Ich spüre dich in meinem Blut - Marie Louise Fischer - E-Book

Ich spüre dich in meinem Blut E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Oda war stolz auf ihre selbsterkämpfte Freiheit. Ein Mann, davon war sie überzeugt, konnte in ihrem streng eingeteilten Leben nur hinderlich sein. Doch da lernt sie Christian kennen, der so ganz anders als sie ist und der sich wenig zartfühlend in ihrer kleinen heilen Welt breitmacht und ihre Pläne in Unordnung zu bringen droht. Zwei Fronten prallen aufeinander, jeder verteidigt seine Überzeugungen, die Dinge eskalieren, denn so einfach gibt Oda ihre Freiheit nicht auf. Doch manchmal greift das Leben in ein solches Ringen ein. Und so nimmt alles eine sehr natürliche, wenn auch kaum erwartete Wendung.-

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Marie Louise Fischer

Ich spüre dich in meinem Blut

SAGA Egmont

Ich spüre dich in meinem Blut

Ich spüre dich in meinem Blut

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1956 by Zsolnay Verlag

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711718926

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Die matte Wintersonne stand kaum eine Handbreit über den Dächern der Altstadt und blinzelte aus einem hell verhangenen Himmel auf das blendende Weiß, das sich hier über Nacht ausgebreitet hatte.

Noch im Morgenrock trat Oda Schmidt an das offene Fenster ihrer Atelierwohnung, das üppige kupferrote Haar fiel ihr in einer wilden Locke in die helle Stirn, floß ungebändigt und ungebärdig über die schmalen Schultern.

Für Sekunden mußte sie die Augen schließen, dann erst nahm sie das Bild in sich auf; schimmernder Schnee auf bizarren Giebeln, sanftblaue Schatten auf den Schrägen. Sie liebte diesen Ausblick in jeder Stimmung und in jeder Jahreszeit, aber heute erschien er ihr zauberhafter denn je.

»O du liebe, liebe Zeit«, murmelte sie vor sich hin, »o wie hat’s geschneit … geschneit!« Sie lächelte, weil ihr dieser Reim aus der Kinderzeit einfiel. »Rings herum, wohin ich seh’, nichts als Schnee und lauter Schnee …«

Ah, wie die Luft nach Schnee roch! Oda warf mit einer raschen Kopfbewegung die leuchtenden Locken zurück, breitete weit die Arme, dehnte und reckte sich, atmete tief die frische Kälte in die Lungen.

Ein prächtiger Tag, ein herrliches Leben; die Weihnachtsfeiertage waren überstanden, Silvester war verrauscht, ein neues Jahr hatte begonnen, weiß und rein und unberührt lag es vor ihr wie dieser schimmernde Schnee. Jetzt kam es darauf an, was man daraus machte, und sie würde etwas daraus machen, das war sicher.

Sie schloß das Fenster und wandte sich ins Zimmer zurück, in ihr intimes bezauberndes kleines Schlafzimmer, ganz in Weiß und Altrosa gehalten. Mit ein paar raschen geschickten Griffen brachte sie in dem eingebauten Bett Laken und Kissen in Ordnung, zog den Vorhang zu. Dann ging sie ins Atelier hinüber.

Einen Augenblick blieb sie in der Tür stehen und weidete sich an dem Anblick des hellen großen Raumes, der ihr ganzer Stolz war. Solange sie denken konnte, hatte sie sich einen solchen Raum erträumt, sie hatte dafür gearbeitet, gekämpft und gespart, und sie hatte es geschafft, aus eigener Kraft. Na ja, vielleicht nicht ganz aus eigener Kraft, Beziehungen waren da mit im Spiel gewesen, aber immerhin, die Traumzimmer gehörten ihr, ihr ganz allein.

Es wirkte noch geräumiger, als es in Wirklichkeit war, weil nur wenige, aber auserlesene Möbelstücke großzügig und gefällig darin verteilt waren; ein mit rotem Leder überzogener Sessel und ein massiver Schreibtisch mit einer Lampe und einem elfenbeinfarbenen Telefon gleich unter dem riesigen Atelierfenster, eine moderne Couch, ein Rauchtisch, Radio, niedrige Sessel und eine Stehlampe in der Sitzecke, ein breites Regal mit Büchern, deren Rücken auf Farbwirkung hin geordnet waren, an der einen Wand, eine schlanke, kupferrote Vase mit Tannenzweigen auf einem Hocker, eine echte niederländische Barocktruhe und darüber ein Barockspiegel. Die Wände waren mit leicht getöntem Rauhputz überzogen, der Boden mit einem dicken, leuchtendblauen Teppich ausgelegt.

Sie durchquerte das Atelier, ging in die Küche und stellte Kaffeewasser auf, dann öffnete sie die Wohnungstür, nahm die Morgenpost und die Tageszeitung aus dem Briefkasten, hob die Tüte mit den Brötchen auf, brachte alles in die Küche und legte es auf das Frühstückstablett. Sie ging ins Badezimmer, wusch sich Gesicht und Hände, hörte den Wasserkessel pfeifen und eilte zurück, goß zwei Tassen Kaffee auf, legte das Brötchen auf den Frühstücksteller, stellte Butter und Marmelade dazu und trug das Tablett ins Atelier. Sie legte eine weiße Serviette auf den Rauchtisch, deckte sorgfältig, trug das leere Tablett wieder in die Küche und setzte sich zum Frühstück.

