Ich sehe, wie die Welt sich dreht - Helene Uri - E-Book

Ich sehe, wie die Welt sich dreht E-Book

Helene Uri

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Beschreibung

Stian und Mia passen eigentlich gar nicht zusammen. Doch wie heißt es so schön: Gegensätze ziehen sich an! Stian und Mia prallen einfach aufeinander und fühlen sich beide sofort voneinander angezogen. Sie treffen sich zunächst morgens am Strand, abends kommt es dann zum ersten Kuss. Spätestens dann ist es um beide geschehen. Mia mag Stian sehr und Stian hat sich Hals über Kopf in das schöne Mädchen verliebt. Beide stürzen sich in eine wilde, romantische Sommerliebe mit ungewissem Ausgang.Arne Svingen (*1967 in Oslo) ist ein norwegischer Journalist und Schriftsteller. Er schreibt zwar auch Bücher für Erwachsene, ist aber vor allem für seine Kinder- und Jugendbücher bekannt.Helene Uri (*1964) war in Oslo Professorin für Norwegisch als Fremdsprache, bevor sie sich ganz dem Verfassen von Romanen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene widmete. "Eine einfühlsame Liebesgeschichte mit einem märchenhaften Schluss." – Katharina Siegenthaler, www.kjmbefr.ch-

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Arne Svingen · Helene Uri

Ich sehe,wie die Welt sich dreht

Deutsch von Gabriele Haefs

Saga

Ich trinke nasses Hundefellund pflücke einen Löwenzahn

Magst du keinen Whisky, Schätzchen?«

»Nein, nicht so richtig«, antworte ich mit einem Seitenblick auf das Whiskyglas neben mir. Ich habe erst ein paarmal daran genippt. »Das schmeckt wie Ohrenschmalz«, sage ich.

»Was?«

»Ohrenschmalz«, wiederhole ich und zeige zuerst auf mein eines, dann auf mein anderes Ohr und schließlich auf den Whisky.

»Aha«, sagt er. Sein Bauch bebt beim Lachen. »Möchtest du lieber ein Bier?«

»Ja, bitte«, antworte ich lächelnd und er reicht mir seine Bierflasche. Ich bin schließlich hier, um mich zu amüsieren, oder was? Er hat Sonnenbrand im Gesicht, ist so rot wie die dänische Flagge. Von den Schläfen bis zu den Augen ziehen sich schmale weiße Striche. Bestimmt ist er mit der Sonnenbrille auf der Nase am Strand eingeschlafen.

»Ist sie nicht einfach wunderbar?«, brüllt der Flaggenmann seinen Kumpel auf der anderen Seite des Tisches an. Der Kumpel hat dichte schwarze Locken auf der Brust. Wie ein Affe. Bestimmt hat er auch in den Ohren einen Urwald aus Haaren. Und braunes krümeliges Ohrenschmalz, das genauso eklig und scharf stinkt wie der Whisky. Aber trotzdem lache ich über den Witz, den der Affenmann jetzt erzählt. Ich kriege zwar die Pointe nicht mit, aber ich kapiere immerhin, dass der Witz ziemlich grob ist. Ich will mich ja schließlich amüsieren. Ich amüsiere mich! Ich lache noch lauter und hebe die Flasche an den Mund. Die Flasche fühlt sich an meinen Lippen wunderbar glatt und kühl an. Aber das Bier schmeckt scheußlich, wie benutztes Turnzeug und nasses Hundefell. Mir fällt ein, dass ich kein Bier mag. Ich schlucke aber trotzdem. Schlucke und lächele. Lege den Kopf schräg und lächele die beiden Männer an. Von außen kichernd-fröhlich. Von innen wutschnaubend. Klassefrau. Der Flaggenmann sagt etwas. Ich verstehe nur Bahnhof, aber ich lache. Wieder hebe ich die Flasche an den Mund und lasse die Flüssigkeit durch meinen Hals strömen. Er beugt sich zu mir vor. Sein Lächeln ist ganz dicht bei mir. Er haucht mir seinen Atem ins Gesicht. Seine rote Stirn ist bedeckt von kleinen blanken Tropfen. Er scheint Butter auszuschwitzen. Er sagt etwas und legt mir einen dicken, schwabbeligen Arm um die Taille. Ich spüre seine Finger dicht bei meinem Nabel, der Daumen erreicht gerade noch meinen Rücken. Ich habe das Gefühl, von einer klebrigen, zudringlichen Gummihandschuhhand umarmt zu werden. Dann spüre ich seinen Oberschenkel an meinem. Und reiße mich los, ich springe auf, trete ihm, so hart ich kann, vors Schienbein, kehre ihm den Rücken zu und marschiere aus der Bar. Ich würde gern mit der Tür knallen, aber ein blonder Mann in einem knallbunten Hemd hält sie für mich auf. Er sagt etwas, auf Schwedisch, glaube ich. Es klingt freundlich. Aber who cares? Und was bildet der Typ sich ein, hier einfach freundlich zu mir zu sein? Dussel! Ich fauche ihn an, dann bin ich draußen.

