Ich war ein schüchternes Kind vom Lande - Wieland Backes - E-Book

Ich war ein schüchternes Kind vom Lande E-Book

Wieland Backes

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Beschreibung

Wieland Backes: die Autobiographie eines leidenschaftlichen Fernsehmachers Humorvoll, authentisch und mit einer Prise Selbstironie erzählt Wieland Backes seine ungewöhnliche Lebensgeschichte. Ein sehr persönliches Buch über Flüchtlingsnot, Heimatlosigkeit, erste Liebe, über Willensstärke, Inkonsequenz und ein Leben im Wirtschaftswunderland. Beginnend mit der Suche nach den eigenen Wurzeln, entfaltet Wieland Backes die ungewöhnliche Lebensgeschichte eines »Wunschkindes auf den zweiten Blick«. 1946 in Österreich als sechster Sohn einer Lehrerfamilie aus dem Banat geboren, erlebte er als Kind, was Armut, Hunger und Verlust der Heimat bedeuten. Im Raum Stuttgart hofft die Familie auf ein Ende des Elends. Doch nur der »Kleine« profitiert schließlich von den Chancen im Wirtschaftswunderland. Eigentlich sollte das Kind vom Lande Lehrer werden, doch seine wahre Leidenschaft war nicht aufzuhalten. Als Außenseiter bahnte er sich seinen Weg durch das Haifischbecken Fernsehen und wurde zum Star des SWR. Die Talkshow »Nachtcafé« moderierte er fast 28 Jahre und schrieb damit Fernsehgeschichte, der beliebten Ratesendung »Ich trage einen großen Namen« verlieh er 20 Jahre lang einen unverwechselbaren Flair. Den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, dem er 47 Jahre angehörte, hält er für eine der großen Errungenschaften unserer Demokratie, für die er auch heute noch auf die Straße gehen würde. Die Autobiographie des »ungekrönten Königs des Niveautalks« (DIE ZEIT) und zugleich ein gesellschaftskritisches Buch über den Versuch, in einer sich rasch wandelnden Medienwelt für Inhalt und Anspruch zu kämpfen und einen eigenen Weg zu gehen.

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Seitenzahl: 273

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Wieland Backes

Ich war ein schüchternes Kind vom Lande

Mein Leben

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von © Marcus Kaufhold

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96482-0

E-Book ISBN 978-3-608-11654-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Nächtliches Gespräch

Die Sache mit der Herkunft

Ein Wunschkind auf den zweiten Blick

Enttäuschte Erwartungen

Fast ein Schulversager

Bessere Zeiten?

Coming-out eines Hinterwäldlers

Die Neue und die Folgen

Das andere Geschlecht

Traum und Albtraum

Zwischen Chemie und Alchemie

Die Endlichkeit allen Seins

Konsequent inkonsequent

Es liegt etwas in der Luft

Schwerer Abschied, tiefer Einschnitt

Grüne Insel

Die Wende

Unerwartete Begegnung mit der Zeitgeschichte

Kein Liebling der Herrschenden

Unter deutschen Dächern

Das Fernsehen neu erfinden

Überleben im Bollwerk

Das andere Leben

Eine neue Idee gewinnt Gestalt

Premierenfieber

Auf dem Weg zum Erfolg

Die rettende Couch

Mit der Couch ins Erste

Ist das noch mein Fernsehen?

Folgenreicher Zufall

Wandel allenthalben

Roter Teppich

Mit 58 noch einmal Vater

Öffentlicher Mensch

Stalking

Das Nachtcafé und der liebe Gott

Ein Politikum

Dem Nachwuchs eine Chance

Zeitenwende im Südwesten

Nachtcafé-Finale

Die neue Freiheit

Aufbruch

Mit der Wahrheit leben

Dank

Bildnachweis

Nächtliches Gespräch

Die Ankündigung des Fernsehdirektors kam unterwartet. Und ziemlich kurzfristig. »Wann will er denn kommen?« »Heute«, sagte die Assistentin sichtlich erregt. Nicht allzu oft hatte sich der Direktor in der Vergangenheit auf die eineinhalb Autostunden Fahrt von Baden-Baden zum Schloss Favorite in Ludwigsburg begeben. Und jetzt so plötzlich …

Ob nach der Aufzeichnung noch Zeit für ein persönliches Gespräch wäre? Selbstverständlich. Mir war bewusst, es ist so weit, hatte ich doch selbst in einem vertraulichen Telefonat darauf gedrängt, dass ich nach mehr als einem Vierteljahrhundert als Moderator der Talkshow Nachtcafé und nahezu 68 Lebensjahren gerne den Schlusspunkt setzen würde. Jetzt also wollte Fernsehdirektor Christoph Hauser offenbar Nägel mit Köpfen machen. Seit 1987 war das Nachtcafé immer mehr zum Dreh- und Angelpunkt meines beruflichen Lebens geworden: so anregend wie aufregend und nicht selten, auch für mich selbst, ein kleines Lehrstück über das Leben.

Selbst über meinen Abschied vom Bildschirm entscheiden – nichts hatte ich mir schon Jahre zuvor fester vorgenommen als das. Im Kopf die Vielzahl an Kolleginnen und Kollegen, die gegen ihren Willen ausgemustert und entsorgt wurden, meistens schwer darunter leidend, sich selbst und ihrem Sender gram. Und jetzt … Wie werde ich den Entzug der Droge Bildschirm verkraften?

