Ich war Bulle - Ben Westphal - E-Book

Ich war Bulle E-Book

Ben Westphal

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Gedankenverloren sitzt der ehemalige Rauschgiftfahnder Gerd Sehling im Partykeller seines Hauses in Dalldorf bei Hamburg. Draußen ist inzwischen ein schwerer Sturm aufgezogen. Die Pensionsfeier im Garten ging bis spät in die Nacht. Sie verlief genau so, wie er sich den Abschied vom Leben im Polizeidienst immer vorgestellt hatte. Langjährige Wegbegleiter waren allesamt zusammengekommen, um mit einem gebührenden Fest den wenig ersehnten Ruhestand zu begießen. Während die ehemaligen Kollegen am nächsten Morgen bereits wieder Rauschgifthändlern nachjagen, hat Gerds Frau Dörte ganz klare Vorstellungen, wo er am ersten arbeitsfreien Tag für Ordnung sorgen soll. Doch dann rast mit einem laut schepperndem Rumms ein Wagen in das Ortsschild von Dalldorf und lässt alles anders kommen, als erwartet. Der Ruhestand findet sein vorzeitiges Ende bevor er richtig angefangen hat...

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Seitenzahl: 452

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Ben Westphal

Ich war Bulle

Ein Hamburg-Krimi

Texte: © Ben Westphal

vertreten durch

Rechtsanwalt Jan Ontjes Güldenzoph

Lübecker Straße 1

22087 Hamburg

Umschlaggestaltung: © Moritz Seifert

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

“für Max”

1

Ruud van der Boek umgreift mit festem Griff das Lenkrad seines geliebten silbergrauen Lieferwagens. Er hatte ihm bereits häufig gute Dienste geleistet. Egal bei welchem Wetter und auf welchen Straßen. Immerzu brachte er ihm Glück und er war stets angekommen, wohin er auch gerade fuhr. Auch heute hofft er auf seinen Transporter, während außerhalb des Fahrzeugs ein Orkan die Fichtenwälder entlang der Landstraße zum Biegen bringt. Dessen Böen lehnen sich immer wieder gegen den Wagen. Dicke Tropfen prasseln auf die Scheiben nieder, während die Scheibenwischer quietschend versuchen, das gesammelte Wasser beiseite zu wischen.

Das Pfeifen der Waldgeister dröhnt in Ruuds Ohren, während er konzentriert auf die vom Regen überspülte Straße blickt. Hier kennt er jede Kurve, hier kann ihn nichts überraschen, denn er nimmt immer genau diesen Weg, immer dieselbe Route, immer im Schutze der Nacht.

Die Glut seiner Zigarette saugt sich ihren Weg zum Filter, während ihr Rauch in Ruuds Augen brennt. Der Gilb setzt sich in seinem schütteren, grau melierten Schnurrbart ab.

Die in der Lüftung tanzende Asche legt sich auf dem bedeckten Armaturenbrett nieder und paart sich dort mit dem Staub der letzten Fahrten.

Nach einem tiefen Zug drückt Ruud die Zigarette in den überfüllten Aschenbecher und greift nervös nach seinem Handy in der Hemdtasche.

Ein kurzer Blick reicht, um zu sehen, dass er bislang keine Nachricht erhalten hat, die ihn zum Umkehren bringen würde.

Leichte Zweige werden über die Straße geweht, während er das Telefon in die Ablage der Mittelkonsole legt. Dorthin, wo er ein Aufleuchten schnell mitbekommt, auch wenn das Klingeln im Rauschen der Wälder untergehen würde.

Im aufgedrehten Radio läuft deutsche Popmusik, irgendeiner von den immer gleich klingenden deutschen Singersongwritern, die Ruud nicht auseinanderhalten kann. Er ist kein Freund von deutschem Radio, lieber hört er die internationale Rockmusik, die er früher noch in seinem Club aufgelegt hatte. Doch er braucht das deutsche Radio, denn gerade bei einem solchen Sturm muss er den Verkehrsfunk hören.

Jeder Umweg würde seine Fahrt und ihn selbst gefährden. Das kann er sich nicht erlauben, viel zu viel hängt an seiner Verlässlichkeit, die so selten geworden ist in diesem Geschäft.

Das Ruckeln der Räder sticht immer wieder in seinen schmerzenden Rücken, doch an eine Rast ist nicht zu denken. Nicht hier in diesem Bereich und auch nicht innerhalb der nächsten drei Stunden. Das schlechte Wetter hat ihn bereits Zeit gekostet, die er auch nicht mehr aufholen würde. Wenigstens braucht er sich nicht an Lenkzeiten zu halten wie die Lasterfahrer. Er kann immer fahren und so lange wie er will. Genug Arbeit gibt es zum Glück auch für ihn. Er könnte jeden Tag fahren, aber dafür fühlt er sich mit Ende Fünfzig zu alt. Mehr als drei Mal die Woche will er nicht mehr unterwegs sein und sonntags fährt er generell nicht.

Auch wenn die Schulden aus der Pleite seines Clubs drängen, was sollte man ihm schon antun. Zumindest solange er verlässlich seine Arbeit erledigt, würde man ihm sein Bemühen anerkennen. Immerhin dürfte er seine Schulden schon erheblich getilgt haben in den letzten Monaten. Zumindest hofft er es, denn einen richtigen Überblick hat er nicht mehr. Zu unklar sind die Ansprüche seiner Geldgeber, die ihm im rechten Moment zur Seite standen, als die Banken nur noch die Insolvenz für ihn und seinen Club sahen. Den Club musste er am Ende doch aufgeben. Seine Geldgeber übernahmen die Konzession und erließen ihm einen Teil seiner Schulden. Den Job als Fahrer boten sie ihm ebenfalls an, um die Schulden tilgen zu können. In seinem Club sollte er nicht mehr arbeiten. Das Publikum hatte sich nach dem erfolgten Umbau wesentlich geändert. Die Leute waren jünger geworden, aggressiver, Ruuds Stammgäste blieben fern, es war nicht mehr der richtige Ort für ihn gewesen. Auch wenn die Zinsen und Schulden bei den Leuten hoch blieben, irgendwann werden sie getilgt sein und dann würde er sich noch einmal mit einem kleinen Bistro oder Kiosk versuchen. Nichts für Reichtümer, aber das will er auch gar nicht mehr. Einfach selbstständig seinen Lebensunterhalt verdienen können und niemandem mehr Rechenschaft schuldig sein. Diesem ständigen Druck weichen, nichts mehr tun müssen, was man nicht will, sondern nur von dem leben, was am Abend in der Kasse ist und nie wieder Schulden machen. Einen Fehler darf man immer nur einmal machen, das hatte sein Vater ihm schon immer eingetrichtert und diesem Ziel will er in Zukunft Folge leisten.

2

«Am besten Sie suchen sich ein schönes Hobby und genießen ihre arbeitsfreie Zeit. Machen Sie doch mal eine schöne Reise, Herr Dehling.» Die Schlussworte der Rede der jungen Kriminaldirektorin, die auf dem Fest erschien, ohne hierzu eingeladen gewesen zu sein, klingen Gerhard Sehling, den alle nur Gerd nennen, noch immer in den Ohren.

Die Feier war eigentlich so gelaufen, wie er sie sich vorgestellt hatte. Diejenigen, die er bei seiner Feier zur verdienten Pensionierung bei sich haben wollte, die waren eingeladen und auch in seinem Dorf kurz vor Hamburg erschienen. Dazu gehört Frau Baake mit Sicherheit nicht. Das schien die Dame des höheren Dienstes jedoch nicht davon abzuhalten, in ihrem viel zu großen Hosenanzug zu erscheinen und sich dann noch in den Mittelpunkt seiner eigenen Feier zu stellen. Hätte sie sich wenigstens mal vor oder nach ihrer geschwollenen Rede zur Mannschaft gesetzt und sich mal gehörig einen hinter ihre breit gebundene Krawatte gegossen. Aber stattdessen dackelte sie nach einem kräftigen Händedruck wieder davon und ließ Gerd in seinem Groll zurück. Nicht nur, dass sie seine zweite freiwillige Verlängerung der Dienstzeit ablehnt hatte, um «jüngeren, hungrigen Kollegen» den Weg freizumachen. Nun erschien sie auch noch auf seinem eigenen Stück Land, um ihm die Urkunde des Abschieds in die Hand zu drücken und so das Ende von fünfundvierzig gelebten und geliebten Dienstjahren zu besiegeln.