Sie bestrich ihr Brötchen mit Butter und Marmelade, goß sich Kaffee ein, und während sie den ersten Bissen in den Mund steckte, öffnete sie die Post. Es war nichts Interessantes dabei, das sah sie gleich, verspätete Weihnachts- und Neujahrsglückwünsche, ein belangloser Brief von einer ehemaligen Schulkameradin, nichts von Bedeutung. Nun ja, das Jahr hatte eben erst begonnen, man durfte nicht sogleich allzuviel verlangen, besser keine Nachrichten als schlechte. Sie schlug die Morgenzeitung auf, überflog flüchtig die Schlagzeilen, faltete sie wieder zusammen und legte sie fort. Sie spülte den letzten Brötchenbissen mit einem Schluck Kaffee hinunter, goß sich die zweite Tasse ein und zündete sich eine Zigarette an.

Nächstes Jahr würde sie die Feiertage nicht wieder hier in der Großstadt verbringen, sie würde hinausfahren in die Berge, irgendwohin. Sie würde in einem schicken Hotel wohnen oder in einer Skihütte, ganz gleich, aber sie würde draußen sein, in der Freiheit, in der Welt. Sie wollte sich nicht wieder das Hirn von stickiger Familienluft einnebeln lassen. So nett es auch bei ihrer Schwester Ada, Georg und den Kindern gewesen war, für sie war so etwas nichts. Was die Leute bloß mit Weihnachten hatten. Was war schon daran. Ein Reklameschlagwort für Firmen und Geschäfte, nichts weiter, und dafür natürlich ganz brauchbar.

Vielleicht verstehe ich nichts davon, dachte Oda, vielleicht geht mir da etwas ab, ich habe eben keinen Familiensinn, daran wird es liegen.

Sie drückte die Zigarette aus, stand auf und räumte den Frühstückstisch ab. Dann ging sie ins Schlafzimmer, zog Morgenrock und Schlafanzug aus, schlüpfte in ihren weißen Kittel, knöpfte ihn zu und band sich ein Tuch über das Haar. Sie sah auf die Uhr; in einer guten Stunde mußte die Wohnung in Ordnung sein, sie mußte heute morgen noch zur Presse-Korrespondenz.

Sie machte sich an die Arbeit, rasch, geschickt und umsichtig, mit System. Sie brauchte dabei nicht zu denken, jeder Handgriff war im vorhinein bedacht, ausgetüftelt und rationalisiert, jeder Gang lag fest, alles erfolgte in einer ganz bestimmten Reihenfolge. Ihre Gedanken durften dabei eigene Wege gehen.

Weihnachten, geweihte Nacht, Nacht der Weihe – das war es, daß sie daran nicht gedacht hatte. Weihnachten war gar kein Familienfest oder doch erst in zweiter Linie, Weihnachten war ein religiöses Fest, ein Kirchenfest. Gott hatte in der Weihnachtsnacht seinen eingeborenen Sohn zur Erde gesandt, um die Menschheit zu erlösen. Gezeugt vom Heiligen Geist, empfangen und geboren von der Jungfrau Maria, so lag er nun in der Krippe zwischen Heu und Stroh, ein winziges Menschenkindlein. Und die Hirten kamen vom Felde und die drei Könige aus dem Morgenland, um den Fleisch gewordenen Gott zu verehren. Freue dich, o freue dich, du Christenheit!

Ja, wenn man das glauben konnte, dann war Weihnachten wirklich ein schönes Fest, ein beglückendes Fest. Aber wer dachte heute noch daran, wer konnte es wirklich aus tiefstem Herzen und mit dem letzten Winkel des Verstandes glauben?

Ich nicht, dachte Oda, ich wirklich nicht. Für mich ist dies nichts weiter als ein sehr schönes Märchen, ich weiß ja nicht einmal, ob es einen Gott gibt.

Ob ein Gott existierte? Wer konnte das wissen. Jedenfalls war er sehr weit, sehr fern, sehr unnahbar. Er kümmerte sich nicht um die Menschen, seine Ohren waren taub für ihr Flehen, er ließ sie planen und sich plagen, und sie planten und plagten sich nach Leibeskräften, ohne daß er seinen Segen dazu gab. Wieviel heiße Bitten, verzweifelte Hilferufe mochten wohl zum Himmel gestiegen sein, aber nie hatte Gott einen Menschen erhört, er ließ den Dingen ihren Lauf. Gott hilft dem Seemann in der Not, aber steuern muß er selber. Nein, sie, Oda, wollte sich lieber nur auf sich selber verlassen, einzig und allein auf sich selber. Sie glaubte nicht, daß es einen Gott überhaupt gab, wahrscheinlich war er nur eine Erfindung der Menschen, geboren aus Hilflosigkeit und schlechtem Gewissen. Gott war nicht existenter als der Weihnachtsmann.

Mit welch abwegigen Gedanken beginne ich das neue Jahr, dachte Oda, mir scheint, ich spinne. Ich sollte mich lieber auf meine nächste Arbeit konzentrieren, zwölf Inserate für Zahnpasta müssen in diesen Tagen entworfen werden, sechs will ich mindestens heute noch hinkriegen.

