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Peter Pfrommer leitet Sie auf eine Expedition zu sich selbst. Sie betrachten das, was Sie für Ihr 'Ich' halten und wenden Ihren Blick weg von äußeren Merkmalen, hin zum inneren 'Sein'. Praktische Experimente helfen Ihnen dabei. Eine der womöglich spannendsten und erstaunlichsten Reisen, die Sie in Ihrem Leben unternehmen können! Wie finde ich Glück? Gibt es Vorbestimmung oder ist alles Zufall? Habe ich einen freien Willen? Und, nun ja, wer fragt hier eigentlich? Unter der Bezeichnung 'Selbst' wird häufig die wahre Natur eines Menschen verstanden, die sich von der vordergründigen und ichbezogenen Ausprägung der Person unterscheidet. Die sogenannte 'Selbsterforschung' oder der 'direkte Weg' ermöglicht einen experimentellen Zugang zu dem, was wir tatsächlich meinen, wenn wir 'Ich' sagen. Sie geht dabei von einem modernen wissenschaftlichen Erfahrungsraum aus. Die meisten Menschen haben eine gegenständliche Selbstauffassung. Sie halten sich für einen denkenden Körper oder eine Person mit speziellen Eigenschaften, also für ein getrenntes Objekt. Die moderne Gehirnforschung betrachtet die Ich-Erfahrung als neuronal erzeugte Illusion. Das individuelle Bewusstsein teilt somit die räumliche und zeitliche Begrenzung des Körpers. Diese Auffassung ist der Urgrund für alles psychologische Leid, das in der Angst vor dem Tod wurzelt. Deshalb ist es eine mehr als entscheidende Frage, ob sich unsere Ich-Erfahrung auf unseren Körper begrenzen lässt oder ob sie vielmehr ein universelles Prinzip darstellt. Die Selbsterforschung korrigiert zunächst die konventionelle Vorstellung, dass unser Ich mit dem Körper gleich zu setzen ist. Die daraus resultierende Erfahrung unserer Nicht-Gegenständlichkeit, Unbegrenztheit und Unpersönlichkeit befreit anschließend von der hartnäckigen Auffassung, unser Bewusstsein sei lediglich ein individuelles Gehirnprodukt. Am Ende wird die verbleibende Trennung zwischen universellem Ich-Bewusstsein und der wahrgenommenen Welt aufgelöst. Auf diesem Forschungsweg zeigt sich schnell, dass Glück niemals dauerhaft 'in etwas' gefunden werden kann. Der direkte Weg zu Frieden und Glück führt zu uns Selbst. Dieses Buch begleitet Sie dabei. Überarbeitete Neuauflage 2024
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Seitenzahl: 314
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VORWORT
EINFÜHRUNG
Was bedeutet „Ich“?
Das getrennte Ich
Gesellschaftliche Konsequenzen
Ein erstes Experiment
DAS ICH-KONZEPT
Entstehung des Ich-Konzeptes
Das Grundempfinden des getrennten Ich
Eigenschaften des Ich-Gedankens
Konsequenzen des Ich-Gedankens
a) Streben nach Macht und Stärke
b) Gestörte Individuation
c) Hemmungen und Prüfungsangst
d) Aus Traurigkeit wird Depression
e) Versuch der kurzzeitigen Ich-Überwindung
f) Wunsch nach Selbstverbesserung
g) Spirituelles Wachstum
Paradoxien des Ich-Konzeptes
Befreiung vom Ich-Konzept
EXPERIMENTE
Erläuterung
1. Kausalketten
2. Die Sprache teilt die Welt
3. Es gibt keine Dualität
4. Der unendliche Regress des Denkers
5. Über das Denken der Gedanken
6. Die Substanz des Ich
7. Das Selbstgewahrsein des Bewusstseins
8. Die Unbegrenztheit des Bewusstseins
9. Die Unpersönlichkeit des Bewusstseins
10. Über die Bindung von Welt und Ich
11. Traum und Wirklichkeit
12. Es gibt nur Bewusstsein
13. Es gibt keine Zeit
14. Erkennen von Vermeidungsstrategien
15. Über das Scheitern der Suche
16. Alles ist gültig und vollständig
17. Alles ist immer durchdrungen von „dem“
18. Von Ethik und Verantwortung
WER ALSO IST ICH?
Vom Ende der Suche
Ein letztes Experiment
Gibt es eine Antwort?
