Ich muss raus aus dieser Kirche - Andreas Sturm - E-Book + Hörbuch

Ich muss raus aus dieser Kirche E-Book und Hörbuch

Andreas Sturm

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Beschreibung

Andreas Sturm war seit Jahren einer der mächtigsten Kirchenmänner Deutschlands. Generalvikar in Speyer, verantwortlich für Tausende von Mitarbeitenden und für einen Millionenetat. Und er war immer stärker das Gesicht einer reformfähigen Kirche, bezog mutig Stellung zu Themen wie den Segnungen von homosexuellen Beziehungen oder dem Zölibat. Ein Hoffnungsträger, der aber selbst keine Hoffnung mehr hat. Und deshalb konsequent handelt: Andreas Sturm tritt aus der Kirche aus, weil er an Veränderung nicht mehr glauben kann. Damit spricht er Hunderttausenden aus der Seele und zeigt all die Missstände von Kirche auf – aus der Perspektive von einem, der ganz oben in der Hierarchie stand, ein absolutes Novum. Sein Buch ist keine Abrechnung, aber eine schonungslose Bilanz und ein Eingeständnis von Scheitern, auch persönlichem. Seine Vorschläge könnten die katholische Kirche verändern und zukunftsfähig machen. Ohne Andreas Sturm, denn der hat erkannt: Ich muss raus aus dieser Kirche, weil ich meinen Glauben retten will. Weil ich Mensch bleiben will. »Es gab für mich immer nur die römisch-katholische Kirche und mein Leben in ihr und mit ihr. Inzwischen frage ich mich schon länger, ob nicht auch ich co-abhängig bin. Co-abhängig von dieser Kirche. Dieses Bild mit der Co-Abhängigkeit kam mir in den Sinn, weil mir immer und immer wieder Menschen schreiben: 'Wegen Ihnen trete ich nicht aus der Kirche aus.' Doch kann ich das wollen?« Andreas Sturm

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Seitenzahl: 209

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Zeit:5 Std. 30 min

Sprecher:Andreas Sturm
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Andreas Sturm

Ich muss raus aus dieser Kirche

Weil ich Mensch bleiben will

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten 

www.herder.de

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: Verlag Herder

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-451-03398-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83398-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83399-1

Inhalt

Statt eines Vorworts: Tohuwabohu – oder mein inneres Ringen

Leben in der Bubble und erste Entfremdungen

Bei uns doch nicht, wir doch nicht: Wortlaute einer unendlichen Selbstlüge

Der Kirchen-Flächenbrand – unlöschbar?

Kirche gehört dazu: Aber welche – diese?

Erste Schritte, erste Begeisterung – und erste Demütigung

Kirche, ganz neu – und plötzlich rückabgewickelt

Was kapieren die vom echten Leben? Rein und raus aus der Bubble

Woran ich nicht mehr glaube – oder: die berühmten Eisen, noch heiß oder längst kalt?

Zölibat: Gehen Sie bitte – und zwar still und leise

Würde und Respekt? Der wahre Umgang mit Homosexualität

Die Sache mit der Co-Abhängigkeit

Loyalität als Verpflichtung – oder: Wer dient hier eigentlich wem?

Machtsystem Kirche: Wer hat das Sagen? Und wer lässt sich etwas sagen?

Viel Geld, aber ohnmächtig? Die Wahrheit über die »reiche Kirche« und welche Grenzen Visionen haben

»Sie können mir gar nichts«: Die Macht des Mangels und die Folgen

Kraftquelle oder liturgischer Klerikalismus: Wie feiern wir eigentlich?

Der Ton wird rauer: Wie reden wir eigentlich miteinander?

Ortspfarrei-Idyll vs. Weltkirche: Die Gefahr der äußeren und inneren Spaltung

Ratten verlassen das sinkende Schiff

Vor die Wand gefahren

Und jetzt?

Danksagung

Über den Autor

Gott ist Liebe und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.