Die ehemaligen Kollegen verhalfen ihm wenigstens ein bisschen zur Aufheiterung. Sie, die ihm alle am Herzen liegen, hatten ihm aus Schnapsgläsern eine Harley-Davidson gebastelt, den Tank mit Währungen aus aller Welt gefüllt und einen guten Tropfen für einsame Stunden aus einer österreichischen Destillerie als Zylinder in das Gebilde integriert. Sie wissen ihn zu nehmen, wie er ist und kennen seine Vorlieben. Ein wenig ruppig ist er, gerade wenn es mal wieder nicht so läuft, wie er es sich vorstellt, aber immer mit dem Herz am rechten Fleck. Ein Typ halt, den man in so einer verrückten Truppe brauchte, um die jungen und wilden Nachwuchsfahnder zusammenzuhalten und ihnen die alten Werte nahezubringen, damit der ganze Laden läuft. Gerd ist nicht mehr der Schnellste, weder im Kopf, noch auf den Beinen, aber er war immer mit Leib und Seele für jeden da, der ihn brauchte und stand mit seiner Erfahrung stets dort, wo er gebraucht wurde.

Zwei Tage lang hatte Gerd seinen Garten geschmückt mit Dekoration, die ihm Dörte, seine Ehefrau, besorgt hatte. Er hatte das Essen vorbereitet, Getränke herangeschafft und die Biergarnitur der Freiwilligen Feuerwehr aufgebaut. Es waren 60 geladene Gäste, die ihm zugesagt hatten. Alte und aktuelle Wegbegleiter, längst pensionierte Ausbilder, Vorgesetzte und liebgewonnene Auszubildende, die zum Teil schon selbst im mittleren Alter angelangt sind. Und zuletzt dann wider Erwarten der Drachen der Abteilung, bei dem jeder Mitarbeiter eine Nummer ist, die es nach Leistungsbereitschaft auszutauschen gilt.

Am liebsten hätte er sie in den Boden gerammt. Doch er ist ruhiger geworden in seinen letzten Jahren. So machte sie sich nach ihrer undurchdachten und unpersönlichen Pensionsrede, die sie auch auf jeder anderen Feier hätte halten können, unbeschadet von dannen, während Gerd ihr zähneknirschend nachblickte. Zischend murmelte er dabei «Ich heiße Sehling, merken Sie sich das!», in seinen struppigen Bart.

Nachdem Direktorin Baake das Gelände verlassen hatte, kam die Stimmung der Gäste wieder aus dem Froster. Die Feier nahm wieder Fahrt auf und ging bei Livemusik der "Drug Inspectors" mit Discofox auf der großen Holzterrasse bis in die späte Nacht.

Inzwischen sitzt Gerd alleine in seinem Partykeller. Draußen zieht von Westen her ein Unwetter auf. Die letzten Gäste hatten ihm noch schnell beim Aufräumen geholfen, bevor sie sich auf ihre mitgebrachten Luftmatratzen fallen ließen oder sich in ihre Wohnmobile zurückzogen.

Alleine sitzt er nun auf seinem Fernsehsessel mit dem guten Tropfen für einsame Stunden, den er immer wieder in ein kleines Schnapsglas füllt und mit leichtem Schnalzen die Kehle hinab brennen lässt.

Neben der Flasche auf dem antiken Edelholztisch liegt seine Pensionsurkunde und sein verloren gemeldeter Dienstausweis, den er beim besten Willen nicht hätte abgeben können.

Schon bei seinen übrigen Ausrüstungsgegenständen tat er sich schwer, verteilte sie der Tradition entsprechend an geschätzte Kollegen, aber sein letztes Stück Polizei wollte er nicht verlieren. Und wem sollte er schon damit schaden. Mit der Verlustmeldung wurden der Chipkarte sämtliche Berechtigungen entzogen. Sie war nicht mehr als eine weiße Telefonkarte mit Polizeiaufdruck, seinem Foto, Namen und seinem Dienstgrad des Kriminalhauptkommissars. Nicht einmal zum Telefonieren in einer Telefonzelle hätte man die Karte noch gebrauchen können. Es war nicht mehr als eine Erinnerung, ein Andenken an die alten Zeiten, die so nicht wiederkehren würden.

«Allein' trink'n mach'einsam, Gerd», hört er seine traurige raue Stimme zu sich selbst sagen. Er füllt das Glas wieder und betrachtet sich dabei im Johnny Walker-Spiegel an der mit Holzplanken vertäfelten Kellerwand. Er schaut sich in die kleinen Augen, die direkt an der großen knolligen Nase ansetzen. Seine halblangen Haare sind zurückgekämmt. Der Bart kaschiert den leichten Doppelkinnansatz und lässt ihn jünger wirken, als er ist.

«Alt biss'u gewodden, mien Jung', such Dir mal 'n Hobby, dass 'ich jung hält», ruft er, prostet seinem eigenen Antlitz zu. Er kippt das letzte Glas des Abends in sich hinein, bevor er in die weichen Polster des Sessels fällt und seine verquollenen Augen schließt.

3

Schummriges Licht fällt auf die Tische des Café International e.V. in der Wilstorfer Straße in Hamburg-Harburg. Trotz später Stunde in der Nacht ist das Café noch gut besucht. Südländische Männer sitzen auf einfachen Holzstühlen an mehreren im Café verteilten Tischen. Manche trinken miteinander Tee, sprechen über Politik, Alltag und Geschäfte, andere spielen Karten oder mit dominoähnlichen Steinchen.

An jedem Tisch wird geraucht, der Qualm steht in der Luft und verschleiert zusätzlich den spärlich beleuchteten Raum. Die Luft atmet sich schwer und stickig. Ein wenig Licht fällt von den Straßenlaternen der gut befahrenen Straße durch die großflächig mit Milchglasfolie beklebten Fensterscheiben. Doch es verleiht dem Raum kaum mehr Freundlichkeit. Ebenso wenig wie die bunt blinkenden Spielautomaten im hinteren Bereich, wo stets jemand sitzt, von ungeahnten Gewinnsummen träumend sein letztes Geld verspielt.

Vor dem Café parken mehrere hochmotorisierte Luxuswagen auf dem Gehweg, doch ein Ticket wegen falschen Parkens, hatte hier schon lange niemand mehr erhalten.

Ein älterer Kurde bedient die Kundschaft, soweit er nicht gerade anders beschäftigt ist. Es springen ihm offenbar zugehörige Personen zur Seite und bedienen die Anwesenden.

Gelegentlich betreten kleine Gruppen hintere Räumlichkeiten. Einzelne verlassen die Lokalität kurzzeitig, um sich dann wieder mit Anderen an einen Tisch zu setzen.

Es wird überwiegend lautstark und gestenreich kommuniziert, manchmal aber auch wortkarg und leise, fast flüsternd.

Es ist Türkisch, Kurdisch und Albanisch zu hören, gelegentlich wird auch untereinander in gebrochenem Deutsch gesprochen.

Personen, die den Laden betreten, werden beobachtet, begutachtet und verlieren sogleich wieder die Aufmerksamkeit, sobald sie der Kundschaft zugerechnet werden. Einige Wenige, die sich hier eher zufällig hin verirren, werden freundlich rauskomplimentiert und an passendere Lokalitäten verwiesen.

Die Geräusche der verschiedenen Sprachen und die Lautstärke ihrer Redner, die klimpernden Teetassen, die ratschenden Karten und klackernden Spielsteine gepaart mit der düsteren Beleuchtung geben dem Café seine Atmosphäre. In jeder Ecke sitzen Männer, die hierhergehören und hier sein wollen, jeder aus eigenen Gründen.

An einem der Tische sitzen Cemal und Faruk. Sie sind heute einfach nur hier. Sie spielen keine Karten oder trinken Tee, lachen oder diskutieren. Sie sitzen beharrlich auf ihren Stühlen und schauen durch den Raum. Gelegentlich zündet sich einer von ihnen eine Zigarette an und bläst den Rauch durch Nase und Mund in den vor ihnen wabernden, dunstigen Schleier. Sie sitzen alleine an ihrem Tisch. Niemand setzt sich einfach zu ihnen, ohne hierzu aufgefordert zu werden. Beide wirken innerlich angespannt, trotz der zur Schau gestellten Ruhe.

Während Faruk ungläubig Perle für Perle an seiner Gebetskette weiter schiebt und einen Zahnstocher zwischen seinen Backenzähnen zerkaut, schaut und schreibt Cemal immer wieder auf seinem dunklen Smartphone, welches er im Anschluss sofort wieder im Innern seiner Jackentasche verschwinden lässt.

Faruk sucht nach jeder Nachricht den kurzen Blickkontakt zu Cemal. Dann fährt er sich wieder mit der verbleibenden Hand durch die langen nach hinten gegelten Haare. Anschließend streicht er den Vollbart von der Wange bis zum Kinn, wo er mehrfach den Bart in die Länge zieht und zwischen den Fingern zwirbelt.

Cemal bleibt ruhig sitzen, scheint seine Aufmerksamkeit zu bündeln und zeigt keinerlei Reaktion. Die breiten Augenbrauen unter der blanken Glatze verleihen seinen dunklen Augen etwas gewollt Düsteres. Daran ändert auch das weiße Hemd nichts, welches er unter seiner dunklen Lederjacke trägt.

