schweigend über meiner Akte. Je länger sie darin blättert, umso mehr gleicht ihr Gesicht dem eines chinesischen Faltenhundes. Sie schüttelt den Kopf.
«Ich kann das nicht verstehen», sagt sie. «Sie sind ein gesunder, intelligenter junger Mann!»
Ich nicke bestätigend.
«Warum haben Sie dann keine Arbeit?», fragt sie und starrt mich völlig fassungslos und ungläubig an.
«Ähm …», beginne ich und weiß nicht weiter. Ich denke, es ist der richtige Zeitpunkt für die Blumen.
«Ich hab Ihnen was mitgebracht», sage ich feierlich und überreiche ihr den Strauß mit Margeriten.
«Für gute Zusammenarbeit!»
Sie starrt mich noch fassungsloser an.
«Herr Naumann, was soll das? Sie sind seit zehn Jahren fast ununterbrochen arbeitslos, das kann ich nicht akzeptieren. Da geht mir die Hutschnur hoch!»
Jetzt bin ich an der Reihe, fassungslos zu gucken. Hat sie das eben wirklich gesagt, das mit der Hutschnur?
In diesem Augenblick klopft es an der Tür, die sich einen Spaltbreit öffnet.
«Ich hab doch Termin um neun», sagt das Männchen schluchzend. Frau Steputats Gesicht gleicht nun dem eines sehr finster dreinblickenden chinesischen Faltenhundes. Und sich nur mühsam beherrschend, bittet sie mich, einen Augenblick zu warten, dann geht sie mit dem Männchen vor die Tür. Ich habe Angst um das Männchen, aber ich muss mich auf mich konzentrieren. Hier im JobCenter ist sich jeder selbst der Nächste. Der Start mit meiner PAP ist alles andere als gut verlaufen, und ich muss retten, was noch zu retten ist.
«So, das wäre erledigt», schnauft Frau Steputat befriedigt, als sie wieder ins Zimmer tritt. Von draußen ist lautes Weinen zu hören. Sofort bin ich wieder in ihrem Fokus.
«Nun, Herr Naumann, leider habe ich momentan kein Stellenangebot für Sie. Ich erwarte Eigeninitiative. Wenn Sie in drei Monaten wieder zu mir kommen, möchte ich vier Bewerbungsbemühungen pro Monat von Ihnen sehen!»
Ich bin wie vor den Kopf gestoßen. Bei allen Befürchtungen, die ich gehegt hatte, ist es viel schlimmer gekommen als erwartet. Ich kann noch nicht ahnen, dass im Laufe der nächsten fünf Jahre aus den vier geforderten Bewerbungen acht pro Monat werden sollen.
«Ein Mon Chéri?», frage ich kraft- und hoffnungslos und halte meiner PAP die geöffnete Packung hin. Für einen Moment kann ich sehen, wie Frau Steputat mit sich kämpft, dann wird sie wieder Herr über sich selbst.
«Herr Naumann, ich glaube, Sie verkennen den Ernst der Lage! Bitte warten Sie jetzt draußen, ich mache die Eingliederungsvereinbarung fertig, dann rufe ich Sie wieder rein!»
Mit einem letzten Rest Hoffnung lasse ich die Mon-Chéri-Packung auf ihrem Schreibtisch stehen und gehe aus dem Zimmer. Das Männchen hockt mit tränengeröteten Augen zitternd in einer Ecke, hält die Aktentasche vor sich und schlägt in einem fort seine Stirn darauf. Hätte ich eine Aktentasche, würde ich mich zu ihm hocken und das Gleiche tun.
Nach einer Weile darf ich wieder rein und sehe, die Blumen sind im Müll und die leere Packung Mon Chéri auch. Frau Steputat hält mir stumm die Eingliederungsvereinbarung unter die Nase. Mit wachsendem Entsetzen lese ich, dass ich nicht nur vier Bewerbungen pro Monat nachweisen muss, sondern dass ich mich zudem verpflichte, auf jedes Stellenangebot des JobCenters umgehend zu reagieren und Kontakt mit dem vorgeschlagenen Arbeitgeber aufzunehmen.