Eine Erinnerung an das Nachtcafé-Thema dieses Abends habe ich nicht mehr, an das anschließende Gespräch umso mehr. Zwei Bierbänke für das Team standen da, wie immer unter den Arkaden an der Rückseite des Lustschlosses, darauf sollte nun mit Blick in den mondhellen Park in einer nicht wirklich lauen Sommernacht das letzte Kapitel meiner Fernsehjahre verhandelt werden. »Wie lange würden Sie noch gerne das Nachtcafé moderieren?« Ich schlage ein gutes Jahr vor, finde Zustimmung und etwas, was ich an vielen Punkten meines Berufsweges schmerzlich vermisst habe: Wertschätzung. Sicherheitshalber haben wir das Ganze mit einem Glas Rotwein besiegelt.

Begonnen hatte die Sache mit dem Fernsehen für mich schon mehr als vier Jahrzehnte zuvor. Damals hieß der Sender noch Süddeutscher Rundfunk. Beim Begrüßungsgespräch in der Intendanz empfing mich mein künftiger oberster Chef mit den Worten: »Sie wollen doch sicher nicht Ihr ganzes Leben lang bei unserem Sender bleiben?« Offen gesagt, ich habe es mir damals auch selbst nicht zugetraut, dass ich mich in diesem aufgeheizten Haifischbecken behaupten könnte – ich, das eher schüchterne Kind vom Lande, das eigentlich wie seine Eltern Lehrer werden sollte.

Hätte mir damals eine Wahrsagerin mein Leben, so wie es wirklich verlaufen ist, aus der Hand gelesen, es hätte nur eine Reaktion gegeben: »Bitte geben Sie mit sofort mein Geld zurück!«

Bei aller Neigung zum Kreativen, zum Gestalten und Inszenieren und, trotz meiner ausgeprägten Neugier aufs Leben, ein Beruf in den Medien war damals weit jenseits meiner Vorstellungskraft – fremdes Land, unerreichbar. Ich war mir ganz sicher: Wenn ich mich auf dieses Terrain wagen würde, das wäre mein Untergang.

Die Sache mit der Herkunft

Dieser Satz des Deutschlehrers blieb haften: »Jeder Mensch hat Wurzeln – und die sind prägend.« Wurzeln – ich auch? Nein, wie meine ganz Familie fühlte ich mich damals, in den 1950ern in meinem schwäbischen Dorf eher ohne jede Verankerung – mehr entwurzelt.

Was war, was bin ich eigentlich: Deutscher, Österreicher, Rumäne oder nach mehr als 70 Jahren dann letztlich doch Schwabe? Den Dialekt beherrsche ich seit Kindertagen akzentfrei – Ergebnis strenger autodidaktischer Übungen auf der heimischen Ofenbank. Damals im Dorf eine Überlebensfrage. Heimatgefühle? Zugegeben, ich habe da nach wie vor ein Problem: Fast ein Leben lang hier und noch immer will ich kein Schwabe sein.

Rumänien, genauer das Banat, hatten meine deutschstämmigen Eltern bereits 1939 in Richtung Hitlerdeutschland verlassen, im Gepäck meine fünf Brüder, gerade mal zwischen drei und zehn Jahre alt. Ich war noch nicht dabei. Mein ungeplanter Auftritt sollte erst Jahre später anstehen.

Insbesondere für meinen Vater war die illegale Ausreise wohl so etwas wie der Aufbruch ins gelobte Land. Jedenfalls meinte er das damals. Dort, wo er 1908 geboren ist, als Sohn eines Schmieds und Bauern, hatte man ihm den Abschied allerdings auch nicht schwer gemacht. Längst vergessen die Zeiten, als seine ärmlichen Vorfahren aus der Südeifel, dem Ruf Kaiserin Maria-Theresias folgend, donauabwärts in die Ebene unter dem Karpatenbogen zogen. Stolz auf ihr prosperierendes Bauernland, blieben sie über die Jahrhunderte ziemlich deutsch.

Doch nach dem Ersten Weltkrieg zeigte der aus Wrackteilen der K.u.k-Monarchie zusammengezimmerte rumänische Nationalstaat, dass er eines bereits perfekt beherrschte: die Diskriminierung von Minderheiten. So erfuhr der junge Heinrich Backes erst wenige Wochen vor seinem Abitur, dass die Abschlussprüfungen nicht wie bisher auf Deutsch, sondern auf Rumänisch abzulegen seien. Er hat sein Abitur bestanden, aber die Basis für seine spätere unselige Hitlerbegeisterung war gelegt.

Damals, im Juni 1908, als dieser Heinrich Backes, der Sohn des Hufschmieds, auf die Welt gekommen war, schien es zunächst eher so, als wolle er sich schon bald wieder von dieser Welt verabschieden. Das Kind schwächelte bedenklich. Doch vielleicht war es gerade die durch den herbeigerufenen Ortspfarrer schon eingeleitete letzte Ölung, die ihn sich trotzig eines anderen besinnen ließ. Er überlebte und gedieh normgerecht. Und just jener Geistliche, der ihm schon kurz nach der Geburt den Weg ins Jenseits hatte ebnen sollen, nahm jetzt eine geradezu lebensentscheidende Rolle für den einstigen frühkindlichen Wackelkandidaten ein. Heinrich entpuppte sich als so auffallend intelligent, dass der Geistliche dem Hoffnungsträger Privatunterricht anbot – mit Erfolg. Das rumänische Abitur in der Tasche, schrieb er sich bei einer begehrten Adresse ein, dem katholischen Priesterseminar von Temeswar.

Vermutlich wäre er tatsächlich Priester geworden, wäre da nicht in seinem Heimatdorf unglücklicherweise diese dralle Kindergartenpraktikantin aufgetaucht: Margarete. Bald war ihm klar: Vielleicht ist er ja ein Mann für die Kanzel, aber bestimmt nicht für das Zölibat, eine These, die im Rückblick von heute durch sieben gemeinsame Kinder überzeugend belegt ist. Beide, Margarete und Heinrich, sind schließlich Lehrer geworden und ein Paar auf Lebenszeit.