Erneut vibriert das Smartphone in seiner Jacke. Er nimmt es aus der Tasche und liest die erhaltene Nachricht, nachdem er das gewohnte Passwort in die digitale Tastatur eingegeben hat. Seine Augen flackern über den Bildschirm, während sich in seinem Gesicht keinerlei Mimik abzeichnet. Er blickt einmal zu Faruk, seine Augen verengen sich unmerklich und er beginnt wieder auf der Tastatur zu schreiben.

Faruk steckt seine Kette in die Hose, nimmt seine glimmende Zigarette zwischen die trockenen Lippen, streicht sich mit beiden Händen über den Bart und zwirbelt die Spitze, während er sich langsam von seinem Stuhl erhebt und in Richtung Ausgang schlendert. Die goldene Panzerkette um seinen Hals schlägt von links nach rechts, während sie immer wieder unter der leicht geöffneten roten Trainingsjacke aufblitzt. Seine rote Hose fällt leicht auf die teuren, hellen Sneaker, die mit jedem Schritt auf dem klebrigen Boden schnalzen.

Im Gang befindliche Personen weichen ohne ihn anzublicken spürbar zur Seite. Er selber schenkt niemanden Beachtung und fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. Er passiert die geöffnete Tür und bewegt sich aufreizend langsam zu seiner vor der Tür stehenden matt-schwarzen Limousine. Mehrfach blickt er die Straße entlang, doch in der Stille der Nacht hatte sich der Verkehr bereits eingestellt. Keinerlei Fahrzeuge passierten den dunklen Asphalt. Seine Zentralverriegelung blinkt auf, während er noch einmal einen tiefen Zug aus seiner Zigarette nimmt. Er blickt zu den umliegenden Parkbuchten, doch in der unmittelbaren Nähe parken nur ihm bekannte Fahrzeuge. Den Rest der Zigarette schnippt er auf die Fahrbahn, während er gemächlich mit der anderen Hand die Fahrertür öffnet. Er hält die Tür an der Scheibe fest, atmet den Rauch aus und lässt sich in seinen hellen Ledersitz fallen. Nachdem er die Zündung betätigt, ertönt deutsche Rapmusik mit tiefen Bässen aus seinen Boxen. Mit aufheulendem Motor fährt er in Richtung Wilstorf davon und taucht in das Dunkel der Nacht.

4

Auf dem Nachttisch beginnt das Diensthandy kurzzeitig zu vibrieren und hierzu erklingt ein bewundernder Pfiff aus dessen Lautsprecher. Auf dem Display blinkt fortan kaum merklich ein blaues LED als Zeichen der erhaltenen SMS-Nachricht.

Tim Dombrowski zeigt keinerlei Regung auf das pfeifende Geräusch. Sein Kopf liegt direkt auf der Matratze und drückt die vom Dreitagebart gezierte Wange in Richtung Nase, während das Kopfkissen unter dem Bauch liegt und den Hintern gen Decke schiebt. Sein Mund ist leicht geöffnet und präsentiert die leicht schiefen, aber dennoch gepflegten Schneidezähne.

Der draußen aufkommende Orkan pfeift durch den Schornstein und Regen prasselt immer stärker gegen die Fensterscheiben.

Wieder ertönt das Pfeifen des Handys und das surrende Geräusch der Vibration.

Es ist noch immer dunkel im Zimmer. Beim zweiten Pfeifen öffnet Dombrowski kurzzeitig die Augen. Das rote Licht des Radioweckers erscheint verschwommen vor den müden Augen des Kriminalkommissars. Diese schließen sich sogleich wieder, ohne Erkennbares registriert zu haben.

Erneut pfeift und brummt das Handy und Dombrowski öffnet kurzweilig das rechte Auge, welches von den davor fallenden Haaren verdeckt wird, so dass er auch das zweite Auge öffnet, um den Grund der Störung zu lokalisieren. Der Blick auf den Radiowecker klärt sich und dieser zeigt 04:52 Uhr. Dombrowski sieht keinerlei Grund sich um diese Zeit aus dem Bett zu bewegen und schließt erneut die Augen.

Das Bier von Gerds Pensionsfeier zeigt noch leichte Nachwirkung beim aufwachenden Verstand, der sich zunehmend den Grund der Störung erarbeitet. Hatte er sich nicht wegen einer Rufbereitschaft nach Hause bringen lassen?

Noch vor dem nächsten Pfeifen drückt sich Dombrowski ruckartig aus der waagerechten und ergreift mit der zweiten Hand das leuchtende Diensthandy, dessen Klingelton er nun trotz kurzer Nachtruhe und dezentem Kater zuordnen kann.

Wenn es sich um diese Zeit meldet, dann kann es sich nur um etwas Wichtiges handeln.

Mehrfach reibt er sich die Augen, um den erhaltenen Text endlich entziffern zu können. Als die verschwommenen Wörter eine Einheit bilden, wird ihm die Bedeutung sofort klar. Er schwingt die Füße aus dem Bett und läuft mit dem Handy zunächst ins Badezimmer, wo er sich mit kaltem Wasser die restliche Müdigkeit aus dem Gesicht spült.

Adrenalin macht sich in seinem Körper breit und während er schnellstmöglich seine Zähne putzt, sucht er in seinen Kontaktdaten nach der Rufnummer von seinem Observationsgruppenführer und wählt diesen an.

Auf Lautsprecher hört er das Klingelzeichen und spült sich zugleich den weißen Schaum aus dem Mund.

Immer wieder klingelt es, bis letztendlich abgenommen wird.

«Dumbo, watt willst Du?», tönt es aus der Leitung.

«Fred, er ist da! Er kommt! Wach auf und ruf die Anderen an. Ich melde mich in 15 Minuten mit Näherem», antwortet Dombrowski mit immer schneller werdenden Worten und Nachdruck in der Stimme, der kaum eine Widerrede zu dulden scheint.

«Hab's verstanden. Aber gib mir bitte 30 Minuten. Ich versuche alles, aber ich kann nichts versprechen. Ich melde mich bei Dir», zeigt sich Fred einsichtig.

Dombrowski springt unter die kalte Dusche, um auch die letzten ruhenden Zellen zu reaktivieren, rubbelt sich gleich wieder trocken und läuft ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank.

Auf dem Weg dorthin startet er schon einmal das Dienstlaptop, welches ohnehin ein paar Minuten zum Hochfahren der Systeme benötigt.

Mit Jeans und T-Shirt bekleidet sowie einem Sockenknäuel in der Hand begibt er sich zu seinem Küchentisch, wo er das startende Laptop kurzzeitig betrachtet. Es lässt ihm offenbar noch ausreichend Zeit, um sich ein Müsli zuzubereiten und einen Kakao anzurühren.

Eigentlich wäre wohl ein starker Kaffee zur Erweckung der Lebensgeister angebracht, jedoch konnte Dombrowski sich noch nie für das dunkle Heißgetränk erwärmen.

Die Außenrollos klappern im Sturm, während die Eingangsmelodie zum Betriebssystem blechern aus den Lautsprechern des Notebooks ertönt. Dombrowski setzt sich an den Küchentisch und aktiviert einen verschlüsselten Kanal über den er sich ins Polizeinetz einwählen kann.

Er öffnet das Programm mit dem er die Telefone überwacht und wählt die Rufnummer aus, dessen Alarmierung seine Nachtruhe vor kurzem beendet hatte. «Bist Du also endlich nach Deutschland eingereist. Mal schauen wo Du bist», spricht Dombrowski zu sich selbst, während er in dem Programm herumklickt.

Ein roter, sich fortbewegender Kreis erscheint auf dem Display, der sich erstmalig an diesem Tag um 04:42 Uhr auf der A280 kurz vor Bunde an der deutsch-niederländischen Grenze eingewählt hat.

«Noch zweieinhalb Stunden, mein Freund, dann haben wir dich.» Dombrowski grinst und nimmt einen genüsslichen Schluck aus seiner Becher.

5

Der silberne Transporter von Ruud van der Boek fährt inzwischen auf der Autobahn zwischen Oldenburg und Bremen und hat den grenznahen Bereich verlassen. An der Autobahn wechseln sich die vielen braunen Äcker, auf denen sich im Sommer immer endlos gelbe Rapsfelder befinden, kurzzeitig mit grauen Industriegebieten ab. Der Verkehr ist noch sehr überschaubar. Wenige Lastkraftwagen befinden sich bereits wieder auf dem Weg zu ihrem Ziel. Gelegentlich zischen Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit, trotz der widrigen Umstände, auf der linken Fahrbahn der zweispurigen Autobahn an Ruud vorbei. Die meisten scheinen jedoch, das schlechte Wetter zu meiden und sich noch nicht auf die Schnellstraße zu begeben.

Ruud versucht, sich gerade Kaffee aus seiner silbernen Thermoskanne in einen großen Pappbecher zu gießen, der perfekt in den Getränkehalter seines Transporters passt.