Während sie das Schlafzimmer putzte, hatte sie schon im Bad die Hahne aufgedreht, und das heiße Wasser rauschte in die Wanne. Jetzt war sie fertig, die Hausarbeit war für heute getan, sie brachte Schaufel, Besen, Staubsauger und Staubtuch in den Abstellschrank in der Küche, ging ins Badezimmer hinüber und drehte das Wasser ab.

Aber auch als sie ihre weißen Glieder von dem klaren Wasser umspülen ließ, dachte sie nicht an die Zahnpastainserate. Sie dachte an gar nichts und gab sich voll dem Genuß des Badens hin. Das Köstlichste war immer der erste Moment, wenn man in die Wanne stieg und die Haut vor Wärme erschauerte, wenn man sich dehnte und streckte und eins wurde mit dem fremden Element. Aber wundervoll war es auch, sich mit einem dicken duftenden guten Stück Seife einzuschäumen, und herrlich war das letzte, die Zähne zusammenzubeißen und sich eiskalt abzuspülen.

Sie stieg aus der Wanne und rubbelte sich mit einem weichen Frottiertuch ab. Während das Wasser ablief, cremte sie sich sorgfältig ein, dann spülte sie die Wanne aus und ging im Bademantel hinüber ins Schlafzimmer.

Sie nahm frische Wäsche aus dem eingebauten Schrank, einfache Baumwollunterwäsche, an einer Stelle sehr sorgfältig gestopft. Elegantere Unterwäsche könnte ich brauchen, dachte sie wie schon oft, aber irgend etwas in ihr widersetzte sich dem Wunsch, Geld für Dinge hinauszuwerfen, die man doch nicht sah.

Weil sie sich entschlossen hatte, ihre Pelzstiefel anzuziehen, wählte sie hauchdünne Perlonstrümpfe, mit denen sie einmal hängengeblieben war und die auf dem Spann eine gestopfte Stelle hatten. Dann zog sie ein sportliches, elegantes Kleid aus englischer Wolle über, das, wie alle ihre Kleider, sehr eng um die Hüften saß, aber ein weites Oberteil hatte, um ihren Busen zu kaschieren. Ihr Busen war ihr großer Kummer, sie empfand ihn einfach als peinlich. Sie hatte eine zierliche grazile Figur, zarte Gelenke und gutgeformte Arme und Beine, aber ihr Busen war groß und rund und fest. Oda mißfiel er zutiefst, lieber hätte sie gar keinen besessen.

Sie zog den Frisiermantel über das Kleid und setzte sich vor den Toilettentisch. Sie erschrak vor der Röte ihres Haares, es erschien ihr auffallender und aufreizender denn je. Eigentlich hatte sie ja fünfundzwanzig Jahre Zeit und Gelegenheit genug gehabt, sich an diese kupferrote sprühende Fülle zu gewöhnen, aber sie erschrak immer wieder. Sie war nicht blind und nicht verbohrt, sie wußte natürlich, daß dieses Haar schön war, daß es prächtig war, an sich und für sich gesehen. Aber es fraß sie auf, es beherrschte und überschattete ihre ganze Erscheinung. Nichts kam neben diesem Haar zur Geltung, nicht die grauen Augen mit den dunkelroten Wimpern und Brauen, nicht die klare Stirn, nicht der sensible Mund. Ihr ganzes Gesicht wirkte indifferent, farblos, verwaschen unter dem Glanz dieses Haares. Vielleicht hätte man dem mit Puder, Lippenstift und Schminke abhelfen können, Oda hatte es versucht, sie versuchte es von Zeit zu Zeit immer wieder, aber sie fand sich dann immer zu gewöhnlich, und nichts war schlimmer als das.

Mit zornigen Bürstenstrichen bearbeitete Oda dies sprühende, knisternde, funkelnde Haar, kämmte es so straff zurück, daß es schmerzte, und klemmte es hinten mit einer großen Spange zusammen. So mochte es gehen. Sie verteilte ein wenig Rouge auf die Lippen, ein Tröpfchen Parfüm hinter jedes Ohr, dann war sie fertig. Sie sah sich noch einmal im Schlafzimmer um, schaute ins Badezimmer, aber nichts lag herum, alles war aufgeräumt, es gab nichts mehr zu ordnen.

Sie holte ihre Aktentasche aus dem Atelier, verstaute die Manuskripte für die Presse-Korrespondenz darin, ging in die Diele und zog ihren schweren, grauen Mantel an. Sie schlug den Mantelkragen hoch, so daß der rote Schopf darunter verschwand, setzte die Baskenmütze aufs Ohr und verließ die Wohnung.

Sie blieb einen Augenblick im Ausgang stehen und betrachtete die Auslagen der Läden; schimmerndes Porzellan und hauchdünne, wunderbar geformte Gläser zur Linken, leuchtende exotische Blumenpracht zur Rechten. Dann trat sie auf die Straße.

Der Schnee hatte hier unten seinen Zauber verloren, zu viele Menschenfüße hatten ihn zertrampelt, zu viele Räder überrollt, er war nur noch ein trüber, gelbbrauner, grauschwarzer Brei. Vorsichtig hielt Oda sich dicht an den Häusern, um nicht bespritzt und beschmutzt zu werden.

