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"Ein ebenso wichtiges wie wuchtiges Buch über den Naziterror nach der Wende, über eilig zurückgelassene Kirschgärten in Brandenburg und Söhne, deren Väter plötzlich Versicherungen verhökern." Dmitrij Kapitelman
Er ist zehn, als in der DDR die Revolution ausbricht. Während sich viele nach Freiheit sehnen, hat er Angst: vor den Imperialisten und Faschisten, vor denen seine Lehrerinnen ihn gewarnt haben. Vor dem, was kommt und was er nicht kennt. Wenige Jahre später wird er wegen seiner langen Haare von Neonazis verfolgt. Gleichzeitig trifft er sich mit Rechten, weil er sich bei ihnen sicher fühlt. So sicher wie bei Mariam, deren Familie aus Georgien kommt und die vor gar nichts Angst hat. Doch er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. "Wir waren wie Brüder" ist eine drastische Heraufbeschwörung der unmittelbaren Nachwendezeit – und ein nur allzu gegenwärtiger Roman über die oft banalen Ursprünge von Rassismus und rechter Gewalt.
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Seitenzahl: 344
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Er ist zehn, als in der DDR die Revolution ausbricht. Während sich viele nach Freiheit sehnen, hat er Angst: vor den Imperialisten und Faschisten, vor denen seine Lehrerinnen ihn gewarnt haben. Vor dem, was kommt und was er nicht kennt. Wenige Jahre später wird er wegen seiner langen Haare von Neonazis verfolgt. Gleichzeitig trifft er sich mit Rechten, weil er sich bei ihnen sicher fühlt. So sicher wie bei Mariam, deren Familie aus Georgien kommt und die vor gar nichts Angst hat. Doch er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er steht. »Wir waren wie Brüder« ist eine drastische Heraufbeschwörung der unmittelbaren Nachwendezeit — und ein nur allzu gegenwärtiger Roman über die oft banalen Ursprünge von Rassismus und rechter Gewalt.
Daniel Schulz
Wir waren wie Brüder
Roman | Hanser Berlin
Ich habe meinen ersten Nazi erwischt. Es war nur ein kleiner, ein Wessi, nicht so ein Kaventsmann, wie die bei uns in Brandenburg rumlaufen. Dabei wollte ich eigentlich nur Dope holen, für Marik, der macht mit mir Zivi, und er meint, die Bullen kontrollieren mich nicht so oft wie ihn. Er ist einfach ein fauler Sack, aber ich fahre gerne S-Bahn in Berlin, also was soll’s. Ich laufe aus dem Bahnhof raus, über eine Kreuzung, nach links in eine Straße mit einem Friedhof und lauter Einfamilienhäusern, da kommt mir eine Glatze entgegen, so etwa eins siebzig groß, ich bin nicht gut im Schätzen. Obenrum sieht der Typ bullig aus, wegen seiner Donkey-Jacke, die ist schwarz und an den Schultern komplett Leder. Unten gucken zwei Spillerbeinchen raus. Als wir auf gleicher Höhe sind, höre ich: »Schwuchtel.«
Bei dem ist der Hippie-Sensor angesprungen — meine langen Haare, meine Brille, der flauschige Stoff meiner Inka-Jacke. Ich bin zwei Köpfe größer als dieses Strichmännchen. Hitze ballt sich in meinem Magen zusammen, sie steigt die Speiseröhre hoch in meinen Kopf. Mein Gehirn flippt mich für eine Sekunde in eine Welt neben dieser, als ich zurück bin, gehe ich wie ein Roboter, eckige abgehackte Schritte. Ich drehe um und laufe dem Typen hinterher. An der nächsten Ampel greife ich ihn mir, seinen rechten Oberarm, ich packe ihn und reiße ihn zu mir herum.
»Ey!« Seine Augen sind dunkelgrün. Ich wünschte, meine wären auch so.
»Hallo.« Ich sage das hoffentlich ganz ruhig, wie im Film. Vielleicht lächle ich sogar.
»Was willst du?« Er versucht sich loszureißen, er wird laut, er brüllt, ich wäre ein schwules Arschloch. Ich halte ihn noch immer fest. Dann schreit er auf einmal um Hilfe. Ich bin so überrascht, dass ich ihn loslasse, ich meine, ich habe noch nie einen Nazi um Hilfe schreien hören, selbst damals bei der Schlägerei auf dem Parkplatz nicht, als sie Torsten den Kopf zermanscht haben wie eine Tomate.
Eine Sekunde, zwei Sekunden, drei. Der Glatzenmann könnte losrennen mit seinen dünnen Beinen, aber er ist zu überrumpelt. Ich greife ihn mir wieder, vorne an der Jacke, mit beiden Händen.
»Los, Arier!« Ich schüttle ihn wie ein Schiffbrüchiger eine Palme. »Einen Judenwitz, erzähl mir einen Judenwitz.«
Er guckt mit großen grünen Augen. Ein Reh im Licht eines Autoscheinwerfers.
Ich zähle: »Drei, zwei …«
Eine Hand krallt sich in meinen rechten Arm. »Hey, was machen Sie denn da?«
Junger Typ, verfilzte Haare, er steckt in einem bunten Kapuzenteil, es sieht wie selbst gehäkelt aus. »Lassen Sie bitte den Mann los«, sagt der Typ, und ich lasse los. Ich lasse los und pflanze dem Häkelmann meinen linken Handballen auf die Nase, das ist jedenfalls mein Plan, aber er duckt sich so komisch weg, und ich treffe ihn mitten auf die Stirn. Er fällt nach hinten auf seinen Arsch.
»Aua, bist du bescheuert?« Er sagt das leise, und er guckt so verwirrt, als würde er gerade in seinem Bett aufwachen und sich fragen, ob er noch träumt. Ich überlege, was ich sagen soll, er soll sich ins Knie ficken, das will ich sagen, da poltert es hinter mir. Pam. Pam. Pam. Mein Nazi haut ab.