Aus seinem Rucksack zieht er zusätzlich eine Tüte mit zwei backfrischen Buttercroissants heraus, die er vor jeder Fahrt bei seinem Kumpel Luuk an der Hintertür von dessen Bäckerei in Groningen rausholt. Ruud liebt es, ein Frühstück einzunehmen, sobald er auf der deutschen Autobahn angekommen ist. Mit ruhiger Geschwindigkeit begibt er sich dann auf den rechten Fahrstreifen, trinkt seinen zu Hause noch selbst gebrauten Kaffee aus Guatemala und reißt sich Stück für Stück vom Croissant ab.

Hierbei gerät er nie in Eile, denn er weiß um die bevorstehenden zweieinhalb Stunden Restzeit, die es noch mit Unterhaltung zu füllen gilt. Er hatte es ab diesem Zeitpunkt auch mal mit Hörbüchern versucht, aber das stört seine Konzentration zu sehr und macht ihn deutlich nervöser, als dass es die Aufregung vertreibt. Während sich die ersten Krümel des Croissants in seinem Schnurrbart verfangen, greift Ruud zu seinem einfachen Tastentelefon und schreibt eine Nachricht an den darin abgespeicherten Kontakt "Aaa" mit dem Inhalt "2,5h".

Er legt das Telefon wieder zurück und trinkt einen kurzen Schluck Kaffee, der ihm noch ein wenig zu heiß ist, schaut in den Spiegel und lächelt sich selbst zufrieden zu.

Zum vollendeten Glück fehlt ihm nur noch der Sonnenaufgang im Osten, der den Himmel über dem flachen, grünen Niedersachsen bis zum Horizont in die schönsten orange-roten Töne taucht. Vor allem, wenn leichte Wolken am Himmel stehen und sich von weiß in zartes rosa färben, dann fühlt er sich dem Paradies näher denn je.

Heute soll ihm der Sonnenaufgang jedoch nicht vergönnt sein. Mit peitschenden Hieben schlagen die Böen mit Regenwasser gegen seine Frontscheibe. Der Wind drückt auch weiterhin gegen seinen großflächigen Transporter, so dass er sich voll auf die Fahrt konzentrieren muss und das Frühstück eher nebenbei einnimmt.

Zusätzlich brummt und piept nun sein Handy in der Ablage. Ruud überlegt kurz, erst nach seiner Frühstückszeremonie nachzuschauen, aber er zögert lieber nicht.

Aaa hat ihm "ok" geschrieben. Mehr braucht es in diesem Moment auch nicht und so legt er das Handy zurück an seinen Platz, schnippt die Krümel von seiner hellen Discounterjeans und beißt herzhaft ins Croissant, so dass die nächsten Krümel fliegen.

Zufrieden schaut er auf den dunklen Asphalt, denn trotz des Wetters bleibt Ruud zuverlässig wie gewohnt.

Gedankenverloren träumt er von seiner ruhigen Zukunft in Ruud's Bistro, trinkt seinen geliebten Kaffee und isst genüsslich seine Croissants. Hierbei vernimmt er nicht die im Radio gemeldeten aktuellen Verkehrsmeldungen für den Großraum Hamburg.

6

Mitten in Dalldorf kurz vor Hamburg steht ein weißes Haus, mit einem großen Garten, in dem bis in die Nacht noch gefeiert wurde. Inzwischen hat der Sturm mit Regen das Sagen übernommen. In den Straßen des kleinen Dorfes, in dem sich ein jeder kennt, ist kein Mensch zu solch früher Uhrzeit unterwegs.

Vor dem Haus stehen drei Wohnmobile, die im Wind geschaukelt werden. Die mühsam aufgehängte Dekoration der Feier fliegt über die Straße und verfängt sich in den gepflegten Hecken und Gärten der Umgebung. Der im Boden verankerte Pavillon kämpft mit aller Kraft gegen den Wind und kann sich bislang dessen erwehren.

Über eine kleine Treppe gelangt man aus dem Vorgarten in das Haus, aus dessen gefliesten Flur eine Steintreppe in den Keller führt. An den Wänden des Treppenhauses hängen auf Leinwand gedruckte Fotos von Nordlichtern und verschneiten Landschaften. Im Keller angekommen beginnen großflächige, graue Steinfliesen, die dem Keller ein edles Ambiente verleihen. An der Wand befinden sich Plaketten und Abzeichen verschiedener Polizeidienststellen sowie mehrere Filmplakate von Filmklassikern. Durch eine Holztür gelangt man in den größten Raum des Kellers, in dem sich der Steinboden fortsetzt. Der Raum teilt sich auf in einen Schankbereich mit Tresen, drei Barhockern, einem großen, amerikanischen Kühlschrank mit Eiswürfelspender sowie einer bunten Jukebox mit alten Schallplatten der 60er- und 70er-Jahre. Auf der anderen Seite befindet sich ein gemütlicher Fernsehbereich mit Couch, Sessel, einem großen Fernseher sowie einem Hochflorteppich zwischen den Möbeln.

Laut schnarchend liegt Gerd noch immer in seinem Fernsehsessel. Er hält das Schnapsglas des letzten Schluckes in der Hand, zumindest liegt es noch auf seiner Handfläche. Gelegentlich läuft ein Tropfen Amarillenschnaps aus dem Glas über seine kräftigen Finger und fällt von der Spitze des kleinen Fingers auf das blaue Velours des Sessels.

Durch den Sturm ist es draußen erheblich abgekühlt, was sich auch auf den Keller niederschlägt, dessen Fenster auf Kipp stehen und der frischen Luft Zugang gewähren.

Gerd liegt in seinem Sessel noch mit kurzer Cargohose und seinem auf der Feier erhaltenen schwarzen T-Shirt, auf dem in weißen Lettern "Ich war Bulle" geschrieben steht.

Die Größe XL ist knapp gewählt und so grüßt ein wenig vom behaarten Bauch zwischen Hosenbund und T-Shirt.

Die sonst so exakt nach hinten gekämmten Haare fallen langsam zur Seite, weil auch der Kopf sich seitlich gelegt hat und sich passend zur Schlafakkustik auf und ab bewegt.

Plötzlich rührt sich nichts mehr bei Gerd. Der Brustkorb bewegt sich weder auf noch nieder, es sind auch keine Atemgeräusche mehr zu vernehmen.

Letzte körperliche Anspannung entzieht sich aus Gerds Fingern, wodurch auch das Schnapsglas leicht abwärts rollt. Der Kopf sinkt tiefer gen Brust, die Wangen erschlaffen zunehmend.

Leichtes Gurgeln, als würde ein letzter Tropfen Orangensaft von einem Kind mit dem Strohhalm aus einem Glas gesogen werden, ist zu hören. Stille.

Das Schnapsglas rollt aus den Fingern und zerspringt am Steinfußboden. Mit einem erschreckend lauten Schnarcher weckt Gerd sich selbst und saugt die frische Herbstluft in seine Lungen, während er sich langsam aufrichtet.

Mit der rechten Hand greift er sich an den überdehnten Nacken, während er sich wortlos mit der Linken aus seinem Fernsehsessel drückt und im Anschluss den Dienstausweis in seine Hosentasche steckt.

Mit schleppenden Schritten bewegt er sich zur Kellertreppe und schleicht die Stufen hinauf. Sein Kopf pulsiert unter den zugefügten Promillen und schreit nach frischem Wasser. Er ignoriert die Rufe und steigt willenlos in das Obergeschoss, wo er bereits von dem Schnarchen seiner Dörte in Empfang genommen wird. Heute stört es ihn nicht. Er ist froh, dass er sie hat und legt sich zu ihr ins Bett, wo er direkt wieder einschläft.

7

In der Winsener Straße im beschaulichen Hamburg-Wilstorf beginnt langsam der erste Berufsverkehr. Kastenwagen von Handwerksbetrieben, Klein- und Mittelklassewagen bewegen sich im schleichenden Tempo stadteinwärts in Richtung Hamburg.

In Harburg bezeichnet sich niemand als Hamburger. Man fährt höchstens nach Hamburg oder in die Stadt. Ebenso geht es den Hamburgern, die alles südlich der Elbe nicht mehr als Hansestadt anerkennen.

Harburg besitzt ein eigenes Stadtzentrum, ein eigenes Rathaus und Gericht, ein Einkaufszentrum und ein großes Erlebnisbad.

Viele Hamburger sind auf Grund der Hamburger Mieten allerdings inzwischen gezwungen in die Randgebiete und somit auch nach Wilstorf zu ziehen.

Mitten im Berufsverkehr ertönt das laute Grollen der tiefliegenden Sportlimousine von Faruk Simsek. Er fährt allerdings stadtauswärts und somit den meisten Berufspendlern entgegen. Auf seiner Straßenseite fahren kaum Fahrzeuge. Mal gibt er Gas und lässt den Motor schwer aufstöhnen und jede Pferdestärke in die Fahrbahn greifen, um dann wieder das Tempo zu reduzieren, kurzzeitig vor einer Ampel in eine Parklücke zu biegen, um so den nachfließenden Verkehr zu beobachten.