(1 Joh 4,16)

Mein Primizspruch, 23. Juni 2002

Statt eines Vorworts: Tohuwabohu – oder mein inneres Ringen

Für mich gab es immer nur die römisch-katholische Kirche. Das klingt jetzt so, als sei mir Ökumene nicht wichtig oder als glaubte ich, dass allein an der römischen Kirche die Welt genesen kann, aber dem ist nicht so. Es gab für mich immer nur die römisch-katholische Kirche und mein Leben in ihr und mit ihr.

2021 traten so viele aus unserer Kirche aus wie noch nie zuvor. Im Januar dieses Jahres übertrafen die Austrittszahlen noch einmal die Höchststände des Vorjahres. In einem Gespräch mit ein paar Priestern, in dem ich mein Entsetzen über diese Entwicklung äußerte, hörte ich jenen Satz zum ersten Mal: »Die Ratten verlassen das sinkende Schiff.« Die Ratten verlassen das sinkende Schiff! Dieser Satz hat sich zutiefst eingebrannt. Und jetzt? Jetzt verlasse ich auch das Schiff. Als Ratte?

Ich frage mich schon länger, ob nicht auch ich co-abhängig bin. Co-abhängig von dieser Kirche. Dieses Bild mit der Co-Abhängigkeit kam mir in den Sinn, weil mir immer und immer wieder Menschen schreiben: »Wegen Ihnen trete ich nicht aus der Kirche aus.« Doch kann ich das wollen? Seitdem mir dieser Gedanke mit der Co-Abhängigkeit in den Sinn gekommen ist, lässt er mich nicht mehr los. Es ist ein schwerer Prozess, sich diese Co-Abhängigkeit einzugestehen, denn dies bedeutet, dass Eltern oder die Partnerin oder der Partner ertragen müssen, dass der Abhängige total abstürzt; erst dann und vor allem erst dadurch kann etwas Neues beginnen. Ich würde das Kirche wünschen.

In den Tagen, in denen ich diese Zeilen schreibe, denke ich immer wieder über die beiden Absätze da oben nach. Was ist da passiert, zwischen »nur die römisch-katholische Kirche« und »die Ratten verlassen das Schiff«? Was ist in Kirche passiert, was ist in der Gesellschaft passiert, was ist in mir passiert? Ich war lange Teil dieser Kirche und zuletzt in der Hierarchie an einer der höchsten und einflussreichsten Positionen, die man in einer deutschen Diözese bekleiden kann. Ich war Generalvikar, erster Mann nach dem Bischof. Die Betonung liegt auf »ich war«.

Was also ist passiert? Zumindest für mich gab es nicht den einen großen Knall, den existenziellen Big-Bang, der so viel Energie freigesetzt hat, dass plötzlich für mich klar war, dass ich hier weg muss. Nein, es war ein langsamer Prozess und eigentlich ist es mir erst heute im Rückblick klar, dass es ein langer Weg einer Entfremdung war.

Es ist vieles, was es da zu nennen gibt.

Manchmal werden einem Worte, Sätze und Gedanken geschenkt. Da hört oder liest man etwas und denkt: Genau das ist es! Das passt und beschreibt die Sache oder das Gefühl oder die Stimmung gut. So ging es mir vor nicht allzu langer Zeit. Ich war bei lieben Freunden zum Essen eingeladen und es war ein toller Abend. Wir sprachen viel über all das, was mich gerade umtrieb. Meine Sorgen um die Kirche, meinen Weg, meine Ängste, aber auch meine Hoffnungen. Am Ende des Abends öffnete mein Freund noch eine Flasche Rotwein. Es war ein Rotwein-Cuvé und auf dem schwarzen Etikett stand in weißen Buchstaben das hebräische Wort Tohuwabohu. Als ich das las, dachte ich sofort: »Genau das ist es! Das beschreibt, was gerade bei mir los ist.« Weniger in der Übersetzung Martin Luthers, der das Wort mit »wüst und leer« übersetzte; mehr nach der Übersetzung Martin Bubers und Franz Rosenzweigs: »Irrsal und Wirrsal«.