Die Presse-Korrespondenz von Gustav Steinle lag im dritten Stock eines neu errichteten Bürohauses. Das Treppenhaus war noch nicht verputzt, es roch nach Lack, Zement und Holz, die breite Treppe war roh und ohne Belag, von einem behelfsmäßigen Eisengeländer abgegrenzt.

Oda schellte an der Etagentür, es wurde von innen aufgedrückt, und sie trat in den kleinen Empfangsraum, der sehr neu und sehr gepflegt war; spiegelndes Parkett, roter Kokosläufer, Stahlrohrsessel und ein Stahlrohrtisch mit Zeitschriften und einer Vase, die leider leer war. Ungefähr zehn Türen führten in die einzelnen Räume. Oda ging an der Aufschrift ›Anmeldung‹ vorbei und geradewegs auf das Büro von Lore, der Chefsekretärin, zu. Sie klopfte an und trat gleich darauf ein.

Sie hatte die Tür noch nicht hinter sich geschlossen, noch nicht den Mund zu einem Gruß geöffnet, als aus dem Büro des Chefs ein untersetzter junger Mann stürmte und wortlos das Zimmer durchquerte. Der Gang des Mannes wirkte auf Oda gefährlich, fast pantherhaft, und sie fürchtete, überrannt zu werden. Unwillkürlich wich sie aus. Er stürmte an ihr vorbei, und sie blickte ihm noch nach, als er sich plötzlich umdrehte.

»Fräulein Schmidt?« sagte er, und leuchtendblaue Augen unter einem schwarzen Lockengewirr griffen sie an.

Eine dunkle Blutwelle schoß ihr ins Gesicht.

»Ich werde mal bei Ihnen reinschauen«, sagte der Mann, und ohne Antwort abzuwarten, war er hinausgestürmt.

Oda wandte sich Lore zu.»Was war denn das für ein Irrer?«

Da erst sah sie Lores Gesicht. Ihr regelmäßiges, schönes elfenbeinfarbenes Gesicht war von Schmerz verzerrt, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, sonderbar fleckig wirkte die Haut.

»Lore, was ist?« sagte Oda erschrocken. »Wie siehst du aus! Bist du krank?«

Lore schüttelte stumm, mit zusammengebissenen Zähnen, den Kopf.

»Lore … um Gottes willen …«, sagte Oda und legte den Arm um sie.

Lore schluchzte auf, ein krampfhaftes, unterdrücktes Schluchzen, und plötzlich rollten ihr die Tränen über die Backen, kindlich erlösende Tränen.

»Ich bin ein Schaf«, stieß sie noch unter Tränen und schon mit einem Lächeln hervor, »nichts ist … ich habe mich verlobt …«

»Aber Lore«, sagte Oda, »das ist doch herrlich … deshalb brauchst du doch nicht zu weinen.«

»Ich bin ein Schaf«, sagte Lore.

»Wie ist denn das so plötzlich gekommen? Erzähl doch!«

Lore machte eine Kopfbewegung zum Chefbüro hin. »Nicht hier«, sagte sie.

»Besuch mich«, sagte Oda. »Wann? Heute abend?«

Lore schüttelte den Kopf. »Geht nicht!«

»Morgen?«

»Ja … morgen geht …«

»Ich bin gespannt …«, sagte Oda. »Warm ist’s hier drinnen … ich zieh’ meinen Mantel aus.« Sie warf ihren Mantel auf einen Sessel in der Ecke. »Ist der Chef allein?«

»Ja«, sagte Lore.

»Dann will ich mal …«, sagte Oda, wandte sich um und klopfte an die Tür zum Chefzimmer, Von innen ertönte ein drohendes Knurren, und Oda trat ein.

Gustav Steinle wirkte auf den ersten Blick wie ein dickköpfiges, harmloses Baby, wie er da mit seinem kugelrunden Glatzkopf hinter dem Schreibtisch hockte. Wenn er, wie eben jetzt, lächelte, konnte sein Gesicht geradezu lieb aussehen. Aber sein Aussehen täuschte, seine runden Backen, sein kindlicher Mund, seine kugelige Nase, sein liebes Lächeln, alles täuschte. Nur seine kleinen grünen, kalten Augen verrieten, was er wirklich war; ein skrupelloser, übertüchtiger Geschäftemacher.

Trotz alledem, Oda mochte ihn leiden, seine Art gefiel ihr, und sie bewunderte seine Geschäftstüchtigkeit rückhaltlos. Und Gustav Steinle mochte Oda, ihre Bewunderung und Sympathie taten ihm wohl. Er wußte gut genug, daß es viele Menschen gab, die ihn verachteten, die ihn haßten, weil er sie übervorteilt hatte, die sein ganzes Tun und Treiben mißbilligten. Aber Oda, war nicht diejenige, die moralische Maßstäbe an die Handlungen eines erfolgreichen Menschen anlegte, für sie galt nur eins, der Erfolg. Erfolg aber hatte Gustav Steinle bei allem, was er anpackte, und er packte vieles an, weit mehr, als seine Feinde und selbst seine Freunde wußten.

»Hallo, Gus«, sagte Oda, »herzlichen Glückwunsch zur Verlobung!« Er reichte ihr seine schlaffe, fleischige Hand.

»Danke«, knurrte er, aber sie sah, daß er sich freute.

»Was willst du? Geld?« fragte er und fixierte sie, um sie in Verwirrung zu setzen.

»Immer!« sagte sie und lächelte vergnügt.