Als wir beide über die rote Ampel rennen, erwischt mich beinahe ein Pick-up, so ein fettes Teil mit Riesenreifen, fast schon ein Monstertruck. Der Typ hinter dem Steuer fuchtelt mit den Armen, ich rufe »Entschuldigung!« und renne weiter. Wieder zurück in den Bahnhof, die Treppen hoch zu den Gleisen. Zwei S-Bahnen stehen da. Er entscheidet sich für die linke, für den vorletzten Waggon. Ich sprinte ihm hinterher und quetsche mich gerade noch so durch die zuschnappenden Türen. Er sieht mich und reißt die Augen auf, vielleicht kennt er so viel Engagement sonst nur von seinesgleichen. Er rennt zum Ende des Wagens, da ist Schluss, und die Bahn fährt los. Jemand ruft etwas, wir sollen aufhören, eine Frauenstimme hinter mir, aber ich habe nur Augen für meine Glatze. Er hebt die Arme und tänzelt wie ein Boxer, ich zimmere ihm meine Faust in die Niere, irgendwo da in die Richtung jedenfalls. Er schreit und krümmt sich.
Es wird dann recht seltsam. Der Nazi versucht gar nicht mehr zu schlagen, er greift mir mit der linken Hand in die Haare, lässt sich nach unten sacken und zieht meinen Kopf mit. Seine andere Hand quetscht meine Eier, versucht es jedenfalls, aber ich stehe breitbeinig, und die Jeans zwischen meinen Beinen bildet ein schützendes Dreieck, hart wie eine Rüstung. Ich bearbeite seine Seiten, seinen Rücken, seinen Magen, da komme ich aber nicht richtig dran.
Ins Gesicht will ich nicht treffen, Zähne, Augen, das ist mir zu riskant.
Schlag nicht wie ein Hampelmann, hat Sandro mir mal gesagt, du holst zu weit aus, hau kurz zu und hart. Wahrscheinlich mache ich es wieder nicht richtig.
Der Nazi brüllt, er brüllt immer wieder das Gleiche: »Was willst du? Was willst du?« Irgendwann heult er.
Meine Haare lässt er dabei nicht los, und obwohl er nicht viel wiegen kann, fühlt es sich an, als würde er mir die Kopfhaut abziehen. Ich reiße meinen Oberkörper nach hinten. Auf meinem Schädel brennt es, und ich sehe lange blonde Haare in seiner Hand. Es knackst wie eine Walnuss, als ich meine Stirn gegen seine ramme. In meinem Kopf hallt es. Er taumelt gegen die Wand des Waggons, seine Hände finden keinen Halt, er rutscht nach unten. Aufhören, wenn einer liegt, das hat mir nicht Sandro gesagt, sondern mein Vater. Ich trete noch zwei Mal zu.
Die Bullen kommen zwei Stationen später. Der Oberkommissar macht ein Riesengewese darum, wie ich meine Hände aus der Tasche nehmen soll, schön langsam nämlich. Er fragt, ob ich da ein Messer habe.
Sie verfrachten mich in ihren Bus nach Potsdam zur Bahnhofspolizei. Der Nazi fährt nicht mit. In einem Büro tippt ein Typ meine Aussage in eine echte Schreibmaschine. Eigentlich darf ich gar nichts sagen, ich muss meine Klappe halten. Ich erzähle ihnen alles.
Ein paar Wochen später sitze ich bei einer Anwältin in der Nähe vom Ku’damm, mein Nazi hat mich angezeigt. Eine Rechtsschutzversicherung habe ich natürlich, mein Vater arbeitet da schließlich. Die Anwältin guckt mich an wie eine Katze, die gerade gefressen hat, aber der Hunger lauert im Tunnel hinter ihren Pupillen. »Ihre Aussage in Potsdam war suboptimal«, sagt sie, »aber das kriegen wir vor Gericht schon hin.« Ich hätte mich schließlich gegen einen Rechtsextremen gewehrt, da wäre ich doch ein Held.
Sie guckt nicht mehr ganz so katzensatt, als ich sage, ich will nicht vor Gericht, ich habe zu viel zu tun, keine Zeit, tut mir leid. Ich sage ihr nicht, dass ich Angst habe, die Richterin könnte mich fragen, warum ich den Typen verdroschen habe. Wenn ich einmal den Mund aufmache, könnte ich mit dem Reden nicht mehr aufhören. Alles würde ich ihr erzählen: die Geschichte, wie mich Volker vor den beiden Rambotitten gerettet hat. Vom Überfall auf dem Parkplatz, als ich weggerannt bin, und von dem Abend, an dem sie Mariam erwischt haben und ich vor lauter Angst nicht mal daran gedacht habe, dem kleinen Nowak eine reinzuziehen. Am Ende, und ich kann das Bild in allen Einzelheiten vor mir sehen, würde ich vor der Richterin knien und sie um Vergebung bitten wie so einen katholischen Priester.
Vierhundert Tacken kostet mich das, sagt die Anwältin, wenn ich das mit meinem Nazi nicht vor Gericht klären will. Vierhundert dafür, dass ich nicht über den ganzen Scheiß von früher reden muss, darüber, was für ein Feigling ich war. Vierhundert dafür, dass ich weiter die Klappe halten darf. Das ist doch ein fairer Tausch, würde ich sagen.
Wir planen den Krieg am Tarzanbaum. Pistole klauen, rüber nach West-Berlin, irgendeinen umnieten. Dann schießen die zurück, und schon gibt es Krieg.
»Müsste gehen«, sage ich.
»Ach ja, wie denn? Glaubst du, dein Vater gibt dir das Ding einfach?« Uwe Möller. Sitzt ganz oben, wo die Äste schon dünn werden, und hat wie immer eine große Fresse.
»Ich weiß, wie ich die Knarre kriege«, sage ich.
Uwe zieht die Nase hoch. Seine hellen Haare sträuben sich in alle Richtungen, als hätte sich ein tollwütiges gelbes Eichhörnchen auf seinem Kopf festgebissen. Mario und Lars sagen nichts, sie gucken auf ihre Füße, auf ihre braunen Sandaletten. Sie sitzen auf der Affenschaukel, das ist der dickste Ast der alten Kastanie. Knapp einen Meter über der Wurzel wächst er aus dem Stamm, breit und gerade wie eine Bank. Ich lehne am Baum und streiche mit der linken Hand über die Rinde, über Gräben und Huckel. So muss sich Elefantenhaut anfühlen.