Ich unterschreibe die Eingliederungsvereinbarung oder einen Pakt mit dem Teufel. Es gibt da keinen Unterschied.
Das Letzte, was ich von Frau Steputat sehe, ist, wie sie sich Schokoladenreste von den dicken Fingern leckt. Als ich das Zimmer verlasse, ist das Männchen verschwunden. Es wird wohl betteln gegangen sein.
Gucke aus dem Fenster, weil so schönes Wetter ist, da kann man ruhig mal den Kopf raushalten und sich die Frühlingsluft um die Nase wehen lassen. Man hat ja Zeit als Arbeitsloser. Das Fensterbrettkissen umkuschelt zärtlich meine Ellbogen, ein Fernglas zum Leutebeobachten hängt griffbereit um meinen Hals, und die Vögel zwitschern ganz allerliebst. So lässt sich’s leben. Rausgehen kann ich leider nicht. Draußen sind überall Menschen. Arbeitende Menschen. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Sie strömen aus dem Gewerbegebiet am Ende der Straße, sie strömen ins Gewerbegebiet, sie laufen ums Gewerbegebiet rum. Wenn ich die Augen zumache, sind sie weg. Ein Trick, den schon ganz kleine Kinder beherrschen. Aber wenn ich die ganze Zeit meine Augen zumache, dann schlafe ich ein, falle aus dem Fenster, und das Fernglas geht kaputt.
Also muss ich sie ertragen, die Menschen. Von hier oben sehen sie aus wie Ameisen, würde ich gern sagen, aber ich wohne im zweiten Stock. Und vom zweiten Stock aus lässt sich das mit den Ameisen nicht einmal mit viel gutem Willen behaupten. Wer hat die alle gerufen? Ich nicht. Ich bin ein Misanthrop. Ein gemäßigter zwar, wegen meiner Frau und der Kinder, aber ein Misanthrop. Bezeichnend dafür ist, dass ich das letzte Mal geweint habe, als im Kino Amy und die Wildgänse lief, ein Film über die Migration von Kanadagänsen, und die eine Gans verzweifelt mit ihrem verletzten Flügel flatterte, um sich gemeinsam mit ihren Gänsegeschwistern in die Luft zu erheben. Eine Szene, die mich zutiefst bewegt hat. Dagegen blieb ich beispielsweise völlig gelassen, als meiner Frau die Gallenblase operativ entfernt wurde. Tierschicksale setzen bei mir Emotionen frei, die ein Mensch nie auslösen könnte. Genau so ein Mensch bin ich.
Ich sehe dem Treiben da unten weiter zu. Es werden immer mehr. Frauen, Männer, Kinder, Alte, alles meine Feinde. Sie laufen unter meinem Fenster lang. Menschen, die unter meinem Fenster vorbeigehen, regen meine Speichelproduktion an. Ein vorbeihoppelndes Kaninchen zum Beispiel würde einen derartigen Reflex niemals auslösen. Es sei denn, es wäre ein gebratenes Kaninchen und ich hätte Hunger. Aber auf Kaninchen spucken? Niemals.
Mein Mund ist schon voller Spucke, aber ich trau mich nicht. Als Kind oder Jugendlicher hätte ich jetzt eine Maschinengewehrsalve aus meinem Mund abgefeuert, aber seit ich mehrere Resozialisierungsphasen bei verschiedenen Projekten von Sozial- und Arbeitsämtern mit dem Ziel der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt durchlaufen habe, hindern mich ethische Barrieren daran, die von Sozialarbeitern kunstvoll errichtet wurden. Den Menschenfeind in mir konnten sie allerdings nicht austreiben. Im Gegenteil, bei solchen Projekten potenzierte sich meine misanthropische Grundstimmung.