Irrsal und Wirrsal: Das beschreibt meine inneren Kämpfe. Mein Ringen und die endlosen Gedankenschleifen, Ängste und Sorgen, die mir den Schlaf raubten und rauben, auch in den Tagen, in denen dieses Buch entsteht. Oft weiß ich am Ende selbst nicht mehr, was das Richtige ist.

Auch wenn ich all meine Gedanken im Gebet vor Gott bringen will, merke ich, dass ich es ordnen muss. Insofern will ich ganz ehrlich sein: Das ist alles auch Teil meiner Selbsterforschung, damit sich am Ende Irrsal und Wirrsal lichten und ich im besten ignatianischen Sinn zu einer guten Unterscheidung der Geister gelangen kann.

Es kommt aber noch ein zweiter Aspekt dazu, der mich bewegt hat, dieses Buch zu schreiben: Ich mache das nicht nur für mich. Auch für Familie und Freunde, für Menschen, die über meine Entscheidung entsetzt und enttäuscht sind, und für all jene, die es vielleicht eben auch interessiert.

Dies alles ist mein privates Ringen und mein ganz subjektives Erleben. Ich schreibe hier keine letzten Wahrheiten und keine Dogmen. Aber es ist ein Erleben, das viel über Kirche aussagt. Ich durfte Kirche erleben und ich musste sie erleben, zuletzt in einer Position und mit Aufgaben, die mir erlauben, einige Überlegungen anzustellen, die Probleme aufzeigen, Schwächen benennen, ohne so vermessen zu sein, zu glauben, alle Antworten zu haben. Ich werde daher schildern, wie mein Weg der Entfremdung war. Dieser Weg führt durch die verschiedenen Abschnitte einer traditionellen kirchlichen Sozialisation, wie sie heute immer seltener wird. Warum ich das tue? Weil ich glaube, dass daran deutlich wird, was verloren gegangen ist, nicht nur für mich, sondern für Hunderttau­sende andere. Und dass darin auch Antworten auf die Herausforderungen und Probleme der Kirche liegen, allerdings nicht mehr für mich. Denn ich werde dabei auch nachforschen, was ich hätte tun können, mehr hätte tun müssen, nicht zuletzt in meinem Amt als Generalvikar – und warum ich zwar Lösungen und Antworten sehe, aber nicht mehr daran glaube, glauben kann. Wenn ich hier an manchen Stellen noch »wir« schreibe, zeigt das, wie sehr ich noch an dieser Kirche hänge und dass ich ihr das Beste wünsche. Nur ohne mich. Ich will so meinen Glauben retten, ich will Mensch bleiben. Natürlich spreche ich denen, die bleiben, nicht das Menschsein ab, und auch nicht denen, die vor mir gegangen sind. Ich gehe, weil ich aufrecht und als ich selbst durch das Leben gehen will – und das konnte ich persönlich zuletzt nicht mehr. Andere mögen für sich zu anderen Konsequenzen kommen.

Und letztlich ist dieses Buch vor allem ein Ausschnitt meines Lebens, meiner Gedanken, meiner Ängste; aber auch ein Ausschnitt meiner Hoffnung und meiner Zuversicht. Und ich bin in all dem, was ich tue, ganz tief davon überzeugt, dass mein Leben in allem getragen ist von einem liebenden und barmherzigen Gott, der alle Wege mit mir geht.

Leben in der Bubble und erste Entfremdungen

Ich weiß noch sehr genau, wie begeistert ich war, als der neue Weltkatechismus Anfang der Neunzigerjahre rauskam. Mich faszinierte, dass es auf jede Frage, jedes moraltheologische Problem eine klare Antwort gibt. Ja, das war nicht nur faszinierend, sondern auch irgendwie anziehend. Im Studium bemerkte ich zwar durchaus, dass und wie Glaube, Philosophie und Theologie zu ganz neuen, weiten Horizonten führen können und dass dieses kleinkarierte Katechismus-Denken nicht zu dem dort beschriebenen großen Gott passt. Doch noch hatte das keine Konsequenzen für mein Denken, Fühlen und schon gar nicht für mein Handeln.