Sobald die Ampel auf Rot springt, fährt er noch über die Haltelinie und biegt ohne zu blinken direkt ab. Zumeist blickt er in den Rückspiegel, während er wie von Sinnen mit Vollgas durch das angrenzende Wohngebiet fährt, mehrfach abbiegt und dann wieder abbremst und in einer Parklücke in einer verkehrsberuhigten Zone zum Stehen kommt.

Er schaltet den Motor aus und steigt aus dem Fahrzeug. Faruk zündet sich eine Zigarette an und zieht mehrfach stark am Filter, so dass die Glut an ihrem Ende stark aufglüht. Der Blick wandert immer wieder zu der Richtung aus der er kam. Der Wind zerrt an seiner Kleidung und der immer stärker werdende Regen treibt ihn zurück in sein Fahrzeug.

Den Rest seiner Zigarette lässt er noch auf den Gehweg fallen, wo sie in eine Pfütze fällt und erlischt.

Faruk startet wieder den Motor und die weißlich-blaue Beleuchtung seines Armaturenbretts hüllt sein Gesicht in einen leichten Schimmer.

Mit aufbrausendem Motor und quietschenden Reifen setzt er sein Fahrzeug wieder in Bewegung, so dass einzelne Anwohner aus ihren Fenstern schauen, was dort draußen vor sich hergeht. Die mattschwarze Limousine ist zu diesem Zeitpunkt jedoch längst in die nächstliegende Straße abgebogen.

Faruk nimmt das Gelb der Ampel gerade noch mit und biegt links auf die kreuzende Hauptstraße, wo er zunächst drei Autos auf der linken Fahrspur überholt, um sogleich mit Vollgas eine Lücke zwischen zwei Fahrzeugen zu nutzen und auf die Auffahrt zur Bundesstraße zu fahren.

Der Fahrer des riskant geschnittenen Kleinwagens bedient vehement die Hupe. Er pöbelt dem dunklen Gefährt und dessen Fahrer mit rüdem Fahrverhalten nach, doch das nimmt Faruk nicht wahr. Er treibt sein Fahrzeug auf immer höhere Geschwindigkeiten und reduziert diese erst wieder auf eine normale Geschwindigkeit, als er auf die Wlhelmsburger Reichsstraße gelangt. Zu oft wurde er hier bereits geblitzt und verursachte dem Halter seines Autos immer wieder Probleme bei eingehenden Bußgeldbescheiden.

Der wird dafür ausreichend entlohnt, sich nicht zum Fahrer zu äußern. Faruk selber dürfte gar kein Auto besitzen, weil die Sozialbehörde ihm ansonsten seine Bezüge kürzen oder gar streichen würde, wenn sie davon wüssten, dass er ein solches Fahrzeug erworben hat. Über den Halter läuft auch die Finanzierung. Er hat einen Job und konnte als Geselle in einem Handwerksbetrieb die Bonitätsprüfung der Bank ohne Beanstandung überstehen. Hierfür bekommt er jeden Monat die Rate in bar und ein wenig zum Feiern und Chillen. Es war praktisch eine Win-Win-Win-Situation für Faruk, seinen Halter und den Verkäufer von der Luxuslimousine, denn alle hatten, was sie wollten.

Selbst wenn Faruk seine Wohnung nicht vom Amt bezahlen lassen würde, wäre es problematisch, wenn er das Fahrzeug auf seinen Namen anmeldet, denn so kämen die Bullen ja auf ihn als Fahrer im Abgleich mit den zahlreichen Blitzerfotos und wenn er einen Führerschein hätte, dann wäre dieser sicherlich schon längst in Flensburg.

So spart er sich diese Sorgen und fährt gleich ohne Führerschein munter mit seinem matt-schwarzen Sportboliden durch Hamburg, ohne sich Sorgen zu machen, dass ihm oder seinem Auto was passieren könnte.

Und wenn er doch mal wegen Fahren ohne Führerschein erwischt werden sollte, dann zahlt er halt die paar hundert Euro an die Staatskasse. Als Sozialhilfeempfänger liegt der Tagessatz sowieso nur bei fünf Euro pro Tag und von Bekannten weiß er, dass bei den ersten Malen nur Geldstrafen verhängt werden. Und wann wird man heutzutage schon von den Bullen kontrolliert, die haben ganz andere Sorgen, als sich um ihn zu kümmern.

Die niedrige Geschwindigkeit auf der Wilhelmsburger Reichsstraße veranlasst Faruk sein Smartphone aus der Hosentasche zu ziehen und seine Freundin Charleen anzurufen. Zumal er gerade mitten durch ihren Stadtteil fährt.

Faruk sucht nach dem Namen "Canim" in seinen Kontakten und wählt den Anruf. Es klingelt mehrfach, bis ein leichtes Klicken in der Leitung zu vernehmen ist.

Müdes Schnaufen ist zu hören. Charleen stöhnt leicht auf und säuselt ein gequältes „Schatz“ in die Leitung.

«Baby, was machst Du?», fragt Faruk irritiert.

«Schlafen….», antwortet Charleen nüchtern ehrlich.

«Was ist los mit Dir? Du hörst Dich total fertig an.»

«Schatz, ich schlafe noch. Was willst Du?», antwortet Charleen.

«Baby, wie redest Du mit mir?», regt sich Faruk auf. «Ich wollte deine Stimme hören, dies das, und du kommst mir so, Baby.»

«Schatz, ich bin noch müde. Es ist mitten in der Nacht, Schatz. Was machst Du?»

«Scheiß mal drauf, Baby. Leg Dich hin und penn' weiter, Baby, statt mit mir zu sprechen. Tss», schnalzt Faruk, während er kräftig die Nase hochzieht. Seine Augen treten vor Wut hervor, während er verächtlich auf das Display seines Telefons blickt.

«Was ist denn? Was habe ich denn getan, Schatz. Was machst Du?», fragt Charleen irritiert, aber Faruk schreit nur noch «Halt's Maul, du dreckige Schlampe. Den ganzen Tag stalkst Du mich mit deinen Anrufen und jetzt willst Du lieber pennen, wenn ich anrufe, digger. Ich hab' zu tun. Vergiss es. Tschüss!» Er beendet das Gespräch und streicht sich anschließend mit der Hand durch die Haare und beginnt seinen Bart nach vorne zu streichen.

Charleen liegt im Bett ihrer Einzimmerwohnung im zwölften Stock eines Mehrfamilienhauses im Karl-Arnold-Ring in Hamburg-Kirchdorf. Sie versteht nicht, warum sie Faruk schon wieder so provozieren musste, dass er sein Temperament nicht mehr im Griff haben kann, aber sie nimmt sich fest vor, dass sie das nächste Mal besser gelaunt ans Telefon gehen würde, um ihn nicht wieder zu verärgern. Nun will sie sich aber noch einmal hinlegen, denn in einer Stunde muss sie aufstehen, um sich für die Arbeit in einer nahe gelegenen Kindertagesstätte fertig zu machen. Dort hat sie vor kurzem ein Ausbildung begonnen. Eventuell meldet sie sich aber auch krank, falls Faruk anruft und sich mit ihr treffen will.

Faruk selbst hat das Telefonat bereits wieder vergessen und fährt von der Wilhelmsburger Reichsstraße direkt auf die A1, um sich langsam dem eigentlichen Ziel der Fahrt zu nähern.

Er hat aber noch Zeit, viel Zeit bis zu dem Treffen, für das er vor Ort sein muss. Er beobachtet aufmerksam den Verkehr hinter sich. Seit Wilhelmsburg befindet sich ein grauer Familienwagen hinter ihm, der stets den gleichbleibenden Abstand zu ihm hält, immer ein, zwei Autos zwischen sich und der Limousine von Faruk lässt. Faruk reduziert seine Geschwindigkeit auf 80 Kilometer pro Stunde und beobachtet den Mittelklassewagen, während er sich langsam der nächsten Autobahnabfahrt nähert. Auf einer blauen Tafel steht sie mit 2000 Metern angeschlagen.

Der Verfolger reduziert zunächst die Geschwindigkeit, fährt jedoch weiterhin schneller als Faruk und der zwischen ihnen befindliche silberne Kleinwagen und wechselt auf die linke Spur. Faruk beobachtet abwechselnd den grauen Wagen und die näherkommende Abfahrt.