Die Pistole hole ich mir von meinem Vater. Der hat eine Makarow, weil er Offizier ist, Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee. Über ihm kommt nur noch der Oberst und dann die Generäle. Er arbeitet im Wehrkreiskommando, mein Vater sagt We-Ka-Ka dazu oder Dienststelle. Jeden Morgen fährt er mit unserem grünen Wartburg die drei Kilometer nach Starow, das ist die nächste Stadt. Wenn der Westen uns angreift, muss mein Vater von dort die Verteidigung des ganzen Kreises anführen. Zurzeit liegt er aber nur auf unserer Sitzecke in der Küche herum wie ein gestrandeter Wal.
Im Kindergarten wollten sich Uwe und Lars immer gegenseitig beweisen, wer von ihren Vätern den besseren Trecker fährt. »Meiner kommt mit dem Panzer und ballert die beide um«, habe ich dann gesagt.
Jetzt, wo es drauf ankommt, guckt er nur noch Fernsehen: Demonstration in Leipzig, Demonstration in Berlin. Die wollen die DDR abschaffen. In China ist die Armee mit dem Panzer über die Demonstranten drübergefahren. Hier sind sie dazu zu feige.
»Mit uns rechnet keiner.« Das habe ich Uwe gesagt, und Lars und Mario auch. Wir klauen eine Waffe, und wenn die Mauer aufgeht, fahren wir nach West-Berlin. Da ballern wir auf irgendeinen Typen. Der muss ja nicht gleich tot sein oder so. Dann schießt die West-Polizei auf uns und unsere auf die. Wenn Krieg ist, gewinnen wir.
»Was wäre denn so schlimm, wenn wir alle Westen wären?« Uwe hat die Hände hinter dem Kopf verschränkt, er guckt hoch in die bunten Blätter. Mario und Lars sagen immer noch nichts. Uwes Vater würde das wahrscheinlich gut finden, wenn wir Westen wären. Wenn der säuft, meckert er über alles: seine Arbeit, die SED, dass die Eier aus dem Konsum so oft nach Fischmehl schmecken. Gut, das ist wirklich eklig.
Ich will Uwe antworten, aber ich weiß nicht, wie. In Anton bis Zylinder, dem Lexikon für Kinder steht, im Westen leben die Imperialisten und beuten die Arbeiter aus. Frau Reiher hat in Heimatkunde gesagt, Imperialisten schützen die Faschisten. Eigentlich sind sie sogar selbst welche, sie geben es nur nicht zu.
Wir haben Verwandte drüben, in Berlin und im Saarland, die kommen manchmal zu Besuch. Das sind keine Imperialisten, aber arm sind die auch nicht. Die sind irgendwo dazwischen.
»Das ist wie in der Geschichte von Trini«, rufe ich zu Uwe hoch. »Da schneiden die Reichen den Armen die Nasen und Ohren ab, wenn die aufmucken.«
Uwe guckt zu mir runter wie eine Eule auf Mäusejagd. »Was ist das wieder für Weiberkram?«
»Das ist ein Buch«, sage ich, und die Sonne sticht mir durch die Blätter in die Augen. »Das ist ein super Buch«, sage ich, noch mal lauter. Am liebsten würde ich Uwe anbrüllen, aber ich schlucke das runter. Wenn ich schreie, sagt Uwe wieder, ich klinge wie ein Mädchen, und lacht mich aus. »Das ist ein Buch über Mexiko, da kämpfen ganz viele Jungs, das ist überhaupt kein Weiberkram!« Einatmen. Ausatmen. Ich muss langsam reden.
»Mexiko!« Uwe spuckt das Wort aus wie einen abgelutschten Kirschkern, »klar, da schneiden die sich sogar das Herz raus.«
»Du kapierst gar nichts«, sage ich. »Wenn die aus dem Westen gewinnen, sind die hier die Bestimmer.« Hat der noch nie gesehen, wie die Erwachsenen ein Paket von drüben aufmachen? Wie kleine Kinder sind die. Der Kaffee! Die Schokolade! »Das ist wie im Cowboyfilm«, sage ich. »Erst schenken die Weißen den Apachen Glasperlen und Schnaps. Und dann nehmen sie ihnen alles weg oder murksen sie gleich ab.«
»Du hast doch eine Riesenschacke.« Uwe tippt sich mit dem Finger an die Stirn. »Du glaubst echt, die machen uns kalt, oder was?«
»Quatsch!« Meine Stimme schraubt sich hoch. »Das ist doch nur ein Gleichnis.«
»Ein Gleichnis!« Uwe kreischt wie eine Frau in einem Krimi. Mit einem Stein könnte ich ihn da oben runterwerfen, das blöde Arschloch. Mario grinst, und Lars auch.
Wenn ich mir vorstelle, dass der Westen gewinnt, wird es in meinem Magen ganz heiß. Und greift uns jemand an, so hat er nichts zu lachen, die Volkssoldaten wachen und stehen ihren Mann, haben wir neulich gesungen, im Musikunterricht. Selbst die Faschisten haben bis zum Ende gekämpft, und wir machen einfach gar nichts.
Oma Lisbeth sagt, ich bin ein lieber Junge, aber tief in mir drin, da sieht es ganz anders aus. Da kocht eine Giftbrühe wie im Kessel von Baba Jaga. Besonders wenn die Großen glauben, sie können alles mit mir machen. Dann werde ich sauer.
Es gibt die rote und die weiße Wut. Bei der roten Wut steigt das Feuer vom Magen in den Kopf, und ich will nur noch schreien und schlagen. Aber wenn ich es schaffe, das Feuer zu stoppen, bevor es zu einem roten Nebel in meinem Kopf wird, kann ich damit etwas machen, wie ein Zauberer, ich verwandele es in weiße Wut. Als wir noch in der alten Wohnung gewohnt haben, in Block vier, da sollte ich mir einmal die Hände waschen. Meine Mutter fand sie nicht sauber genug. Sie hat mich zwei Mal zurück ins Badezimmer geschickt, und als sie ihr dann immer noch zu dreckig waren, habe ich den Bimsstein genommen, mit dem sie sich immer die Hornhaut von den Füßen schrubbt. Und zwar für alles. Es tat ganz schön weh, besonders unter den Achseln. Aber sie hat mehr geheult als ich.
»Wie willst du an die Knarre rankommen?« Lars wirft eine Murmel in die Luft und fängt sie wieder auf, seinen besten Glasbucker, ein Riesending. Im Inneren ist eine rotgelbe Spirale, als würde eine kleine Galaxie in der Kugel feststecken.