Margarete Nikola aus Lenauheim war nach ihrer Herkunft eine Schattierung feiner als Heinrich. Sie stammte aus einem gutsituierten Lehrerhaushalt und war die Nachbarin des – hierzulande wohl eher unbekannten – Grafen Sitschy. Wann immer mein Vater bei meiner Mutter eine dünkelhafte Vornehmheit zu spüren glaubte, musste besagter Graf herhalten: »Ja natürlich, die Nachbarin des Grafen Sitschy!« Aber meine Mutter war keineswegs dünkelhaft, eigentlich überhaupt nie. Sie war eine durch und durch warmherzige Person, eine liebende Mutter und eine leidenschaftliche Lehrerin, verehrt von ihren Schülern wie von ihren Söhnen. Fünf wurden noch in Rumänien geboren: Der eigenbrötlerische Heinrich, der gemütliche Ewald, der so intelligente wie chaotische Nikolaus, der schöne Günther und der solide und treue Werner.

Die Familie Backes 1936 mit fünf Söhnen im Banat. Ich kam erst zehn Jahre später dazu.

Bei der fluchtartigen, illegalen Ausreise aus Rumänien hatte sich mein Vater zunächst mit dem »schlimmsten seiner Söhne«, Nikolaus, allein auf den Weg gemacht. Geführt von teuer bezahlten Schleusern, arbeiteten sie sich auf atemraubenden Gebirgspfaden in Richtung Österreich vor, seit einem Jahr Deutschlands Ostmark.

Gleichzeitig reiste meine Mutter mit den vier angeblich braveren Söhnen nach Budapest. Sie – die Nachbarin des Grafen Sitschy – sprach glücklicherweise perfekt ungarisch. Das für germanische Ohren nur schwer zu dekodierende Idiom eignete sich übrigens auch ganz hervorragend als Geheimsprache, wenn wir Kinder etwas nicht verstehen sollten.

In Budapest residierte man für Flüchtlinge deutlich über Norm. Meine Brüder waren noch viele Jahre später der tiefen Überzeugung, dass im legendären Hotel Gellért noch immer Geschichten über die vier Rowdies aus dem Banat kursieren. Wann immer sie davon erzählten, Mal für Mal, entwickelte sich die Dimension des angerichteten Schadens noch eine Drehung weiter nach oben.

Als die völlig entnervte (aber natürlich ungebrochen innig liebende) Mutter am 1. September 1939 mit ihrer wilden Truppe und wenigen Handkoffern die Grenze nach Österreich passiert, also »großdeutschen Boden« erreicht, hat Hitler gerade Polen überfallen – der Zweite Weltkrieg beginnt. Auf der Landstraße beim Grenzort Mogersdorf kommt den neu Zugereisten ein Fuhrwerk entgegen, das – sie trauen ihren Augen nicht – von zwei Kühen gezogen wird. Was mag das wohl für ein armseliges Land sein, in das sie da geraten sind? Die Realität wollte meine Familie erst gar nicht wahrhaben. Es herrschte bereits Krieg. Menschenverachtung und Größenwahn trieben die Nation unaufhaltsam in eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte.

Das Gotteshaus von Sankt Martin an der Raab im Burgenland thront beherrschend auf dem höchsten Hügel der Marktgemeinde. Geradezu symbolhaft ihr zu Füßen liegt das Schulhaus – für meine Familie von nun an Wohnsitz und Arbeitsplatz zugleich. Die Backes-Familie liebt die Österreicher. Und die Österreicher lieben sie. Für meine fünf Brüder ist Sankt Martin, auch noch in den ersten Kriegsjahren, das Idyll ihrer Kindheit. Die Mutter wird vergöttert, dem streng autoritären Vater indessen werden eindeutige Reime gewidmet: »Weil er uns sonst niederhaut, preisen wir ihn alle laut.«

Es war ihm nicht schwergefallen, für sich und seine Familie den existenziellen Boden zu bereiten, ging ihm doch der Hitlergruß so leicht über die Lippen. Ja, er besaß Neigungen, die ihn für das Gedankengut der Nationalsozialisten bedenklich empfänglich machten. Ich habe sie später selbst in der Hand gehalten, die Fotos in Uniform mit Hakenkreuz und Heldenpose. Zuweilen auch mit Bella, seinem Deutschen Schäferhund. Eigentlich war mein Vater aber alles andere als ein Held. Ich habe nie einen größeren Hypochonder als ihn kennengelernt, vielleicht eine Mitgift aus seinem frühkindlichen Überlebenskampf. Keinen Menschen habe ich so oft sterben sehen wie ihn. Er wurde freilich 92 Jahre alt.

Im Schreckenssystem dieser Zeit kam seine Heldenattitude allerdings blendend an. Außer der Lehrerrolle wurden ihm offenbar weitere Aufgaben übertragen, über die man später in der Familie kein Wort mehr verlor. Ein politisch Verführter? Ein verblendeter Idealist? Der Weg, den er gegangen ist, verbindet sich für mich bis heute mit einem unendlichen Schmerz, gerade bei einem Menschen wie ihm – intelligent, initiativ und kreativ, ein Organisationsgenie, das waren nämlich seine anderen Seiten. Er konnte »etwas auf die Beine stellen«. Seine besten Jahre aber hat er an die Nazis vergeudet.

Er wurde Soldat, wie fast alle. An die Front wurde er zum Glück allerdings nicht beordert. Das Kriegsende, den Zusammenbruch erlebte er in der Kaserne in Klagenfurt.