In den Neunzigern war es auch, genau in der Mitte der Neunziger, als ich auf dem Mainzer Wochenmarkt von einem engagierten Mann der Bewegung Wir sind Kirche angesprochen wurde. Er wollte eine Unterschrift für das Kirchenvolksbegehren. Kein Regens oder sonst Vorgesetzter musste mir die Unterschrift damals verbieten; auf die Idee, zu unterschreiben, wäre ich selbst niemals gekommen. Für mich stand fest: Die Lehre war klar und Papst Johannes Paul II. hatte mit dem Apostolischen Schreiben Ordinatio sacerdotalis (Die Weihe der Priester) am 22.05.1994 die Frage nach der Priesterweihe der Frau letztgültig entschieden und machte damit, salopp gesagt, päpstlich den Deckel drauf. Für mich keine Sensation, was dann sonst?

In dieser Zeit, und davor schon und danach auch, verloren wir immer wieder gute Kollegen und Mitbrüder. Wir, also die Kirche. Sie hörten auf, sich zu engagieren oder traten aus, weil sie sich zu einer Frau oder zu einem Mann hingezogen fühlten und dies nicht heimlich tun, sondern sich offen und ehrlich zu einem Menschen bekennen wollten. Wir verloren dadurch großartige Seelsorger und gute Mitarbeitende – ins Grübeln brachte mich das zunächst noch nicht. Obwohl ich wusste, dass weder die Frage nach der Homosexualität noch die des Zölibats in der Bibel von Jesus verhandelt wurden, sondern von Paulus. Nur bei Paulus könnte man sagen. Doch damals kam mir auch das »nur« nicht in den Sinn, sondern ich verteidigte den Zölibat leidenschaftlich, obwohl ich schon im Seminar bei mir selbst und bei anderen erlebte, wie schwer sich dieses Versprechen halten lässt.

Ich spürte noch nicht oder wollte nicht spüren, in welcher Sonderwelt ich eigentlich lebte, in welche Bubble ich tiefer und tiefer eintauchte. Im Gegenteil: Was ich spürte und genoss, das waren beispielsweise die Blicke der Leute, wenn ich in Soutane vom Seminar in den Dom lief. Jesus selbst kannte diese Gefahr schon, als er seinen Jüngern erzählte, man solle sich vor jenen hüten, die lange Gewänder mit Quasten tragen. Ich blendete diese Warnung des Herrn (vgl. Mt 23,5 ff.) gekonnt aus. Als ich 2018 feierlich ins Domkapitel aufgenommen wurde, musste ich zuvor zwei Mal nach München zu einem Schneider. Hier wurde Maß genommen und sämtliche Eitelkeiten bedient. Dann noch einmal zur Zwischenanprobe: Der Schneider hatte einen kleinen Laden und die Anprobe fand im Verkaufsraum statt. Vor den Schaufenstern lief in diesem Moment eine asiatische Reisegruppe vorbei und einige von ihnen zückten direkt ihre Kameras, als sie mich sahen, und drückten ab. Sie machten Aufnahmen von mir in der Soutane bei der Zwischenprobe! Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie grotesk dies alles ist – aus der Zeit gefallen und museal wie zum Beispiel Schloss Neuschwanstein oder andere Zeugnisse einer vergangenen Zeit.

Wie sehr aus der Zeit gefallen und wie wenig anschlussfähig an diese Zeit, das begann ich erst später zunehmend in der pastoralen Arbeit zu erfahren. Gerade in Lebensbrüchen bei Scheidungen oder der Aufgabe des Priesteramts tun wir uns als Kirche so unendlich schwer damit, gute und neue Wege aufzuzeigen, die die erfahrene Lebensgeschichte ernst nehmen und doch gute Aufbrüche ermöglichen.