Lars ist der Größte und Dickste von uns, viel dicker als ich in meinen fetten Phasen. Er hat einen Russenschnitt, einen Iwan, raspelkurze dunkle Haare. Seine Nase ist spitz und lang wie die Mohrrübe bei einem Schneemann, und er hat schon ein paar Barthaare über dem Mund. Lars kann alles bauen: die besten Buden, die besten Bögen, die besten Erbsengewehre. Wie er das macht, verrät er nie.
»Das mit der Knarre ist popeleinfach«, sage ich. »Die liegt bei uns im Wohnzimmer.« Durch Zufall habe ich das mitgekriegt. Letzten Dienstag ist Deutsch ausgefallen, weil Frau Grube nicht da war. Die Großen sagen, die ist in die Tschechoslowakei abgehauen. Also war ich früher zu Hause. Vor der Wohnungstür standen schon die Schuhe von Mutti und Vati, obwohl die normalerweise viel später Feierabend haben. Meine Mutter hat so laut geschrien, ich konnte sogar vor der Tür hören, dass mein Vater seine Armeepistole nicht in der Schrankwand verstecken soll.
Mario lehnt sich nach hinten, er streckt seine dünnen braungebrannten Beine aus. Wie eine Wippe schwenkt er vor und zurück, dann hängt sein Kopf über der Erde, und die Beine stehen in der Luft. Er hält sich nur mit den Händen an der Affenschaukel fest und sagt: »Guck mal, Uwe!« Seine riesige Hornbrille fällt ihm vom Gesicht in den schwarzen Sand. Aber Uwe guckt nicht, er schnaubt nur wie ein Pferd. Mario macht einen Überschlag, ohne sich den Kopf am Ast zu rammen, steht auf beiden Füßen und hebt seine Brille wieder auf.
Ich drücke meinen Hinterkopf fester in die Rinde des Tarzanbaums, bis es sticht. Ein Apache kennt keinen Schmerz. Ich schicke das Stechen durch meine Augen zu Lars. Das ist der Trick des Medizinmanns, den habe ich erfunden. So verzaubere ich die Leute, von denen ich etwas will.
»Kannst du mit der Makarow umgehen?« Lars hält seine Murmel jetzt fest in der Hand, guckt mich an und hört mir zu. Wenn ich es schaffe, Lars zu überreden, dann spricht der später mit Mario. Und wenn Mario und Lars dafür sind, ist irgendwann auch Uwe dafür. So war es bis jetzt immer.
Klar weiß ich, wie man mit einer Pistole schießt. Einmal hat mich ein alter Hauptmann seine Makarow halten lassen. Ganz schön schwer das Ding. Beim Zielen habe ich mir die Pistole mit beiden Händen direkt vor das rechte Auge gehalten, wie es die Soldaten in den Kriegsfilmen mit ihren Gewehren machen. Der Hauptmann hat gelacht. »So haut dir der Rückstoß das Auge raus.« Er hat dann mit mir geübt — Pistole mit beiden Händen halten, Arme ausstrecken und abdrücken.
»Klar weiß ich, wie man mit einer Knarre schießt«, sage ich.
»Und dann? Willst du über die Mauer ballern?« Das hat Uwe vorhin schon mal gefragt, und ich hab ihm gesagt, dass die Mauer bestimmt nicht mehr lange steht. Also grinse ich ihn nur an wie ein Cowboy.
Lars wirft seine Murmel wieder in die Luft. Er sagt: »Die knallen uns ab.«
»Mann, wir sind doch erst zehn«, sage ich. »Die schießen höchstens auf die Beine.«
»Scheiße, deine Mutter!« Uwe zischt die Worte von seinem Ast, und ich erstarre. Dann ducke ich mich und laufe im Entengang hinter eine Garage, beim Tarzanbaum steht eine ganze Reihe von denen. Ich zähle langsam bis drei, ich muss ruhiger atmen, sonst hört sie mich vielleicht.
»Wo ist er?« Die helle Stimme meiner Mutter. »Ich hab doch sein gelbes Nicki gesehen.«
»Nö, der darf doch gar nicht!«, ruft Uwe.
Vor zwei Jahren hat ein grüner Lada Nico Lehmann an der Bushaltestelle überfahren. Danach hat mir meine Mutter verboten, ohne Erwachsene über die Hauptstraße zu laufen. Die geht durch ganz Markheide und Kleinau, also ist das halbe Dorf für mich Sperrzone. Wenn ich da erwischt werde, soll ich einen Arschvoll kriegen, der sich gewaschen hat. Meine Mutter verhaut mich nicht so doll, wie es ein paar Väter machen. Es gibt Tage im Sommer, da kann man das Klatschen und Heulen zwischen den Blöcken hören wie das Echo im Harz. Aber wenn sie wirklich auf hundertachtzig ist, tut es weh. Ich will das mit dem Arschvoll lieber nicht riskieren.
Dabei sind es vom Tarzanbaum bis rüber zu den Neubauten, wo wir wohnen, gerade mal ein paar Meter. Auf dem Weg zu unserer alten Schule hier im Dorf musste ich auch über die Straße. Meine Mutter meint, das wäre etwas anderes.
»Ich glaube, der ist hinten am Block vier«, sagt Uwe.
Ich warte, bis Mutti ein paar Meter weg ist, dann zeige ich den dreien kurz Daumen hoch und laufe ganz langsam über die Straße, damit meine Sandalen nicht auf dem Kopfsteinpflaster klappern. Dann nach rechts hinter die Schweineställe. Meine Mutter fährt Fahrrad wie eine lahme Ente. Hier überhole ich sie locker. Gib Gummi, Junge, renn, renn, renn!
»Wo warst du denn?«, fragt sie, als sie mich hinter Block vier auf einem Sandhügel findet.
»Na hier, ich warte auf Lars«, sage ich.
»Lüg mich nicht an«, sagt sie, »das kann ich überhaupt nicht leiden.«
»Mach ich doch gar nicht.« Ich schraube meine Stimme am Ende des Satzes höher, so wie sie, wenn sie mit Vati streitet.
Ich bin hier nicht der Lügner.
Ganz ehrlich: Ich habe den Streit zwischen der DDR und der Kirche bis heute nicht so richtig kapiert. Wir haben in der Schule einen Haufen Geschichten über Ernst Thälmann gehört, den Anführer der Kommunisten. Als Kind hat er seine Pausenbrote mit seinen Mitschülern geteilt, wie Jesus bei der Speisung der Fünftausend. Beide wollten, dass es allen gut geht.