Ich weiß nicht, wohin, ich weiß nur, dass ich nicht länger mit Affenmann und Flaggenmann zusammen sein will. Und ich weiß, dass ich nicht nach Hause will. Vor allen Dingen will ich nicht nach Hause ins Ferienhaus. Deshalb gehe ich die Straße entlang, weg vom Zentrum, weg von der Bar. Weg von ihr. Mir geht auf, dass ich die Bierflasche mitgenommen habe. Ich trinke zwei Schluck, bekomme aber eine Gänsehaut, als ich mich zum Schlucken zwinge. Mir ist schlecht, und ich gehe nur noch einige Meter weiter, dann lasse ich mich an den Straßenrand fallen, mitten in eine Löwenzahnkolonie. Die meisten Blüten haben sich für die Nacht geschlossen, eine große aber ist noch immer hellgelb und offen. Plötzlich muss ich an einen Sommer vor langer Zeit denken, einen Sommer zu Hause in Norwegen. Als alles anders war, und ich ein kleines Mädchen mit Zöpfchen und aufgeschrammten Knien. Damals hatte ich ja keine Ahnung. Und das Leben war so leicht. Mama rupfte den Löwenzahn aus der Wiese, brach den Stängel ab. Ich sehe ihre Hände vor mir. Warme, weiche, mollige Mamahände. Sie zeigte auf den weißen Saft, der aus dem Stängel quoll, und erzählte, dass Löwenzahn auf Dänisch »Mælkebøtte« heißt, also Milchkanne. Jetzt sitze ich hier auf einer kleinen dänischen Insel am Straßenrand, umringt von Löwenzahn. Plötzlich liege ich auf den Knien, ich reiße an Grasbüscheln und ziehe an Löwenzahnpflanzen, ich schleudere alles auf den Boden. Danach zermatsche ich es im Kies zu einem Brei, und meine Fingerspitzen werden aufgeschrammt und tun weh. Aber dann kann ich einfach nicht mehr länger wütend sein. Ich sinke in mich zusammen, vorsichtig strecke ich eine Hand nach dem größten Löwenzahn aus. Nach dem offenen. Er steht unberührt dicht neben mir. Ich pflücke ihn und halte ihn an meine Wange. Und ich merke, dass jetzt das Weinen kommt. Ich habe kein einziges Mal geweint, seit wir hergekommen sind. Aber jetzt weine ich. Ich heule wie ein kleines Kind. Wie ein kleines Mädchen mit Zöpfchen und kurzem Kleid.