Im Osten Österreichs, im Burgenland, wo der Hauptteil der Familie lebt, rückt die Rote Armee bedrohlich näher. Gerüchte über Massenvergewaltigungen und Verschleppungen ganzer Familien eilen den Soldaten voraus. Als die Rote Armee im Burgenland einmarschiert, erkämpft meine Mutter für ihre Söhne und sich gerade noch einen Platz auf dem letzten Wehrmachtslaster der Sankt Martin gen Westen verlässt. Ihre ganze Habe lassen sie zurück. Kurz vor der Abfahrt fehlt einer: Bruder Ewald. Man findet den 14-Jährigen schließlich mit einer am Straßenrand aufgelesenen Feuerwaffe über der Schulter, finster entschlossen, den Endsieg zu retten.

Kurz nach dem 8. Mai 1945 wird die Kaserne, in deren Schreibstube mein Vater den Krieg überlebte, der notgedrungene Zufluchtsort unserer Familie. Die kommenden Jahre sollten für sie die härtesten werden. Desaströs: Die Eltern meist arbeitslos, ihrer falschen Träume entledigt, ohne Wohnung und ohne Perspektive. Die Söhne ohne Schulabschluss, dafür Schreckensbilder im Kopf: Traumatisch waren die Erinnerungen an die Bunkernächte, in den über ihren Köpfen in dem Grazer Internat, das die älteren Söhne seit einigen Jahren besuchten, die Bomben einschlugen.

Und als schließlich das Bomben, Schießen und Lynchen ein Ende fand, kam der Hunger – immer nur Hunger. Auf den extrem trockenen Sommer 1946 folgte ein klirrend kalter Winter. Fast nirgendwo war die Not so groß wie im gerade wieder auferstandenen Österreich – und meine Familie mit fünf Kindern mittendrin, orientierungslos und bettelarm. Immerhin, es gab Lebensmittelmarken, die Währung für schmale Rationen. Und da geschah etwas Bemerkenswertes. Meine Brüder traten ganz diskret und freiwillig einen Teil ihrer Marken an meine Mutter ab: Sie wenigstens sollte nichts entbehren.

Es war erst ein paar Monate her, dass sie, unter schwierigsten Umständen, noch einmal ein Kind geboren hatte – nach fünf Burschen endlich das lange herbeigesehnte Mädchen. Größte Freude rundum. Doch Heidemarie, wie sie sie nennen wollten, hatte keine Chance. Nach einer verunglückten Zangengeburt verweigerte sie jegliche Nahrungsaufnahme. Sie wurde kaum mehr als eine Woche alt und hinterließ eine Familie, bei der sich zur Not jetzt auch noch eine nimmer enden wollende Tristesse einstellte. So war die Verwunderung groß, als meine Mutter bereits wenige Monate nach dieser Tragödie erneut ein Kind erwartete. Und, wenn es nach meinen Brüdern ging, so war jetzt durch ihre Lebensmittelmarken erneutem Unheil verlässlich vorgebeugt.

Ein Wunschkind auf den zweiten Blick

Der Gynäkologe in der Grazer Frauenklinik schaute sorgenvoll auf den Bauch meiner Mutter. Bei der fast 40-Jährigen hatten sich ernste Schwangerschaftsprobleme eingestellt. »Sie müssen sich überlegen, ob Sie das Kind unter diesen Umständen überhaupt austragen wollen«, sagte der Arzt und bot für den Fall der negativen Entscheidung unausgesprochen seine Hilfe an. Da schaute meine Mutter meinen Vater an, mein Vater den Arzt, dann noch einmal meine Mutter, dann wieder den Arzt und sprach mit fester Stimme und patriarchalischer Entschiedenheit: »Es bleibt!« So wurde ich ein Wunschkind auf den zweiten Blick.

Nur einen Wunsch konnte ich meinen Eltern freilich nicht erfüllen: Das lang ersehnte Mädchen wurde ich nicht, sondern bedauerlicher- und überflüssigerweise Sohn Nummer sechs. Sie haben mir das allerdings zeitlebens nie vorgeworfen.

Der belesenste unter meinen Brüdern, Helmut Nikolaus, hatte gerade die »Deutschen Heldensagen« verschlungen und kam im Gedenken an den Beruf des Großvaters väterlicherseits mit einer wirklich exotischen Idee zur Namensgebung daher: Wieland, der Schmied. Wieland – mit diesem seltsamen Vornamen habe ich übrigens nie ernsthaft gehadert. So selten, wie er ist, weiß ich, wenn er fällt: Da kann nur ich gemeint sein.

Die Zeiten waren noch immer schlecht – und jetzt auch noch ein Esser mehr. Doch der Kleine strahlte und lächelte die Sorgen der Familie einfach weg. Und die Brüder, mit reichlich Sicherheitsabstand von zehn bis sechzehn Jahren ausgestattet, sahen nicht den geringsten Anlass, mit dem Nachzügler auf irgendeine Weise zu rivalisieren. Sie liebten ihren kleinen Bruder ausnahmslos, übertroffen nur noch von der unerschöpflichen Zuneigung der Mutter für ihren Nachzügler – für mich die Lebensbasis schlechthin.

Durch die Vermittlung eines befreundeten Lehrerpaares hatte meine Familie in einem steirischen Dorf namens Paldau eine dürftige Bleibe gefunden. Aber wie sollte es weitergehen? Sie waren ja, wegen Hitler, deutsche Staatsbürger. Das gerade befreite Österreich dachte aber nicht im Geringsten daran, sie wieder dauerhaft als Lehrer anzustellen. Da blieb nur eines, dorthin gehen, wo sie zumindest formal dazugehörten: nach Deutschland.

Die Philatelie, das Sammeln von Briefmarken, mag heute im Ruf stehen, zu den eher langweiligen Freizeitbetätigungen zu gehören. Doch mein Vater war Philatelist und zwar ein leidenschaftlicher. »Deutschland« hatte er von Anbeginn fast vollständig, insbesondere die Zeit nach 1933. Und er hatte einen Briefmarkentauschfreund: einen Geschäftsmann aus Stuttgart. Der – so hoffte er – konnte vielleicht der Kontaktmann und Helfer für einen neuen Anfang sein, quasi von Philatelist zu Philatelist.