ANMERKUNGEN ZUM HOCHSCHULSEMINAR
Entstehung des Kurses
Aus den Reflexionen der Teilnehmer
und Teilnehmerinnen
ANHANG
Anmerkungen und Referenzen
Literatur zum Thema – eine Auswahl
Zum Autor
Ich – wer ist das? Die Frage provoziert eine gegenständliche Antwort. Ich ist das, ein Ding, ein Objekt, dessen Beschaffenheit man beschreiben kann: groß gebaut, dunkelhaarig, tiefe Stimme. Und betrachten wir im Alltag ein Ich nicht genau so? Ist das nicht die Art und Weise, wie wir uns selbst in unzähligen Profilen der sozialen Media selbst charakterisieren? Wie ist sonst die Selfie-Sucht zu erklären, die unsere Umwelt mit den Fotos unserer selbst regelrecht flutet?
Doch wenn es um unser Selbstbild geht, müsste man dann nicht eigentlich fragen: Ich – was ist das? Dagegen werden Sie sich vermutlich wehren. Sie werden sagen: Wie bitte, ich bin doch keine Sache! Ich bin doch ein Wer. Natürlich, da haben Sie recht. Sie sind – genauer: Ich ist – definitionsgemäß ein Subjekt und kein Objekt. Aber wieso versuchen Sie dann, dieses Wer, dieses Subjekt, ständig wie einen begrenzten und isolierten Gegenstand zu behandeln? Wieso sehen Sie sich ständig von außen? Und wer ist dann eigentlich dasjenige, was sieht? Wer ist dort, an jener Stelle, wo Sie selbst nicht hinsehen können, von der aber Ihr Sehen, Ihr Sein, seinen Ausgang nimmt? Wer also bin Ich?
Gehen wir darum auf die Suche. Unternehmen wir eine kleine Expedition hin zu diesem seltsamen Ich, das anscheinend immer beschrieben werden will und sich in Wahrheit jeder Beschreibung so geschickt entzieht. Und schon haben wir ein neues Problem: Wohin sollen wir gehen? In einer Werbeanzeige habe ich gelesen: „Dein wahres Ich findest du in Peru. Komm und sieh selbst.“ Ist es so einfach? Gibt es tatsächlich einen Ort, wo das wahre Ich verborgen liegt? Ist es gar auf einer Landkarte eingezeichnet? Oder haben wir uns dort nur selbst irrtümlich verortet?
Wir werden uns trotz dieser Zweifel auf den Weg machen. Gemäß der ursprünglichen Frage „Ich – wer ist das?“ werden wir zunächst unserem alltäglichen Selbstbild folgen. Wir werden also dasjenige, was wir für unser Ich halten, noch einmal ganz genau anschauen. Und wir können gespannt sein, was danach noch davon übrig bleibt. Die anschließenden 18 empirischen Experimente dienen der Erforschung unserer tatsächlichen Identität. Sie schimmert womöglich hinter den leidvollen Gefühlen der Trennung und Selbstbeschränkung, die durch das Alltags-Ich entstehen, ständig hindurch. Die Experimente erschließen demnach keine neue Identität. Sie wollen niemanden verändern, sie führen nirgendwohin. Sie versuchen nur zu zeigen, was ohnehin schon immer ist. Bestenfalls verschieben sie den Fokus vom „Was“ zum „Wer“, vom äußeren „Ist“ zum inneren „Bin“, damit wir am Ende aufhören zu fragen „Wer oder was ist Ich?“. Stattdessen können wir verweilen, wo wir immer schon waren: In der gegenwärtigen Existenz des bewussten Erlebens, in der zeitlosen Totalität des ewigen Seins.
Es ist unbestreitbar, dass das „Ich“, was immer darunter verstanden wird, von unserer Gesellschaft wie eine Ikone vorausgetragen wird. Die Zeitung „Die Zeit“ titelte in einem Artikel vom 22.05.2015: „Unterm Strich zähl Ich“ und verweist damit auf die typischen ich-bezogenen Maßstäbe und Begrifflichkeiten unserer Gesellschaft wie Wettbewerb, Karriere, Wachstum, Produktivität, Leistung, Erfolg, Ansehen, Status, Schönheit, Gesundheit, Superstar, Supermodel etc. Wer an diesen Ich-Wettbewerben nicht teilnimmt oder nicht mehr teilnehmen kann, wer nicht nach dem eigenen Vorteil strebt, der wird in gewisser Weise als nicht gesellschaftsfähig oder gar als krank angesehen. Die meisten Therapien und Coachings zielen daher darauf ab, erschöpften Menschen wieder zu neuer Ich-Stärke zu verhelfen. Denn nur auf diese Weise, so ist die allgemeine Ansicht, kann man diesen Menschen zu persönlichem Glück verhelfen.