Die beginnende Entfremdung erfuhr ich aber nicht nur bei den scheinbar »großen« Themen, sondern eben bei vermeintlichen Kleinigkeiten in der pastoralen Arbeit, die für die Menschen aber nicht Kleinigkeiten, sondern Teil des Alltags und damit ihres Lebens sind. Dazu gehört auch die Liturgie, die für mich lange Zeit unhinterfragt einfach verwendet wurde, ja, verwendet werden musste. Gleichzeitig erlebte ich in Vorbereitungssitzungen in der Zeit als Jugendseelsorger, wie wenig junge, aber durchaus auch ältere Menschen an Kirchen-Sprech andocken können.

Je älter ich wurde, je weiter ich in der Hierarchie aufrückte, desto weiter schritt auch die Entfremdung fort. Manches davon bemerkte ich nicht, manches schon und manches davon verdrängte ich. Als würde ich innere Brandherde austreten oder besser: abdecken und hoffen, dass ohne Luftzufuhr die Brände irgendwann von selbst erlöschen würden. Nur das taten sie nicht. Vielmehr wurden sie angefacht durch einen Brandbeschleuniger, der nicht nur bei mir, sondern bei Millionen Menschen kleine Brandherde zu einem Flächenbrand ausweitete.

Bei uns doch nicht, wir doch nicht: Wortlaute einer unendlichen Selbstlüge

Zum ersten Mal wurden wir Anfang der 2000er-Jahre mit dem Thema konfrontiert, dem Thema Missbrauch durch Geistliche. In der medialen Berichterstattung der USA begegnete dieses Thema auch der deutschen Öffentlichkeit immer öfter. Mir ist in diesem Zusammenhang noch sehr gut das Wort von Kardinal Karl Lehmann im Ohr, der 2002 voll der Überzeugung und mit einer gewissen Überheblichkeit auf die Frage von SPIEGEL-Journalisten, ob Missbrauch auch für die deutsche Kirche ein Thema sei, antwortete, dass wir uns nicht jeden Schuh in Deutschland anziehen müssten. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob ich dem Kardinal damals glaubte. Der Mainzer Oberhirte war mir aus meiner Studienzeit im Mainzer Priesterseminar vertraut und ich schätzte die Art, wie er als Vorsitzender der Bischofskonferenz der Kirche in Deutschland ein sympathisches Gesicht gab. Dem Schock über die immer neuen Enthüllungen in den USA versuchte ich ohnehin dünne Erklärungsversuche entgegenzusetzen, um dieses Grauen des tausendfachen Missbrauchs mit meinem Bild einer lebendigen und weltzugewandten Kirche in Einklang zu bringen. Diözesen gingen pleite, Bischöfe und Kardinäle traten zurück, aber dass dies kein singuläres Phänomen in den USA war, kam mir damals nicht in den Sinn.

Erst als Pater Klaus Mertes SJ 2010 die Vorfälle am Canisius-Kolleg öffentlich machte, wurde mir klar, dass wir die gleichen Probleme hatten und haben. Aber auch da wollte ich es noch nicht wahrhaben. Ich war damals schon seit sechs Jahren in der kirchlichen Jugendarbeit tätig. Wir beschäftigten uns mit dem Thema »Kinder stark machen« und boten verpflichtende Präventionsschulungen an. Wir diskutierten über Schutzkonzepte und stritten über Formulierungen in einem Verhaltenskodex. Zugleich nahm ich die Kirche immer wieder in Schutz. Für mich war klar, dass Missbrauch in der Kirche unmöglich zu einem höheren Prozentsatz vorkommen konnte, als er das in der Gesamtgesellschaft tat. Diese Haltung las und hörte ich auch immer wieder von deutschen Bischöfen. Heute bin ich mir fast sicher, dass genau aus dieser Haltung he­raus die MHG-Studie in Auftrag gegeben wurde: Man wollte damit das Thema ein für alle Mal beenden.