Das habe ich in der vierten Klasse auch Mario erklärt. Der wollte damals wissen, ob sich meine Eltern streiten, weil mein Vater bei der Armee ist und meine Mutter bei der Kirche. Er stand mit dem Rücken an den Kohleofen gedrückt, ganz hinten rechts im Klassenzimmer, und ich habe gesagt, wenn er nicht sicher ist, ob er etwas Falsches macht, soll er sich fragen, ob Jesus und Ernst Thälmann das gut finden würden. Und wenn beide Ja sagen, dann ist es richtig. Er hat nur genickt und nicht mehr geredet, und mit dem Sonnenlicht auf seinen Brillengläsern sah er wie ein dünner Maulwurf aus.
Marios Eltern haben sich damals ständig angeschrien, das konnte man in der ganzen Straße der Neubauten hören. Irgendwann waren sie geschieden.
Erwachsene sollten gar nicht heiraten, die sind einfach zu unterschiedlich. Meine Eltern können sich nicht mal darauf einigen, ob die Stasi bei uns zu Hause war oder nicht. Meine Mutter sagt Ja, mein Vater Nein.
Erst heute nach der Kirche haben sie sich deswegen wieder gestritten.
Ich wollte von meiner Mutter wissen, warum ich keine Schwester habe. Das fände ich nämlich ganz schön. Sie behauptet, die Stasi war bei uns und wollte ihre Ehe mit Vati kaputtmachen, weil er ein Offizier ist und sie eine Kirchliche. »Da wollte ich nicht noch ein Kind«, hat sie gesagt. Mein Vater meinte, das wäre alles Quatsch, und dann sind sie beide laut geworden.
Ich selbst weiß nicht, ob die Stasi da war. Wir hatten zu DDR-Zeiten fast jede Woche Besuch, auch von Männern in Anzügen und Uniformen, da könnten die schon dabei gewesen sein. Erst seit die Mauer weg ist, kommt kaum noch einer.
Vor zwei Tagen haben wir Abschied vom Garten der Hirschfelds gefeiert, nur meine Eltern, die von Lars, er natürlich und ich. Onkel Karl hat Zigarre geraucht wie ein Schlot, und ich habe drei Stücke von Tante Gabis super Kuchen gegessen. Sie hat ihn mit den letzten Knupperkirschen von dem dicken Baum gebacken, der zwischen den Blumenbeeten steht. Lars würde den am liebsten abhacken, damit der Graf von Ützehü ihn nicht kriegt.
Keine Ahnung, ob der Typ wirklich ein Graf ist. Tante Gabi und meine Mutter nennen den so, und alle ihre Kolleginnen auch. Ützehü kommt aus dem Westen, und Uwe sagt, seine Familie hat vor dem Krieg im alten Gutshaus gewohnt. Jetzt, wo die Mauer weg ist, will er sich sein Land wiederholen, und da ist nun mal der alte Garten von Lars und seinen Eltern drauf.
Heute holen wir das Kleinzeug und fahren es rüber nach Kleinau, das heißt, wir müssen einmal durchs ganze Dorf. In unseren Schubkarren dengeln die Eimer gegen die Hacken, Grubber und Harken. Ihre hölzernen Stiele sind nach vorn gerichtet wie die Lanzen der Ritter beim Turnier. Wir schieben den Krempel aus dem Gartentor und dann einen mit Gras überwachsenen Feldweg entlang auf die Hauptstraße. Genau gegenüber stehen vier weiße Hallen und eine Baracke, das ist das VEG (P), das Volkseigene Gut Pflanzenproduktion, hier sagen alle nur Pflanze. Da arbeitet meine Mutter, und die von Lars auch. Sie bauen Getreide und Gemüse an und machen daraus Samen für die ganze DDR. Also, die DDR gibt es seit ein paar Wochen nicht mehr, aber die Pflanze macht erst mal ganz normal weiter. Der Chef der Pflanze heißt Doktor Ebener, und er will aus dem Betrieb so schnell wie möglich eine Westfirma machen, zusammen mit dem Grafen von Ützehü.
Wenn wir jetzt nach links gehen würden, wären wir in einer Dreiviertelstunde in Starow, das ist unsere Kreisstadt. Wir laufen nach rechts.
Lars stampft vor mir her und sagt wie immer nichts. Der könnte ohne Probleme schon bei den Erwachsenen auf dem Feld mitarbeiten, da sagen die Arbeiterinnen auch nur »Tach« und »Tschüss« und zwischendrin vielleicht mal »hm« und »mhm«. Schwarze Schlieren ziehen sich von seiner linken Schulter über seinen breiten Rücken bis rechts runter zur Hüfte, als wäre er in seinem grauen Nicki von einem Moped überfahren worden. Er hat seinem Vater gestern Abend noch geholfen, die Laube einzureißen.
Auch meine Eltern haben einen Garten, und die von Uwe und Mario. Aber nur für den von Lars hatten wir einen besonderen Namen. Wir haben ihn »den Dschungel« genannt. Es gibt lauter Bäume und Hecken, hinter denen einen keiner findet, und die Laube hat man kaum gesehen unter dem Efeu.
Das Schönste ist der große Käfig für die Vögel, den hat Onkel Karl selbst aus Maschendraht mit ganz kleinen Löchern gebaut, und da fliegen vier Wellensittiche herum. Manchmal scheint die Sonne durch die Blätter auf ihre Federn, und dann glänzen die goldgrün, richtig wie im Urwald.
Lars und ich schieben unsere Karren am ersten Neubaublock vorbei. Der steht ganz vorne an der Straße, die anderen kommen dahinter. Die Blöcke sind grau und haben drei Stockwerke, nur der vierte ganz hinten hat eins mehr. Seine Wände sind schwarz gestrichen, die Fenster aber weiß. Sie starren einen an wie strenge Augen. Da wohnt Lars, ich weiter vorne, im zweiten.
Ohne anzuhalten, zieht er eine Flasche Cola aus seiner Schubkarre, das ist diese billige aus dem Westen, die so komisch süß schmeckt. Die gibt es in einer alten Traktorenwerkstatt in Starow, da haben sie eine neue Kaufhalle aufgemacht. Die Wände sind heute weiß gestrichen, aber es stinkt dort immer noch nach Auspuff. Lars trinkt, und wie, ein Schluck, und die halbe Flasche ist leer. Mir gibt er natürlich nichts ab.