Im Mittelpunkt des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens steht also etwas, das wir mit „Ich“ bezeichnen und das gleichzeitig Ausgangspunkt und Ziel all unseres Handelns darstellt. Die Identität dieses Ich ist uns so selbstverständlich, seine Bedeutung so vertraut, dass wir nicht darüber nachdenken und es auch nicht in Zweifel ziehen. Aber was ist eigentlich dieses „Ich“?
Natürlich ist der Begriff „Ich“ zunächst rein formal die erste Person Singular unter den Personalpronomen. Fahndet man im Internet nach dem Begriff „Ich“, so stößt man darüber hinaus auf zahlreiche Definitionen, die der folgenden ähneln: „Bezeichnung für die eigene separate individuelle Identität einer menschlichen Person“.1 Mit diesem Satz wird allerdings nicht wirklich etwas erklärt, sondern lediglich ein Begriff durch einen anderen ersetzt, nämlich „Ich“ durch „Identität“. Das ist so ähnlich, wie wenn man „Feuchtigkeit“ durch die Eigenschaft „Nässe“ zu erklären versucht. Dennoch verweist die Definition mit dem Begriff „separat“ auf eine grundsätzliche Eigenschaft, ja sogar auf den Knackpunkt der Ich-Identität: Ich, das ist immer Trennung.
Weitere Nachforschungen fördern die Aussagen wichtiger Vertreter der Philosophie und der Psychologie zutage. So erklärt zum Beispiel Immanuel Kant, dass das Ich sich selbst durch den „inneren Sinn“ als ein zeitliches Wesen wahrnimmt. Es hat somit durch die Abfolge von Gedanken und Gefühlen „seine eigene Geschichte“. Der „äußerer Sinn“ lässt die Dinge im Raum erscheinen, wozu der eigene Körper gehört. Das wahre Selbst – das „transzendentale Subjekt“ – kann dagegen laut Kant und seiner „Kritik der Vernunft“ nicht erfahren werden.
René Descartes wiederum führt mit seinem berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ die Ich-Identität auf das menschliche Denken zurück. Ich kann meine Existenz als Geist nicht leugnen. Doch mein Körper kann eine Illusion sein. Er begründet mit der Unterscheidung zwischen Geist und Körper einen Dualismus, der die abendländische Philosophie fortan geradezu penetrant begleitet.
Sigmund Freud schließlich sieht in seinem „Strukturmodell der Psyche“ das Ich als Teil der Persönlichkeit, der zwischen Es, Über-Ich und der Umwelt vermittelt. Spätestens mit den Aussagen der modernen Gehirnforschung büßt das Ich endgültig seine Kontur ein und verliert sich in einer Vielfalt diverser Gehirnfunktionen. So unterscheidet der Verhaltensphysiologe Gerhard Roth2 zahlreiche wechselnde Ich-Zustände wie das Körper-Ich, das Verortungs-Ich, das perspektivische Ich, das Erlebnis-Ich, das Kontroll-Ich, das autobiografische Ich, das selbstreflexive Ich, das sprachliche Ich sowie das ethische Ich und ordnet all diesen Ich-Zuständen die Aktivität bestimmter Gehirnregionen zu.
Mit den Bezeichnungen „Ich“, „Selbst“ und „Ego“ sind für die menschliche Identität mehrere Worte gebräuchlich, deren Unterschied, falls vorhanden, nicht sofort offensichtlich wird. Während die Bezeichnung „Selbst“ häufig im Zusammenhang mit den östlichen Philosophien und Weisheitslehren auftaucht und einen durchaus positiven Beiklang hat, bildet das Wort „Ego“ den eher negativen Gegenpart und findet sich in Ausdrücken wie „Egoismus“, „Egomanie“ oder „Egozentrik“. In diesem Text wird daher in der Regel die im Deutschen gebräuchlichste Form „Ich“ verwendet, da mit ihr am wenigsten Bewertung mitschwingt und sie daher relativ neutral klingt.
