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Beeindruckende Reportagen aus einem Land im Krieg
In der Ukraine herrscht Krieg. Nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit 2014. Denn schon damals fielen sogenannte grüne Männchen, verdeckt operierende russische Soldaten, in den Donbass ein und begannen einen Zermürbungskrieg zur Abspaltung der Ostukraine. Ohne diesen verlustreichen Dauerkonflikt, der in Europa jahrelang kaum wahrgenommen wurde, lässt sich der Kriegsverlauf, lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung und die für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren nicht verstehen. Der preisgekrönte Reporter Daniel Schulz verfügt über vielfältige Kontakte in das Land, über das er seit vielen Jahren schreibt und in dem er selbst als Journalist gearbeitet hat. In seinen Texten begleitet er Menschen, die bereits seit Jahren mit dem Krieg im eigenen Land leben: Zivilist:innen, Soldat:innen, Student:innen und Künstler:innen, die sich im Widerstand organisieren und für eine freie und demokratische Ukraine kämpfen. Dabei fragt Daniel Schulz, was der militärische Konflikt, der schon Jahre währt und sich wohl noch lange hinziehen wird, mit den Menschen in der Ukraine macht - denen, die kämpfen, denen, die ausharren und denen, die flüchten.
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Seitenzahl: 304
Beeindruckende Reportagen aus einem Land im Krieg
In der Ukraine herrscht Krieg. Nicht erst seit dem Februar 2022, sondern seit 2014. Denn schon vor acht Jahren fielen sogenannte grüne Männchen, verdeckt operierende russische Soldaten, in den Donbass ein und begannen einen Zermürbungskrieg zur Abspaltung der Ostukraine. Ohne diesen verlustreichen Dauerkonflikt, der in Europa jahrelang kaum wahrgenommen wurde, lässt sich der Kriegsverlauf, lassen sich die Reaktionen der Bevölkerung und die für viele Beobachter überraschend gut organisierte und schlagkräftige Gegenwehr der ukrainischen Armee gegen die russischen Invasoren nicht verstehen. Der preisgekrönte Reporter Daniel Schulz verfügt über vielfältige Kontakte in das Land, über das er seit vielen Jahren schreibt und in dem er selbst als Journalist gearbeitet hat. In seinen Texten begleitet er Menschen, die bereits seit Jahren mit dem Krieg im eigenen Land leben: Zivilist*innen, Soldat*innen, Student*innen und Künstler*innen, die sich im Widerstand organisieren und für eine freie und demokratische Ukraine kämpfen. Dabei fragt Daniel Schulz, was der militärische Konflikt, der schon Jahre währt und sich wohl noch lange hinziehen wird, mit den Menschen in der Ukraine macht – denen, die kämpfen, denen, die ausharren und denen, die flüchten.
Daniel Schulz, 1979 in Potsdam geboren, leitet das Ressort Reportage bei der taz. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig arbeitete Daniel Schulz zunächst bei Zitty, Märkischer Allgemeinen und Freies Wort, bevor er sich bei der taz vor allem den Themen Rechtsextremismus, Ostdeutschland und Ukraine widmete. Er verfügt über vielfältige Kontakte ins Land und schreibt seit vielen Jahren über den lange kaum beachteten Krieg im Osten der Ukraine. 2018/2019 arbeitete Daniel Schulz für die ukrainische Zeitung Kyiv Post, 2018 erhielt er den Reporterpreis und 2019 den Theodor-Wolff-Preis. 2022 erschien sein vielbeachteter Roman »Wir waren wie Brüder«.
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Daniel Schulz
Krieg und Alltag in der Ukraine
Siedler
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Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30197-2V001
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Für Darik
Oh yeah!
Wie es zu diesem Buch kommt
Zu den Begriffen im Buch
Anarchistische Bienen
Tscherniwzi, März 2022
Ankunft
Lwiw, Mai 2022
Alltag und Ausnahmezustand
Lwiw, Mai 2022
Theater spielen
Mykolajiwka/Nikolajewka, April 2015
Glas
Kyjiw, Mai 2022
Nummer Eins
Kyjiw, Mai 2022; Herbst und Winter 2018
Narbe
Kyjiw, Mai 2022
Wellblechkonfetti
Trasse Kyjiw – Schytomyr, Mai 2022; Herbst und Winter 2018
Krank im Krieg
Schytomyr, Mai 2022; Herbst und Winter 2018
Fett
Schytomyr/Kyjiw, Mai 2022
Geburtstag
Kyjiw, Mai 2022
Nach Osten
Straße Kyjiw – Dnipro – Saporischschja, Mai 2022
Andriy bleibt hier
Saporischschja, Mai 2022
Vielleicht ist Angst kein Hund, sondern ein Vogel
Saporischschja, Mai 2022
Der Parkplatz
Saporischschja, Mai 2022
Taubenstadt
Borodjanka, Mai 2022
Nach Norden
Straße Kyjiw-Slawutytsch und Kyjiw-Jahidne, Juni 2022
Tote an der Wand
Jahidne, Juni 2022
Ein Tag im Leben einer Sucherin
Slawutytsch und Jahidne, andere Dörfer im Gebiet Tschernihiw, Juni 2022
Rückkehr der Fliegerin, Teil 1
Kyjiw, Juni 2022
Drohnen fliegen im Donbas
Kyjiw/Awdijiwka, Juli 2016
Rückkehr einer Fliegerin, Teil 2
Kyjiw, Mai 2022
Erleichterung
Charkiw, Juni 2022
A & O
Charkiw, Juni 2022
Eine halbe Geschichte
Ternopil 2022, und Cherson, 2018
Neun Dinge, die einem sofort auffallen, nachdem man die Ukraine verlassen hat
Przemysł – Krakau – Berlin, Polen und Deutschland, Juni 2022
Danksagung
Eine Fünfzehnjährige sitzt in meiner Küche, die Schwester einer sehr guten Freundin. Ihre Familie hat es geschafft, dass sie ein paar Wochen außerhalb der Ukraine Urlaub machen kann. Es ist Sommer, ich bin gerade einen Monat in der Ukraine gewesen und suche nach einem Gesprächsthema, das nichts mit Krieg zu tun hat. Nach etwas Einfachem, Banalem, etwas für Small Talk. Ich frage, ob sie später lieber in ihrer Heimatstadt Odesa leben möchte oder in der Hauptstadt, in Kyjiw, wo es mehr Arbeit gibt und wo ihre große Schwester lebt. Sie lächelt, dreht Spaghetti auf eine Gabel und sagt: »Über so etwas denke ich nicht nach. Erst einmal will ich den Krieg überleben.«
Im Sommer 2013 bin ich das erste Mal in die Ukraine gefahren. Und nur im ersten Jahr meiner Bekanntschaft mit diesem Land habe ich es im Frieden erlebt.