Beim Vorauskommando sollte »der Schlimmste« sicherheitshalber wieder mitgenommen werden. So zogen Vater und Sohn Nikolaus erneut auf zukunftssuchender Mission in Richtung Grenze, dieses Mal war es die schwer zu überquerende Grenze Richtung Bayern. Und wieder ging es nicht ohne Schlepper und wieder über Felsenpfade. Als sie sich nach illegalem Passieren der Grenze viele Tage später bis nach Stuttgart durchgeschlagen haben, wartet auf Vater und Sohn hierzulande die erste große Enttäuschung. Die Freundschaftsgefühle des schwäbischen Postwertzeichen-Liebhabers, so wird innerhalb Minuten klar, enden jenseits der gezackten Objekte seiner Begierde abrupt. Schließlich stranden Vater und Sohn beim Evangelischen Hilfswerk. Dort gibt es Arbeit, Brot und sogar Lohn – die Chance, das erforderliche Geld zu verdienen, um die übrige Familie endlich vollzählig in Württemberg versammeln zu können.

Am 20. Juni 1948, dem Tag der Währungsreform, stellen sich mein Vater und sein Sohn Nikolaus für das ihnen zustehende Kopfgeld von insgesamt 60 D-Mark in der zuständigen Behörde an. Zufällig stoßen sie in der Warteschlange auf den einstigen Briefmarkensammlerfreund: »Herr Backes, jetzt sind wir alle gleich!«, ruft er ihm zu. Noch am selben Tag sind die Schaufenster seines Ladengeschäftes wieder prall gefüllt.

Am 1. September 1948, noch keine zwei Jahre alt, werde ich im Kinderwagen über die für uns nur illegal passierbare Grenze nach Deutschland geschoben: Ich hätte beim Verlassen meines Geburtslandes, so ist überliefert, lauthals gebrüllt.

Enttäuschte Erwartungen

Peng! Die Lebensdauer meines allerersten Luftballons, von meinem Bruder Werner für mich stolz auf dem Gaildorfer Pferdemarkt erworben, endet bereits nach wenigen Minuten. Irgendein Idiot hatte in unguter Absicht seine Zigarette an ihm ausgedrückt. Als die Tränen seines kleinen Bruders nicht enden wollen, bettelt Werner die Eltern um die Freigabe weiterer Groschen an. Ballon Nummer zwei wird erworben und kommt tatsächlich unversehrt zu Hause an. Dort wiederum möchte nun Werner seinen damals schon überdurchschnittlichen naturwissenschaftlichen Neigungen Raum geben. Den Hausschlüssel am Bändel, versetzt er den Ballon im Hof des Schulhauses in einen Schwebezustand, bis sich der Knoten löst und Ballon Nummer zwei sich unter dem Gekreische des kleinen Bruders in den schwäbischen Himmel verabschiedet.

Auch das Folgende gehört zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen: Heinrich, Nikolaus und Günther streiten sich unerbittlich um eine Dose Heringe in Tomatensauce. Österreich haben sie hinter sich gelassen, der Hunger aber ist mitgereist. Auch in dem kleinen Dorf Unterrot im Schwäbischen Wald bleibt die Not für die Backes-Familie erst einmal allgegenwärtig. Eine Familie mit sechs Söhnen, die Mehrzahl in der Pubertät. Auf sie hat hier offenbar niemand gewartet. Flüchtlinge gibt es ohnehin genug.

Damals 1939, als sie ebenfalls bar jeder Habe aus Rumänien nach Österreich geflüchtet waren, war es ihnen noch leichtgefallen, sich der Illusion einer optimistischen Aufbruchstimmung hinzugeben. Jetzt, keine zehn Jahre später, scheint es ihnen nicht mehr so recht zu gelingen, sich mit der neuen Heimat anzufreunden – und der neuen Heimat nicht mit ihnen.

Doch es gibt auch Ausnahmen: Das kinderlose Ehepaar Wuschkow, Inhaber eines Textilgeschäftes in Stuttgart, war nach den schweren Bombenangriffen von 1944 nach Unterrot evakuiert worden. Als sie die Not der Flüchtlingsfamilie mit den sechs Buben sahen, konnten die beiden das offenbar nicht einfach ignorieren. Aus den Resten ihres Stuttgarter Warenlagers versorgten sie uns fortan mit Bettwäsche, Handtüchern und mehr. Als die größte Not vorüber war, waren sie längst zu festen Freunden geworden. Sie blieben es für den Rest ihres Lebens.

»Wir brauchen einen evangelisch ausgebildeten, württembergisch qualifizierten Lehrer«, sagt der Bürgermeister der Gemeinde Unterrot, als sich mein Vater vor Amtsantritt bei ihm vorstellt. Da wechselt der Mann, der beinahe katholischer Geistlicher geworden wäre, kurzerhand zum Protestantismus – und meine Brüder und ich, allesamt katholisch getauft, werden ungefragt gleich mitkonvertiert.