In einem Artikel der Zeitung „Die Zeit“ vom 14.08.143 wurden verschiedene Ich-Ansichten katalogisiert, die hier auszugsweise wiedergegeben werden:
Francis Crick (Biochemiker): „Ihr Sinn für Ihre eigene Identität beruht auf dem Verhalten von Nervenzellen“
Thomas Metzinger (Philosoph): „Das Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang“
Max Frisch (Schriftsteller): „Jeder Mensch erfindet sich eine Geschichte, die er für sein Leben hält“
Martin Buber (Religionsphilosoph): „Der Mensch wird am Du zum Ich“
René Descartes (Philosoph): „Cogito, ergo sum – ich denke, also bin ich“
Arthur Rimbaud (Dichter): „Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Es müsste heißen: Es denkt mich“
Harald Schmidt (Entertainer): „Wer soll man denn sein? Wer ist denn schon wer?“
Die einzelnen Aussagen sollen hier nicht kommentiert werden. Aber es wird deutlich, dass unter der Bezeichnung „Ich“ durchaus Unterschiedliches verstanden wird und teilweise gegensätzliche Interpretationsansätze vorhanden sind. Um mehr Klarheit zu schaffen, werden im Folgenden typische Gesichtspunkte unserer Ich-Auffassung diskutiert. Dadurch erhellen sich weit verbreitete Grundannahmen, die uns den Umgang mit den verschiedenen Ansichten erleichtern.
Es ist völlig unstrittig, dass jeder Mensch ein einzigartiges Individuum darstellt. Seine genetischen Dispositionen, körperlichen und geistigen Merkmale und Prägungen sind einmalig. Kein Mensch gleicht dem anderen in seinen Erfahrungen, Überzeugungen, Kenntnissen, Talenten, Ängsten etc. Häufig wird das Ich daher als die Summe dieser individuellen Eigenschaften aufgefasst. Es umfasst somit Geist (Gedanken, Gefühle und Empfindungen) und Körper. Diese Ich-Auffassung kennt ein Innen, das ist der Bereich innerhalb des Körpers, wo auch der Geist verortet wird, und ein Außen, das für die gesamte Umwelt außerhalb des Körpers steht. Zwischen Ich und Nicht-Ich verläuft eine Grenze, die als Hautoberfläche sehr markant in Erscheinung tritt. Diese relativ organische bzw. anatomische Betrachtungsweise des Selbst könnte man auch als „Ich bin der Körper“ zusammenfassen.
Oft wird jedoch eine weitere Grenze zwischen Geist und Körper gezogen, wobei das Ich im Kern nur dem geistigen Anteil zugeordnet wird. Diese Anschauung hat in der abendländischen Philosophie eine lange Tradition und wurde im 17. Jahrhundert von René Descartes mit seinem bereits oben erwähnten Satz „cogito ergo sum“ (Ich denke, also bin ich) auf den Punkt gebracht. Auf Descartes geht auch die Bezeichnung „Leib-Seele-Dualismus“ zurück, die seither für eine dualistische Weltanschauung der Subjekt-Objekt-Trennung steht. Dieser Dualismus bildet bis heute das philosophische Rückgrat vielerreligiöser Anschauungen, die das Ich als unsterblichen Wesenskern (Seele) des Menschen deuten. Die meisten Menschen nehmen sich ja auch so wahr. Sie fühlen sich als eigenständiges (und hoffentlich unvergängliches) Ich.
Das Ich wird hierbei als eine Art Kontrolleur verstanden, der wie in einem Kommandostand im Kopf die Ereignisse überblickt und die Zügel des Handelns in der Hand hält. Dem Körper kommt hingegen die Rolle eines biomechanischen und sensorischen Apparates zu, der dem Ich dient und entsprechend funktional behandelt wird. In diesem Fall ist der Körper sozusagen das Eigentum des kommandierenden Ich, was sich auch in unserer Sprache ausdrückt. Wir sagen zum Beispiel: „Mein linker Fuß kitzelt“. Wir sagen nicht: „Ich Fuß kitzele links“. Dieser Umgang mit uns selbst ist im Allgemeinen so selbstverständlich, dass wir ihn im Alltag nicht in Frage stellen.
Während die Geisteswissenschaften auch heute noch manchmal an der Vorstellung eines feinstofflichen Ich-Kernes (Seele) im Menschen festhalten, interpretiert die moderne Gehirnforschung in der Tradition des Materialismus das Ich als reines Gehirnprodukt und damit als Ergebnis biophysikalischer bzw. materieller Vorgänge. Da sich die Wechselwirkungen materieller Vorgänge nicht auf einen bestimmten Ort eingrenzen lassen, lösen sich – bei genauer Betrachtung – im Materialismus die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich auf. Dennoch wird auch von der Gehirnforschung nach wie vor das Gehirn als Träger der menschlichen Identität hervorgehoben. Der bekannte deutsche Gehirnforscher Martin Spitzer prägte in diesem Zusammenhang den Satz: „Sie sind Ihr Gehirn!“.4 Das Gehirn als Steuerorgan des Organismus wird auch als Sitz des Bewusstseins angesehen, obgleich es dort bisher noch nicht gefunden werden konnte.