Dieses erste Mal ist ein Urlaub. Zusammen mit zwei Freund:innen geht es per Nachtzug zu den Standardzielen der Ukraine: Kyjiw, Odesa, die Halbinsel Krim. 14 Tage sind wir unterwegs. Diese Tour soll ein Test sein, denn eigentlich träumen wir drei von einer Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Einer Reise durch Russland.
In Sewastopol, dem Hafen der russländischen Schwarzmeerflotte, sehen wir eine Parade an uns vorbeiziehen. Zehn alte Männer, dünne Beine haben sie alle, dicke Bäuche nur manche, in einem wackligen Stechschritt auf ein Denkmal für Katharina die Große zu. Der Anführer des Trupps trägt eine Fahne in den russländischen Farben Weiß, Blau und Rot. Wir fragen zwei Frauen auf einer Bank, was wir da beobachteten. Sie lachen und sagen, das wären nur ein paar Trottel, die glauben, die Krim würde eigentlich Russland gehören.
Als ich im Frühjahr 2015 das zweite Mal in die Ukraine reise, sind die Trottel die Sieger. Russländische Truppen haben die Krim besetzt und zusammen mit von Moskau unterstützten Miliz-Einheiten aus den Gebieten Donezk und Luhansk einen Krieg im Osten der Ukraine angefangen. Für meine Zeitung, die taz, berichte ich über Schüler:innen, die 60 Kilometer hinter der Front ein Theaterstück aufführen. Sie erzählen von Verwandten und Freund:innen, die getötet wurden. Von Vätern, die in Russland arbeiten und die Geschichten der Moskauer Regierung glauben, laut denen ukrainische Faschisten kleine Kinder an die Bäume nageln. »Ich habe sogar meinen Laptop aus dem Fenster gehalten und mit der Kamera gefilmt, um meinem Vater zu zeigen, dass es bei uns ruhig ist«, sagt eine Schülerin. »Aber er hat gesagt, auch wenn die Faschisten im Moment nichts tun, geht es sicher wieder los, sobald ich den Laptop ausmache.«
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die ihn begleitende Propaganda hat nicht erst im Februar 2022 begonnen, sondern mindestens acht Jahre vorher. In diesen acht Jahren, in denen Soldat:innen nur im Osten kämpfen, scheint der Krieg eingehegt, festgehalten entlang der Schützengräben im Donbas, eingefroren, wie Politiker:innen hierzulande gerne sagen. Nicht nur in Deutschland und Frankreich und anderswo in Westeuropa, auch in Kyjiw, Odesa und Lwiw versuchen viele Menschen lange, sich von diesem Krieg abzuschirmen. Sie wollen so wenig wie möglich daran denken, dass es ihn gibt.
In der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 2022 sitze ich mit einem Kollegen vor dem Computer, wir sehen uns in den ukrainischen Nachrichten, auf Twitter, auf Telegram-Kanälen alles an, was auf einen Angriff hindeuten könnte, wir prüfen Staumeldungen auf der Krim via Google Maps und schauen Überwachungsvideos von überfallenen Grenzposten, bei denen nicht klar ist, ob sie echt sind. Bis Vladimir Putin um vier Uhr morgens im Fernsehen eine »besondere Militäroperation« ankündigt, will ich nicht an einen weiteren oder vielmehr größeren Krieg glauben.
Über Telegram und Signal schreibe ich mit zwei meiner engsten Freundinnen in der Ukraine. Die eine Freundin sieht am 24. Februar eine Rakete dicht über ihren Wohnblock in einer Kleinstadt bei Kyjiw hinwegfliegen, packt Mann und Kind ins Auto und fährt nach Westen. Sie fragt mich, ob ich mich um ihren Sohn kümmern werde, wenn ihr etwas passiert. In einer Stadt 270 Kilometer südwestlich von Kyjiw findet sie einen Notar und unterzeichnet die entsprechenden Dokumente. Die andere Freundin entscheidet sich, in der Hauptstadt zu bleiben und schickt mir Fotos, wie sie zwischen anderen Menschen in einem Bahnhof der Metro auf einem Schlafsack sitzt.
In den Wochen und Monaten nach den ersten Angriffen fühle ich mich gelähmt und zugleich ständig wie unter einen leichten Strom gesetzt, der mich nur vier oder fünf Stunden pro Nacht schlafen lässt. Ich scanne Twitter und Telegram nach Nachrichten aus der Ukraine, nach Berichten von Augenzeug:innen, nach etwas Neuem, ich retweete, was mir als gesichert erscheint, nur um das Gefühl zu haben, etwas Nützliches zu tun. Ich installiere die ukrainische App Trivoga auf meinem Handy, um zu sehen, wann es Raketenalarm in den Orten gibt, in denen Freund:innen wohnen. Das passiert so gut wie jede Nacht.
Über Netzwerke von Freund:innen helfe ich nachts dabei, Menschen aus der Ukraine zu holen, über Lwiw, über Košice, über Siret. Ich sammle Geld für Funkgeräte für Sanitäter:innen und suche nach Schutzwesten für Journalist:innen in der Ukraine. Dabei geht es vor allem um Organisation und Absprachen. Zu dieser Zeit leite ich noch das Rechercheressort der taz und kann nicht so einfach wegfahren.
