Ich komme, um zu schreiben - Victoria Dahl - E-Book

Ich komme, um zu schreiben E-Book

Victoria Dahl

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Beschreibung

Molly Jennings hat ein wohlbehütetes Geheimnis: Sie ist Autorin von Erotikromanen. Wenn sie nur nicht diese Schreibblockade hätte! Auf der Suche nach Ideen kehrt sie zurück in ihren Heimatort Tumble Creek - und direkt in die Arme von Ben Lawson. Der attraktive Cop war ihr heimlicher Jugendschwarm und hat sie bereits zu ihrem ersten Roman inspiriert. Ein bewährtes Rezept? Die erste Liebesnacht mit Ben - schon hat Molly die Idee für ein neues Buch! Doch nicht nur ein mysteriöser Stalker scheint ihr den Erfolg zu missgönnen. Auch Ben ist alles andere als begeistert, als er hinter ihr Geheimnis kommt …

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Seitenzahl: 449

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der

Victoria Dahl

Ich komme, um zu schreiben

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Sarah Heidelberger

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe: Talk Me Down

Copyright © 2009 by Victoria Grondahl erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München;

pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: Harlequin Enterprises S.A., Schweiz /

Anne Pearson Photography

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-411-0 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-410-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Dieses Buch ist Jennifer gewidmet, die mich überzeugt hat, dass ich diese Geschichte erzählen kann – und erzählen sollte. Ohne dich hätte ich es

DANKSAGUNG

In Anbetracht der großen Unterstützung, die ich beim Schreiben dieses Buches erhalten habe, muss ich einer Menge Leute danken. Erst mal ein riesengroßes Dankeschön an meine Agentin Amy Moore-Benson, die mich gebeten hat, diese Geschichte aufzuschreiben. Du hattest recht: Ich hatte noch nie so viel Spaß beim Schreiben! Danke, dass du mir einen Vorwand und die Möglichkeit gegeben hast, mich weiterzuentwickeln.

Und natürlich Jennifer Echols … Danke, dass du mir die schätzungsweise ersten dreihundert Seiten lang die Hand gehalten hast. Du bist eine großartige Schriftstellerin und eine wunderbare Freundin, auch wenn du meine Affenwitze nicht magst. Viel wichtiger ist, dass dir immer der perfekte Buchtitel einfällt. Du bist einfach unbezahlbar.

Ohne meine Lektorin Tara Parsons könnte ich diese Danksagung überhaupt nicht schreiben. Danke, dass du meine Figuren (und mich) unter deine Fittiche genommen hast. Du tust ganz eindeutig viel mehr als nur deine Pflicht. Dein Enthusiasmus haut mich echt vom Hocker!

Wie jedes Mal hat mich meine Familie an jedem einzelnen Tag meines Schriftstellerinnendaseins unterstützt. Danke, Bill, dass du immer an den richtigen Stellen lachst, wenn auch nicht laut. Du bist mein zuverlässiger, starker Held, und du würdest einen fantastischen Police Chief abgeben. Oder Sheriff.

Danke, Adam und Ethan, dass ihr Verständnis dafür habt, dass ich nicht immer Zeit habe, mit euch Star Wars zu spielen, wenn ihr mich darum bittet. Ihr macht mich stolz, und ich liebe euch. Und dann möchte ich noch der unglaublich großzügigen Belletristik-Gemeinde danken. Romanautoren sind die tollsten Kollegen, die man sich vorstellen kann. Ein ganz besonderes Dankeschön an Connie Brockway, weil sie schon wieder eines meiner unlektorierten Manuskripte gelesen hat. Und danke an all meine Internet-Schriftstellerfreunde: Ihr seid wirklich eine tolle Gemeinschaft.

Romanleser sind natürlich die großzügigsten Leser der Welt. Sie alle haben mich als frischgebackene Schriftstellerin mit offenen Armen willkommen geheißen, und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut sich das anfühlt. Ich hoffe, dass Ihnen auch diese neue Geschichte Spaß macht!

1. KAPITEL

Ungläubig und empört spähte Molly Jennings in das winzige Kaffeeregal im ebenso winzigen Tumble Creek Market. Sie entdeckte Folgers, Sanka und ein paar Marken, von denen sie noch nie im Leben gehört hatte. Und nicht eine einzige Packung Espressopulver in Sicht.