Allen angesprochenen Ich-Auffassungen ist im Grunde gemeinsam, dass sie die menschliche Identität in irgendeiner Weise einzugrenzen versuchen. Das scheint zunächst selbstverständlich zu sein. Denn der Begriff „Identität“ beinhaltet vom Grundverständnis her immer eine Unterscheidung, eine Abgrenzung von etwas, das dieser Identität nicht angehört. Der Begriff „Ich“ als Kennzeichnung einer speziellen Person macht nur dann einen Sinn, wenn es auch jemanden „anderes“ gibt. Die Entwicklung einer eigenen und einzigartigen Identität wird in unserer Gesellschaft normalerweise als etwas Positives gedeutet. Dass jede Festlegung auf eine bestimmte Identität gleichzeitig auch mit einer Beschränkung bzw. Einengung einhergeht, wird nicht so deutlich wahr- bzw. in Kauf genommen.
Eng mit dem Begriff der Identität ist der Vorgang der Identifizierung verbunden. Darunter versteht man, dass die Identität bzw. das Ich mit bestimmten Objekten oder Merkmalen der Umgebung gleichgesetzt bzw. als „identisch“ angenommen wird. Wenn ich mich zum Beispiel mit einer speziellen Fußballmannschaft identifiziere, dann fühle, freue und leide ich mit der Mannschaft, als wäre sie ein Teil von mir. Durch Identifizierung kann sich das Ich ausweiten, vergrößern und dadurch verstärken. Menschen identifizieren sich zum Beispiel mit ihrer Familie, ihrer Heimat oder ihrem Land. Dadurch überträgt sich ein Teil der Macht des Objektes auf das eigene Ich-Gefühl. Doch jede Identifizierung stellt gleichzeitig immer auch eine Abgrenzung dar. Die Identifizierung mit einer bestimmten Fußballmannschaft macht nur dann einen Sinn, wenn es auch eine gegnerische Mannschaft gibt, von der man sich abheben möchte. Jede Identifizierung verstärkt daher die Trennung, die jeder Ich-Anspruch automatisch nach sich zieht.
Ein wichtiger Eckpfeiler unserer Identität ist also das Prinzip der Trennung. Allerdings wird unser Identitätsgefühl in der Selbstwahrnehmung im Wesentlichen auch von zwei weiteren Auffassungen gestützt, die im Folgenden kurz umrissen werden:
Wir stehen der Welt in der speziellen Erste-Person-Perspektive gegenüber. Darin sehen wir uns als Zentrum unserer Wahrnehmungen und die Welt erstreckt sich um uns herum. Wir befinden uns in deren räumlichem Mittelpunkt. Wer oder was sieht, hört, spürt diese Welt? Ich. Das Ich ist der Träger des Bewusstseins, es ist der individuelle Beobachter, der Zeuge der Welt. Dabei gilt auch hier das Prinzip der Trennung. Auf der einen Seite befindet sich das Ich mit seiner Fähigkeit, sinnliche Erfahrungen zu machen, auf der anderen Seite erstreckt sich eine von ihm getrennte Welt, von der die Reizung der Sinne auszugehen scheint. In diesem Fall wirkt die Welt als Sender, das Ich bildet den Empfänger. Umgekehrt erfahren wir uns als die Instanz, von der das Sehen, Hören etc. ausgeht, während die Welt Gegenstand dieser Wahrnehmung ist. Egal wie herum man es betrachtet, in beiden Fällen herrscht eine klare Subjekt-Objekt-Trennung.
Die Ich-Identität entsteht außerdem durch die Überzeugung, dass wir uns selbst gestalten, Gedanken erzeugen und frei auf die Welt einwirken können. Kaum ein Eindruck ist so identitätsstiftend und so hartnäckig wie unser Empfinden, einen freien Willen zu besitzen und nach eigenem Ermessen das Leben kontrollieren zu können. Das Ich ist immer auch der Entscheider in uns. Ein Ich ohne freien Willen würde uns seltsam erscheinen. Aber auch diese Fähigkeit ist nicht ohne Trennung zu haben. Um unabhängig zu sein, muss sich das Ich von seiner Umwelt lösen, es muss sich gleich einer Kompassnadel frei und ohne Widerstand bewegen können, was im Extremfall eine vollständige Isolation voraussetzt. Denn jede Verbindung und jeder Kontakt bedeutet gleichzeitig eine Beeinflussung, die die Freiheit des Ich einschränken würde.