Seitdem rede ich übrigens mit Bäumen. Das ist wesentlich entspannender als zwischenmenschliche Kommunikation. Bäume gehören zu den ganz wenigen Gesprächspartnern, die noch weniger sagen als ich. Es gibt keine Widerworte, man muss nicht um den heißen Brei herumreden und niemandem in die Augen gucken.
Wenn sich alle Menschen plötzlich in Bäume verwandeln würden, wären die meisten wahrscheinlich so verkrüppelte Kiefern mit Borkenfraß, aber das wäre immer noch ein Fortschritt. Der kleine freche Lümmel vom Haus gegenüber, der gerade unter meinem Fenster vorbeischlendert, wäre wahrscheinlich eine miniermottengeschädigte Zwergkastanie.
Huch, jetzt sind doch plötzlich alle ethischen Bedenken über Bord gegangen. Ein Batzen Spucke hat sich gelöst … Aber vorbei. Hat er Glück gehabt, der Junge. Obwohl er es verdient hätte. Wie alle da unten. Tragen alle ihr kleines schmutziges Geheimnis mit sich rum, aber ich kann in ihnen lesen wie in einem Buch. Der da zum Beispiel, mit dem großen, silbernen Aluminiumkoffer, verprügelt seine Frau. Das sagt mir mein Instinkt. Wer würde freiwillig einen silbernen Aluminiumkoffer tragen, wenn er ein reines Gewissen hätte? Ich habe mal jemanden in der S-Bahn einen solchen Koffer öffnen sehen. Ein Apfel kullerte verloren darin rum und eine Bild-Zeitung. Der Rest war Vakuum. Der Mann aß den Apfel und las die Zeitung, warf beides beim Aussteigen in den Müll und marschierte den Rest des Tages mit einem völlig leeren Klotz von einem Aluminiumkoffer herum. Das nenne ich krank. So jemand kann einfach nur seine Frau verkloppen. Ganz bestimmt.
Oder die Frau da, die mit den großen Ohrringen und den Schuhen mit den wolkenkratzergroßen Absätzen. Die schläft mit ihrem Chef, da bin ich mir sicher. Sie wird mir kaum beweisen können, dass sie es nicht tut. Und wenn sie alles abstreitet, macht sie das erst recht verdächtig. Außerdem geht sie fünf Meter hinter dem Mann mit dem Aluminiumkoffer. Natürlich, um die Fassade aufrechtzuerhalten, denn der Mann mit dem Aluminiumkoffer ist ihr Chef. Aber ich bin ja nicht doof, ich kann mir zusammenreimen, was hier gespielt wird.
Sie sind so einfach zu durchschauen, die Menschen. Schön, wenn es Ausnahmen gibt, wie das kleine Mädchen dort, das so versonnen in den blauen Himmel guckt. Sie ist noch unschuldig und unverdorben. Aber wie lange noch? Jetzt hebt sie einen Stein auf und betrachtet ihn interessiert, wirft ihn von einer Hand in die andere, dreht sich blitzschnell um und schmeißt ihn mir mit voller Wucht an die Stirn. Na, das hätte ich mir denken können. Kaum fasst man mal Vertrauen, schon wird man enttäuscht. Nee, jetzt mach ich das Fenster zu und sperr euch alle aus. Oh, beinahe hätte ich das Fensterbrettkissen vergessen. Wenn das jetzt die ganze Nacht auf der Fensterbank … Ich will gar nicht dran denken. Sonst muss ich bloß wieder weinen.
«Sie haben was?»
Frau Steputat starrt mich wieder einmal völlig fassungslos an. Die Fassungslosigkeit geht allerdings schnell über in Entrüstung und schließlich in blanke Wut. Ihre behaarte Oberlippe zittert, während sie auf meine Antwort wartet.