Unübersehbar, wie die ewigen Ortswechsel, die wiederholten Fluchten, insbesondere bei meinen Brüdern ihre Spuren hinterlassen haben. Nach den chaotischen Zuständen bei Kriegsende in Österreich ist an eine nahtlose Fortsetzung des Schulbesuchs hierzulande nicht zu denken. Den Ältesten zieht es ohnehin in die Steiermark zurück. Dort wartet, wie sich später herausstellt, noch immer eine Sonja auf den inzwischen achtzehnjährigen Heinrich. Mit einer alten Reiseschreibmaschine der Marke Olympia vermeintlich gut gerüstet macht er sich auf die Reise nach Graz, um dort als Journalist – oder noch besser als Schriftsteller – ein neues Leben zu beginnen. Der Versuch endet kläglich. Ewald, der Zweitälteste, will der Familie nicht mehr auf der ohnehin schon chronisch leeren Tasche liegen und verabschiedet sich als Bergarbeiter ins Ruhrgebiet. Für Günther und Werner versucht man, Plätze im Aufbauseminar in Künzelsau zu finden.

Bliebe noch Nikolaus, der längst die Rolle des Schwarzen Schafes in der Familie zugewiesen bekommen hat und sie auch wirklich talentiert ausfüllt. Insbesondere der Dauerkonflikt mit meinem Vater verfolgte ihn bis ins Grab. Als man die Fortsetzung der Schulbildung im Gaildorfer Gymnasium versucht, ist die Katastrophe schon vorprogrammiert. Was er an Erlerntem mitbringt, kann mit qualifizierten württembergischen Standards nicht mithalten. »Ein Nichtschwimmer in der mathematischen Pfütze« sei er, sagte der Rektor und legte darüber hinaus eine in kurzer Zeit gefüllte lange Liste von Provokationen und Disziplinlosigkeiten vor. Die württembergische Schulkarriere meines Bruders Nikolaus endete schon wieder, noch bevor sie richtig begonnen hatte …

Der Schüchterne. Ich, hier 1954 im Alter von acht Jahren.

Ich selbst hatte bei all dem die Rolle eines Zaungastes, der überhaupt nicht begreift, was da geschieht. Ich spürte aber die Spannungen. Und ich litt mit: Ein verhinderter Schriftsteller, ein Bergarbeiter irgendwo im Ruhrgebiet und dann auch noch die Sache mit Günther, der sich plötzlich nicht mehr für einen künftigen Lehrer, sondern für einen begnadeten Schauspieler hält. Von Nikolaus gar nicht zu reden … Die Sorge um die Brut entwickelt sich in der Backes-Familie dieser Zeit zum steten Begleiter. Mein Vater reagiert darauf oft autoritär und aufbrausend, meine Mutter mit Langmut und unerschütterlichem Optimismus. Zum Glück bleiben noch als Hoffnungsträger die Söhne Nummer fünf und sechs. Die werden sicher etwas Ordentliches werden, vielleicht sogar Lehrer.

Fast ein Schulversager

»Wieland stört durch seine lebhafte Art die Mitschüler beim Unterricht. Seine spielerische Grundhaltung sollte allmählich in eine konsequente Arbeitshaltung übergehen.« So steht es unauslöschlich in meinem Zeugnis der 1. Klasse der Volksschule in Oberbrüden. Und der Leiter dieser Schule hieß unglücklicherweise Heinrich Backes, mein Vater.

Oberbrüden im Kreis Backnang. Auf die Schulleiterstelle in diesem Tausendseelendorf hatte er sich 1950 erfolgreich beworben – ein eher ärmlicher Flecken, keine asphaltierte Durchgangsstraße, umringt von bäuerlichem Kleinbesitz, überwiegend Obstbaumwiesen und Wälder. Unter vorgehaltener Hand kursierte in den Nachbardörfern die Behauptung, die Oberbrüdener hätten noch bis vor wenigen Jahrzehnten überwiegend vom Holz- und Wilddiebstahl gelebt.

Die nicht gerade schmeichelhafte Würdigung meines Schulverhaltens im Zeugnis kam von zwei Lehramtspraktikantinnen, die angesichts der kriegsbedingten Personalnot gleich als reguläre Lehrkräfte eingesetzt wurden. Sie hatten ein Zimmer in einer – ich kann es nicht anders ausdrücken – Bruchbude, die auch die Dienstwohnung für den Schulleiter und seine Familie beherbergte. Außerdem gab es in diesem umgebauten Bauernhaus, dünnwandig abgetrennt, auch eine Notwohnung für eine Kriegerwitwe mit zwei Kindern und ihrem neu dazu gestoßenen Liebhaber aus Ostpreußen sowie auf dem Dachboden eine provisorische Unterkunft für eine alleinerziehende Mutter aus prekären Verhältnissen mit ihren zwei heranwachsenden Söhnen. Mit all diesen Menschen teilten wir eine Toilette ohne Wasserspülung und ein gerüttelt Maß an permanenten Spannungen. »Gute Nacht, Onkel Paul«, rief ich, von diesen Konflikten völlig unbelastet, beim Zubettgehen allabendlich durch die verschlossene Tür dem nachbarlichen Liebhaber zu und freute mich jedes Mal über ein Echo von der anderen Seite.

Das Dorf meiner Kindheit. In dem baufälligen Fachwerkhaus hinter der Kirche wohnten wir von 1950–1962.

Unter den Dorfkindern hatte ich es schwer: Flüchtling, der Sohn vom Lehrer und dann auch noch dieses völlig unverständliche Hochdeutsch … In einer Kapelle der Methodisten außerhalb des Ortes war gerade ein provisorischer Kindergarten eingerichtet worden. Die fünfhundert Meter Fußweg über die Wiesen und den Bach waren an sich idyllisch, für mich jedoch ein tägliches Martyrium: Insbesondere die Dümmeren unter den Großen hatten mich offenbar für ihre Zwecke auserkoren. Den Neuen kurz mal bis übers Knie in den Bach schubsen, mit Boxhieben malträtieren oder – man spürte die Anregungen von zu Hause – ihm vor dem Rathaus drohen: »Ich zeig’ Dich an.« Welcher Untaten ich bezichtigt werden sollte, ließen sie dabei freilich im Unklaren. Das war eine Zeit lang das fast tägliche, angsteinflößende Ritual. Keiner der anderen schien so gut zum Opfer zu taugen wie ich.