Als das verfolgende Fahrzeug auf seine Höhe kommt, blickt Faruk zu dem Fahrer des grauen Familienwagens hinüber. Er hat braune Haare und einen klar gekämmten Scheitel zur linken Seite. Er trägt ein Hemd und darüber eine Allwetterjacke in schwarz. Während er an dem Fahrzeug von Faruk vorbeifährt, würdigt er der auffälligen schwarz-matten Limousine keines Blickes, sondern konzentriert sich auf die nasse Fahrbahn und den seitlichen Sturm, der die Fahrzeuge immer wieder mit seinen Böen leicht aus der Spur drängt.

Im letzten Moment vor dem Ende der Ausfahrt zieht Faruk seine Limousine auf die rechte Spur der Abfahrt und schaut gleich wieder zu dem Fahrer hinüber, der dem riskanten Manöver sichtlich irritiert nachsieht, bevor er sich wieder auf die eigene Fahrbahn konzentriert.

«Hab ich dich, du Arschloch», freut sich Faruk lautstark zu seinem gelungenen Manöver, um den leidigen Verfolger los zu werden. «Dreckiger Bullenbastard!», schimpft er, streicht sich mit der rechten Hand über den Bart und beginnt ihn an der Spitze zu zwirbeln. Zufrieden und mit selbstherrlicher Miene fährt er weiter auf die Ringstraße, die ihn über den Horner Kreisel wieder auf die A24 bringen soll. um sich ohne hartnäckige Verfolger dem eigentlichen Ziel zu nähern.

8

Der Sturm peitscht mit scharfen Böen durch die Straßen in Hamburg. Die Bäume im Eichtalpark biegen sich im Wind und niemand nutzt die frühen Morgenstunden, um sich durch Walken oder Jogging körperlich zu ertüchtigen. Die Wege sind vom starken Regen aufgeweicht und in jeder Mulde sammelt sich das herabfallende Wasser zu großen Pfützen. Selbst die Enten haben sich zurückgezogen und kauern unter Bäumen und Büschen in der Hoffnung auf baldige Verbesserung der Wetterlage. Sie stecken den Kopf einfach in ihr Gefieder.

In einer Dreizimmerwohnung mit Blick auf den Eichtalpark sitzt vor einer leeren Müslischale, einer leeren Tasse und seinem dienstlichen Laptop der Kriminalkommissar Tim Dombrowski. Er verfolgt gebannt die Bewegung der überwachten Rufnummer auf dem Bildschirm.

Der Nutzer befindet sich inzwischen schon hinter Oldenburg in Richtung Delmenhorst und wird bald Bremen erreichen, wo er auf die A1 in Richtung Hamburg fahren dürfte.

Dombrowski wollte eigentlich schon längst ins Büro aufbrechen, aber noch lauert er auf den Rückruf von Fred, der ihm die Unterstützung seiner Gruppe zusagen muss.

Ohne unterstützende Kräfte braucht er gar nicht ins Büro fahren, sondern kann den Laptop gleich wieder zuklappen, denn er weiß bislang weder, wer der Nutzer ist, noch was er für ein Auto fährt.

Eine erste Weg-Zeit-Berechnung der Geschwindigkeit ergab, dass der Nutzer der Rufnummer zwischen 110 und 120 Kilometer pro Stunde fahren dürfte. Einen Lastkraftwagen konnte er somit bereits als genutztes Fahrzeug ausschließen. Ansonsten ist alles möglich.

Mehrfach nahm Dombrowski bereits sein Smartphone in die Hand und suchte in der Rufliste den Kontakt von Fred raus, aber er zügelt stets seine Ungeduld und beachtet die von Fred gewünschte Frist.

Er legt gerade wieder sein Smartphone auf den Tisch zurück, nachdem er geschaut hat, wie lange das letzte Telefonat her ist.

Vor 25 Minuten hatten die beiden miteinander telefoniert. In fünf Minuten würde er also Fred ohne schlechtes Gewissen anrufen und nachhaken können.

Er hätte schon längst die Kollegen seiner Dienststelle alarmiert. Aber die liegen vermutlich noch alle mit dickem Kopf nach dem großen Fest von Gerd am Vorabend in ihren Betten und schlafen ihren Rausch aus.

Bei dem Gedanken an Gerds Pensionierung wird Dombrowski gleich nachdenklich. Sie werden einen solchen Typen schwer an ihrer Dienststelle ersetzen können. So wie er kann man nicht werden. So ist man oder ist es eben meistens nicht.

Die Warterei macht Dombrowski wahnsinnig. Er verwirft schnellstmöglich die sentimentalen Gedanken, klemmt das Laptop halb geöffnet unter den Arm, schnappt sich seine Jacke und die Autoschlüssel und läuft die drei Etagen hinab bis in den Keller. Durch den Keller kommt er auf die Rückseite des Hauses, wo sein Wagen geparkt steht.

Dombrowski beugt sich vor das Laptop, um es nicht dem Wetter auszusetzen und rennt zu seinem Fahrzeug, wo er es auf dem Beifahrersitz stellt und schnellstmöglich auf der Fahrerseite von seinem kleinen Zweisitzer einsteigt.

«So ein Dreckswetter», flucht er noch, bevor er den Motor startet und rückwärts aus seiner Parklücke hinausfährt.

Er gibt Vollgas und der kleine Wagen röhrt die Walddörferstraße hinab in Richtung Hamburger Ringstraße, über die er schnellstmöglich zum Präsidium gelangen will.

In diesem Moment klingelt sein Telefon. Endlich der ersehnte Anruf von Fred. Auf dem Display erscheint dessen Name und Dombrowski streicht über die grünen Pfeile, um den Anruf entgegen zu nehmen.

«Fred, mein liebster Freund, ich akzeptiere nur gute Nachrichten», begrüßt er frohlockend seinen Hoffnungsträger.

«Ja, das habe ich nicht anders erwartet. Ich konnte bereits sechs Leute mobilisieren, vielleicht kommen noch ein, zwei hinzu, die ich bislang nicht erreichen konnte. Es kann also losgehen. Wo ist denn unser unbekannter Freund gerade?», antwortet ein spürbar motivierter Fahnder.

Dombrowski verlangsamt seine Geschwindigkeit und aktualisiert seine Übersicht auf dem Laptop. Das Handy stellt er auf Lautsprecher und steckt es in seine Schublade unterhalb des Radios.

«Er ist im Moment ungefähr 20 Kilometer vor Delmenhorst. Die bisherige Strecke ist er mit 110 bis 120 Stundenkilometern gefahren.

Ich bin in 15 Minuten im Büro und komme dann zu euch auf den Kanal. Ich rechne gleich nochmal nach, ob er die Geschwindigkeit inzwischen geändert hat. Auf gutes Gelingen, mein Bester!»

«Hör auf mir zu schmeicheln. Wir fahren ihm entgegen soweit wir kommen und versuchen dann die Nadel im Heuhaufen zu finden. Bis gleich dann.»

Fred beendet das Gespräch und Dombrowski konzentriert sich wieder voll auf die Fahrt zu seinem Arbeitsplatz.

Die Baustellen auf den Straßen in Hamburg verengen die Wege, aber um halb sechs sind sie zum Glück auch ausreichend frei. Dombrowski kommt schnell zum Polizeipräsidium durch, wo er direkt davor einen Parkplatz findet und mit dem Laptop unterm Arm in das sternförmige Gebäude rennt.

Der Polizeistern ist ein eindrucksvolles Gebäude mit seinen zehn Fingern, die von einem runden Mittelbau strahlenförmig in alle Himmelsrichtungen abgehen.

Innen drin ist das fünfstöckige Gebäude jedoch häufig eine Baustelle. Schnell merkte man, dass es eigentlich zu wenig Platz hat und die eine oder andere Sache einfach beim Bau nicht berücksichtigt wurde. Es ist ein klassischer Bau der öffentlichen Hand, nur mit dem Allernötigsten bedacht und dafür im Ergebnis wiederum viel zu teuer.

Mit seinem Dienstausweis gelangt Dombrowski schnell durch die Eingangsschleuse und zu seinem Bürotrakt des Rauschgiftdezernats.

Wie immer um diese frühe Zeit brennt nur in einem einzigen Büro auf dem Flur das Licht. Otto Kuhnert sitzt mal wieder an seinem Platz und starrt in seinen Bildschirm. Früher, als in den Büros noch geraucht werden durfte, hätte man ihn vor blauem Dunst kaum erkennen können in seinem Zimmer. Das hat sich mittlerweile jedoch geändert und so nutzt er stündlich den Gang in die offene Tiefgarage, um seinem Laster zu frönen. Seine übrigen Nahrungsmittel lauten Kekse und Kaffee und so sieht er auch aus. Mit wachem Blick und leichtem Bauchvorsprung tippt er wie wild in seinen Computer und nutzt die ruhigen Stunden des frühen Vogels, um die ersten Eintreffenden mit Ermittlungsergebnissen zu überraschen.

Erschrocken blickt Otto aus seinem Büro, als ihm gegenüber plötzlich das Licht angeht.