Neben der Ohnmacht setzt mir die Ungewissheit am meisten zu. Alle Menschen, die ich in der Ukraine kenne, schweben in Gefahr. Aber wie groß ist die wirklich? Wird Kyjiw doch noch erobert? Bedeutet jeder Alarm auch einen tatsächlichen Angriff, eine möglicherweise tödliche Explosion?
Anfang März fahre ich das erste Mal mit meinem Freund und Kollegen Marco Zschieck in die Ukraine. Das Auto haben wir mit der Hilfe und dem Geld von Freund:innen innerhalb von Tagen besorgt. Es ist voll mit Schlafsäcken, Medikamenten, Festplatten, Kabeln und anderem elektronischem Zubehör. Viele Menschen, die Marco und ich in der Ukraine kennen, sind Kamerafrauen, Produzent:innen, Regisseur:innen. Sie brauchen die Technik, sie wollen den Krieg filmen, festhalten, was sie können, auch wenn das für sie ständige Lebensgefahr bedeutet. Wir fahren nur wenige Tage, über Tschechien, Ungarn und Rumänien. Wir fahren gerade einmal 40 Kilometer in die Ukraine hinein, nach Tscherniwzi, einer Großstadt im Südwesten des Landes.
Diese Reise hilft, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Aber sie dauert nicht lange, und Tscherniwzi liegt zu sehr am Rand der Ukraine, zu sicher, um dort zu begreifen, was dieser Krieg anstellt mit dem Land und den Menschen, die dort leben. Also fahre ich im Mai noch einmal, dieses Mal mit dem Zug. Einen Monat lang möchte ich bleiben, ich habe die grobe Vorstellung, die Ukraine einmal zu durchqueren, von Lwiw im Westen bis Charkiw und Saporischschja im Osten.
Eine kugelsichere Weste der Schutzklasse vier habe ich mir per Telegram im slowenischen Lubljana gekauft, dazu noch Helm, Tourniquet und Medikit. Macht etwas mehr als 1 800 Euro. Weil ich Mitglied bei Reporter ohne Grenzen bin, kostet mich die Versicherung für Verletzungen im Kriegsfall für vier Wochen nur knapp über 200 Euro. Die Weste ist ein sehr schwerer Talisman. Ich werde sie überall mit hinschleppen, man weiß ja nie, für den Fall der Fälle. Aber ich ahne vor der Reise schon, dass ich sie nie tragen werde. Vor den Einschlägen der russländischen Raketen können mich Helm und Weste nicht bewahren, und direkt an die Front möchte ich dieses Mal nicht. Mein letztes medizinisches Training liegt zu lange zurück, und außerdem interessiert mich etwas anderes viel mehr: der Alltag des Krieges abseits der Kämpfe.
In den Texten verwende ich oft das Adjektiv »russländisch« statt »russisch«. Das tue ich dann, wenn es beispielsweise um Aktionen des russländischen Staates und seine Institutionen geht. Russ:innen sind nur eine von etwa 160 Ethnien in der Russländischen Föderation, Russisch ist nur eine von circa 135 Sprachen. Adjektive wie das deutsche »russisch« und das englische »Russian« machen diese Tatsache unsichtbar. Sie tragen außerdem dazu bei, die koloniale und imperiale Geschichte Russlands zu verwischen, das nur deshalb der größte Staat der Erde werden konnte, weil es sich die Gebiete vieler Völker durch Eroberung und Verträge angeeignet hat. Zudem ist die russländische Armee, das wird in diesem Krieg wieder deutlich, eben keine »russische« Armee. An der Front lässt die Regierung in Moskau viele Marginalisierte kämpfen. Arme Männer vom Land, aber eben auch Angehörige der im Laufe der russländischen Geschichte kolonisierten Minderheiten, wie zum Beispiel Menschen aus Burjatien und Tuwa.
Diese Unterscheidung kommt aus Russland selbst: »Russkije« bezeichnet Russ:innen als Ethnie, »Rossijskije« dagegen wird in administrativen oder geografischen Zusammenhängen genutzt.
Wenn ich Gruppen von Menschen bezeichne, gendere ich üblicherweise mit Doppelpunkt, es sei denn, diese Gruppe besteht nach meinem Wissensstand zum Beispiel ausschließlich aus Männern.
Für die Namen ukrainischer Orte benutze ich die ukrainische Schreibweise in deutscher Umschrift und nicht die hierzulande noch oft gebräuchliche russische. An Kyjiw statt Kiew haben sich viele deutsche Leser:innen inzwischen gewöhnt, bei Donbas statt Donbass und Odesa statt Odessa ist das nicht so. Ein scharfes »S« wird im Deutschen üblicherweise nun einmal mit »ss« ausgedrückt. Ich habe mich dennoch für die Variante mit dem einen »s« entschieden, um es einheitlich zu halten.
Bei Namen von Personen verwende ich die englische Umschrift, weil die Menschen sie so in ihren Dokumenten wie dem Reisepass und als Selbstbezeichnung benutzen. Das heißt zum Beispiel, dass ich »Ivan« schreibe statt »Iwan« und »Andriy« statt »Andrij«. Bei der Entscheidung, ob ich die ukrainische oder die russische Variante ihres Namens verwende, richte ich mich nach dem, was mir meine Gesprächspartner:innen gesagt haben. Oder danach, wie eine prominente Person in der Öffentlichkeit auftritt. Dabei kann es übrigens manchmal ziemlich bunt zugehen:
Auf den Webseiten der ukrainischen Regierung nennen sie den Präsidenten Volodymyr Zelenskyy. Englischsprachige Medien des Landes wie die Ukrainska Prawda verwenden dagegen meist die Namensvariante mit einem »Y«, also Zelensky. Manchmal tauchen in Texten der UP allerdings auch beide Möglichkeiten auf.