Ich schiebe etwas schneller und stoße Lars die Holzstiele meiner Grubber und Harken in die rechte Kniekehle. Er schlappt in seinen braunen Sandalen einfach weiter. Ich ramme ihn noch mal. Er dreht sich um und zieht die rechte Augenbraue hoch: »Schraube locker, oder wie?«
»Ritter Lars von Hirschfeld, ich fordere Euch zum Turnier heraus.« Ich grinse ihn an.
Ritter Lars rülpst leise und kratzt sich am Hintern. Dann läuft er wieder los.
Wir kommen am Tarzanbaum vorbei und an ein paar alten Kaninchenställen, Schuppen und Holzhütten, in denen viele Opas aus dem Dorf ihre Mopeds und Gartenwerkzeuge stehen haben. Als wir noch kleiner waren, sind wir dort oft eingestiegen und haben Schätze gesucht. Die Russen hatten da angeblich Silber versteckt, das wollten uns die Großen immer verklickern, besonders die Brüder von Uwe und Lars. Sie haben die alten Holzhütten Klein-Moskau genannt, und wir irgendwann auch. Silber haben wir natürlich nie gefunden. Nur Mario hat einmal einen Mätschie hinter einer Gießkanne entdeckt, ein Matchbox-Auto aus dem Westen. Ein Rennwagen war das, ein weißer Lamborghini, aber kaputt. Man konnte seine Oberseite hochklappen wie ein großes Maul. Wir haben das Ding den Mätschie-Fresser genannt. Damals war Klein-Moskau für mich so groß wie eine Stadt. Heute sieht alles furzmäßig klein aus, und die Bretterbuden sinken in den Boden, als würde ein Sumpfmonster sie langsam zu sich holen.
Wir scheppern am Tor zum alten Gutshof vorbei. Als Lars und ich und die anderen Jungs noch in Markheide in die Teiloberschule gegangen sind, haben wir hier immer mittaggegessen. Nach dem Unterricht schön in Zweierreihen aufstellen, die erste und die zweite Klasse fassen sich an den Händen, die Großen laufen ordentlich nebeneinander her. Wir haben zusammen mit den Männern und Frauen vom Feld an den Tischen gesessen. Tote Oma habe ich gehasst, Milchnudeln waren mein Lieblingsessen, und ein Mal gab es sogar Fischstäbchen.
Heute könnte meine Mutter jeden Tag Fischstäbchen machen, die gibt es inzwischen nämlich auch in der Kaufhalle in Starow. Aber ich bettele nicht mehr so oft. »Hast du dich jetzt schon an dem Zeug übergessen«, hat sie mich neulich gefragt. Übergessen. Jeder normale Mensch würde »überfressen« sagen. Da merkt man, wie kirchlich es bei ihr zu Hause war. Ihre Eltern hatten keinen Fernseher, und richtige Schimpfwörter durfte sie nicht benutzen.
Als wir am alten Gutshof vorbeikommen, ist es tierisch still. Wahrscheinlich arbeiten sie in der Möhrenklapper nicht mehr, obwohl es erst drei viertel vier ist.
»Wann warst du das letzte Mal drin?«
Lars zeigt auf das Tor zum Gutshof, es steht halb offen.
»Weiß nicht«, sage ich. »Ist bestimmt schon ein halbes Jahr her.« Er will reingehen.
Wir schieben die Karren die paar Meter zurück nach Klein-Moskau und verstecken sie zwischen den zerfallenden Holzbuden. Auf dem Gutshof schleichen wir rechts zum Schweinestall, es sind keine Viecher drin, aber es riecht scharf nach Pisse. Wir klettern eine Leiter hoch auf den hölzernen Zwischenboden, die Stufen ächzen unter Lars, der ist wie ein Gorilla, urst schwer, kommt aber trotzdem überall hin. Fette Spinnen krabbeln ein paar Zentimeter über uns auf den Balken, die eine ist bestimmt so groß wie meine Hand. Wir kriechen im Entengang über das Holz und springen hinten wieder runter. Lars knackt die zweite Tür mit einem Dietrich, den holt er aus der Arschtasche seiner kurzen grünen Hose. Sicher selbstgebaut.
Er kundschaftet nach rechts, ich links.
Mit den Augen fahre ich den alten Speicher ab, ein hohes Haus ohne Fenster, aber mit einem Eisentor und einer Rampe. Da kommt man in einen Keller, wo die ganzen Pflanzenschutzmittel stehen. Meine Mutter muss da oft rein, ich war ein paarmal dabei. Der Gestank der Giftfässer brennt ganz schön doll in der Nase.
Ich sehe niemanden, ich höre nichts, und es riecht nicht nach Zigarette. »Hier alles klar«, sage ich.
»Dann los«, sagt Lars.
Die Möhrenklapper ist vollgerümpelt mit einer Menge Paletten, Kisten und einem alten Trecker. Ein langes Förderband geht einmal genau in der Mitte durch die Halle. Hier sortieren die Arbeiterinnen das Gemüse. Mohrrüben liegen auf dem Boden, ich hebe eine auf und will reinbeißen, aber die ist schon alt und biegt sich wie Gummi. Es riecht faulig und nach Erde, wahrscheinlich verschrumpeln hier irgendwo noch Kartoffeln, aus denen schon die Strünke rauswachsen.
Lars klettert auf dem Band bis fast unters Dach. Ich sehe ihn nur noch als dunklen Klumpen zwischen zwei Streben. Für so was habe ich zu viel Höhenangst. Ich steige über ein paar Kisten auf ein altes Baugerüst. Durch die Löcher in der Wellblechwand schaue ich auf den Hof. Die Pflastersteine sind noch aus Kaiserzeiten, das sagen jedenfalls die Erwachsenen. Vormittags laufen hier Frauen und Männer hin und her, lachen, brüllen sich an. Jetzt scheint hier bloß noch die Sonne.
»Runter!«, zischt Lars von seinem Hochsitz. »Da kommt einer.«
Ich kann mich gerade noch flach auf den Rücken legen, da geht schon quietschend eine Tür auf. Schwere Schritte. »Manfred?« Eine tiefe Männerstimme. Kurze Pause. »Manfred, bist du da?« Der Mann nuschelt, er klingt nach Schnaps.