Als sie bekümmert aufseufzte, stieg ihr eine Duftmischung aus Instant-Kaffeepulver und Weichspüler in die Nase. In den letzten Jahren hatte sie die traurige Wahrheit über Kleinstadt-supermärkte erfolgreich aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Keine ganzen Kaffeebohnen, keine Spezialröstungen. Ganz hinten im Regal stand etwas verstaubt eine einsame Dose Vanille-Kaffeeweißer. Molly schüttelte sich.

Zum Glück gab es noch das Internet. Ansonsten wäre sie nämlich nie wieder in den Genuss von hausgemachtem Espresso gekommen. Oder einem Hostess Fruit Pie. Molly warf einen vorwurfsvollen Blick in die sogenannte Snackabteilung bei den Kassen. Ihre letzte Hoffnung war die Tankstelle gegen über vom Supermarkt. Molly war nämlich ziemlich sicher, dass Tankstellen gesetzlich oder wenigstens moralisch verpflichtet waren, Hostess-Produkte zu führen. Und CornNut.

„Oh Gott, CornNuts“, murmelte sie verzückt. Ihre Laune besserte sich schlagartig. Zum letzten Mal hatte sie in der Highschool welche gegessen. Hoffentlich gab es noch die Sorte mit Barbecue-Geschmack.

Ehe sie es sich anders überlegen konnte, schnappte sie sich eine Dose Folgers, schmiss sie in ihren Einkaufswagen und lief weiter zu den Tiefkühlregalen.

Der Backfisch, der gerade das Regal mit der Babynahrung auffüllte, beachtete sie kaum. Ganz offensichtlich hatte Moe Franklin seine Herrschaft über den Tumble Creek Market abgetreten. In Mollys Jugend hatte er seinen Supermarkt mit harter Hand und beängstigend lauter Stimme regiert und einen leidenschaftlichen Hass auf Teenager gepflegt. Alles Diebe und Punks, jedenfalls laut dem guten, alten Moe.

Also hatte sich in Tumble Creek doch ein bisschen was ge ändert, und das war auch gut so. Immerhin war auch Molly in den letzten zehn Jahren eine andere geworden. Sie hatte ihr großartiges Loft in Denver hinter sich gelassen, dazu ihr ziemlich lebhaftes Sozialleben, und – so hoffte sie wenigstens – einen ziemlich schweren Fall von Schreibblockade. Nicht zu vergessen die Ursache für ihre Schreibblockade: den Mistkerl, der ihr alles kaputt gemacht hatte. Offiziell bekannt als Cameron Kasten. Hauptbeschäftigungen: Exfreund und Stalker.

Jetzt lag eine vierstündige Autofahrt zwischen Molly und Cameron, und das bedeutete einen echten Neuanfang. Keine nervösen Blicke über die Schulter mehr, keine Notwendigkeit, jedes Geschäft, das sie betrat, vorher nach ihrem Exfreund abzusuchen. Kein Grund, die Partys ihrer Freundinnen zu meiden, nur weil Cameron dort auftauchen könnte.

Schon witzig, wie etwas so Alltägliches plötzlich die Laune heben konnte.

Aber es gab noch einen weiteren Faktor an Mollys neuer Lebenssituation, der möglicherweise gewaltig zu ihrer Aufmunterung beitragen würde: Eventuell und mit ein wenig Glück würde sie tatsächlich irgendwann mal wieder Sex haben! Nicht dass ein Umzug in ein Kuhkaff mit tausendfünfhundert Einwohnern normalerweise ein Garant für verbesserte Aussichten in Sachen Sex gewesen wäre. Aber Molly hatte da eine ganz bestimmte Person im Auge.

Zwar hatte sie Ben Lawson seit zehn Jahren nicht mehr gesehen. Aber der Eindruck, den er damals bei ihr hinterlassen hatte, war so prägend gewesen, dass seitdem kaum ein Tag vergangen war, an dem Molly nicht an ihn gedacht hatte. Eigentlich war er in so gut wie all ihren Fantasien der Hauptdarsteller. Ein splitterfasernackter, ausgesprochen williger Hauptdarsteller.