»Hm«, sagte er und malte mit einem Bleistift Zahlen oder Männchen auf ein Stück Papier.

»Hör mal, Gus«, sagte Oda, »mach keine Geschichten … ich weiß, wie tüchtig du als Geschäftsmann bist … aber wenn du jetzt versuchst, mich einzuschüchtem oder so etwas … das ist deiner nicht würdig.«

»Hm«, sagte er wieder und sah nicht auf.

»Ich bin nämlich wirklich und wahrhaftig kein Gegner für dich … ich bin dumm und völlig geschäftsuntüchtig, das weißt du … ich könnte mich nicht einmal wehren …«

»So dumm bist du gar nicht«, sagte er und griff zum Telefon.

»Lore, horch mal«, sagte er in den Hörer, »laß mal die Abrechnung für Oda fertigmachen … ja, alles … und instruiere die Buchhaltung …« Er deckte den Hörer zu und fragte: »Willst du es gleich mitnehmen?«

Oda schüttelte den Kopf. »Auf mein Konto«, sagte sie.

Er nahm die Hand vom Hörer und sprach hinein. »Horch mal, Lore … laß das Geld auf ihr Konto überweisen, ja? Aber sofort!« Und er warf den Hörer in die Gabel.

»Deine Weihnachtsgeschichte ist gut gegangen«, sagte er, »die mit dem kleinen Mädchen …«

»Ausgerechnet«, sagte Oda.

»Horch mal, Oda … du weißt doch …«, sagte er, »je doofer eine Geschichte ist, desto besser kommt sie beim Publikum an.«

»Herrlich!« sagte Oda.

»Die meisten Autoren schreiben viel zu gescheit.«

»Ich habe drei Frühjahrsgeschichten mitgebracht … und eine Kindergeschichte ohne Jahreszeit«, sagte sie und zog die Manuskripte aus der Tasche. »Soll ich sie Lore geben oder …?«

»Laß sie hier«, sagte er.

Sie schob ihm die Manuskripte über den Schreibtisch hin zu.

»Ich glaube, von den Frühjahrsgeschichten vom vorigen Jahr könnte man die eine oder andere noch mal laufen lassen.«

»Machen wir«, sagte er.

Er zündete sich eine dicke Zigarre an, die wie ein Schnuller in seinem Babygesicht saß, und Oda sah, daß die Audienz noch nicht zu Ende war. Sie merkte, daß er etwas im Schilde führte, jetzt hieß es aufpassen. Sie nahm eine Zigarette aus ihrem Etui, steckte sie sorgfältig in ihre Spitze und zündete sie an. Sie sagte nichts mehr, sondern wartete, bis er mit der Sprache herausrücken würde.

»Horch mal, Oda«, sagte er plötzlich, »ich hab’ da ein großartiges Geschäft für dich … eine tolle Chance …«

»Ja?«

»Eine einmalige Gelegenheit!«

»Fein«, sagte sie.

»Weißt du«, sagte er, »ein Freund von mir hat da etwas Geld in eine Sache gesteckt … in eine Erfindung sozusagen …«

»Ja?«

»Es handelt sich um eine Flüssigkeit … sie wird auf die Schuhsohlen gepinselt … alle vier Wochen … und die Sohlen halten unter Garantie ein Jahr.«

»Gibt es so etwas nicht schon?«

»Mist«, sagte er, »unsere Sache ist einmalig.«

»Und wie heißt das Zeug?«

»Horch mal, Oda … das steckt natürlich noch in den Anfängen, weißt du … deshalb ist die Sache ja so interessant.«

»Aha«, sagte Oda, »ich verstehe … ihr braucht jemanden, der die Werbung macht.«

»Ja«, sagte er, »unter Beteiligung am Umsatz … ein Prozent … ein ganz einmaliges Angebot.«

»Fein«, sagte Oda, »ich will mal rumhören, ob sich jemand dafür interessiert.«

»Horch mal, Oda …«

»Du dachtest doch nicht etwa, daß ich das mache?«

»Horch mal, Oda … da ist eine ganz große Chance für dich drin … ein ganz großes Geschäft.«

»Glaub ich dir … unbesehen! Aber du weißt doch, ich verstehe eben nichts von Geschäften … ich würde bestimmt dabei hereinfallen.«

»Ich würde dich beraten.«

»Paß auf, Gus … ich habe eine viel bessere Idee … streck du der Firma das Geld für die Werbung vor und laß dich dafür mit einem Prozent am Umsatz beteiligen … dann machst du das große Geschäft, und ich verdiene klein, aber sicher jeder kriegt das, was ihm zukommt.«

»Du bist ein Dickkopf«, sagte Gustav Steinle seufzend und zog eine Schreibtischschublade auf. »Also … ganz wie du willst … hur darfst du mir später keine Vorwürfe machen.«

»Ich nicht«, sagte Oda. »Was braucht ihr?«

»Einen Prospekt … hier hast du die Unterlagen … vierundzwanzig Inserate für Tageszeitungen … zweispaltig … 34 Millimeter hoch … und den Namen für das Präparat … es muß aber wirklich schon was Tolles sein.«

Oda nahm die Unterlagen und steckte sie ein.

»In Ordnung«, sagte sie, »Bezahlung wie üblich.«

Sie stand auf. »Übrigens«, sagte sie, »wer war dieser Irre, der da eben aus deinem Büro gestürmt kam? Er sagte, er wollte mal bei mir reinschauen.«

»Hm«, sagte Gustav Steinle.