Zusammenfassend könnte man das Ich mit einem König vergleichen, der in einem Wasserschloss residiert, umgeben von einem Wassergraben. Durch die Fenster des Schlosses blickt das Ich hinaus in die Welt jenseits des Grabens. Im Schloss führt es sein Eigenleben, aber es kann auch mithilfe der Zugbrücke Verbindung mit seiner Umwelt aufnehmen, Handlungen ausführen, Macht ausüben. Auf jeden Fall aber ist es vor seiner Umwelt geschützt, wobei der Wassergraben die fundamentale Trennung zwischen ihm und der Welt manifestiert. Unsere übliche Ich-Auffassung kommt ohne eine solche Trennung nicht aus. Unser Bild von einem eigenständigen und unabhängigen Selbst ist immer gleichzeitig ein Symbol der Begrenzung mit allen Konsequenzen, die Grenzen üblicherweise nach sich ziehen.
Unsere Auffassung vom getrennten Ich ist die Voraussetzung für zahlreiche soziale Interaktionen, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens darstellen. So ist unsere Auffassung von Verantwortung üblicherweise an die Vorstellung einer freien Ich-Entscheidung geknüpft. Viele Menschen rühmen sich ihres klugen und bedachten Handelns. Im positiven Fall lassen sich dadurch „eigene“ Verdienste erzielen. Dies führt zu Empfindungen wie Stolz und jemand Besonderes zu sein. Im negativen Fall kann das Ich allerdings auch schuldig werden oder es wird zur Rechenschaft gezogen. In diesem Zusammenhang treten dann Gefühle auf wie Scham, Schande, Schmach bzw. Rache, Zorn und Groll anderen Ichs gegenüber. Auch diese Gefühle machen nur Sinn bei einem selbstverantwortlichen Ich. Was bliebe von diesen gesellschaftlichen Konventionen, wenn es kein selbstständiges Ich gäbe?
Die Auffassung vom getrennten Ich hat aber auch starke Auswirkungen auf die unterschiedlichsten religiösen Vorstellungen. Viele dieser Vorstellungen sind stark egozentriert. Die hinduistische Lehre von der Reinkarnation setzt ein getrenntes Ich voraus, das in einem neuen Körper wiedergeboren werden kann. Gemäß der buddhistischen Lehre vom Karma sammelt das Ich auf Basis von guten und schlechten Taten gutes oder schlechtes Karma für das nächste Leben. Und das christliche Jüngste Gericht entscheidet in ähnlicher Weise über den Platz des Ich im Jenseits. Auch wenn bei diesen Vorstellungen nie ganz klar ist, aus welcher Substanz das über den Tod hinaus verbleibende Ich, die sogenannte „Seele“, sein soll und welche Ich-Beschaffenheit es mitnimmt bzw. überträgt, so kommt keine dieser Vorstellungen ohne eine klare Abgrenzung des Ich gegenüber seiner Umwelt aus.
Schließlich bildet unser Identitätsmodell die ökonomische und psychologische Grundlage für unsere gegenwärtige Gesellschaftsordnung, in welcher Leistung, Produktivität und Wachstum im Vordergrund stehen. Dabei identifiziert sich das Ich wahlweise zum Beispiel mit
seiner persönlichen Leistung, was Erfolgsstreben, Leistungsdenken, aber auch Versagensängste nach sich zieht,
mit seinen Kenntnissen, was nicht selten in Rechthaberei oder in einer ständigen Abwehrhaltung ausartet,
mit dem eigenen Besitz, was mit Verlustängsten einhergeht,
mit dem eigenen Status, der dauerhaft verteidigt werden muss,
mit einer bestimmten Gruppe, die allerdings eine persönliche Angleichung (Uniformität) erfordert und neue Abgrenzungen (zur Outgroup) schafft,
mit der eigenen Individualität, die im schlimmsten Fall in Isolation und Einsamkeit mündet.