Ich blieb es glücklicherweise nicht auf Dauer. Meine Brüder, soweit noch anwesend, hatten zwar auch ihren Kummer, aber sie waren eben definitiv größer als ich und passten, zumindest wenn es elterlicherseits eingefordert wurde, auch mal auf mich auf. So durfte ich eines Tages mit Winnetou und Old Shatterhand auf einen Streifzug durch die Prärien und Forste des Apachenlandes ziehen. Winnetou – bürgerlich mein Bruder Werner – und Old Shatterhand, verkörpert durch Martin, den jüngsten Sohn des Ortspfarrers. Das Reservat: die Wiesen und Wälder auf den Bergen um Oberbrüden. Eine wirklich aufregende Angelegenheit, insbesondere für mich, das Greenhorn.

Zu aufregend offenbar, denn der kleinste der Indianer machte sich noch vor der Rückkehr in die Zivilisation völlig unangemeldet und im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose. Ich weiß nicht mehr, ob Werner, die leitende Rothaut, nun erst einmal ein ratloses »Uff, uff!« ausgestoßen hat. Auf jeden Fall entledigten mich die beiden Blutsbrüder beherzt des unangenehm befüllten Kleidungsstückes und vergruben es rituell an Ort und Stelle. Den Delinquenten selbst beförderten sie spontan zur indianischen Führungskraft. Sein neuer Name: Häuptling Verschissene Hose. Ich will das Ereignis nicht überbewerten. Aber vielleicht hatte es für mich doch die Urkraft eines Inaugurationsritus. Denn ich dachte künftig keineswegs mehr daran, mich in unserem Dorf mit der Rolle des demütigen Dulders abzufinden.

Als mein Bruder aufs Internat wechselte, wurde die Rolle des Winnetou frei, und ich selbst führte jetzt einen Indianerstamm beträchtlicher Größe durch die örtlichen Flure und Wälder. Allerdings handelte es sich – bei Licht besehen – wohl eher um eine Gurkentruppe. Denn als ich eines Tages von einem kurzen Spähgang mit einigen Vertrauten zurückkehrte, hatte der Rest meines Stammes bereits den Aufstand ausgerufen und mich als Häuptling kurzerhand abgesetzt.

Aber zum Glück gab es ja noch ihn, Eduard Tröster. Bis vor Kurzem hatte er noch in einer der vielen Lederfabriken der Kreisstadt gearbeitet, in Backnang, der süddeutschen Gerberstadt, wie auf dem Ortschild bedeutungsheischend vermerkt ist. Kein schöner Arbeitsplatz: stinkend, nass, zugig. Eduard Tröster war in der Not trotz allem froh, ihn gefunden zu haben. Doch dann kam die Sache mit der Netzhautablösung. Viel trennte ihn nicht mehr von der Erblindung. Arbeiten solle er besser nicht mehr, sagte der Arzt.

Der Mann aus dem Sudetenland, etwa Mitte 50 und noch immer den Russlandfeldzug traumatisch im Kopf und in den Knochen, hat jetzt für seinen kleinen Nachbarn vor allem eines: Zeit, sehr viel Zeit. Eigentlich sollte ich bei Trösters nur einen Hausschlüssel für die Brüder deponieren. Aber jetzt sitze ich schon geraume Zeit in der winzigen Notwohnung, die im Parterre des maroden Rathauses ihm samt Frau und Tochter zurechtgezimmert worden ist – Küche, Wohnzimmer, Bad und Schlafplatz in einem – und Herr Tröster erzählt und erzählt, meistens vom Krieg oder vom Sudetenland. Mit meinem ewigen Nachfragen weiten sich die Themenbereiche, wir reden jetzt im wahrsten Sinne über Gott und die Welt, stundenlang.

Immer, wenn ich ihn treffe, hellt sich das knitze Gesicht hinter der dickwandigen Nickelbrille sichtbar auf: Na, wieder Fragen? Natürlich. Die Intelligenz für den Besuch einer höheren Schule hätte er zweifellos mitgebracht. Doch seine Eltern meinten, Schlosser müsse genügen. Dann kam der Krieg.

»Willst Du vielleicht mitkommen?« Herr Tröster, wie ich ihn noch immer respektvoll, aber mit Du anspreche, ist jetzt viel im Wald unterwegs: Beeren, Pilze, Holz, alles Verwertbare aus der Natur ist ein kleiner Beitrag zur Existenzsicherung. Er entpuppt sich für mich auch in dieser Hinsicht als außerordentlich lohnender Kontakt. Er weiß, wo Waldbeeren massenhaft gedeihen. Er kennt die Standplätze der Pilze von Pfifferling bis Steinpilz. Und wenn ich noch heute einen Wiesenchampignon todsicher von einem Knollenblätterpilz unterscheiden kann, dann ist es sein Verdienst – unter anderen. »Wenn ich groß bin, hole ich Dich mit meinem Porsche ab«, verspreche ich und glaube fest daran. Eduard Tröster stirbt nur wenige Jahre später.

Schulleiter Backes hat sich für die alljährliche Einschulung der Erstklässler etwas einfallen lassen. Er verwandelt an diesem ersten Tag mit seinen Kollegen die riesige Kastanie, die sich direkt vor dem Schulhaus erhebt, in einen Tütenbaum, für alle gleich bestückt mit den Schultüten, die jetzt wie reife Früchte von einer Bockleiter aus abgeschnitten werden. Unter den Empfängern ist 1953 auch sein Sohn Wieland. Wenn Schulleiter Backes damals an die Zukunft seines eigenen Kindes dachte, dürfte er eher gemischte Gefühle entwickelt haben, denn der Kleine hat zwar viel im Kopf, nur nicht das, was ihn als vorzeigbaren Schüler qualifizieren würde. Spielen, spielen, spielen. Nach dem Mittagessen, wenn nicht zu Nachbar Tröster, dann sofort durch das Tal und in die Wälder. Oft weiß keiner, wo sich der Bub eigentlich gerade herumtreibt. Angesichts der allgegenwärtigen Langeweile im Dorf war es fast lebensnotwendig, sich als Kind selbst etwas einfallen zu lassen. »Der Junge hat Phantasie« hieß es bald. – Aber die Schule …?