So bleibe ich eine Weile sitzen und lasse meine Tränen fließen, bis ich ganz leer bin. In meinem Kopf wütet ein Orkan und meine Gedanken flattern umher wie Papierschnipsel. Der erste Schultag: Ich habe eine karierte Schultasche und Mama hält meine Hand. Dann bin ich ein bisschen älter: Ich sitze zwischen meinen Eltern und blicke enttäuscht in eine Zirkusmanege voller Clowns mit roten Nasen und hüpfenden Pudeln. Und heute: der erste Tag der Sommerferien, und alles ging schief, schon von Anfang an. Die Sonne schien und es gab auf dem Frühstückstisch frische Brötchen, Saft und weich gekochte Eier. »Morgenmad«, sagte Mama, das ist dänisch für Frühstück, und sie lachte. Aber das half nichts. Der gelbe fröhliche Sonnenschein machte nur alles doppelt so schlimm. Ihre Augen, die dünnen Handgelenke. Es war unmöglich, nicht zu sehen, unmöglich zu vergessen. Es war unmöglich, sie nicht zu hassen. Ich sprang auf und ging, ohne auf Wiedersehen zu sagen, ohne zu sagen, wohin ich wollte. Ohne zu wissen, wohin ich wollte. Es tat gut, die Haustür knallen zu hören. Ich ging am Strand entlang, aber als der sich mit munteren Sommermenschen mit Saftflaschen und kreischenden Kindern füllte, verzog ich mich in die Straßen der kleinen Stadt. Ich besuchte Läden, trank eine Tasse Tee, probierte Kleider an, von denen ich wusste, dass ich sie nicht kaufen wollte, ich kaufte Haargel und klaute Lidschatten, den ich nie im Leben benutzen werde. Dann liefen mir der Butter schwitzende Flaggenmann und sein widerlicher Affenkumpel über den Weg. Und jetzt sitze ich heulend hier neben einer fast leeren Bierflasche. Es ist noch immer der erste Tag der Sommerferien. Aber der Tag ist zum Abend geworden und bald kommt die Nacht.

Ich schalte meine Nachtsicht einund höre keuchenden Atem

Schon als kleiner Junge habe ich entdeckt, dass alles Spannende nachts geschieht. Man muss nur genau hinschauen. Mit geübtem Nachtblick nehme ich noch die kleinste Bewegung wahr, während ich wie ein schwarzer Schatten vorüberhusche, wie ein Windhauch.

Ich kann mit geschlossenen Augen hier entlanggehen, so gut kenne ich den Strandweg. Aber das tue ich nicht, denn ich will alles mitbekommen, und wenn ich im falschen Moment gezwinkert hätte, dann hätte ich sie in dieser Lücke zwischen zwei Häusern bestimmt nicht gesehen, auf der anderen Straßenseite, in sich zusammengesunken und bewegungslos. Und zwar das Mädchen, das morgens am Strand aufgetaucht ist. Sie sieht jetzt anders aus als bei Tageslicht. Etwas ist passiert. Und dieses etwas passiert immer nachts.

Ich gehe in die Hocke und betrachte sie, wie das bei Tageslicht am Strand niemals möglich wäre. Die Tage gehen vorüber wie eine kleine Ewigkeit nach der anderen, die Nächte nicht. Die gehören mir. Und jetzt schlägt mein Puls schneller. Denn hier stimmt etwas nicht. Sie dürfte nicht so dasitzen und am Etikett einer Bierflasche herumspielen. Nachts stülpt das Leben sich um. Wenn man genau hinsieht. Und ich habe Nachtblick. Und Nachtgehör. Ich höre das eintönige Dröhnen einer Fähre draußen auf dem Meer, betrunkenes Dänengeheul in der Ferne und den keuchenden Atem des Mädchens.

Nachts sehen die dunklen Schatten aus wie Ungeheuer, deshalb bleibe ich bewegungslos im hohen Gras sitzen. Ich habe Zeit. Ich habe die ganze Nacht.

Und jetzt bewegt sie sich.