2018 im September, nur wenige Wochen nachdem ich als Generalvikar meine Arbeit aufgenommen hatte, wurden die Ergebnisse der Studie zuerst durch Die Zeit und später durch die Deutsche Bischofskonferenz zusammen mit den Forschern vorgestellt. Neben der Pressekonferenz in Fulda musste ich auch in Speyer vor Kameras und Mikrofone, um zu diesen schockierenden Ergebnissen Rede und Antwort zu geben. Das tat ich natürlich, es war ja jetzt meine Pflicht. Was ich damals noch nicht wusste: Mit der MHG-Studie ist in mir etwas zerbrochen. Natürlich hatte ich mir nicht eingebildet, dass die Kirche nur diese heilige und makellose Institution sei. Eine Institution aus Menschen, die zwar erlöst, aber eben doch auch Sünder sind, bringt auch immer wieder Fehler und Sünde hervor. Aber die schiere Zahl an Tätern und Opfern hat mich damals umgehauen. Ich konnte es nicht fassen. Zusätzlich entsetzte mich, dass oft nicht den Kindern geglaubt worden war und man nicht alles unternommen hatte, um die Täter dingfest zu machen, sondern dass es selbst jetzt noch darum ging, die Institution zu schützen. Und ich war nun als Generalvikar irgendwie das Gesicht dieser Institution! Einer Institution, die weltweit zigtausendfaches Leid den Kleinsten und Schwächsten der Gesellschaft angetan hat. Eigentlich war es zum Weglaufen. Ich habe in diesen Wochen an meine kleinen Nichten denken müssen: Wie hätte ich reagiert, hätte ihnen jemand etwas angetan? Und dann vielleicht noch einer, den ich als Mitbruder bezeichnet hätte?

Natürlich bin ich nicht weggelaufen. Ich habe mich daran festgehalten, dass wir aufarbeiten und diesen Sumpf trockenlegen mussten. Trotzdem war es mir peinlich, das Gesicht dieser Kirche zu sein. Schlimmer noch: Ich, der die Arbeit in der Jugendpastoral geliebt hatte, verlor die Unbefangenheit im Umgang mit Kindern, begann vor jeder möglichen Berührung zurückzuweichen, um bloß nicht mit den Tätern in einen Topf geworfen zu werden.

Mir fallen in diesem Zusammenhang viele verschiedene Erlebnisse ein: In den Sommerferien veranstaltete ich sowohl als Kaplan als auch als Pfarrer zusammen mit den älteren Messdienern eine Kinder- und Jugendfreizeit. Dabei gingen wir natürlich auch ins Schwimmbad und als Kaplan war ich ganz selbstverständlich mit den Kindern im Wasser. Mit meiner Größe war ich ein beliebtes Ziel, das es zu tunken und unter Wasser zu halten galt. Wir plantschen und prusteten im Wasser umher, wir hatten Spaß. Es war unbeschwert und einfach nur schön. Das war es. Als Kaplan. Als Pfarrer habe ich das nie gemacht, nie mehr gemacht. Ich hatte zwei Gedanken im Kopf, die mir das unmöglich machten: Zum einen wollte ich keine Situation schaffen, die irgendjemand von außen falsch verstehen könnte, nach dem Motto: »Was macht dieser Mann mit den ganzen Kindern da – ist der nicht Priester?« Zum andern wollte ich aber auch Kindern eine klare Distanz deutlich machen, denn wer weiß, vielleicht kommt nach mir ein Priester, der Täter ist, und nutzt die erfahrene Unbefangenheit aus. Vielleicht waren und sind das verrückte Gedanken, doch vielleicht auch nicht, angesichts der Taten und Täter im kirchlichen Umfeld. Jedenfalls gingen mir diese Gedanken durch den Kopf und damit war kein Platz mehr für das, was früher Jugendarbeit auch ausgezeichnet hatte: Unbefangenheit, Vertrautheit und Nähe. Und während ich das schreibe, spüre ich die Trauer und den Schmerz darüber, dass das so ist. Dass weder die Kinder noch die Seelsorger diese Erfahrungen mehr machen können. Dass wir eigentlich nicht einmal mehr die Begriffe in diesem Kontext verwenden können.