Molly warf ihrem Spiegelbild in der Eisschranktür ein Lächeln zu, das aber sofort gefror, als sie die mehr als mickrige Auswahl in den Regalen registrierte. Und dabei hatte Tumble Creek doch nur ein einziges Diner! Sie konnte doch nicht jeden Tag dort essen! Oder vielleicht doch?!

Wirklich, sie vermisste ihren Lieblings-Thailänder jetzt schon. Der bloße Gedanke an die würzigen Nudeln ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Schicksalsergeben öffnete sie die Schranktür und redete sich ein, dass die Packungen in ihrer Hand nicht wirklich Tiefkühl-Makkaroni mit Käse enthielten.

„Ist das dann alles, Chief?“, fragte eine ziemlich verschlafen klingende Mädchenstimme. Trotz des gelangweilten Tonfalls sorgten diese Worte dafür, dass Mollys Herz einen kleinen Satz machte. Hastig schob sie ihren Einkaufswagen in Richtung der piependen Kasse und hielt am Ende des Gangs abrupt inne, weil der Anblick vor ihr sie so fesselte, dass sie wie gelähmt war.

Fesselnd, lähmend, überraschend und beängstigend umwerfend.

Er. In Fleisch und Blut, nicht nur in ihrer Fantasie.

Als Molly der Letzte Wille ihrer Tante mitgeteilt worden war und sie plötzlich die Möglichkeit bekam, wieder zurück nach Tumble Creek zu ziehen, hatte sie sofort an Ben Lawson gedacht. Aber mit dieser Wirkung hatte sie nicht gerechnet.

Er war perfekt. Noch immer. Er wirkte muskulöser und männlicher als bei ihrer letzten Begegnung, was Mollys ebenfalls erwachsener gewordenem Männergeschmack allerdings sehr entgegenkam. Außerdem war er bekleidet, was ein weiterer wichtiger Unterschied zu ihrer letzten Begegnung war. Aber auch gegen seine Klamotten war absolut nichts einzuwenden. Ausgeblichene, fadenscheinige Jeans und ein dunkelbraunes Uniformhemd. Die Ärmel waren hochgerollt und enthüllten kräftige Unterarme, auf denen goldene Härchen glitzerten.

Er nickte der Kassiererin zu und reichte ihr ein paar Geldscheine. Seine Augen waren genauso schokoladenbraun, wie Molly sie in Erinnerung hatte, und in seinem Blick lag noch immer derselbe Ernst wie damals. Bens Haare hatten fast dieselbe Farbe wie seine Augen, was eigentlich langweilig hätte wirken müssen, Molly aber immer fasziniert hatte. Als sich ein zurückhaltendes Lächeln auf seinen Lippen ausbreitete, bildeten sich um seine Augen herum kleine Lachfältchen. Dann blickte er auf und sah Molly direkt an.

Trotz der fünf Meter Abstand traf sein Blick Molly wie ein Blitz. Als Ben sie erkannte, hob er verblüfft die Augenbrauen und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Hand mit dem Wechselgeld blieb auf halben Weg zu seinem Geldbeutel einfach in der Luft hängen. Als die Kassiererin Molly einen Blick über die Schulter zuwarf, erwachte er aus seinem komatösen Zustand. Molly beobachtete, wie er sich bedankte, eine kleine Plastiktüte vom Tresen nahm und sich von der Kasse entfernte. Allerdings nicht in Richtung Ausgang, sondern in ihre Richtung.

Er erinnerte sich noch an sie!

Natürlich tut er das!

Molly war entsetzt, wie sehr sie sich darüber freute. Du bist keine siebzehn mehr, wies sie sich in Gedanken zurecht, während Ben immer näher kam. Sie fühlte sich winzig neben ihm, aber auf eine gute, eine zierliche Weise.

„Molly?“, fragte er zögerlich. Das Wort polterte geradezu aus seiner Kehle, was Molly einen angenehmen Schauer den Rücken hinablaufen ließ.

„Ben! Hi! Ist ganz schön lang her, was?“

Oh, oh. Das war wohl nicht der beste Einstieg gewesen. Denn Ben nahm wieder diesen verblüfften Ausdruck an, und dann wurde er auch noch ein bisschen rot.