Die gesellschaftlichen Konsequenzen unserer Ich-Auffassung liegen also auf der Hand. Sie werden im folgenden Kapitel „Das Ich-Konzept“ weiter vertieft. Aber werden die bisher dargestellten Interpretationen, Ansätze und Definitionen im Kern unserem Ich-Verständnis gerecht? Haben Nervenzellen, Gedanken, Geschichten, Spiegelungen und Entscheidungen tatsächlich etwas mit dem zu tun, was wir als unsere Identität empfinden? Wenn es in uns einen von allem anderen getrennten Ich-Kern gibt, dann müsste er sich doch finden lassen! Wenn eine so offensichtliche Ich-Identität existiert, der sich alles unterordnet, dann müsste sie doch leicht zu isolieren und zu betrachten sein, oder nicht? In einem kleinen Gedankenexperiment begeben wir uns daher auf eine erste Suche nach diesem Ich-Kern.
Stellen Sie sich vor, Sie werden von einem Mitmenschen beleidigt. Vergegenwärtigen Sie sich wenn möglich einen Fall, wo Sie sich gekränkt fühlten. Vielleicht hat Ihnen am Arbeitsplatz ein Kollege oder eine Kollegin oder gar eine vorgesetzte Person in grobem Tonfall Inkompetenz vorgehalten. Das wird Sie sicher nicht unberührt lassen. Vermutlich werden Sie in irgendeiner Weise auf die Attacke reagieren, egal wie. Die Beleidigung hat etwas in Ihnen getroffen. Man könnte auch sagen: Ihr „Ich“ wurde gekränkt. Aber worin besteht in diesem Zusammenhang das gekränkte „Ich“? Was genau wurde in der Kränkung getroffen? Überprüfen Sie, ob die folgenden Ich-Ansichten der Kränkung tatsächlich gerecht werden:
„Ich bin der Körper.“
Viele Menschen setzen sich selbst mit ihrem (einzigartigen) Körper gleich, der als biologisches bzw. physikalisches Objekt für sämtliche Lebensfunktionen verantwortlich ist und sich der Welt bzw. anderen Körpern als Gegenüber präsentiert. Aber kann man einen biologischen, also einen rein materiellen Vorgang tatsächlich beleidigen? Hat er tatsächlich eine Identität, die verteidigt werden müsste? Stellen Sie sich vor, Sie beleidigen eine Maschine. Sie werden wohl kaum eine Reaktion erwarten, es sei denn, die Maschine wäre entsprechend programmiert.
„Ich bin mein Denken/Gefühl.“
Oft wird eine Grenze zwischen dem Körper und dem ihn steuernden Geist gezogen, wobei das Ich nur dem denkenden Teil zugeschrieben wird. In diesem Fall bin ich sozusagen der Ich-Geist mit seinen Gedanken und Gefühlen, der einen Körper „besitzt“. Aber was ist eigentlich ein Gedanke? Bei genauerer Betrachtung erkennt man, dass es sich hierbei um eine geistige Gestalt handelt, die eine bestimmte Aussage oder eine Vorstellung vermittelt. Der Gedanke „Der Tag fängt ja schon wieder gut für mich an“ ist zunächst einfach eine sprachliche Konstruktion, die als innere Stimme erscheinen mag und die eine Behauptung „über mich“ aufstellt. Aber kann man eine sprachliche Konstruktion beleidigen? Haben Worte und Töne eine Identität? In gleicher Weise können wir eine persönliche Identität von Gefühlen in Frage stellen. Die Empfindung „Hitze in der Brust“ kann sehr intensiv werden. Aber hat sie eine Identität?
„Ich bin die/der Wahrnehmende.“
Es ist nicht zu leugnen, dass wir die Welt über unsere Sinne in Form von Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Spüren erfahren. Entsprechend könnten wir uns als den „Seher“ oder die „Hörerin“ definieren. Aber kann man hieraus wirklich eine Identität ableiten? Lassen sich die Feststellungen „Ich sehe rot“, „Ich schmecke Süßes“ oder „Ich rieche Rosenduft“ beleidigen? Vermutlich nicht.
„Ich bin meine Geschichte.“
Viele Menschen beziehen scheinbar ihre Identität aus ihrer persönlichen, einzigartigen Lebensgeschichte, die zweifellos aus unendlich vielen Einzelereignissen zusammengewebt ist und die bei jeder Gelegenheit für grenzenlosen Gesprächsstoff sorgt. Aber auch das hilft uns nicht wirklich weiter. Die Tatsache eines bestimmten Geburtsdatums oder anderer lebensgeschichtlicher Fakten lässt sich wohl auch kaum kränken.