Ich werde zur Seiltänzerin undmache bei einem Kotzkurs mit

Ich bin eigentlich sonst keine, die im Straßengraben herumflennt. Silje, meine Freundin, sagt, ich sei eine, die alles schafft. Aber das stimmt nicht. Jedenfalls hebe ich den Kopf und wische mir die Tränen ab. Aufzustehen bringe ich nicht über mich. Mein Körper ist schwer von den vielen Gedanken, die ich einfach nicht denken will, die ich im Moment allerdings nicht wegbefehlen kann. Da war dieser Tag im Oktober: Auf dem einen Sofa saßen Mama und Papa. Auf dem anderen saß ich. Ihr Blick ließ mich nicht los. Himmel. Warum muss ich die ganze Zeit daran denken? Ich will mich amüsieren, ich will nicht nachdenken.

Ich fluche nur selten. Ich habe beschlossen, die Flüche für die Gelegenheiten aufzusparen, bei denen ich sie wirklich brauche. Das hier ist so eine Gelegenheit. Ich sage es laut in die stille Nacht hinaus: Verdammte Mutter! Scheiß-Mama. Ich hasse dich, weil du mir das antust, weil du mein Leben kaputtmachst. Das Weinen steigt mir wieder den Hals hoch, aber ich presse es nach unten. In der Hand halte ich einen gelben Löwenzahn mit abgerissenem Stängel. Wird der schon schlaff? Ich will nicht daran denken. Ich will nicht! Ihre Augen schauen trotzdem in meine.

Plötzlich habe ich das ekelhafte Gefühl, dass mich in diesem Moment irgendwer ansieht. Ganz ruhig jetzt, Mia, sage ich mir. Reg dich ab, Weichei, hier ist kein Mensch. Ich trinke den letzten Schluck Bier, dann lasse ich die Flasche auf der trockenen, staubigen Landstraße um sich selber wirbeln. Die, auf die der Flaschenhals zeigt, soll auf einem Bein stehen und ganz laut kikeriki sagen, fordere ich gebieterisch. Ich fahre zusammen, als ich meine wütende und zugleich muntere Stimme höre. Aber zum Glück zeigt die Flasche ja nicht auf mich. Sondern auf den Baum da hinten. Ich kichere und drehe sie noch einmal. Ich amüsiere mich ja so sehr. Die, auf die die Flasche jetzt zeigt ... diesmal zeigt die Flasche genau auf mich. Na gut. Ich stehe auf und gehe den Weg entlang auf die Brücke zum Festland zu. Die Brücke ragt im Halbdunkel immer höher auf, je näher ich komme. Ich halte mich an einem Stahlseil fest und beuge mich über das Wasser. Ich beuge mich so weit vor, dass ich fast das Gleichgewicht verliere, aber nur fast. Ich weiß, was ich tue, und das Wasser ist eine matte schwarze Haut.

Als ich klein war, waren Mama, Papa und ich einmal im Zirkus. Von den Bänken blätterte die Farbe ab. Der Zirkusdirektor hatte ein fleckiges Hemd. Ich kann mich an die Elefanten erinnern – riesig, grau-schmuddelig, mit kleinen roten Augen, ganz anders als die hellblauen molligen Elefanten in meinen Büchern zu Hause. Aber die Seiltänzerin war toll. In einem federleichten weißen Tüllrock balancierte sie hoch oben unter der Zeltkuppel. Ich hielt Mamas Hand fest und ließ die Seiltänzerin nicht aus den Augen, ich wagte fast nicht zu atmen, es war so schön und so gefährlich.

Ehe ich eigentlich weiß, warum, bin ich auch schon auf das Brückengeländer geklettert. Auf der einen Seite gibt es Asphalt und ab und zu ein Auto, auf der anderen Seite gibt es Wasser. Tief unten glitzert es matt. Lockend und beängstigend zugleich. Ich balanciere mit zur Seite gestreckten Armen, gehe langsam, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Ich bin die Seiltänzerin. Ich trage ein Wippröckchen und sehe aus wie eine Feenkönigin. Ich setze die Füße in den schmalen weißen Seidenschuhen vor mich hin und tanze über das dünne Seil. Das Publikum starrt atemlos zu mir herauf, und da unten, geborgen zwischen Mama und Papa, sitzt ein blondes Mädchen mit roten Schleifen in den Zöpfchen. Ich gehe weiter und weiter, immer weiter hinaus auf die Brücke. Und es gefällt mir immer besser, ich denke nur an den nächsten Schritt. Ich bin eine Balancekünstlerin. In meinem Kopf ist für nichts anderes Platz. Einen Fuß vorsichtig vor den anderen gestellt, die Arme seitwärts ausgestreckt, den Blick nach vorn gerichtet. Vielleicht werde ich schweben und der weiße durchsichtige Tüllrock wird mich wie ein Fallschirm umgeben. Vielleicht werde ich durch die Luft fliegen. Das kann nicht gefährlich sein. Ich amüsiere mich doch nur, oder was? Und die Augen sind so graublau und die Handgelenke sind so dünn geworden. Verdammte Mama!