Ja, es war wirklich lange her. Zehn Jahre, um genau zu sein. Und das hatte seine Gründe. Wahrscheinlich musste auch er gerade an ihre letzte Begegnung denken, ebenso wie Molly . Oh Mann. Jetzt errötete sie auch.

Ben räusperte sich. „Ich, äh …“ Er verzog die Lippen zu einem schmalen Strich und räusperte sich. Wahrscheinlich wies er sich in Gedanken genauso zurecht wie Molly vor ein paar Minuten. Du bist jetzt der Polizeichef hier! Reiß dich zusammen!

„Tut mir leid mit deiner Tante Gertie. Sie war ja ziemlich … lebhaft.“

In der Tat, lebhaft war sie wirklich gewesen. Um nicht zu sagen: extrem starrsinnig. „Meine Mutter hat immer gesagt, dass Gertie zu stur zum Sterben ist, aber trotzdem kam ihr Tod ja nicht wirklich überraschend.“

Ben neigte den Kopf zur Seite. „Ich habe gehört, dass sie dir das Haus hinterlassen hat. Aber niemand konnte sich vorstellen, dass du deswegen aus Denver zurückkommst. Bist du hier, um das Grundstück zu verkaufen?“

„Nö.“

Ihre Antwort schien ihn leicht zu beunruhigen. „Machst du das Haus winterfest?“

„Eigentlich auch das nicht. Ich ziehe ein.“

Seine beunruhigte Miene verwandelte sich schlagartig in ein undurchdringliches Pokerface, das ihm als Polizeichef vermutlich häufig gute Dienste leistete. „Du ziehst wieder nach Tumble Creek?“, wiederholte er.

„Jepp. Der Umzugswagen müsste so in einer Stunde da sein.“

„Im Ernst?“ Für einen kurzen Moment sah er Molly von Kopf bis Fuß an, dann sah er ihr wieder in die Augen. Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie heute Morgen nicht gerade viel Zeit auf ihre Kleiderwahl verschwendet hatte.

Sie trug weite Kakihosen und ein T-Shirt, das fast so zerfleddert war wie ihre uralten Turnschuhe. Ihr dunkelblondes Haar hatte sie zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hochgebunden. Zum Glück trug sie wenigstens keine Shorts, sie hatte sich nämlich seit einer Woche die Beine nicht mehr rasiert. Schließlich war es im Oktober verdammt kalt in den Bergen, da konnte ein zusätzlicher Schutz nicht schaden. Doch Kälte hin oder her, jetzt würde sie sich definitiv rasieren.

„Aber du arbeitest doch unten in Denver, oder?“, fuhr Ben schließlich fort.

Er sah sie an, als wäre er die Unschuld in Person, aber davon ließ Molly sich nicht täuschen. Immerhin war Ben der beste Freund ihres Bruders. Unmöglich, dass er nichts von der „Molly-Jennings-Frage“ wusste.

Sie lächelte und zwinkerte ihm zu. „Netter Versuch, Chief!“

Er hob in schweigendem Protest beide Brauen, aber auch damit konnte er Molly nichts vormachen. „Wo wir schon beim Thema Arbeit sind: herzlichen Glückwunsch zu deinem schnellen Aufstieg als Chief!“

Er nickte dankend. „Außer mir wollte den Job einfach keiner.“

„Wow, welch sittliche Bescheidenheit!“ Ups.

Ben wurde wieder rot, und dann wurde auch Molly rot, da sie ja ganz genau wusste, woran er gerade denken musste. Das Bild in ihrem Kopf war so lebendig und detailreich, dass sich die Hitze von ihrem Gesicht im ganzen Körper ausbreitete.

„Na dann …“ Ben streckte seine Hand aus und verabschiedete sich mit einem knappen, professionellen Händedruck von Molly. „Willkommen zurück in Tumble Creek, Molly. Wir sehen uns.“ Ehe sie antworten konnte, war er schon weg. Mit einem leisen Klicken fiel die Eingangstür hinter ihm zu, und damit wurde Molly auch der Ausblick auf seinen spektakulären Hintern verwehrt.

Molly Jennings. Grundgütiger.