Etwas Ähnliches kommt mir in den Sinn, wenn ich an einen Kinder-Bibelkreis zurückdenke, ebenfalls in Landau. Die Gemeindereferentin hatte dieses Event wirklich zu einem Ereignis und einem großen Tag ausgebaut. Es waren um die einhundert Kinder da, von ganz klein bis etwa Ende der Grundschulzeit, und das ganze Pfarrheim voll, mit Kindern und Begeisterung. Mal wurde in Kleingruppen etwas erarbeitet, dann ging es zurück in den großen Saal zum Stuhlkreis. An irgendeinem Zeitpunkt kam ein kleiner Junge zu spät in den großen Kreis zurück und wir saßen schon alle. Mir fiel es nicht gleich auf. Er aber lief auf mich zu und setzte sich auf meinen Schoß. Ich schob ihn direkt wieder runter, stand auf und überließ ihm meinen Platz. Er schaute mich so verdutzt an und konnte das nicht verstehen, ich sehe seine fragenden Augen heute noch. Mal abgesehen davon, dass es sinnvoll ist, dass alle Kinder ihren eigenen Platz haben und es nicht angemessen ist, dass ein Kind bei einem »Wildfremden« auf dem Schoß sitzt – ich hatte damals fast Panik, dass auch das missverstanden werden könnte.

Habe ich in diesen und ähnlichen Situationen überreagiert? Wie gesagt, vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Was ich sagen kann, ist, dass solche Erfahrungen zu jenen Brandbeschleunigern gehörten, die ich angesprochen habe, und nicht nur die Aufdeckung der Taten von Klerikern oder Ordensleuten. Rückblickend hängt dies sicherlich auch stark mit meinen Amerika-Erfahrungen zusammen: Als in den USA die ersten Fälle von Missbrauch bekannt wurden, erzählten mir Studienfreunde aus den USA in Telefonaten, wie sehr man nun Abstand zu Kindern halten müsse, damit einem ja nichts unterstellt werden könne. Auf diese Weise die Institution und, ja, auch mich selbst zu schützen – das war zunächst der erste Impuls und das auch bei mir. Zumindest zu Beginn. Eine Perspektive für die Opfer hatte ich noch nicht. Zumindest zu Beginn.

Blicke ich dahin und auf entsprechende Diskussionen zurück, schäme ich mich. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass ich noch als Pfarrer in St. Ingbert (01/2015–06/2018) beim Thema »Missbrauch« in Diskussionen immer den Standpunkt vertrat, einem Mantra ähnlich, dass es Missbrauch in der Kirche durch Priester und andere Mitarbeitende gebe, aber zu einem Prozentsatz, der deutlich niedriger sei als der in der Gesamtgesellschaft. Ich war davon ehrlich überzeugt und es gab mir einen gewissen Halt. Und ich weiß auch noch gut, wie ich in Diskussionen gerne über das schlimme Ausmaß von Missbrauch in den USA schwadronierte und dies auf die dort, angeblich, weitverbreitete Prüderie zurückführte.

Wie sehr ich mich mit all dem irrte, erfuhr ich erst durch die Veröffentlichung der MHG-Studie. In diesem Augenblick stürzte mein Kartenhaus von Gewissheiten, Ausflüchten und Relativierungen zusammen. Meine Kirche war nicht besser als der Durchschnitt, sondern war um ein Vielfaches schlimmer. Oder wie Bischof Heiner Wilmer es einmal ausdrückte: »Der Missbrauch von Macht steckt in der DNA der Kirche.«

Ab dem Herbst 2018 begann ich, viele Berichte von Missbrauchsopfern zu lesen und es war auch die Zeit, in der zuerst Bischof Wiesemann und später auch ich uns immer wieder mit Betroffenen trafen. Ich war gerade erst zum Generalvikar ernannt worden. Manchmal fanden diese Treffen auch mit Angehörigen statt. Diese Gespräche waren erschütternd: Meist kamen Männer, die zum Teil meine Väter hätten sein können, deren Leben vollkommen zerbrochen war. Manchen war es nach den Erlebnissen in Kinderheimen nicht möglich, eine Ausbildung abzuschließen, und sie wurden seit Jahrzehnten immer von Angstzuständen geplagt. Andere lebten einige Jahre ganz normal. Plötzlich aber kamen all die schrecklichen Erfahrungen wieder hoch, ihre Ehen scheiterten, sie konnten ihren Berufen nicht mehr nachgehen, ein geregeltes Leben war schlichtweg nicht mehr möglich. Ich erinnere mich noch gut an eine alte Frau, die mit ihrem erwachsenen Sohn zu mir kam. Die Frau weinte bitterlich, weil sie es war, die ihren Sohn als Kind immer wieder in die Kirche geschickt hatte. Sie erwartete von ihm, zu ministrieren. Er wollte nicht. Aus Angst, dass der Pfarrer sich erneut an ihm vergreifen würde.