Gerade einmal drei Monate sind seit unserer letzten Begegnung vergangen, und nun will Frau Steputat schon wieder mit mir über meine berufliche Situation sprechen. So steht es in der Einladung, die vor zwei Wochen in meinem Briefkasten gelandet war. Einladungen kann man ja eigentlich auch ausschlagen, aber das schien mir in diesem Fall nicht angeraten.
Frau Steputat wartet weiter auf eine Antwort, doch ich sehe an ihr vorbei auf das gerahmte Foto, das auf ihrem Schreibtisch steht. Ein furchtbar pummeliges, etwa sechsjähriges Mädchen in einem pinkfarbenen Badeanzug schleckt ein Eis. Die Tochter oder die Enkelin? Aufgrund des Alters von Frau Steputat, das ich auf etwa fünfzig schätze, tippe ich auf Enkelin.
«Herr Naumann», reißt mich Frau Steputat aus meinen Gedanken, «ich warte auf eine Antwort!»
Ängstlich sage ich zum zweiten Mal: «Ähm, ich kann leider keine Bewerbungsbemühungen vorweisen.»
Frau Steputat, drohend: «Und warum nicht?»
«Ich habe nichts gefunden, das mir Spaß machen könnte.»
«Spaß?» Frau Steputat scheint kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. «Es geht hier nicht ums Spaßhaben, Herr Naumann. Über den Punkt sind wir doch schon lange hinaus. Es geht darum, dass Sie endlich in die Pötte kommen und sich wirklich bemühen, ihre Arbeitslosigkeit zu beenden. Das muss doch schrecklich sein, zu Hause rumzusitzen und die Hände in den Schoß zu legen, in Ihrem Alter!»
Wahrheitsgemäß müsste ich jetzt antworten, dass es mitnichten schrecklich, sondern recht angenehm ist, aber ich fürchte, das würde mein Verhältnis zu Frau Steputat noch mehr belasten. Also nicke ich nur zustimmend.
«Na sehen Sie», sagt Frau Steputat etwas milder. «Ich muss Ihre Leistungen jetzt allerdings um zehn Prozent kürzen laut § 31 SGB II, wegen der fehlenden Bewerbungen, da kommen wir nicht drum rum. Und dann überlegen Sie vielleicht mal, welche Arbeit für Sie in Frage kommt, auch wenn sie Ihnen keinen Spaß macht.»
Ich zucke mit den Schultern. «Wissen Sie, Frau Steputat, das ist ja das Problem. Ich hab das noch nie richtig gewusst, was ich eigentlich will. Nur einmal, da hatte ich ein ganz konkretes Ziel …»
Wieder schaue ich an Frau Steputat vorbei, doch um nicht erneut das dicke Kind auf dem Foto sehen zu müssen, konzentriere ich mich auf den jämmerlichen Kaktus daneben, während ich beginne zu erzählen.
Ich hatte nie in meinem Leben einen echten Berufswunsch. Schon im Kindergarten schaute ich verständnislos zu, wie sich die Jungs gegenseitig im Türmebauen zu überbieten versuchten. Abends wurden die Türme eingerissen, am nächsten Morgen machten sie sich wieder an die Arbeit – es war so sinnlos. Ich hatte mich nach langem Abwägen dazu aufgerafft, probeweise auch mal zwei Bausteine übereinanderzulegen, um zu erfahren, was daran so faszinierend war. Ich verspürte nichts. Es war eine stumpfsinnige Tätigkeit, die mich schon nach zwei Bausteinen maßlos langweilte. Durchhaltevermögen hatte man nämlich auch vergessen mir in die Wiege zu legen.