Ben zog seine Uniform aus und streifte sich die Joggingsachen über. Plötzlich wünschte er sich, Raucher zu sein. Genau, er brauchte eine Zigarette. Oder wenigstens einen Drink. Aber da er schon in ein paar Stunden wieder in den Dienst musste, würde er sich mit einem kurzen Lauf begnügen müssen. Frank hatte die nächsten paar Tage Urlaub, und da die Polizeiwache nur aus viereinhalb Beamten bestand, bedeutete das Überstunden für alle. Auch für den Chief.

Er schnappte sich Schlüssel und Handy und war schon halb zur Tür hinaus, doch dann kehrte er wieder um, um seinen Schlagstock zu holen. Die vielen Puma- und Bärenangriffe in den letzten Jahren hatten ihn vorsichtig gemacht. Der Frühling war zwar erfahrungsgemäß gefährlicher als der Herbst, aber Vorsicht war schließlich die Mutter der Porzellankugel.

Apropos: Vorsichtig war genau das, was er nicht gewesen war, als er Molly Jennings im Supermarkt über den Weg gelaufen war. Sie hatte dagestanden wie eine Horrorvision aus seinem allerpeinlichsten Albtraum. Mit schamverzerrtem Gesicht knallte er die Haustür hinter sich zu und rannte einfach drauflos, ohne einen Gedanken ans Aufwärmen zu verschwenden. Warm genug war ihm schließlich schon. Er war ja rot geworden wie ein verdammter Schuljunge! Noch einer von diesen blamablen Augenblicken mit Molly Jennings.

Aber heute war er kein zweiundzwanzigjähriger Junge mehr. Und Molly war definitiv nicht mehr siebzehn. Sie hatte so frisch, natürlich und reif gewirkt, wie sie dagestanden hatte mit ihrem dunkelgoldenen Pferdeschwanz. Und wie ihr Bauchnabel zwischen dem engen hellblauen T-Shirt und den schäbigen Cargohosen hervorgelugt hatte …

Gott, er liebte Cargohosen! Seiner zugegebenermaßen etwas ausgefallenen Meinung nach kamen Frauenärsche in keiner Verpackung besser zur Geltung. Zum Glück hatte er keine Möglichkeit gehabt, einen Blick auf Mollys Hintern zu werfen. Schließlich war der Rest von ihr schon fast zu viel für ihn gewesen.

Ben zwang sich die steile Strecke am Ende der Straße hinauf und bog dann nach links in den zugewucherten Wanderweg ab. Zufälligerweise führte der Pfad den Berggrat entlang, der genau hinter Mollys Haus verlief. Aber das hier war nun mal Bens Lieblingsstrecke, und die würde er ganz sicher nicht aufgeben, nur um Molly aus dem Weg zu gehen. Und wenn er ganz aus Versehen einen Blick durch die Fenster warf, dann war das nur natürlich. Klar war er neugierig! Sie waren schließlich befreundet gewesen. Na ja, zumindest hatte er seine gesamte Jugend in Mollys Nähe verbracht. Und ja, er hatte sie als Teenager unglaublich süß gefunden, aber sie war nun mal auch die minderjährige kleine Schwester seines besten Freundes gewesen. Also verbotenes Terrain. Und jetzt war sie siebenundzwanzig … und immer noch verbotenes Terrain.

Ben hatte sich nämlich geschworen, nie im Leben etwas mit einer Frau aus Tumble Creek anzufangen. Zu viel Gerede, zu viele Komplikationen. Wenn es etwas Schlimmeres gab, als ein Kleinstadtpaar zu sein, dann, ein Ex-Kleinstadtpaar zu sein. Die reinste Chaos-Garantie.

Also hielt sich Ben an Frauen, die nicht aus der Stadt kamen. Und da im Winter der Großteil der Straßen geschlossen war, beschränkten sich seine Affären meist auf die wärmeren Jahreszeiten.

Molly würde das ganze Jahr über hier sein. Na ja, oder auch nicht. Vielleicht wollte sie ja nur den Winter über bleiben! Vielleicht würde sie es ein paar Monate lang in Tumble Creek aushalten und dann wieder für zehn Jahre verschwinden.

Das Jahrzehnt in Denver hatte ihr gutgetan. Sie war schlank, aber nicht mager, rund und fest an jeweils den genau richtigen Stellen. Und ihre funkelnden grünen Augen wirkten noch lebhafter als damals. Selbstbewusster, irgendwie … erfahren und weltoffen. Verlockend.