»Wer ist das?«

»Ein Graphiker.«

»Wie heißt er?«

»Christian Mirsky.«

»Kennst du ihn gut?«

»Noch von Berlin her … er ist erst seit kurzem im Westen.«

»Danke«, sagte sie.

»Horch mal, Oda«, sagte er zögernd, »dieser Mirsky braucht jemanden, der Werbetexte macht … für seine Plakate, weißt du … und da habe ich ihm deine Adresse gegeben.«

»Mal sehen«, sagte sie.

»Er ist … na ja … er ist sehr begabt … aber … mit Vorsicht zu genießen, weißt du …«

»Ich genieße alle Männer mit Vorsicht.«

»Ich hoffe, du genießt sie überhaupt nicht«, sagte er. »Mach mal den Schrank da auf …«

Sie tat es. »Und?« fragte sie und wandte sich ihm zu.

»Nimm die Flasche raus.«

»Die da?« fragte sie, nahm die Flasche und stellte sie auf seinen Schreibtisch. Es war guter alter französischer Cognac.

»Für dich«, sagte er, »kannst du mitnehmen.«

»Toll«, sagte sie, »du bist einfach toll, Gus … sei bedankt.«

»Was dein Gus mir verehrt hat«, sagte Oda, als sie gleich darauf ins Vorzimmer zurückkam, »schau mal, Lore …« Und sie schwenkte die Cognacflasche.

»Ja … dich mag er …«, sagte Lore und sah von ihrer Schreibmaschine auf.

»Dich doch mehr«, sagte Oda.

»Du solltest mal hören, was da manchmal für ein Gebrüll drinnen ist …«, sagte Lore mit einem Blick auf das Zimmer des Chefs.

»Glaubst du, mit mir hat er noch nicht gebrüllt?« sagte Oda.

»Aber dich mag er …«

Oda hatte sich den Mantel angezogen und die Cognacflasche in der Aktentasche verstaut.

»Mach’s gut, altes Mädchen«, sagte sie, »also … bis morgen.«

»Bis morgen …«, sagte Lore.

Oda war gerade an die Kante des Bürgersteiges getreten, um die Fahrbahn zu überqueren, als ein grüner Volkswagen hart vor ihr stoppte. Nur ein wilder Satz nach rückwärts rettete sie davor, von oben bis unten mit Schneematsch bespritzt zu werden. Die Autotür öffnete sich, und ein spitzbübisches Gesicht unter krausen Löckchen lachte sie an.

»Suannne!« sagte Oda. »Typisch …«

»Weine man nicht, Kleine«, sagte Susanne, »es ist ja nichts passiert … steig ein.«

Oda legte ihre Aktentasche vorsichtig auf den Hintersitz und nahm neben Susanne Platz.

»Wohin willst du?« fragte Susanne, als der Wagen sich in Bewegung setzte. »Hast du Zeit? Wollen wir zusammen irgendwo essen?«

»Gerne«, sagte Oda. »Vielleicht bei ›Karstadt‹ … da ist es billig und gut.«

»Du könntest die Tochter vom alten Steinle sein«, sagte Susanne, »wahrhaftig.«

»Wieso?«

»Na hör mal … du wohnst in einem Feudalatelier und ißt bei ›Karstadt‹.«

»Wenn ich nicht bei ›Karstadt‹ äße, wohnte ich bestimmt nicht in einem Feudalatelier«, sagte Oda.

»Da ist was dran«, sagte Susanne.

»Weißt du schon, daß Lore sich verlobt hat?«

»Mit wem?«

»Mit wem …! Mit Gus natürlich.«

»Also doch«, sagte Susanne. »Sie hat also ihre große Liebe doch nicht gekriegt.«

»Hatte sie eine? Davon weiß ich gar nichts.«

»Du Weißt manches nicht, mein Baby.«

»Ich werd’s schon noch erfahren … Lore kommt morgen abend zu mir.«

»Viel Spaß«, sagte Susanne, »lern was draus.«

Sie hatte einen freien Platz zum Parken gefunden, und sie stiegen aus.

»Wie geht das Geschäft?« fragte Oda, während sie zum Eingang des großen Kaufhauses gingen.

»Mäßig … mäßig«, sagte Susanne; sie war Teilhaberin in der Großhandlung ihres Bruders und ständig unterwegs, um die Kunden zu bearbeiten.

»Kein Bedarf an Schwenkhähnen?«

»Doch, schon …«, sagte Susanne, »aber wir haben Ärger wegen der Armaturen …«

»Ach so«, sagte Oda, die von diesen Dingen keine Ahnung hatte.

Sie wollten die Rolltreppen hinauflaufen, aber das Ehepaar vor ihnen blieb einfach auf einer Stufe stehen und ließ sich hinauftragen.

»Die glauben, scheint’s, das ist eine Roll …«, sagte Susanne, »sie vergessen, daß es eine Treppe ist.« Und sie lachte vergnügt über ihren eigenen dummen Witz.

In dem hellen, langen Restaurationsraum, der ganz in Gelb und Grün gehalten war, herrschte eine zwielichtige Stimmung, die warme gelbe Deckenbeleuchtung war eingeschaltet, und durch die hohen Fenster fiel kaltes graues Licht. Sie fanden einen Tisch am Fenster und ließen sich nieder.