Noch variantenreicher wird es oft bei der Übertragung der Namen ins Deutsche. Der im Oktober 2022 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnete Schriftsteller Serhij Zhadan würde in deutscher Umschrift mit Nachnamen eigentlich Schadan heißen, so steht er auch bei Wikipedia. Nach rein englischer Umschrift hieße er Serhiy mit Vornamen. Hier hat sich eine Mischvariante durchgesetzt, die sein Verlag auch auf seine Bücher druckt.
Während meines zweiten Besuchs in der Ukraine 2015 hat eine der Freiwilligen, die Schüler:innen im Donbas Schattentheater beigebracht hat, einen Scherz gemacht. Sie sagte, so wie Katzen sieben Leben haben, hätten alle Ukrainer:innen sieben Namen. Vorname in Ukrainisch, Vorname in Russisch, Vatersname, Familienname, englische Umschrift, die Umschrift, in der die Ausländer:innen schreiben, mit denen sie gerade zu tun haben, und die zum Anreden unter Freund:innen gebräuchliche abgekürzte Variante des Vornamens, zum Beispiel Nastya für Anastasiia.
Ich habe diese Vielfalt immer gemocht. Sie erscheint mir nicht als Durcheinander, sondern als weniger fest und begrenzt als die oft nur in einem Vor- und Nachnamen kategorisierte Identität in Westeuropa.
Tscherniwzi, März 2022
Abends um kurz nach halb neun heulen die Alarme los. Ein durchdringender Ton, erst tief, dann hoch, und wieder zurück. Einmal, zweimal, achtmal, zwanzigmal – etwa die Hälfte der Menschen in der riesigen Halle schaut auf ihre Mobiltelefone, die sich in Sirenen verwandelt haben.
Es ist Montag, der 7. März, Tag zwölf des Krieges. Hier in der Ukraine kommt der Luftalarm auch per App. Raketen könnten die Stadt treffen, Flugzeuge mit Bomben auf dem Weg sein. Aber niemand rennt los. Alle bleiben, wo sie sind, räumen weiter Kartons von links nach rechts, kramen zwischen kurzen Hosen und Faltenröcken nach warmen Mänteln, rauchen an den großen Eingangstüren Zigaretten.
»Sollten wir nicht in den Bunker?«, frage ich. Sasha schaut zu mir hoch, das Licht der Neonlampen legt einen dunklen Ring um die graublaue Iris ihrer Augen. »Hier gibt es keinen«, sagt sie und zuckt mit den Schultern, ihre riesige schwarze Jacke hebt und senkt sich leicht. »Willst du etwas essen?« Sie dreht sich um und läuft los.
So reagiert man in Tscherniwzi ganz im Westen der Ukraine also auf einen möglichen Angriff Russlands. Dabei wissen hier doch alle von den Raketen, die das ostukrainische Charkiw treffen, sie kennen die Bilder von brennenden Häusern in Mariupol und von den zerstörten Kleinstädten rund um Kyjiw.
Wie viele Tote der Krieg bis zum heutigen Tag gefordert hat, ist schwer zu sagen, weil nur die ukrainische Regierung regelmäßig Zahlen nennt und sich die wiederum nicht unabhängig überprüfen lassen. Sie hat allein schon 1 200 Tote als Folge des Beschusses und der Belagerung der Hafenstadt Mariupol angegeben. Die Vereinten Nationen zählten bis zum 8. März über 500 tote Zivilist:innen. Klar ist, dass viele Raketen, Granaten und Bomben Wohnhäuser treffen, Kindergärten und Kliniken.
Der Westen der Ukraine bleibt vom russländischen Überfall bisher weitgehend verschont. Der Flughafen der knapp 140 Kilometer weiter nordwestlich gelegenen Stadt Ivano-Frankiwsk wurde in den ersten Kriegstagen mit Raketen attackiert, in Lwiw haben sie Statuen in der ganzen Stadt mit feuerfesten Materialien eingewickelt, falls Raketen auch hier einschlagen. Vier Nächte zuvor gab es Explosionen in Luzk.
Hier in Tscherniwzi, knapp 40 Kilometer vor der Grenze zu Rumänien und damit auch der Grenze zur Europäischen Union, ist es bisher noch völlig ruhig. Aber wenn die Stadt tatsächlich einmal angegriffen wird, wäre die große Sporthalle, durch die Sasha gerade läuft, ein strategisch wichtiges Ziel. Diese Halle ist zum zentralen Verteilungszentrum für Hilfsgüter in Tscherniwzi geworden. Von hier aus wird die Hilfe für Zivilist:innen ebenso organisiert wie der Nachschub für die ukrainische Armee, die gegen die an Feuerkraft weit überlegenen russländischen Truppen kämpft. Waffen oder Munition sehe ich keine, aber Thermounterwäsche, Stiefel, Medikamente und Konservendosen mit Suppen, Tomaten, Fleisch. Sasha ist eine der vielen Menschen, die hier Pakete packen und ins ganze Land verschicken.
Oleksandra Tsvetkova heißt sie mit vollem Namen, Sasha ist die in der Ukraine übliche kurze Variante für die Namen Oleksandra und Oleksandr. Sie lebt eigentlich in Ukrainka, einer Kleinstadt in der Nähe von Kyjiw, ist aber gleich am ersten Tag des Krieges von dort mit dem Auto Richtung Westen geflohen. Dabei wollte sie gar nicht weg, sie würde lieber zu Hause helfen, sagt sie. Aber die Frau ihres Bruders hat sie zur gemeinsamen Flucht überredet, nachdem eine Rakete in ihrer Stadt explodiert ist, vielleicht sollte sie das Elektrizitätswerk in der Nähe treffen. Sasha ist dann vor allem wegen ihres jüngeren, 15 Jahre alten Sohnes gegangen, der noch bei ihr lebt.
Sie ist Buchhalterin oder war es, in einem früheren Leben, das gerade einmal knapp zwei Wochen her ist. Ein Leben, das sie führte, bevor der russländische Diktator Vladimir Putin die Ukraine am 24. Februar mit seiner Armee überfiel.