Ben schüttelte diese gefährlichen Gedanken ab und folgte dem Pfad weiter nach oben bis zur Gabelung. Der eine Weg führte wieder zur Straße, der andere mündete nach einer Weile in einen Bergkamm, der einen atemberaubenden Blick auf das breite Tal westlich der Stadt bot. Die Sonne strahlte hell und warm, und die Luft war gerade frisch genug, um Bens Schweiß zu kühlen. Gegen das Gefühlschaos in seiner Brust wäre allerdings leider etwas mehr nötig gewesen als das.

Tief atmete er den erdigen Duft der Espen ein und beschloss, den Weg zum Bergkamm einzuschlagen. Wenn er noch ein bisschen weiterlief, wurde er vielleicht die Erinnerungen an Molly los, die so beharrlich durch seine Gedanken geisterten.

Er joggte gerade mitten durchs tiefe Dickicht, als sein Handy klingelte. „Lawson“, keuchte er in den Hörer.

„Ben“, sagte seine Sekretärin, die er seit Schulzeiten kannte. „Hier ist Brenda. Bist du zu Hause?“

„Nicht wirklich. Wieso?“

„Oh, wir haben hier ein kleines Problem. Andrew ist rüber zu den Blackmounds, da ist Vieh durch ein Loch im Zaun getürmt. Und jetzt steht hier ein riesiger Umzugswagen, der die halbe Main Street blockiert und nicht weiterkommt. Das Auto von Jess Germaine steht im Weg, und er geht nicht ans Telefon.“

Ben knurrte genervt und drosselte sein Lauftempo. Bis er zurück im Ort war, hatte sich das Problem wahrscheinlich von selbst gelöst, aber falls Jess mal wieder seinen Rausch ausschlief …

„In Ordnung. Ich brauche zwanzig Minuten. Falls sich Jess meldet, ruf mich bitte kurz an.“

„Klar. Sag mal, weißt du, was der Umzugswagen hier überhaupt will?“

Unwillkürlich verkrampfte Ben die Kiefermuskulatur. Zum Glück wusste niemand von dieser heiklen Episode mit Molly vor zehn Jahren. Ansonsten würden sich jetzt nämlich alle das Maul zerreißen, sobald sich die Nachricht verbreitete, dass Molly wieder in der Stadt war. „Molly Jennings zieht zurück nach Tumble Creek“, sagte er betont ruhig.

Und macht mir vom ersten Tag an Ärger.

Das würde ein verdammt langer Winter werden.

Obwohl Gerties Haus wochenlang leer gestanden hatte, sah es immer noch makellos aus. Nur ein feiner Hauch von Staub hatte sich zaghaft auf dem Holzboden ausgebreitet. Nicht mal hinter den Möbeln hatte Molly auch nur eine einzige Wollmaus entdecken können.

So sauber würde es hier vermutlich nie wieder sein. Molly sah sich kopfschüttelnd um, dann packte sie ihren Computer aus und baute ihn auf dem Esszimmertisch auf.

Sie selbst besaß gar keinen großen Tisch. Sie war mit ihrem Loft in Denver zwar wunschlos glücklich gewesen, aber klein gewesen war es trotzdem. Und daher war Gerties Esszimmer jetzt nicht mehr Gerties Esszimmer, sondern Mollys Büro. Na, wenn das die gute Gertie nicht entsetzt hätte!

Mein Haus hinterlasse ich meiner Großnichte Molly Jennings, in der Hoffnung, dass sie ihr unsittliches Leben in der Stadt aufgibt und wieder an den Busen der Natur zurückkehrt, in das Gottesland, in das sie gehört.

Molly grinste und rümpfte die Nase. Oh ja, zurückgekehrt war sie, aber ihr unsittliches Leben hatte sie mitgebracht.

Sie fuhr den Rechner hoch, wobei ihr Grinsen noch breiter wurde. In Denver hatte sie keinen einzigen Satz mehr zusammenbekommen, weil sie in ständiger Angst gelebt hatte. Und hier in Tumble Creek war ihr nur ein paar Stunden nach ihrer Ankunft gleich eine unschätzbare Inspirationsquelle über den Weg gelaufen.