«Dumbo, watt willst Du denn schon hier? Aus'm Bett gefallen oder was ist da los?», begrüßt er in gewohnt freundlicher Manier den als Langschläfer verschrienen Dombrowski.

«Ich richte mich halt nach unserem Gegenüber und nicht nach meiner senilen Bettflucht», antwortet Dombrowski.

«Arschloch!», erwidert Otto fast liebevoll mit einem Grinsen auf den Lippen.

«Wir hatten doch diesen anonymen Hinweis auf einen Lieferanten von großen Mengen Kokain und Marihuana aus den Niederlanden nach Hamburg. Er soll unbeschriebene Personen als Rauschgiftkuriere nutzen, um die Betäubungsmittel hierher zu transportieren. Die vom Hinweisgeber genannte Rufnummer des Lieferanten wurde leider nicht mehr von ihm genutzt. Das hat unsere Telefonüberwachung bereits ergeben. Die Rufnummer von dem Lieferanten ist auf einen nicht real existenten Anschlussinhaber angemeldet. Somit brachten uns diese Daten nicht weiter. Aber wir haben durch einen Beschluss des Amtsgerichts die bisherigen Verkehrsdaten der Rufnummer erhalten. Der frühere Nutzer der Rufnummer hat mit zwei niederländischen Rufnummern in den vergangenen Monaten telefoniert, die ja durchaus den Rauschgiftkurieren gehören könnten. Wir konnten letzte Woche über den Staatsanwalt Beschlüsse zur Überwachung dieser Rufnummern beim Amtsgericht erwirken. Bislang lief über die Nummern nichts. Sie waren zwar eingeschaltet, aber im Ausland aufhältig. Vor gut 50 Minuten wurde ich von dem Bereichsalarm geweckt, dass die Nummer nach Deutschland eingereist ist.

Fred fährt dem Nutzer der Rufnummer gerade entgegen und dann suchen wir mit den Geodaten aus der Handyüberwachung nach dem Fahrzeug, dass im Bereich des Handys fährt.»

«Klingt doch schon einmal nach 'nem Plan. Und was wollt ihr dann machen?», fragt Otto wissbegierig, während er sich mehrfach mit der Zunge über die Lippe fährt und anschließend langsam mit der Hand über den Mund streicht.

«Erstmal müssen wir ihn finden und dann schauen wir mal, was möglich ist. Wir haben bislang keine Ahnung, wer es ist oder womit er fährt», resümiert Dombrowski. Er geht zurück in sein Büro und startet den Rechner, während er die Nummer von Fred wählt.

9

Am Dreieck Stuhr biegt ein silberner Kastenwagen auf die A1 in Richtung Hamburg. Auf seinen Seiten trägt er keinerlei Werbung oder Aufschriften, die einen Hinweis auf seine Herkunft oder den Besitzer zulassen. Lediglich die gelben Kennzeichen mit schwarzer Schrift geben Rückschluss darauf, dass der Halter aus den Niederlanden stammen dürfte.

Das Fahrzeug befindet sich in einem astreinen Zustand, es wirkt gar so, als wenn es extra vor der Fahrt und trotz des angekündigten Unwetters gewaschen wurde. Der Lack des Transporters blitzt und blinkt, wenn vorbeifahrende Fahrzeuge, die ihn auf der linken Spur überholen, mit ihren Scheinwerfern kurzzeitig anleuchten.

Der Regen ist ein bisschen weniger geworden und so schaffen es inzwischen auch die Scheibenwischer wieder, das gesamte Regenwasser mühelos von den Scheiben zu wischen. Sie müssen nicht einmal mehr in voller Geschwindigkeit agieren und die Böen sind auch nicht mehr so stark, dass der Fahrer stets Sorge haben muss, in die Böschung der Fahrbahn gedrückt zu werden.

Ruud van der Boek hat inzwischen sein Frühstück abgeschlossen und fährt wieder mit 130 Stundenkilometern, die er auch in den Niederlanden gewohnt ist zu fahren. Eine höhere Geschwindigkeit findet er nicht zweckfördernd, denn ein Kastenwagen mit hoher Geschwindigkeit empfindet er persönlich immer als auffällig. Zudem würde er nur wesentlich mehr Benzin verbrauchen und dieses Geld muss er von seinem Lohn selber tragen. Ebenso den Unterhalt für das Fahrzeug und die eingebauten Besonderheiten, die er für seinen Job benötigt.

Außerdem will er nicht vor der Zeit am altgedienten Umschlagplatz erscheinen. Er müsste dann sowieso auf den Empfänger warten. Die sind erfahrungsgemäß sowieso nie pünktlich. Sie beklagen immer nur, wenn die Fahrer nicht rechtzeitig kommen, aber wenn die Fahrer warten müssen und dadurch unnötiges Risiko eingehen, das ist denen immer egal.

Ruud liebt es zu fahren. Rumstehen hingegen, mag er gar nicht, aber wenn er im gleichmäßigen Tempo auf einer Autobahn fährt, die Landschaften an ihm vorbeifliegen und er kurzzeitige Einblicke bei anderen Wegbegleitern erhält, dann fühlt er sich rundum wohl.

Manchmal überholen ihn Familien, die früh morgens mit ihrem Kombi an ihm vorbeiziehen und den Kofferraum voll mit Gepäck haben, teilweise sogar mehrere Fahrräder auf dem Dach oder auf der Anhängerkupplung mit sich führen. Dann gerät er immer in Erinnerungen, wie er mit seiner Familie mit dem Auto nach Südfrankreich oder Dänemark aufbrach, um einen wundervollen Urlaub vom Alltagsstress zu erhalten. Als Selbstständiger war es zwar schwer möglich den Club alleine zu lassen, aber es fanden sich immer Wege. Damals hatte er auch noch gute Mitarbeiter, die alles in seinem Sinne fortführten, während er mit seinen beiden Söhnen Jan und Jeroen sowie seiner Frau Britt in den Sommerferien mehrere Wochen ausspannte.

Ruud liebt seine Erinnerungen an die schönen Tage in seinem Leben. Sowieso tut er das alles nur, um seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen. Er weiß, dass er ein großes Risiko eingeht, aber er sieht seine einzige Chance darin, der Familie auch weiterhin den gewohnten Lebensstandard zu ermöglichen.

Sein Arbeitseifer für den Club hatte damals seine Beziehung zu Britt stark strapaziert. Er kämpfte Tag und Nacht für den Club, auch für den Lebensstandard der Familie und vergaß dabei total, dass sie auf diese Weise nichts von ihm hatte. Sie entfernten sich zunehmend voneinander bis er die Reißleine zog und den Club abgab.

Durch den neuen Job hatte er wieder viel mehr Zeit mit seiner Familie, hatte auch weiterhin gutes Geld zur Verfügung und konnte den verbleibenden Rest nutzen, um zumindest die Zinsen seiner Schulden zu zahlen. In guten Tagen oder wenn er mal wieder mehr Touren fuhr, als er sich eigentlich im Sinne der Familie vornahm, tilgte er auch mal größere Beträge bei seinen Gläubigern.

Doch so richtig bewegt es nichts an seiner Restschuld. Es gab immer wieder unvereinbarte Strafzinsen für Zahlungsverzug oder Unstimmigkeiten zwischen der eigenen Vorstellung der Restschuld und der Vorstellung derjenigen, die ihm sofort deutlich machten, dass ihre Vorstellung die richtige Einschätzung ist.

Manchmal glaubt Ruud, dass er ewig für Sie fahren müsste, um die Schulden bezahlen zu können oder aber so viel fahren und zahlen könnte wie er will, die Schulden aber dennoch bleiben würden. Aber sie lassen ihn leben. Gut leben sogar. Er verdient mehr als zu den guten Zeiten seines Clubs und das mit wesentlich weniger Arbeit. Und fahren mag er ja sowieso gerne.

Ruud unterbricht die vielen Gedankenspiele und Träumereien, denn mit einem Jingle werden im Radio die Verkehrsmeldungen angekündigt.

«A1 - Bremen in Richtung Hamburg, zwischen dem Maschener Kreuz und Hamburg-Harburg ist durch den Orkan Axel ein Tanklaster umgekippt und vollständig ausgebrannt. Es wird gebeten, den Unfallort weiträumig zu umfahren.»

Das gute Gefühl des Morgens ist umgehend bei Ruud verflogen. Genau dort muss er lang, um an seinen Zielort zu gelangen.

Er verschafft sich kurz Luft zum klaren Denken, indem er lautstark auf Niederländisch flucht und mit der Hand mehrfach auf sein Lenkrad schlägt.

Ruud beginnt sofort krampfhaft zu überlegen, wie er fahren könnte. Über die A7 will er nicht fahren, dann müsste er durch das gesamte Hamburger Stadtgebiet, was er tunlichst vermeiden möchte. Ebenso wenig will er über die Wilhelmsburger Reichsstraße zu seinem Ziel gelangen. Bis er dort eintrifft, würde der gesamte Hamburger Berufsverkehr feststecken. Er könnte Stunden im Stau stehen und den Termin somit nicht einhalten.