Unterricht beim strengen Vater – zum Glück nur zwei Stunden pro Woche. Ich in der zweiten Reihe.

Der männliche Nachfolger der Lehramtspraktikantinnen setzt jetzt zur Untermauerung seiner Disziplinkriterien nicht selten den Rohrstock ein, was auch den Klassenclown sichtlich introvertierter werden lässt. Seine katastrophale Schrift und seine völlig indiskutable Qualität der Heftführung bleiben davon allerdings unberührt. Nur in Heimatkunde glänzt er durch lebhafte Mitarbeit, teils aufgrund der Selbsterfahrung in der Natur, teils mit dem aus dem Lehrerhaushalt mitgebrachten Wissensvorsprung.

»Sollen wir ihn wirklich auf eine höhere Schule schicken?« Die Frage, die meine pädagogisch erfahrene Mutter an meinen Vater richtet, ist alles andere als nur rhetorisch gemeint. Sie war ja selbst viele Jahre praktizierende Lehrerin gewesen und gerade dabei, an einem Tabu zu rütteln: Sie wollte wieder ihren Beruf ausüben – und das als Ehefrau eines Mannes, der doch selbst schon im Schuldienst war. Musste da die Ehefrau und Mutter wirklich auch noch berufstätig sein? In der öffentlichen Meinung der 50er-Jahre unvorstellbar. Und tatsächlich: Sie bewirbt sich im nur zwei Kilometer entfernten Nachbardorf Unterbrüden. Beim Vorstellungsgespräch empfängt sie der alteingesessene amtierende Schulleiter vielsagend verhalten. Zu Hause erreichen sie anonyme Schmähbriefe. Wochenlang scheint es so, als könne sie der dauerhaften Missgunst der Dorfbevölkerung sicher sein. »Die soll doch erst einmal ihre eigenen Burschen erziehen …« Als sie sich wenig später dem zu erwartenden Spießrutenlauf stellt, bricht die feindselige Volksstimmung förmlich in sich zusammen. Am Elternabend können sich schließlich auch die schlimmsten Feinde dieser Frau einfach nicht entziehen: ihrer Begeisterung und Leidenschaft für den Lehrerberuf, der Wärme und Zuneigung für die ihr anvertrauten Schülerinnen und Schüler. Vor ihr lagen jetzt noch fast zwei Jahrzehnte beruflichen Glücks.

Nur, was wird aus dem Kleinen zu Hause? Die Eltern kommen überein, er soll erst mal die fünfte Volksschulklasse hinter sich bringen. Dann wird man schon sehen. Als das Jahr verstrichen ist, schickt man den Wackelkandidaten, von der Mutter nach bestem Wissen konditioniert, zur gymnasialen Aufnahmeprüfung in die Kreisstadt. Nach der schriftlichen Prüfung wird der Kandidat leider auch noch ins Mündliche zitiert. Es sei knapp gewesen, erfahren meine Eltern aus Lehrerkreisen. »Stell Dich darauf ein«, sagt mein Vater, »jetzt beginnt ein anderes Leben für Dich.« Das war, glaube ich, nicht nur nett gemeint.

Bessere Zeiten?

»Bist Du noch da?«, ruft mein Vater und wendet seinen mit einer Lederhaube bedeckten Kopf leicht nach hinten. Hinten sitze ich – auf dem Rücksitz des Motorrollers bibbernd vor Kälte und vor Aufregung, den Haltegriff fest umschlungen. Und ganz hinten auf dem kleinen Gepäckträger ist es mit einer verlässlichen Schnur sorgsam festgezurrt: Mein erstes größeres Weihnachtsgeschenk. Bei Spielwaren Maier in Backnang hatte ich es mir selbst aussuchen dürfen, ein – ich weiß auch nicht, wie es zu dieser Wahl kam – rosafarbener Kinderkaufladen. In vorfestlicher Stimmung hatte das Familienoberhaupt entschieden: Das können wir uns jetzt leisten.

Allenthalben war es längst spürbar geworden: Es geht bergauf. Bereits vor meiner Einschulung hatte das an Fahrt aufgenommen, was man wenig später das Wirtschaftswunder nennen sollte.

Der erste auffällige Indikator: Es gibt im Hause Backes jetzt täglich eine Kaffeestunde mit echtem Bohnenkaffee. Angesichts der chronischen Hypotonie meines Vaters eine elementar wichtige Errungenschaft. Bis zum Ende seiner Tage wird er es sich nicht nehmen lassen, den Filterkaffee höchstpersönlich zuzubereiten – er, der sich ansonsten in der Küche eher selten sehen ließ.

Nach den schweren Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit verfiel die Nation mehr und mehr dem Reiz des Materiellen. So auch mein Sorgenbruder Nikolaus. Nach dem Schulrauswurf verdingt er sich erst einmal als Hilfsarbeiter in einer Garnspinnerei in der Kreisstadt. Als er, gerade siebzehn, seinen ersten Lohn ausgezahlt bekommt, legt er noch am selben Tag den überschaubaren Betrag dem örtlichen Zweiradhändler auf den Tisch: Die Anzahlung für einen wirklich schicken Motorroller vom Typ NSU