Oder: Eine geschiedene Frau vereinbarte ein Gespräch und berichtete mir dann, dass ihr Ex-Mann nicht in der Lage sei, seine eigenen Kinder zu berühren, sie in den Arm zu nehmen oder ihnen einen Gutenachtkuss zu geben – er hatte nachweislich Missbrauch durch seinen Heimatpfarrer erlebt. Auch ihre Ehe sei gescheitert, weil Nähe für ihn unerträglich war. Jetzt seien Enkel »auf dem Weg« und die Frau hatte große Angst, dass sich alles wiederhole und ihr Ex-Mann auch zu ihnen abweisend sein würde. Weil er es nicht anders konnte.

Ich fühlte mich bei all diesen Berichten so unendlich hilflos und gleichzeitig wütend. So oft habe ich mir gewünscht, dass in diesen Gesprächen ein Täter dabei wäre und er sich das alles anhören müsste. Aber nein, die meisten waren ja schon lange tot. Diese Leidensgeschichten verfolgten mich oft bis hinein in den Schlaf. Es war unerträglich und so unfassbar. Dazu kam ja, dass diesen Tätern meist gar nichts passierte. Den Betroffenen war schon als Kindern klar, dass ihnen niemand glauben würde – denn der Pfarrer kam ja für viele gleich nach dem lieben Gott.

In meinen Grundfesten erschütterte mich zusätzlich, dass viele Betroffene den Glauben an einen guten Gott verloren hatten: »Wo war Gott, als mich einer seiner Diener penetrierte?« Diesen Satz hörte ich nicht nur einmal von Betroffenen und er traf mich ins Herz. Diese meine Kirche hat den Priester so sehr entmenschlicht und ihn in die Nähe Gottes geschoben, dass mit dem Verbrechen durch den Priester auch der Glaube an diesen guten und liebenden Gott unterging. Mir fiel in diesem Zusammenhang die Schriftstelle aus Lk 17,1 f. ein: »Es ist unmöglich, dass Verführungen ausbleiben; doch wehe dem, durch den sie kommen. Besser wäre es für ihn, wenn ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er ins Meer geworfen würde, als dass er einen von diesen Kleinen verführt.«

Mühlstein. Mühlsteine. Und gleichzeitig musste ich als Generalvikar finanzielle Forderungen der Betroffenen ablehnen oder zumindest deren Höhe reduzieren. Wieder und wieder landeten Schreiben von fassungslosen Betroffenen auf meinem Schreibtisch. Wir versuchten zwar gerade in der Anfangszeit »nachzusteuern« (was für ein furchtbar technobürokratisches Wort in diesem Zusammenhang…!), aber was hieß das schon? Was konnten wir denn ausrichten, um gar nicht erst von »wiedergutmachen« zu sprechen? Wir hatten die Pflicht, alles zu versuchen, doch wenn ein Leben immer an der Grenze zur Armut verläuft, wenn es komplett in die Brüche gegangen war, wenn man immer auf Hilfsleistungen angewiesen war und sein würde – dann ist vermutlich jeder Betrag zu wenig. Und ich muss es ehrlich sagen: Natürlich war ich daher dankbar, dass die UKA als Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung eingerichtet wurde. Jetzt konnte ich in solchen Gesprächen oder Korrespondenzen auf eine unabhängige Stelle verweisen. Die Zahlungen richteten sich nach der deutschen Opferentschädigungstabelle