Mehr Strecken fallen ihm auf Anhieb nicht ein. Er wird erst einmal anhalten, um auf einen Straßenplan zu schauen. In diesem Moment hasst er sich dafür, dass er kein Smartphone mehr hat, dass ihm die schnellsten Wege aufzeigen könnte. Auch sein Transporter ist zwar noch gut in Schuss für sein Alter, aber verfügt ebenfalls nicht über ein Navigationsgerät.

Er beschließt an der Raststätte Grundbergsee erst einmal abzufahren und ein wenig Geld für einen Straßenatlas zu investieren. Den kann man immer mal gebrauchen, wenn so etwas wieder passiert und früher ist er auch mit Straßenkarten an jeden Urlaubsort gekommen, egal ob am Mittelmeer oder an der Nordsee.

10

In der Wilstorfer Straße beginnt langsam wieder das Leben auf den Straßen. Erste Mitarbeiter, der im Phönix Center liegenden Geschäfte, kommen zur Arbeit. Dick eingehüllt in regenfester Kleidung oder mit Regenschirm, der jedoch auf Grund der Böen mit beiden Händen festgehalten werden muss.

Auch im Café International leeren sich langsam die Tische. Durch den Wind und die offene Eingangstür verzieht sich der blaue Dunst aus der Lokalität.

Das Gemurmel im Raum hat nachgelassen und die Geräusche der piependen Spielautomaten übernimmt die akustische Kulisse des Cafés.

An Cemals Tisch sitzt inzwischen ein junger Deutscher, vielleicht Mitte zwanzig mit strohblondem Haar und dunkelbraunen Augen. Er ist braungebrannt und sein Körper konnte seine Form unmöglich nur von Hanteln und hartem Training haben. Er hat Arme wie andere Beine haben, die vom Handgelenk bis zum T-Shirtärmel mit dunklen Skeletten, Totenschädeln und Kreuzen tätowiert sind. Auf seinem Hals prangen drei große Sechsen, die zusammen die Zahl des Teufels ergeben und umfasst sind von rotäugigen Köpfen.

Das Haar ist an den Seiten wegrasiert und die verbleibende Haarinsel auf dem Kopf ist streng nach hinten zu einem kleinen Zopf gebunden. Er trägt einen relativ kurz geschnittenen Vollbart. Lediglich oberhalb der Lippe ist er glattrasiert.

Cemal und diese Gestalt stecken die Köpfe eng zusammen und bereden etwas miteinander, wobei Cemal eindeutig bestimmend ist und die Kontaktperson fragend wirkt.

Man redet leise miteinander, so dass niemand im Raum lauschen könnte, was dort besprochen wird. Cemal lässt immer wieder die Augen durch den Raum wandern und beobachtet die anwesenden Leute, während er dem lauscht, was der Deutsche ihm mitzuteilen hat. Wenn er antwortet, dann starrt er seinem Gegenüber direkt und nachdrücklich in die Augen.

Am Schluss des Gesprächs nicken beide sich gegenseitig zu und schlagen die Hände ineinander, als würde man versuchen, die eigenen Vorstellungen im Armdrücken durchzusetzen. Doch bevor es dazu kommt, zieht man sich aneinander, gibt sich links und rechts einen Kuss an der Wange vorbei in die Luft und löst die Hände voneinander.

Der Deutsche verlässt das Cafe International direkt im Anschluss und besteigt einen vor der Tür abgestellten schwarzen Ford Mustang GT. Das blecherne Aufbrummen des PS-starken Motors ist bis an den Tisch von Cemal zu hören, der schon wieder sein schwarzes Smartphone aus der Jackentasche entnommen hat, um eine Nachricht zu schreiben.

Nachdem er es wieder weggesteckt hat, steht er auf und begibt sich langsamen Schrittes aus dem Laden.

Fast zeitgleich erhebt sich ein gedrungener, dicklicher Südländer von einem Stuhl an einem anderen Tisch, der Cemal bereits den gesamten Abend gegenübersitzt.

Sein Blick ist starr auf Cemal gerichtet, der ihm keinerlei Beachtung schenkt und über den klebrigen, nassen Boden langsam aus dem Café International hinausgeht.

Vor der Tür geht Cemal durch stürmischen Regen auf eine weiße, breitspurige Geländelimousine zu, die ebenfalls unmittelbar vor der Lokalität geparkt steht. Der Südländer geht direkt hinter ihm her und kommt langsam dichter an ihn heran. Die Hände trägt er tief in seinen Jackentaschen vergraben, das Cap ist in seine Stirn hineingezogen. Der Kragen der schwarzen AlphaIndustries-Bomberjacke ist aufgestellt, so dass von seinem Gesicht kaum mehr als die auffällig große Nase und die schiefe, unrasierte Mundpartie zu erkennen ist. Einzelne Fahrzeuge fahren durch die Wilstorfer Straße und lassen die Gischt der Pfützen auf die Gehwege spritzen.

Cemal kommt dichter an den Geländewagen heran und sein Verfolger ist bereits fast auf seiner Höhe. Aus seiner rechten Jackentasche zieht er einen schwarzen Gegenstand, den er in seiner geballten Faust verbirgt. Stärker werdender Regen fällt auf sie nieder und das Licht der Laternen wirft sich annähernde Schatten beider Personen auf die hellgrauen Waschbetonplatten. Kurz bevor Cemal sein Fahrzeug erreicht, erhebt die Person den Gegenstand in seine Richtung, drückt drauf und öffnet damit die Zentralverriegelung des Fahrzeugs.

Cemal steigt auf der Beifahrerseite ein, während der Südländer den Fahrersitz besteigt. Nach kurzer Zeit setzt sich das Fahrzeug in Bewegung und biegt direkt ab in die Tiefen des angrenzenden Phönixviertels, wo es im Schatten der Häuser und der einsetzenden Morgendämmerung entschwindet.

11

Mitten durch Hamburg-Horn dröhnt eine schwarz-matte Limousine mit wummernden Bässen über die Hauptstraßen. Nachrichten oder Verkehrsmeldungen wären in normaler Lautstärke in der getunten Limousine aufgrund der brummend-scheppernden Motorengeräusche sowieso nicht richtig zu verstehen gewesen. Daher ist es für Faruk auch keine Frage, dass er seine deutsche Gangsterrapmusik den örtlichen Radiosendern vorzieht. Zumal er sich eigentlich noch nie für Nachrichten jeglicher Art interessiert hat.

Er verinnerlicht lieber mit Inbrunst die egomanischen Texte, die das Leben als Straßenkriminelle heroisieren. Teilweise rappt er die ihm bekannten und verständlichen Passagen lautstark mit, streckt Daumen und kleinen Finger von der halb geballten Faust ab und klopft den Rhythmus der Bässe mit den mittleren Fingern auf das Lenkrad. Dabei wippt und nickt er mit dem Kopf, zieht die Oberlippe einseitig zur Nase und zwischen seinen Augenbrauen bildet sich eine tiefe Falte.

In seiner roten Trainingshose vibriert sein Smartphone. Er hat es immer nur auf Vibration eingestellt, doch aktuell hätte er das Piepen für die empfangene Nachricht sowieso nicht vernommen.

Faruk löst die Faust und greift in die Tasche, während er auf die Auffahrt am Horner Kreisel zur A 24 fährt. Langsam zieht er das Telefon heraus und gibt Gas, wodurch er stark beschleunigt und in seinen weißen Ledersitz gedrückt wird.

Nachdem er den Standstreifen verlassen und auf die linke Spur gewechselt ist, schaut er auf das Display. Er sieht, dass er von Cemal eine Nachricht erhalten hat.

Er streift über das Display und gibt das Passwort in die kleine Tastatur ein. Hierbei blickt er mehrfach auf, um die nasse Autobahn im Blick zu behalten und nicht versehentlich in die Leitplanke zu fahren.

Die Kombination aus großen und kleinen Buchstaben sowie Sonderzeichen und Zahlen hat er mühevoll auswendig gelernt und kann sie inzwischen fast blind eingeben. Nirgendwo hat er dieses Passwort aufgeschrieben oder gespeichert und niemand würde es schaffen diesen Zugang zu knacken und somit an die Inhalte seines Handys gelangen. Lediglich zehn Versuche hat derjenige, der sich daran probieren würde, dann löscht sich das gesamte Mobiltelefon von alleine ohne eine Chance auf Wiederherstellung. Aber dieses Telefon würde er ohnehin niemandem in die Hände kommen lassen. Er führt es immer bei sich. Nur wenn er schläft, legt er es neben sich ab.

Mit einem Vibrieren öffnet sich das Betriebssystem und er kann im verschlüsselten Messenger die Nachricht von Cemal öffnen.

“ 5 Hasen für Viking, wie immer - 13 Uhr nicht später”