Oda betrachtete Susanne und stellte zum erstenmal fest, daß sie nicht mehr ganz jung aussah. Wenn sie lächelte und plauderte, achtete man nicht auf die feinen Falten, übersah man die Ringe unter den Augen, aber jetzt, als sie ruhig dasaß und die Speisekarte studierte, wirkte sie auf einmal sehr müde.

Susanne blickte hoch. »Was schaust du?« fragte sie.

»Oh … nurso«, sagte Oda, »ich dachte nur, daß du doch ein bemerkenswert hübsches Mädchen bist.«

Susanne zeigte ihre Zähne. »Bis auf die Beine … die sind über die Tonne gebügelt.«

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Dir kann ich es ja sagen … ich werde dreißig.«

»Doch kein Alter!«

»Höchste Zeit, zu heiraten«, sagte Susanne, »ich habe mich entschlossen, dieses Jahr zu heiraten.«

»Oh …«, sagte Oda, »herzlichen Glückwunsch … wer ist der Auserwählte?«

»Weiß ich noch nicht«, sagte Susanne, und ernsthaft fügte sie hinzu: »Muß mal Ausschau halten.«

»Ach so«, sagte Oda und lachte.

Susanne bestellte ein Tagesmenü und Oda eine Platte Roastbeef mit Kartoffelsalat.

Draußen vor dem Fenster begann es sachte und sanft zu schneien, zag und dünn erst, dann fielen die Flocken immer dicker und dichter, und die Unterhaltung im Raum wurde unwillkürlich gedämpfter.

»Warum wollt ihr nur alle heiraten«, sagte Oda nachdenklich, »alle wollt ihr heiraten … du und Lore, und Regine natürlich auch … was versprecht ihr euch bloß davon?«

Susanne lachte und schaute sie an.

»Du, zum Beispiel«, sagte Oda, »du könntest doch mit deinem Leben zufrieden sein, so wie es ist … du verdienst ein ganz schönes Geld … hast einen Wagen … kannst tun und lassen, was du willst … was verlangst du mehr?«

»Das, was alle Frauen möchten, selbst wenn sie noch so viel von Gleichberechtigung und all dem Zeug daherreden … Schutz, Geborgenheit, eine starke Hand. Meinst du, es macht mir so viel Spaß, von morgens bis abends zu schuften und mich abzustrampeln? Das ist doch kein Leben für eine Frau!«

»Du meinst also, waschen, putzen, kochen, bügeln und sparen liegt dir mehr?«

»Das vielleicht nicht.«

»Ich bin überzeugt, in der Ehe fangen die wirklichen Sorgen erst an … ihr flüchtet in die Ehe wie in einen Hafen … und nachher merkt ihr erst, daß ihr aufs stürmischste Meer hinausgetrieben seid.«

»Mag sein«, sagte Susanne, »aber wenigstens nicht allein. Wenn man verheiratet ist, ist man wenigstens nicht mehr allein.«

»Ich bin gern allein«, sagte Oda.

»Ja, du!« sagte Susanne.

»Ich finde … verzeih mir … ihr laßt euch nie von eurem Verstand lenken, sondern von … von …«

»Keine unanständigen Ausdrücke, möchte ich bitten«, sagte Susanne.

»Wieso? Von Gefühlen, wollte ich sagen, von verschwommenen und undefinierbaren Gefühlen.«

Das Serviermädchen brachte Susanne die Suppe.

»Guten Appetit«, sagte Oda. »Ich meine, man muß sein Leben vom Verstand her inszenieren … und nur vom Verstand … der Verstand ist das einzige, was uns vom Tier unterscheidet … der Verstand ist das Wertvollste, was wir besitzen.«

Susanne löffelte. »Du vergißt«, sagte sie, »daß wir nicht alle so viel Verstand haben wie du … sei still, ich meine das so, wie ich es sage … wir sind alle dümmer als du … Lore und Regine und ich … viel dümmer.«

»Bitte«, sagte Oda, aber Susanne ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Doch«, sagte sie, »du machst da deine Werbetexte, und es fällt dir gar nicht schwer, für dich ist das die einfachste Sache von der Welt … aber meinst du, eine von uns könnte das? Warum, glaubst du, wird so etwas so gut bezahlt?«

»Ihr könnt etwas anderes, was ich nicht kann.«

»Aber wie«, sagte Susanne, »frag mich nicht, wie! Was glaubst du, wie oft ich mir die einfachsten geschäftlichen Dinge von meinem Bruder erklären lassen muß, bis ich sie endlich gefressen habe … und nachher mache ich doch alles mit meinem weiblichen Charme.«

»Wir schweifen vom Thema ab«, sagte Oda.

»Es hat auch keinen Sinn«, sagte Susanne, »wir sprechen verschiedene Sprachen.«

Das Mädchen brachte Susanne den Hauptgang, Schweinekotelett mit Rotkohl, und Oda die Roastbeefplatte. Sie aßen schweigend. Immer dichter fiel draußen der Schnee, lautlos und wirbelnd.

»Wie war Silvester?« fragte Oda endlich.