Sasha hat früher bei einem Baukonzern sehr gut verdient. Dann wollte sie etwas Sinnvolles für die Gesellschaft tun und arbeitet seither für Nichtregierungsorganisationen, kleine Firmen von Künstler:innen, Regisseur:innen und Produzent:innen. Ihre Schwägerin Lizza ist eine dieser Regisseur:innen, sie läuft hier auch irgendwo in der Halle herum, sie sucht nach Klebeband für die nächsten Pakete.
Am Tor zur Straße stehen Männer in Tarnuniformen und mit umgehängten Kalaschnikows. Durch dieses Tor kommen Lkw und Minibusse, Menschen mit Paketen auf dem Arm, Spenden aus dem In- und Ausland. Teekannen, kugelsichere Westen, Schmerztabletten und Holzlatten.
Kommt eine neue Ladung, brüllt irgendjemand irgendwas, und Männer mit Arbeitshandschuhen reißen die Kartons von den Ladeflächen, bilden Ketten, reichen Helfer:innen Kisten oder Beutel, sortieren alles, stapeln es auf Paletten, stopfen es in Beutel und tragen es dann raus in den Schneegriesel; minus 4 Grad an diesem Montagabend, kalt genug, dass einem die Finger beim Wischen auf dem Smartphone festkleben und sich der Akku so schnell leert, als würde ihn der Winter aussaugen.
Weiße Minibusse fahren vor, in die Männer mit den Arbeitshandschuhen so viel Zeug stopfen, dass kaum noch der Fahrer Platz hat, und dann geht es los Richtung Kyjiw, Schytomyr, Koselez – in große und kleine Städte überall im Land. Der Inhalt der Autos ist für Krankenhäuser bestimmt und für Kindergärten, aber auch für einzelne Personen. Auf Paletten voller Konserven steht mit schwarzem Edding »Armiya«, also »Armee«, auf kleineren Paketen auch Masha Soundso und Volodymyr Diesunddas, dann eine Adresse.
Gibt es ein System, wer wann etwas anfasst, wegträgt, aufreißt oder hinstellt?
»Es gibt keins«, sagt Sasha und läuft durch eine Doppeltür, einen langen Gang hinunter, »aber es funktioniert trotzdem, das ist ukrainische Anarchie.« Sie biegt nach links ab, in noch einen langen Gang und dann stehen wir in einer Cafeteria. Auf einem Tresen stapeln sich auf verschiedenen Tellern Wurstbrote, Klopse aus gebratenem Hackfleisch und Teigtaschen, in denen ebenso Marmelade sein könnte wie mit Schmalz versetztes Fleisch. Es riecht nach Kaffee.
An runden Tischen und auf langen, an den Wänden aufgestellten Bänken sitzen Männer in den gleichen Tarnjacken wie draußen vor dem Tor und Frauen, die wie Sasha in ihren Mänteln fast verschwinden. Der Fernseher an der Wand gegenüber dem Tresen mit dem Essen zeigt Panzer, die durch Schlamm fahren, abgefeuerte Raketen, die blau-gelbe ukrainische Fahne weht, die Nationalhymne wird gespielt. Sasha nickt zu den Bergen von Essen hinüber: »Du kannst dir alles nehmen, was du willst.«
Da gehen die Sirenen auf den Telefonen wieder los. Wieder Luftalarm. Wieder rührt sich niemand. »Wenn was passiert, sind wir hier am sichersten«, sagt Sasha, und ein Lächeln zuckt kurz über ihr schmales Gesicht, dessen Blässe von ihren hellblonden Haaren noch verstärkt wird. Es ist nicht klar, was sie meint, was an den dünnen Wänden hier sicherer sein soll als in der Weite der Halle eben, aber auf meine Rückfrage antwortet sie nicht. Sie holt sich einen Kaffee. Sasha ist ständig müde. »Wir haben keine Zeit zu schlafen«, sagt sie, als sie zurückkommt, »wir müssen noch etwas schaffen.« Eine Armee-Einheit hat dringend um Medikamente gebeten, die sollen heute noch raus, Richtung Osten.
Solche Bitten kommen auf zwei Arten zu den freiwilligen Helfer:innen wie Sasha: per offiziellem Schreiben inklusive Briefkopf und Stempel, wenn staatliche Stellen involviert sind. Oder aber von Zivilist:innen und Soldat:innen, die per Telegram, Facebook, WhatsApp oder Signal-Messenger um Unterstützung bitten. Oft schicken sie Google Spreadsheets, also Tabellen, in denen steht, was sie suchen und in welcher Menge. Meist mit der Bitte, diese Spreadsheets in den Netzwerken der freiwilligen Helfer:innen weiterzuverbreiten.
Ein Freund und ich sind mit dem Auto hierhergefahren, und wir hatten die Grenze von Rumänien in die Ukraine noch nicht überquert, da klebte schon ein solches Spreadsheet in meinem Facebook-Messenger. Geschickt hatte es mir ein ehemaliger Schauspieler, den ich von früheren Reisen kenne. Jetzt arbeitet er als Freiwilliger für ein Hilfszentrum in Lwiw, das sich neun Tage nach dem Februarüberfall gegründet hat.
Er suchte unter anderem 50 Packungen Windeln und einhundert Helme. Und wer etwas davon hat, wird sich jetzt also eventuell bei diesem Schauspieler melden. Der wiederum sucht dann nach Fahrer:innen, die den Transport übernehmen oder zumindest einen Teil der Strecke. Auch das sind oft Freiwillige, sie lassen sich nur den Sprit bezahlen, trotz der Gefahr für ihr Leben – russländische Soldaten haben laut Medienberichten schon mehrfach nicht-militärische Fahrzeuge beschossen und die Menschen darin getötet.