Am liebsten saß ich einfach nur so da und dachte nach. Das wurde im Kindergarten noch toleriert, aber es war klar, dass ich mit dieser Tätigkeit später kein Geld verdienen können würde. Die Option, Empfänger von Transferleistungen zu werden, gab es für mich nicht, denn leider war ich in ein Land hineingeboren worden, das mir in dieser Hinsicht keine Perspektiven bot. Arbeitslosigkeit gab es nicht beziehungsweise hatte es nicht zu geben. Schon Hammer und Zirkel im Ährenkranz auf der Flagge der Deutschen Demokratischen Republik signalisierten den Stellenwert von Arbeit in der sozialistischen Gesellschaft. Es gab Dutzende von staatlichen Auszeichnungen für fleißige Arbeiter. «Banner der Arbeit», «Aktivistenabzeichen der volkseigenen Betriebe», «Aktivistenabzeichen der Maschinen-Ausleih-Stationen», «Held der Arbeit», «Verdienter Aktivist», «Brigade der ausgezeichneten Qualität», «Brigade der besten Qualität», «Brigade der hervorragenden Leistung», «Brigade der kollektiven Aktivistenarbeit», «Brigade der sozialistischen Arbeit», «Aktivist des Fünfjahrplans», «Aktivist des Siebenjahrplans», um nur einige zu nennen. Ich war in dieser Gesellschaft fehl am Platz. Das schien mein Schicksal zu sein.
Die Sonderschule für Schwerhörige in Karl-Marx-Stadt, die ich ab 1979 wegen meiner Hörschädigung besuchte, machte mir zwar halbwegs Spaß, aber der Werkunterricht bereitete mir Qualen. Monatelang mussten wir an einem Flaschenöffner aus Stahl feilen. Der Stahl widersetzte sich hartnäckig, man musste schon alles geben, damit am Ende des Tages ein paar Späne gefallen waren. Die vom Politbüro hatten das nicht ohne Hintergedanken in den Lehrplan involviert. Wir sollten mürbegemacht werden. Wer monatelang an einem Flaschenöffner aus Stahl feilte, der hatte keine Kraft mehr zur Opposition.
Als ich den fertigen Flaschenöffner das erste Mal benutzte, brach der Flaschenhals ab. Eine weitere Bestätigung für mich, dass Arbeit einfach nichts für mich war. Und so langsam rückte der Zeitpunkt näher, an dem es für mich ernst werden sollte.
Als wir in der achten Klasse unsere Berufswünsche angeben mussten, schien es keinen Ausweg für mich zu geben. Während meine Klassenkameraden schon mit spätestens zehn Jahren wussten, dass sie Kfz-Mechaniker oder Kosmonaut werden wollten, hatte ich keinen blassen Schimmer, mit welcher Arbeit ich mein Geld auf angenehme Art und Weise verdienen könnte. Meinen Vorstellungen am nächsten kam das Berufsbild des Pförtners, aber auf der Liste der für Schwerhörige in Frage kommenden Ausbildungsberufe, die man uns gegeben hatte, war der Pförtner nicht dabei. Vielleicht musste man ja studieren, um Pförtner werden zu können, und ich beschloss, mich bei meinen Eltern und Lehrern danach zu erkundigen.
Doch dann sah ich zur selben Zeit im Fernsehen diese Dokumentation über die Beatles. Ich war völlig fasziniert. Die Beatles standen auf der Bühne herum und machten nichts weiter als ein bisschen singen und Gitarre spielen, und die Zuschauer in der ersten Reihe kippten peu à peu um und wurden von Sanitätern weggetragen, bis die zweite Reihe nachrücken konnte. Dann begann das Spiel von vorn. Man musste fürchten, dass die Beatles bald vor einer leeren Halle spielen würden. Ein Mädchen aus dem Publikum schrie völlig hysterisch immer wieder «George! George!», und das, obwohl George Harrison nicht mal sang oder gut aussah.
Ich saß vor dem Fernseher, und mir war klar, dass es doch noch eine Alternative zum Pförtner gab. Ich wollte auch, dass die Mädchen «Robert! Robert!» schrien und umkippten. Ich wollte Popstar werden.