Natürlich würde sie sich jetzt wieder mit all den neugierigen Fragen herumschlagen müssen, wie sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Aber dagegen hatte Molly sich gewappnet. Und falls sich Ben Lawson als eine genauso wunderbare Muse entpuppte wie vor zehn Jahren, war das die Gerüchte mehr als wert. Oh ja, ganz sicher.

Erst schaffte sie Ordnung auf ihrem Desktop, dann öffnete sie ein neues Dokument. Das wohlige Kitzeln in ihrem Bauch erinnerte sie daran, wie viel Spaß ihr die Arbeit bis vor sechs Monaten gemacht hatte. Nicht so gut wie Sex, aber ziemlich nahe dran.

Ihr Anflug von guter Laune zerplatzte wie eine Seifenblase, als aus ihrer Handtasche eine vertraute Melodie erklang. Molly wühlte ihr Handy heraus und stöhnte auf, als sie sah, wer der Anrufer war. „Na ganz toll.“

Natürlich konnte sie ihn auch einfach ignorieren, aber dann würde er eben immer wieder anrufen. Und dann würden noch andere anrufen, und ganz am Ende würde sich der große Häuptling der Schwachköpfe selbst melden: Cameron.

Molly nahm den Anruf entgegen, versuchte aber nicht mal, ihre Ungeduld zu verbergen. „Was ist?“

„Hey, Molly! Hier ist Pete!“

„Weiß ich.“

„Wie geht’s dir?“

Sie klickte wahllos ein paar Dokumente auf und überlegte, wie viele CornNuts wohl noch in ihrer Handtasche steckten. „Super.“

„Wohnst du jetzt echt in den Bergen? Ich hoffe, dass du nicht länger bleiben willst. Im Winter ist es doch ganz schön gefährlich da oben.“

„Ich bin hierher gezogen, Pete. Ende der Diskussion.“

„Mal sehen, was du nach einem langen, einsamen Winter sagst.“

Molly stöhnte auf. „Ich weiß ja, dass ich nur ein hilfloses, dummes Frauchen bin, aber immerhin bin ich hier aufgewachsen. Und stell dir vor, in meinen ersten achtzehn Lebensjahren ist ein kleines bisschen Wissen über meine Umgebung zu mir durchgedrungen.“

„Hey, du hast ein Haus geerbt, das ist echt aufregend! Klar, dass du wenigstens mal ausprobieren musst, drin zu wohnen. Aber dein Apartment hier ist ja noch nicht verkauft. Du musst also noch überhaupt keine endgültige Entscheidung treffen …“

„Hat Cameron dir gesagt, dass du anrufen sollst?“, unterbrach sie ihn barsch.

„Was? Nein. Wir machen uns alle Sorgen um dich, Molly …“

„Wer? Cameron und seine niedliche Boyband?“

„Ach komm schon, Molly. Wir sind doch Freunde. Ich will doch nur …“

„Nein, Pete“, fuhr sie ihm über den Mund. „Nein, wir sind keine Freunde. Wenn wir Freunde wären, hätte ich dir ein Armband geknüpft und dir die Zehennägel lackiert. Und wir hätten darüber gelacht, wie winzig der Penis von meinem ersten Freund war. Wir hätten uns mit Appletinis abgeschossen und dabei wild mit irgendwelchen Typen geflirtet. Wir sind aber keine Freunde, Pete, wir waren ein Paar. Bis uns jemand alles kaputt gemacht und dein Herz gestohlen hat.“

„Häh?“ Molly konnte förmlich vor sich sehen, wie er verwirrt die Stirn runzelte. „Niemand hat mein Herz gestohlen. Wir haben doch einvernehmlich beschlossen, dass das mit uns beiden einfach nicht funktioniert.“

„Mit ‚zusammen‘, meinst du da Cameron und dich?“

„Hey, was unterstellst du mir denn da?“

„Ich unterstelle dir, dass Cameron dir eingeredet hat, dass du nicht mehr mit mir zusammen sein willst. Genauso wie er es mit jedem Mann gemacht hat, mit dem ich zusammen war, seit ich ihn verlassen habe.“

„Das ist doch krank!“ Pete wirkte richtiggehend empört.