Wie die Pakete, die Sasha und die anderen Helfer:innen packen, durchs Land bewegt werden, lässt sich am besten an einem Küchentisch beobachten. Bevor sie an diesem Montagabend, kurz vor sieben Uhr, in das Hilfszentrum von Tscherniwzi aufbricht, verbringt Sasha den ganzen Tag an so einem Tisch. Er steht in einer hellen Küche in einem großen Haus nahe des Stadtzentrums. Von dort bis zu der Sporthalle fährt man mit dem Auto etwa 15 Minuten.
Sasha sitzt an diesem Tisch, auf dem Laptop vor sich tippend und das Smartphone zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Wenn das Ding mal nicht klingelt oder sie selbst jemanden anruft, scheppern die dunklen Stimmen von Männern und Nachrichten von müde klingenden Frauen blechern verzerrt aus dem Lautsprecher ihres Computers.
»Sollen wir diese Gasmasken kaufen?«
Ein Anrufer aus Deutschland, er durchforstet Internetseiten nach günstigen Angeboten, Sasha hat ihm vorher ein Spreadsheet geschickt mit Dingen, um die jemand im Hilfszentrum sie gebeten hat.
»Sind das die richtigen Schuhe?«
Gute wetterfeste Stiefel sind immer bei allen begehrt, bei Soldat:innen natürlich, aber bei Zivilist:innen auch.
Um 11 Uhr fragt wieder jemand, dieses Mal aus der Ukraine:
»Kriegen wir ein Problem mit der Steuerbehörde, wenn wir das kaufen?«
Sasha antwortet. »Nein, im Krieg doch nicht.«
Ihr gegenüber sitzt Lizza Smith, große braune Augen, schwarze Locken und auf der Haut ein Anflug von Sommerurlaub, obwohl ihre Reise nach Kreta nun auch schon wieder Monate her ist. Sie ist die Frau von Sashas Bruder, die Frau, die Sasha zur Flucht nach Tschwerniwzi überredet hat. Lizza war mal mit einem Mann aus den USA verheiratet, und benutzt oft noch seinen Nachnamen, gerade wenn sie in ihrem Beruf als Regisseurin auftritt. Sie starrt aus der dunklen Höhle ihrer Kapuze so gebannt auf ihren Bildschirm, dass man neben ihrem Ohr mit dem Fingern schnipsen muss, um sie ins Hier zurückzuholen.
»Wie ist gerade der Kurs Dollar zu Złoty?« Lizza dreht den Kopf nach rechts zu Sasha.
»1 zu 4,55«, sagt die nach kurzem Tippen.
»Das sind 450 Dollar pro Stück für die kugelsicheren Westen.« Lizza starrt wieder auf den Computer.
Sie und ich kennen uns schon lange, heute ist es fast sieben Jahre her, dass wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Damals war sie auch schon eine Freiwillige. Sie kam mit einer Gruppe von Künstler:innen aus Kyjiw in eine Kleinstadt im Donbas, nachdem ukrainische Regierungstruppen diese wieder zurückerobert hatten. Lizza hat Schüler:innen dabei geholfen, ein Theaterstück über ihren Umgang mit dem Krieg zu entwickeln. Über dieses Stück habe ich für die taz geschrieben.
Die ukrainische Freiwilligenbewegung geht auf diese erste Zeit des russländischen Krieges gegen die Ukraine zurück. Seit 2014 haben die sogenannten Volontär:innen das getan, was der damals durch Korruption und Misswirtschaft geschwächte ukrainische Staat und sein Militär nicht leisten konnten: Tarnnetze für die Armee flechten, Autos für Soldat:innen kaufen, Essen für Bedürftige kochen, zerstörte Schulen wiederaufbauen.
Diese Volontär:innen sind nicht zu verwechseln mit den ebenfalls zahlreichen Kriegsfreiwilligen, die sich damals zur Armee meldeten oder in eigenen Bataillonen kämpften.
Später machte Lizza zusammen mit einem deutschen Regisseur aus dem Theaterstück einen Dokumentarfilm. Der Freund, der jetzt mit mir mit dem Auto nach Tscherniwzi gefahren ist, und ich haben Geld dafür gesammelt. 2017 hat »Shkola Nomer 3« auf der Berlinale den Großen Preis der Kategorie 14plus gewonnen.
450 Dollar für eine kugelsichere Weste ist übrigens gerade ein wirklich guter Preis. In Deutschland würde man für diese Variante schon in normalen Zeiten fast das Doppelte zahlen. Und die Zeiten sind nicht normal. Schutzkleidung ist schwer zu kriegen. Sowohl die in Schwarz oder Blau für Journalist:innen und Filmemacher:innen, die Lizza und Sasha gerade suchen, als auch die in Tarnfarben für das Militär.
Die Parteien im russländisch-ukrainischen Krieg räumen den Markt leer. Das treibt die Preise nach oben.
»Für uns ist es so billig, weil wir so viele kaufen«, sagt Lizza.
Ein bisschen Solidarität mit der Ukraine würden die Verkäufer aber wohl auch empfinden. 83 Westen und 57 Helme stehen auf Lizzas Spreadsheet, die will sie für Männer und Frauen besorgen, die in den Einheiten der ukrainischen Territorialverteidigung kämpfen.
Das Geld dafür kommt von verschiedenen Spendern, unter anderem aus den USA. Lizza sorgt dafür, dass es an eine polnische Stiftung geht, die wiederum die Westen und Helme kauft.
Küchentische, wie der an dem wir hier sitzen, das sind neben den vom Staat und von Nichtregierungsorganisationen geführten Zentren die anderen wichtigen Orte, an denen ukrainische Freiwillige Nachschub und Hilfe organisieren.
An solchen Tischen telefonieren Menschen wie Lizza und Sasha Apotheken im Süden nach Medikamenten ab, die im Norden des Landes gebraucht werden, hier lesen sie von Freund:innen im Telegram-Chat, dass jemand Windeln zu einer pflegebedürftigen Frau in die Stadt Saporischschja bringen muss. Außerdem hat sich eine Ewgenija aus Bayern gemeldet, sie hat es geschafft, nach Deutschland zu fliehen, aber ihre Tochter sitzt mitsamt Hund noch in einer Metro-Station in Kyjiw fest.