»Komisch«, sagte Susanne, »sehr komisch.«

»Wieso?«

»Ich war mit Regine und Willem in Winterberg.«

»Was für eine Idee!«

»Sie hatten mich eingeladen.«

»Es muß komisch sein, mit einem Liebespaar zu verreisen.«

»Und ob«, sagte Susanne, »aber ich hatte gerade nichts Besseres greifbar.«

»Ja, dann …«, sagte Oda.

»Und du?« fragte Susanne.

»Ich habe mit Ulli gefeiert … schlicht um schlicht in meinem Atelier,«

»Na, dann hast du wenigstens mal etwas vom Leben gehabt.«

»Nicht wie du denkst … Ulli ist ein sehr anständiger Junge.«

»Ein sehr dummer Junge, wenn er auch Studienassessor ist«, sagte Susanne.

»Kann ich nicht finden.«

»Der geborene Ehemann … du solltest ihn heiraten.«

»Aha … Thema eins.«

»Wirklich … warum eigentlich nicht?«

»Warum ja?« sagte Oda. »Warum um Himmels willen sollte ich ihn heiraten? Ihn oder einen anderen?«

»Weil er ein anständiger Junge ist, wie du selber sagst … weil du seit mehr als einem Jahr mit ihm herumziehst … weil er dich bestimmt liebt.«

»Alles keine Gründe«, sagte Oda.

»Du liebst ihn also nicht?«

»Susanne … auch wenn ich ihn liebte, wenn ich ihn rasend liebte … auch das wäre kein Grund für mich, ihn zu heiraten … Liebe ist meiner Meinung nach der dümmste aller Gründe, eine Ehe einzugehen.«

»Ich verstehe die Welt nicht mehr!« sagte Susanne.

Oda zündete sich eine Zigarette an. »Ich will vorwärtskommen im Leben, verstehst du? Ich will etwas erreichen … und ein Mann wie Ulli würde früher oder später nur eine Belastung für mich bedeuten … jeder Mann würde eine Belastung für mich sein … eine drückende, niederdrückende Bindung, verstehst du?«

»Wenn du die Dinge so siehst …«

Oda zog an ihrer Zigarette und starrte in den wirbelnden Schnee.

»Ja«, sagte sie, »so liegen für mich die Dinge.«

Es war noch ziemlich früh, als sie die Wohnungstür aufschloß, sie sah auf die Armbanduhr: kurz nach drei. Trotzdem war es schon so düster in der kleinen Diele, daß sie Licht anknipsen mußte. Sie hängte ihren Mantel auf, vertauschte ihre Pelzstiefel mit Pantoffeln und trat, die Mappe unter dem Arm, ins Atelier.

Weiß und stumm, wie ein tödlicher Vorhang, glitt der Schnee vor dem Atelierfenster nieder und schloß den Raum ab von der Welt. Geisterhaft grau, öde und wie ausgestorben lag der Raum vor ihr. Oda erschrak bis ins Herz hinein. Ein nie gekanntes Gefühl von Einsamkeit, Ausgestoßensein und Verlassenheit überkam sie.

Dann schrillte das Telefon. Sie knipste das Deckenlicht an und nahm den Hörer ab.

»Du, Ulli …?« sagte sie erfreut. »Wie nett, daß du anrufst … nein, heute abend geht es nicht, ich muß dringend arbeiten … morgen abend kommt Lore … ja, übermorgen … du besorgst die Karten, ja? Gut, komm um sechs zum Abendessen … mach’s gut … schönen Dank für den Anruf.«

Sie legte den Hörer auf und knipste die Schreibtischlampe an. Dann zog sie den Vorhang vors Fenster und schaltete die Stehlampe ein. Sie drehte das Radio auf und nahm die Cognacflasche aus der Aktentasche. Sie nahm aus der Barocktruhe einen Korkenzieher und öffnete die Flasche, holte aus der Küche ein Glas und goß sich ein. Sie leerte das Glas in einem Zug, schenkte wieder ein und zündete sich eine Zigarette an.

Dann nahm sie das volle Glas und setzte sich an den Schreibtisch. Aus dem Radio klang leise Musettemusik. Das Leben war wieder erfüllt von Licht, Lärm und Farben.

Herrgott, was war bloß vorhin mit ihr los gewesen? Ein merkwürdiges Gefühl, scheußlich. Ob sie sich erkältet hatte? Irgend etwas war mit ihr nicht in Ordnung, aber wahrscheinlich lag es nur an dem Schnee, diesem verdammten Schnee.

Mehrere Stunden arbeitete Oda ruhig und konzentriert durch, und kurz nach sieben Uhr lagen sechs Zahnpastainserate fix und fertig vor ihr, druckreif und geschliffen. Natürlich würden sie so nicht in die Zeitung kommen, natürlich würden sie bis dahin noch mehr als einmal geändert werden, aber ihr konnte das ja gleich sein, sie hatte ihre Arbeit geleistet, ihr Geld redlich verdient, das war die Hauptsache.

Sie wollte gerade aufstehen, um sich ein Abendbrot zu richten, als Regine anrief und sie bat, sofort zu ihr zu kommen, ja, es sei dringend, sie hätte etwas mit ihr zu besprechen, ja, es sei etwas passiert.

»Gut, ich komme«, sagte Oda und legte den Hörer auf. Sie hatte keine rechte Lust, noch einmal in den Schnee hinauszustapfen, aber ihre Neugier und eine Art von Pflichtgefühl siegten.