Ein Auto jagt mit kreischenden Reifen vorbei und ich zucke zusammen. Ich sehe meine Füße in den Turnschuhen, ich schaue auf das Wasser hinunter und mir fällt ein, dass ich betrunken bin. Dass ich in Dänemark bin. Meine Hand umklammert einen Löwenzahn. Mein einer Fuß ragt zur Hälfte über das Geländer hinaus. Hab ich einen falschen Tritt gemacht? Werde ich fallen?

Ich spüre ein Rucken in der Hand, dann falle ich. Für eine Zehntelsekunde schwebe ich und der Tüllrock umgibt mich wie ein Fallschirm, aber dann schrammt mein eines Knie über den Asphalt. Hier hat es noch nie einen Tüllrock gegeben, und auch keine Seidenschuhe. Ich liege wie ein Stoffbündel auf dem Boden, Arme und Beine nach allen Richtungen gestreckt. Ich sehe, dass mein eines Knie blutet, aber ich spüre es nicht. Irgendwer hält mich an der Hand. Loslassen, sage ich wütend und reiße meine Hand zurück. Ich versuche aufzustehen, aber mein Knie tut weh. Dann wird mir plötzlich schlecht, unerträglich schlecht. Das viele Bier, das ich getrunken habe, die Eier zum Frühstück, alles kommt durch meinen Hals hoch und ergießt sich wie eine gewaltige Fontäne in meinen Mund. Ich erbreche mich und kotze, bis ich total ausgestülpt bin und meine Haare als schweißnasse Strähnen in mein Gesicht hängen. Hier, sagt jemand und reicht mir eine Papierserviette. Ich streiche mir die Haare aus dem Gesicht, öffne die Augen, sie sind verklebt von Tränen und verschmierter Wimperntusche. Ich wische mir den Mund ab und schaue zu dem Wesen neben mir hoch. Es ist ein Junge. Hellbraune Haare, er sieht absolut okay aus. Ich habe einen unbeschreiblich widerlichen Geschmack im Mund und versuche, das Papiertaschentuch hineinzuschieben und mich von innen abzuwischen, aber das Papier löst sich zu weißen Flocken auf.

»Du wohnst in dem blauen Haus ganz unten am Wasser«, sagt der Junge.

»Mhm«, antworte ich und betaste vorsichtig mein Gesicht. Alles sitzt fest, die Nase ist da, die Wangen auch, alles fühlt sich fast so an wie sonst. Aber ich habe vom Kotzen Schleim in den Mundwinkeln, mein Pullover ist verschmiert, an meiner Hose sind Blutflecken und meine Finger sind schwarz von der Wimperntusche, die sich offenbar in meinem ganzen Gesicht verteilt hat. Ich bin bestimmt ein toller Anblick! Ich beuge mich zum Brückengeländer vor und lasse die Reste des Papiertaschentuches durch die Gitterstäbe fallen. Sie schweben wie Seiltänzerinnen durch die Luft, ehe sie leicht wie Schneeflocken auf dem schwarzen Wasserspiegel landen.

»Wir haben das gelbe Haus ein Stück weiter oben gemietet«, erzählt der Junge.