»Kannst du die Tochter mitnehmen, auf dem Rückweg?«, fragt Lizza ins Telefon. 3 000 Grywna lassen sich die Fahrer:innen üblicherweise für die Tour ins gefährliche Kyjiw und zurück nach Tscherniwzi bezahlen, das sind knapp 93 Euro, die sollen die Kosten für das Benzin abdecken. Der Fahrer will aber schon eine andere Frau mitnehmen, die hat ebenfalls einen Hund und das sind ihm zu viele Tiere. Lizza sagt: »Wir reden heute Abend nochmal« und legt auf.
Neben dem Tisch, an dem Lizza und Sasha sitzen, stapelt sich auf einer braunen Anrichte benutztes Geschirr. In einer Schale trocknet übrig gebliebene Kascha, eine Speise aus Buchweizen, die in Deutschland oft als Brei bezeichnet wird, obwohl sie dafür zu fest ist. Ab und an kommen Menschen in die Küche, kochen sich einen Tee, machen sich etwas zu essen, selten wäscht mal jemand ab.
Das Haus, zu dem die Küche gehört, hat zwei Etagen, zwei Bäder und viele große Zimmer, es gehört wohlhabenden Freund:innen von Lizzas Eltern. Im Flur hinter der Küchentür stapeln sich Kartons mit Antibiotika und Schlafsäcken, manchmal übernachten Menschen hier für ein, zwei Tage, auf der Flucht vor dem Krieg im Osten und Süden, Freund:innen von Sasha und Lizza kommen regelmäßig, um hier zu arbeiten und zu helfen.
»Jede ukrainische Küche ist ein Krisenzentrum«, sagt Darya Bassel. Sie ist heute die dritte Frau am Tisch. Darya hat ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Sie lacht oft, laut und tief, dabei biegt sie ihren schmalen Körper nach hinten über die Lehne des Stuhls und das Licht der Küchenlampe lässt silberne Strähnen in ihren langen dunkelblonden Locken aufblitzen.
Auch sie kommt wie Lizza aus der Filmbranche, sie ist Produzentin und organisiert unter anderem ein bekanntes Festival. Darya wohnt hier nicht, aber sie arbeitet gern hier, dann kann der Sohn ihres Partners mit dem Sohn von Lizza spielen. Wenn die beiden ein Stockwerk höher über das Parkett rennen, klingt es, als würde dort eine Herde Pferde traben. Sashas fünfzehnjähriger Sohn passt auf die beiden auf. Darya sagt, sie kenne ein paar solcher Hilfsgruppen wie die von Sasha und Lizza. »In meiner Bubble machen das viele.«
Ihre Bubble, das sind die Leute vom Film. Die müssen auch in Friedenszeiten oft mit wenig Geld und Ressourcen auskommen, Ausrüstung teilen, Fahrer kennen, die möglichst wenig Bezahlung verlangen.
Sie arbeiten seit acht Jahren im Kriegsgebiet, im Donbas, und kennen Händler:innen in Osteuropa, die ihnen auch dann noch Schutzwesten und -helme verkaufen, wenn die Regale anderswo bereits leer sind. Durch die Arbeit beim Film haben sie viele Kontakte ins Ausland, zu Künstler:innen, zu Menschen, die ähnlich gut organisieren können wie sie. Nun setzen sie ihr Wissen und ihre Verbindungen im Krieg ein.
Wie viele gibt es von ihnen, wie viele Küchentische? Lizza und Sasha zählen 21 Kontakte in ihrem Telegram-Chat, der »Größerer Stab« heißt, dort koordinieren sich verschiedene Gruppen aus der ganzen Ukraine. Die Gruppe »Kleinerer Stab« kümmert sich vor allem um Tscherniwzi und umfasst zehn Leute. In »Kaufen im Ausland« machen 14 Menschen mit.
Ende Juni wird die auf das Untersuchen von humanitärer Hilfe spezialisierte britische Gruppe Humanitarian Outcomes mit einem Report bestätigen, was sich hier am Küchentisch bereits abzeichnet: Obwohl internationale Organisationen etwa 85 Prozent der bis dahin gesammelten 2,5 Milliarden Euro an Spendengeldern für die Ukraine bekommen, machen ukrainische Organisationen in den ersten Monaten des Krieges fast die ganze Arbeit. Viele sind klein, helfen lokal begrenzt und sind nirgendwo registriert. An sie gehen gerade mal 6,3 Millionen Euro, also 0,24 Prozent der gespendeten finanziellen Mittel.
Dass die großen internationalen Organisationen so lange brauchen, um zu reagieren, hat mehrere Gründe. Sie tun vieles, um Korruption zu vermeiden und das verlangsamt finanzielle Entscheidungen. Viele dieser großen Organisationen, wie zum Beispiel das Rote Kreuz, müssen zudem Neutralität wahren, um eine Chance auf Zugang in russländische Gefangenenlager zu haben. Das wiederum macht das Zusammenarbeiten mit den kleinen ukrainischen Organisationen schwierig, denn die sind parteilich. Und sie trennen wie hier in Tscherniwzi nicht zwischen humanitärer und militärischer Hilfe.
»Mein Vater ist im Hafen von Odesa eingesetzt, unsere Freunde sind an der Front, da kämpfen meistens keine Berufssoldat:innen, sondern Lehrer, Künstler und Anwälte«, sagt Lizza während einer Zigarettenpause auf dem kleinen Hof des großen Hauses. »Wie sollen wir denen nicht helfen?« Außerdem, da sind sich die Frauen hier einig, sei alle Hilfe für die ukrainischen Zivilist:innen umsonst, wenn die Armee diese nicht schützen könne. »Die Russen wollen alles Ukrainische töten«, sagt Lizza, »die sind verrückt.«
Wie viele solcher Gruppen insgesamt in der Ukraine existieren, weiß niemand genau. Lizza, Sasha und Darya glauben, es müssen inzwischen mehr sein als nach dem russländischen Angriff 2014, weil die Bedrohung dieses Mal existenzieller sei. Auch hier wird ihre Einschätzung durch das bestätigt werden, was Humanitarian Outcomes Ende Juni herausfindet: Vor Putins Invasion habe es etwa 150 Nichtregierungsorganisationen und kirchliche Gruppen gegeben, danach wären 1 700 neue Gruppen gegründet worden. Daneben gibt es vielleicht Tausende, die nirgendwo registriert sind, die nur kurz bestehen, die nicht einmal einen Namen haben.