Ein Klicken, ein Feuerzeug. Rauch steigt mir in die Nase. Cabinet ist das nicht, die raucht mein Vater. Die Club von Mutti riechen auch anders.
Der Typ fängt an zu pfeifen. Ich kenne die Melodie. Von all unsern Kameraden war keiner so lieb und so gut wie unser kleiner Trompeter, ein lustiges Rotgardistenblut. Das war mein Lieblingslied in der Schule, weil es so traurig ist.
An der Ernst-Thälmann-Schule in Starow hatten sie auch einen Trompeter. Mann, was haben die geguckt, als wir vom Dorf dort das erste Mal zum Fahnenappell aufgekreuzt sind. Die standen in Quadraten auf dem Schulhof wie die römischen Legionen bei Asterix. Viele von denen standen da in kompletter Pionieruniform auf dem Platz — weißes Hemd und blaue Hose. Die Markheider hatten alle bloß die Halstücher, den Rest wollten unsere Eltern nicht kaufen. Ich hab doch keinen Goldscheißer, hat Onkel Karl immer gesagt.
Der unbekannte Sänger wechselt vom Pfeifen zum Singen und wieder zurück. Dann kommt ein anderes Lied. »Verdammt, ich lieb dich« von Matthias Reim. Meine Mutter liebt den. Vati musste schon eins seiner alten Tonbänder mit dem Heini überspielen, da waren vorher die Rolling Stones drauf.
Verdammt, ich lieb dich, pfeif pfeif, verdammt, ich brauch dich, pfeif pfeif.
Meine Arme und Beine werden steif und kribbeln. Aber ich bewege mich keinen Millimeter. Als mich das letzte Mal hier einer erwischt hat, hat der mir dermaßen eine geflankt, dass ich angefangen habe zu heulen. Der Typ war so erschrocken, dass ich doch noch wegrennen konnte.
Da, ein Schritt, zwei Schritte, der Typ geht wieder Richtung Tür. Ein letztes Mal ruft er: »Manfred?«, und ich denke, Manfred ist nicht hier, du Vogel, mach dich vom Acker. Und dann, mit einem Quietschen, ist er weg.
Den Rest des Weges laufen wir schnell, ich muss um sechs Uhr zu Hause sein, wegen Abendbrot. Markheide ist ganz schön lang. Hinter dem Gutshof macht die Hauptstraße zwei große Kurven, und dann gehen die einzigen zwei anderen Wege rechts ab. An dem einen liegt das alte Herrenhaus und der Konsum, in den mich Vati zu DDR-Zeiten manchmal geschickt hat — zum Bierholen. Ich musste die Flaschen immer ein bisschen schütteln und gegen das Licht halten, meistens waren da Flocken drin, ich glaube, von der Hefe, das Bier sollte ich dann jedenfalls nicht kaufen.
Lars und ich rennen am Grünen Baum vorbei. Solange ich denken kann, sind die Fenster der alten Gaststätte schon vernagelt. Der Kindergarten und die Krippe sind beide im selben Haus aus Holz und roten Backsteinen. Da oben unter dem Dach ist Lars mein Freund geworden, da waren wir so vier oder fünf. An dem Tag hat Frau Beckmann ihn mit heruntergelassener Hose auf einen Stuhl gestellt. »Kommt mal alle her«, hat sie gesagt, und wir sind alle gekommen. Frau Beckmann war ein Berg auf zwei Elefantenbeinen, sie schrie, sie riss an unseren Ohren, alle hatten Angst vor ihr, sogar die anderen Erzieherinnen. Lars stand also auf einem Stuhl, und sein Schlüpfer hing um seine Knie. Frau Beckmann zog den Stoff mit der linken Hand hoch, und wir konnten die braune Spur auf dem Grau sehen. Wir machten das, was sie von uns wollte, wir riefen: »Iiiiiiiiiiiiiiiih!«
Lars schaute auf uns herunter, ich habe ihn nie weinen sehen, aber da war er, glaube ich, kurz davor, seine Augen haben so feucht geglänzt. Und dann hat er mich angeguckt. Zufällig habe ich genau in dem Moment nichts gerufen, ich hatte keine Luft mehr. Für ihn sah es wohl so aus, als hätte ich gar nicht mitgemacht. Na ja, und ab da waren wir eben Freunde.
Hinter dem Kindergarten fängt Kleinau an, das soll mal ein eigenes Dorf gewesen sein. Hier wohnen nur Assis, aber die glauben, sie sind was Besseres, weil ihre Eltern schon immer hier gewohnt haben, und unsere nicht. Assi soll ich nicht sagen, meine Mutter will das nicht. Aber Buchti, der hier wohnt, den nennt sie trotzdem so. Alle Erwachsenen machen das, weil er zu DDR-Zeiten als Einziger im Dorf keine Arbeit hatte, und das war im Osten verboten.
Falls die Kleinauer Jungs Ärger machen, hat Lars seinen Katschi aus Draht dabei, der schießt Steine ordentlich weit. Ich ziehe mein Schwert aus der Schubkarre. Das ist eigentlich nur ein Stab aus Fiberglas, daran binden sie in der Gärtnerei die Pflanzen. Wenn man jemanden damit haut, zwiebelt das ganz schön.
»Lass uns mal hinmachen«, sagt Lars.
Wir laufen an der alten Kleinauer Kirche vorbei und dann an den hässlichen grauen Häusern, die Hälfte davon steht schief. Viele hier haben Plumpsklos. Ganz am Ende der Hauptstraße kommen dann noch ein großes vierstöckiges Haus und ein paar Ställe. Es riecht nach Mist und Gülle, das ist das VEG (T), also die Tierproduktion. Hier züchten sie Kühe und Schweine. Markheide ist wie eine Klappstulle, die eine Hälfte ist die Pflanze und die andere das Tier, und dazwischen steckt das Dorf wie Butter mit Leberwurst.
Im neuen Garten liegt ein Haufen Holzlatten. Die sind für die Laube. Wir räumen unsere Schubkarren aus und werfen das ganze Zeug auf eine Plane. Lars singt leise vor sich hin,
Gaumi Gaumi Gaumi Gamm, das macht er auch immer, wenn er was baut.