»Ach«, sage ich müde, mit der Nase voll Rotz, ich wünschte, ich könnte sie irgendwo putzen. Ich kann die Taschentuchreste unten im Wasser nicht mehr sehen, sicher sind sie untergegangen.

»Soll ich dir auf die Beine helfen?«, fragt er und fängt an, mich an der einen Schulter und am Oberarm zu ziehen. Plötzlich stehen wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hat Sommersprossen auf dem Nasenrücken und ich merke, dass ich diesen Tag restlos satt habe. Ich schließe die Augen. Ich kann einfach nicht mehr. Etwas Feuchtes bedeckt meinen Mund. Einen Moment lang glaube ich, dass meine Nase läuft, aber dann geht mir auf, dass der Junge mich küsst. Seine Zunge schiebt sich zwischen meine Lippen und rotiert dort drinnen, zwischen Kotzeresten, Papierfasern und stinkendem Atem. Automatisch fange auch ich an, die Zunge zu bewegen, aber die fühlt sich an wie eine verschimmelte Schaumgummimatratze, deshalb höre ich wieder auf. Er legt die Arme fester um mich und drückt mich an sich – und gerade das ist schön. Es ist warm, und ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht an ihn, übergebe ihm sozusagen die Verantwortung.

Dann hupt ein Auto. Laut und scharf. Eine Stimme ruft: »Mia!« Es ist Papa, natürlich. Der Junge hat mich losgelassen. Er steht mit hängenden Armen da. Pass darauf auf, sage ich und gebe ihm den Löwenzahn, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten habe. Der gehört dir, sage ich und frage mich, was um alles in der Welt ich damit sagen will. Ohne mich umzudrehen, gehe ich dann so aufrecht, wie ich kann, und mit so viel Würde, wie ich überhaupt nur besitze, auf das Auto zu und steige ein. Auf dem kurzen Weg zurück zum Sommerhaus ist alles still im Wagen. Papa sagt nichts, ich sage nichts. Mein zerschrammtes Knie brennt. Meine Finger sind wund, weil ich Löwenzahn und Gras in den Kies gematscht habe. Mein Mund fühlt sich fremd an, meine Lippen sind geschwollen. Zu Hause werde ich direkt unter die Dusche gehen.

Ich rieche an meiner Lippe undsage etwas Richtiges

Schwer zu sagen, wie lange ich schon hier stehe. Mir sträuben sich die Haare an den Armen. Als ich zum vielleicht fünfzigsten Mal meine Oberlippe zu meiner Nase hebe, um daran zu riechen, ist die Haut zwischen Lippe und Nase kalt wie Metall. Natürlich kommt sie nicht zurück. Wenn ich mir das oft genug sage, werde ich nicht enttäuscht.

Die Rücklichter wurden zu kleinen roten Augen am Ende der Straße, dann bog das Auto ab und hielt mit kurzem Kreischen der Reifen. Ich weiß, wo sie wohnt. Ich weiß seit vielen Stunden, dass sie im letzten Ferienhaus der Reihe wohnt, ganz dicht bei den Dünen. Sie ist gerade erst gekommen, sie wird so bald nicht wieder fahren. Und ich kann sie auf meinen Lippen schmecken. Salzig und säuerlich. Die Lippen riechen nach Fest und Mädchen. Es ist so schnell gegangen. Sie drückte sich an mich, presste mir die Zunge in den Mund und ließ sie wie eine Schiffsschraube rotieren, und ich ließ alles geschehen, half nur mit, soweit es unbedingt nötig war. Plötzlich wurden die langweiligsten Ferien aller Zeiten verwandelt in den Mittelpunkt der Weltgeschichte.