„Ja, genau, das ist krank. Nicht dass das dir oder Michael oder Devon etwas auszumachen scheint. Ihr seid alle viel zu sehr damit beschäftigt, mit Mr Traummann rumzuhängen!“

„Cameron hat recht“, murmelte Pete. „Du hast echt ein Problem.“

„Ja! Ganz genau davon rede ich doch die ganze Zeit! Ich habe Probleme!“, schrie sie in den Hörer. Gleich darauf brach die Verbindung ab. Kochend vor Wut starrte Molly das Handy an. Sie waren ihr bis nach Tumble Creek gefolgt. Cameron und seine Entourage, die sich aus Mollys ehemaligen potenziellen Sexualpartnern zusammensetzte.

Das ging zu weit, das konnte sie nicht zulassen. Am besten, sie schaffte das Handy einfach ab. Schließlich hatte sie ja noch die Festnetznummer ihrer Tante. So konnten ihr Bruder und ihre Lektorin sie erreichen, und ihre Eltern auch. Falls diese jemals über ihre Cameron-Sucht hinwegkamen.

Cameron Kasten – Supervising Sergeant Cameron Kasten – war der Star unter den Unterhändlern für Geiselnahmen am Denver Police Department. Seine Arbeit bestand darin, andere zu manipulieren, ihnen seine Meinung aufzuzwingen und sie zu verführen. Und er war verdammt gut darin. Alle liebten ihn: seine Freunde, Mollys Freunde, das ganze verdammte Police Department. Rettungssanitäter, Feuerwehrmänner, Staatsanwälte und jeder einzelne Mann, mit dem Molly jemals ein Date hatte.

Niemand wollte ihr glauben, dass Cameron ihr Leben ruinierte. Da es ihm nicht gelungen war, Molly einzureden, dass sie bei ihm bleiben musste, redete er seitdem einfach ihren Männerbekanntschaften ein, dass sie Molly verlassen mussten. Es war gruselig, und es war frustrierend. Cameron war wie ein riesiges schwarzes Loch, das allen Sex aus ihrem Leben sog.

Na ja, vielleicht nicht allen.

Sie dachte wieder an Ben Lawson, an die vertrauten brauen Augen und die großen Hände und … oh, an so vieles mehr. Ein grandioseres Ende für ihre Trockenzeit als ihn konnte sie sich nicht vorstellen. Aber wenn Cameron sie in Tumble Creek heimsuchte, würde es so weit nicht kommen. Also musste sie diesen Mistkerl auf Abstand halten. Und zwar so weit wie möglich.

„Satan, weiche!“, sagte sie zu ihrem Handy, während sie es feierlich abschaltete.

Molly war wieder in Tumble Creek, Colorado, und sie hatte vor, genau da weiterzumachen, wo sie vor zehn Jahren aufgehört hatte: bei einem nackten Ben Lawson.

Mit dem einen Unterschied, dass sie diesmal wusste, was sie mit ihm anstellen sollte.

2. KAPITEL

Chief?“

Ben schreckte ruckartig aus seinem kleinen Schläfchen vor dem Computer hoch. „Ja?“

Brenda schüttelte heftig den Kopf, wodurch ihr Pony über ihren dicken Augenbrauen zu tanzen begann. „Es ist acht Uhr abends. Du solltest wirklich nach Hause gehen und dich ausruhen. Immerhin hast du ganze vierundzwanzig Stunden lang frei.“

„Ach richtig.“ Er warf einen letzten Blick auf den Dezemberdienstplan, dann schloss er das Programm. In den nächsten Monaten würde die Polizeiarbeit ziemlich überschaubar sein. Im Winter tickten die Uhren in Tumble Creek immer etwas langsamer als sonst. Keine Mountainbiker, kein Rafting, und der Pass nach Aspen war bis Mai zugeschneit. Nach dem verrückten Frühling, Sommer und Herbst hatten sie sich eine kleine Ruhepause aber auch wirklich verdient.

Apropos Aspen … Ben rieb sich die Augen und warf einen Blick auf die alte Wanduhr im Flur. Quinn Jennings war bestimmt schon im Büro. Der Mann war echt besessen von seiner Arbeit.

Schon nach dem ersten Klingeln nahm Quinns Assistentin ab. „Jennings Architecture.“

„Ist Quinn zu sprechen?“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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