Wir lassen die Schubkarren im neuen Garten und gehen einen anderen Weg zurück, falls die Kleinauer doch noch auftauchen. Wir laufen außen um das Dorf herum, über das Scheißschweißfeld. Den Namen hat Uwe erfunden, weil unsere Eltern hier mit uns im Sommer immer Unkraut gehackt haben. Das mussten früher bei der Pflanze alle machen.
An Block vier sage ich Tschüss zu Lars und frage ihn, ob ich morgen noch mal helfen soll, aber er brummt nur irgendwas, das ich nicht verstehe. Die letzten paar Meter bis zu unserem Aufgang renne ich, es ist schon zwei Minuten vor sechs. Zum Abendbrot macht meine Mutter Zuckerstulle. Sie legt ein halbes Stück Butter in eine Pfanne, und wenn das richtig brutzelt, kommen die Brotscheiben hinterher. Zucker darf ich dann selbst draufmachen, so viel ich will.
Ich schaue aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Felder, das hilft mir beim Konzentrieren.
»Was ist die Hauptstadt von Obervolta?« Mein Vater hält sich wohl für besonders schlau.
»Heißt nicht mehr Obervolta, sondern Burkina Faso«, sage ich. »Hauptstadt ist Ouagadougou.«
»Tschad?«
»N’Djamena.«
»Tadschikistan.«
»Duschanbe.«
Abrupter Wechsel zu den Sowjetrepubliken, aber damit kriegt er mich nicht, ich habe geübt. Meine Mutter hat mir ein Lexikon gekauft. Namibia ist dadrin immer noch von Südafrika besetzt. Das sage ich ihr nicht, sie wird immer so traurig, wenn sie denkt, sie hat sich wieder Westschrott andrehen lassen.
Wir fahren zu einer Hochzeitsfeier, Tante Angelika, eine von Opa Friedrichs Töchtern, sie hat einen neuen Mann. Das ist jetzt der dritte. Mal gucken, ob der sich zurückhalten kann mit dem Schnaps, hat meine Mutter gesagt. Der letzte Typ von Tante Angelika ist in der Klinik gelandet und nie wiedergekommen. Die Feier geht bestimmt lange. Bei Opa Friedrich ist nie vor fünf Uhr morgens Schluss.
Das Auto macht einen harten Schlenker nach links. »Guck doch mal nach vorne, Ingo!« Meine Mutter schreit. »Du bist wie ein Kind!«
»Die Katze wollte mit, Maggi.« Mein Vater spricht leise, aber ich kann sein Grinsen trotzdem hören. Meine Mutter heißt Magdalena, und sie hasst es, wenn jemand sie Maggi nennt.
Gestern haben wir den Mazda 323 in Berlin abgeholt. Mein Vater ist auf das Auto zugelaufen wie ein Stierkämpfer, Brust raus, Beine bereit und dann stolzier, stolzier. Fast alle anderen in Markheide haben schon ein Westauto. Mir tut unser alter grüner Wartburg leid, den hat so ein Typ mit Schleimscheitel abgeholt.
»Hauptstadt von Südafrika?« Viele würden jetzt Johannesburg sagen. Mein Vater muss sich echt mal was Neues ausdenken.
»Pretoria.«
»Fahr jetzt mal dynamisch, Ingo, wirklich.« Meine Mutter lässt sich so leicht nicht abwimmeln.
»Dynamisch« ist ein neues Wort, ein Westwort. Meine Mutter sagt es andauernd. In ihrer Geburtstagzeitung zum Fünfunddreißigsten habe ich es auch benutzt. Neben einer Zeichnung von einem Mann mit einem Haikopf, die war aus einer Illustrierten. Der Hai-Mann reißt das Maul auf, und man sieht seine spitzen Zähne. Daneben habe ich geschrieben: »Es gratuliert auch Dein sooo toller, dynamischer Boss, Professor Doktor Ebner.« Ihr Chef redet sie nicht mehr mit Vornamen an. Zu Ostzeiten stand er mal auf sie, aber das ist vorbei, seit sie im Betriebsrat sitzt. In der Pflanze haben die Typen meiner Mutter immer hinterhergeguckt. Sie sieht aus wie Sandra, die Sängerin: große Lippen, grüne Katzenaugen und die Locken von einer Königin.
Bei uns im Dorf sind die Frauen alle schöner als ihre Männer. Mein Vater geht so. Sein Bauch ist nicht so dick wie der von Onkel Karl oder Uwes Vater. Meine Mutter sagt, er hätte einen Schlafzimmerblick. Ich finde, er guckt wie ein Dackel, den jemand vor dem Konsum vergessen hat.
Wir kommen mit der Abendsonne an. Das ist die beste Zeit für Oma Lisbeths Stadt, dann fällt das Licht auf die Häuser aus rotem Backstein, es spiegelt sich in den Fenstern und dem Fluss. Wir fahren in eine Märchenstadt aus Feuer. Über allem thront ein Dom wie eine Burg, hier haben die Deutschen im Mittelalter den Slawen ihr Land weggenommen.
Oma Lisbeth wohnt in einem Fachwerkhaus unter dem Dach. Wenn meine Eltern viel arbeiten mussten, war ich früher oft wochenlang bei ihr. Sie wohnt alleine, nach Opa Erwins Tod wollte sie keinen neuen Mann. Als wir bei ihr ankommen, umarme ich sie und versinke wie in einem Kissen.
»Du hast ja dein neues Titt-Shirt an.« Sie lacht, und das große runde Kissen bebt. Oma Lisbeth spricht neue Westwörter so aus: Tsörfen, Ortschestrieren, Kompluter und Titt-Shirt. Sie lernt die mit Absicht nicht richtig, und wenn alle darüber lachen, wie sie redet, lacht sie am lautesten.
Sie hakt sich bei mir ein, und wir laufen mit meinen Eltern die paar Meter rüber zum Haus von Opa Friedrich. Vom Gartentor bis zur Garage ist schon alles voller Leute. Tante Angelika steht vor dem Eingang zum Haus, auf der obersten Stufe der kleinen Treppe. Sie hat ihre Locken abgeschnitten und die kurzen Haare blond gefärbt.
»Ein schwarzes Kleid«, sagt Oma Lisbeth, »wie auf einer Beerdigung.«
»Das ist dunkelblau«, sagt meine Mutter, »nun lass sie doch.«