In der ersten Woche habe ich viereinhalb Krimis gelesen, neun Choko-Lux-Eis gegessen, zwölf Jolly Cola getrunken, fünfundzwanzig Mal im Meer gebadet, zwei Frikadellen mit Zwiebeln und Kartoffeln verzehrt, ein halbes Glas Campari getestet und an einem Tag acht rote Würstchen gemampft. Und ich weiß alles über die Nachbarn. Wenn ich kein Nachtmensch wäre, wäre ich jetzt tief in einen Traum versunken. Ich habe genug Bücher gelesen, um zu wissen, dass das Unerwartete unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit geschieht. Und endlich ist es geschehen. Ihr Mund war wie ein Saugnapf, und sie rieb sich an mir, sie war wild und schön, genau wie in einem Traum, den zu träumen ich nur selten die Zeit habe. Ihre Lippen dufteten nach Verlangen. Sie könnte doch jeden Dänen haben, einen von den angesagten Typen, die hinten beim Ferienzentrum herumhängen und nie nach Hause müssen, aber ich wurde zum rettenden Nachtengel, ich bin einen Schritt hinter ihr gegangen, als sie über das Geländer balanciert ist, bereit, sie zu packen, falls sie ins Schwanken geriete und abzustürzen drohte.

Ich schaue den Löwenzahn an, der schlaff in meiner Hand hängt. Er braucht Wasser. Natürlich kommt sie nicht zurück. Ich mache kehrt und gehe auf das Sommerhaus zu. Unterwegs muss ich vorbei an den Trainingsanzug-Olsens, die nur wegen der Kinder zusammenbleiben, am Paar aus dem Dorf, das keinen Gesprächsstoff mehr hat, an Foss/Andersson, die im Schlafzimmer Sex haben. Ich weiß auch über die anderen so allerlei, über die Göteborger, die Kniffel ganz ernst nehmen, und über das norwegisch-schwedische Homopaar, das Wein aus Pappkartons trinkt. Jede Nacht verlasse ich die Ermittlungen von Erik Winter, Kurt Wallander oder sogar Sherlock Holmes und hoffe auf mein eigenes kleines Feriendrama hinter offenen Fenstern, auf Terrassenstreitereien, die zu etwas Kriminellem explodieren. Stattdessen bekomme ich den ersten Kuss meines Lebens.

Ist es physisch möglich, nach einem solchen Erlebnis zu schlafen? Ich weiß nur, dass ich im Bett liege, an meinen Lippen lecke, an meinen Fingern rieche, die sie umarmt haben, und dass es draußen bald wieder hell wird. Und dass ich noch immer nicht müde bin. Der Löwenzahn ragt aus einem Zahnbecher auf meinem Nachttisch.

Ich betrachte das marineblaue Zifferblatt des Chronograph Flightmaster, der fetzigen Armbanduhr, die bis zu hundert Meter Tiefe wasserdicht ist und ein niemals versagendes japanisches Uhrwerk besitzt. Man braucht immer eine Uhr, deshalb nehme ich sie niemals ab. Seit dem Kuss sind dreihundertzweiundzwanzig Minuten vergangen, ich stehe auf und steige in meine Shorts. Aber ich kann nirgendwo hingehen. Meine Shorts haben eine Flaggenstange, die geradeaus ins Zimmer zeigt. Ich setze mich aufs Bett und versuche, an versoffene Kommissare, schmutziges Geschirr und Anoraks zu denken, an alles andere als das schöne Mädchen mit den wunderbaren fülligen Lippen. Scheiße, Scheiße, Scheiße.

»Hast du was gesagt?«, fragt Papa hinter dem offenen Fenster.

»Nichts, ich schlafe«, sage ich eilig.

Papa ist ein Typ, der beim Job gern Überstunden schiebt, aber in den Ferien will er mein Kumpel sein. Ein peinlicher Typ, der über Musik und Filme und Spiele diskutieren will, von denen er keine Ahnung hat. Er ist ungeheuer lahm im Gehirn, und dabei hat er einen Job, bei dem er so viel nachdenken muss. Scheiße.

Ich ziehe mein längstes T-Shirt an, das mit dem Billabong-Logo, und das Teil bedeckt meinen halben Schritt. Idiotischerweise habe ich die übrigen scharfen Klamotten zu Hause gelassen, ich war doch auf Eis- und Badetage als der überdimensionale Goldbubi meiner Eltern vorbereitet. Abgesehen von nachts, dann gehe ich in Schwarz.