Es gibt keine landesweite Koordination, keine Dachorganisation, die meisten dieser kleinen Gruppen wissen gar nichts voneinander. Manchmal versuchen sie tagelang, dasselbe zu besorgen oder schicken Fahrer an dieselben Orte. Ukrainische Anarchie. »Russland wird uns niemals besiegen«, sagt Lizza, die wieder hinter ihrem Laptop sitzt, »wenn eine Gruppe ausfällt, machen die anderen einfach weiter.«
Die ukrainische Anarchie, das ist eine Geschichte, die Ukrainer:innen gern über sich selbst erzählen, es gibt sie als gesellschaftliche Erklärung, mit der man begründen will, warum vor der Invasion so vieles nicht funktioniert hat im Land. Sie existiert aber auch als individuelle Ausschmückung der eigenen Unlust, auf die Anweisungen seines Chefs zu hören.
Wie bei allen solchen Selbsterzählungen ist es schwer zu sagen, was da wirklich dran ist. Aber das Narrativ der speziellen Anarchie der Ukrainer:innen entfaltet gerade jetzt im Krieg seine Wirkung als Erklärung und Motivation für das eigene Handeln. »Sie ist deshalb so besonders, weil wir im Notfall auch in der Lage sind, zusammenzuarbeiten wie ein Bienenschwarm«, sagt Sasha. »Aber ohne Königin.«
Für sie und die beiden anderen Frauen hier am Tisch spielt die gerade in Westeuropa viel diskutierte Frage, wie entscheidend Präsident Volodymyr Zelenskyy für den ukrainischen Widerstand gegen Russland ist, keine so große Rolle. »Er macht das, was er kann, gerade sehr gut«, sagt Darya. »Aber in Friedenszeiten war er kein besonders guter Politiker, ich hoffe, wir bekommen nach dem Krieg einen anderen Präsidenten.«
Die Anarchie-Erzählung dient auch dazu, sich von den Angreifern abzugrenzen, von Russland, dessen Präsident den Ukrainer:innen ihre Identität und Eigenständigkeit abspricht. »Uns verbindet gar nichts mit den Russen«, sagt Lizza. »Wenn ich die sehe, wie sie diesen Krieg führen – wie ferngesteuerte Zombies! Die ducken sich nur vor Angst, die sind gar nicht in der Lage, sich selbst so zu organisieren wie wir.«
Da ertönt von irgendwoher über der Küche ein lautes Schreien und Weinen. Lizza springt so schnell vom Tisch auf, dass sie sich stößt. Sie reibt sich die Hüfte und sagt zu Sasha: »Wir brauchen die Geheimwaffe, die Überraschungseier, dann weint er nicht mehr.« Mit den Süßigkeiten in der Hand poltert sie die Treppe nach oben.
Es ist schon nach sechs Uhr abends, da fahren Sasha und Lizza mit dem Auto in das Hilfszentrum in der Sporthalle. Beide sagen, sie würden lieber ins Bett gehen. Hinten im Auto haben sie Kartons mit Festplatten, Kabeln und Batterien für Journalist:innen und Filmemacher:innen in Kyjiw, die dort den Krieg dokumentieren wollen.
Bei eisigem Wind und Schnee schneiden sie mit der Klinge eines Tapetenmessers lange Stücke Klebeband ab und befestigen selbst geschriebene Schilder mit Adressen auf ihren Paketen. Ein weißer Minivan hält hinter ihrem Auto, den fährt der Mann, der vorhin am Telefon gesagt hat, dass er nicht so viele Tiere mitnehmen will.
Nachdem sie geholfen hat, die Ladung in sein Auto zu quetschen, überredet Lizza ihn doch noch, die Frau aus der Kyjiwer U-Bahn-Station mitzunehmen, und zwar mit ihrem Hund. Sie gibt ihm dafür etwas mehr als die üblichen 3 000 Grywna Spritgeld.
Dann heulen die Smartphones wieder auf. Noch ein Luftalarm. Wieder nimmt ihn niemand ernst.
Fast niemand. Ausgerechnet der Mann, der alle Lieferungen, die aus dem Hilfszentrum rausgehen, am Ende noch einmal genehmigen muss, ist nach dem Alarm verschwunden. Er ist der Abgesandte des Staates in diesem Chaos aus Freiwilligen, und ohne ihn passiert hier gar nichts, ukrainische Anarchie hin oder her. Sasha und Lizza wollten eigentlich unbedingt noch die Medizin an die Armee-Einheit verschicken, die sie heute Nachmittag dringend darum gebeten hat. Aber so sehr sie auch suchen, sie finden den Mann nicht, der ihr Paket absegnen muss. Also fahren die beiden wieder nach Hause.
In der Küche brennt noch Licht. Das ist eigentlich verboten, alle Lampen in der Stadt müssen in den Abendstunden ausgeschaltet werden. Falls doch einmal russländische Flugzeuge kommen, sollen sie nicht so leicht ein Ziel finden. Aber die Fenster der Küche gehen in den Hof, die Patrouillen der Territorialverteidgung können sie von der Straße aus nicht sehen, und Putins Piloten von oben hoffentlich auch nicht. Sasha und Lizza setzen sich wieder vor ihre Computer. Ab und an geht Lizza hinaus auf den Hof und raucht eine Zigarette.
Um drei Uhr nachts geht auch das Licht in der Küche aus.
Lwiw, Mai 2022
Noch nie bin ich zu spät gekommen,