Das ist das letzte Mal. Der Entschluss ist gefasst, aber bisher weiß nur ich, dass es für mich keine weiteren Familienferien geben wird. Die Gründe stehen auf einem Zettel. Es sind zehn an der Zahl.

Gleich darauf gehe ich in Jeans aus dem Haus. Papa fragt, ob es nicht ein wenig zu warm dafür sei. Blöde Frage, und ich bringe es nicht über mich, ihm zu antworten. Ich laufe einfach durch den kleinen Garten und dann über den Weg. Ich schnappe Bruchstücke vom unterkühlten Gespräch der Olsens darüber auf, wie wohl sie sich doch fühlen. Das schwedisch-norwegische Homopaar trinkt Pappwein und sagt auf Schwedisch und Norwegisch »guten Morgen«. Mir ist schon glühend heiß. Da unten hat sich alles beruhigt, deshalb verschwinde ich hinter die Hecke, außerhalb des Blickfeldes der Schwulen, ziehe meine Hose aus und presse sie tief zwischen die Zweige. Ich kann sie später holen.

In Badeshorts stapfe ich dann an ihrem Ferienhaus vorbei. Versuche nicht einmal festzustellen, ob sie auf der Terrasse sitzen, ich starre nur aufs Meer, das ich vor lauter Dünen nicht sehen kann. Vielleicht erkennt ihr Vater mich wieder und wird die Ferienhausgemeinschaft vor dem Nachtwanderer warnen. Aber zum Umfallen müde Väter mit betrunkenen, blutenden Töchtern registrieren die Umgebung nur selten. Er ist sicher zufrieden, weil er sie vor einem geilen Nachtschwärmer gerettet hat.

Ich setze mich auf eine Düne und lasse feinkörnigen Sand durch meine Finger rinnen. Die Morgenbader stürzen sich in die Wellen und die eifrigsten Sonnenanbeter liegen am Wasser. Ich habe keinen Hunger und bin auch nicht müde, ich bin nur froh, weil ich hier sitzen und Millionen von Sandkörnern durch meine Finger rieseln lassen kann, wie Partikel eines Kusses, wie die Endorphine, die durch meinen Körper strömen, wie Zellen in einer Spermaladung. Und das musste ja wieder passieren. Stocksteif. Also bleibe ich sitzen.

Nach einer neuen Runde verbissener Zwangsvorstellungen über Abwasch und Anoraks stehe ich auf und klettere ein wenig auf den Sandhaufen herum, ehe ich mich auf den Rückweg mache. Am Anfang des Fußweges, zwischen den Sandhaufen, sehe ich sie. Ich weiß, dass ich kehrtmachen müsste, denn ich habe noch nicht jedes mögliche Ereignisszenario durchgespielt oder alle denkbaren Gesprächswendungen durchdacht, ich habe nicht einmal treffsichere Sprüche gespeichert. Nicht einmal die grundlegendsten Handlungen habe ich mir überlegt: Soll ich sie umarmen? Mich mit ausgestreckter Pfote vorstellen? Lässig fragen, ob sie eine Runde abhängen möchte?

Aber als ich näher komme, sehe ich, dass etwas nicht stimmt. Der wilde Haarstrom ist zu einem strengen Knoten hochgesteckt, der Mund verkniffen. Sie sieht nicht aus wie eine Geländerakrobatin und ihr schmaler müder Blick geht durch mich hindurch. Aber sie ist schön wie die Sommernacht und ich habe sie geküsst. Als ich vorübergehen will, zuckt mein Körper zusammen und unbezwingliche magnetische Impulse treiben mich schräg nach links. Ich beuge mich vor, lege weich die Wange an ihre und flüstere »hallo«. Sie zuckt zusammen.

»Himmel, was soll der Scheiß?«, fragt sie und schiebt mich weg.

»Ich bin’s«, sage ich und tippe mir mit dem Zeigefinger auf die Brust.

»Du?«