„Ich bin eine außergewöhnliche Person.“
In diesem Fall identifizieren wir uns mit einer außergewöhnlichen Fähigkeit oder einem besonders attraktiven Körpermerkmal. Diese Einstellung ist daher nur ein Sonderfall der Annahmen „Ich bin der Körper“ bzw. „Ich bin mein Denken“, die bereits oben hinterfragt wurden.
„Ich bin der Entscheider.“
Das ist eine besonders hartnäckige Form der Identifizierung. Sie zieht ihre Identität aus der scheinbaren Fähigkeit, eigene Gedanken zu erzeugen und damit freie Entscheidungen herbeizuführen. Viele Menschen empfinden sich als die Instanz, die ihr eigenes Leben kontrolliert, die also die Fäden des Handelns in der Hand hält. Aber selbst wenn es eine solche Instanz tatsächlich geben sollte, dann wäre zu begründen, wieso und inwieweit ein persönlicher Problemlösungs- oder Auswahlprozess beleidigt werden kann. Denken Sie darüber nach!
Möglicherweise fallen Ihnen noch weitere Ich-Identifikationen ein. Sie können das Experiment für sich gerne erweitern, indem Sie jedes Mal fragen, ob sich die jeweilige Identifikation beleidigen lässt. Sie werden vermutlich nie auf eine überzeugende Begründung einer solchen emotionalen Reaktion stoßen. Wir identifizieren uns mit den unterschiedlichsten Objekten, aber kein Objekt trägt wirklich eine Ich-Identität in sich, die sich beleidigen ließe. Jedes Mal, wenn wir glauben, eine treffende Beschreibung für unser Ich gefunden zu haben, dann gerinnt es zu einem Objekt, das sich jeglicher Personifizierung geschickt widersetzt. Beim Versuch, unser getrenntes Ich zu finden, laufen wir also wortwörtlich ins Leere. Kann es sein, dass es dieses getrennte Ich-Objekt überhaupt nicht gibt?
Das vorangegangene kleine Experiment sät erste Zweifel an unserer alltäglichen Auffassung, ein getrenntes Ich zu sein. Doch diese Auffassung stellt eine unserer tiefsten und stärksten Konditionierungen dar, die auch durch handfeste Gegenbeweise nur schwer zu knacken ist. Entsprechende Erfahrungen werden wir in unseren weiteren Experimenten immer wieder unweigerlich machen müssen. Doch wie kommt es zu dieser hartnäckigen Konditionierung? Wie entsteht eigentlich die Auffassung, ein getrenntes Ich zu sein?
Um das zu verstehen, müssen wir weit zurückschauen und uns einfühlen in die ersten Ereignisse unseres noch ganz jungen Lebens. Als Neugeborene lebten wir vermutlich noch eng verflochten mit unserer Umgebung, die geprägt war von unseren elementaren Empfindungen wie Hunger, Freude, Müdigkeit etc. Wir fühlten uns noch nicht getrennt von der Mutter, wir waren ja auch lange genug eins mit ihr. Sinneswahrnehmungen, Körperempfindungen und Gefühle strömten ungefiltert auf uns ein. Es gab noch kein Außen und Innen, kein Mein und Dein, keine Trennung zwischen Körper und Welt. Alles geschah uns ohne die Idee eines persönlichen Zutuns.
Wir nehmen die Welt im Grunde noch immer genauso ganzheitlich wahr wie in dieser Zeit. An der ganzheitlichen Perspektive hat sich bis heute nichts geändert, wie wir noch sehen werden. Es ist lediglich etwas hinzugekommen, was zu einer anderen Interpretation geführt hat. Wann das geschehen ist, können wir nicht genau nachvollziehen. Aber relativ bald schon nach der Geburt konnten wir in unserer Umwelt verschiedene Objekte unterscheiden – und waren es auch nur die Farben der Rassel, die uns penetrant vor die Nase gehalten wurde. Die Welt zerfiel in verschiedene Teile, die sich auch außerhalb von uns zu befinden schienen, denn wir konnten sie nicht immer greifen. Durch das Erlernen von Begriffen und Sprache verstärkte sich der Eindruck einer fragmentierten Welt. Wir werden den Vorgang später in einem unserer Experimente ausführlich nachvollziehen.
Kaum war der Eindruck einer vielgliedrigen Welt da, entstand auch so etwas wie Vorliebe und Abneigung bestimmten Dingen gegenüber. Die erste noch nicht stark ausgeprägte Form von Wettbewerb begann. Schließlich nahmen wir unseren Körper selbst als so ein „Ding“ wahr, das sich von anderen Dingen zu unterscheiden schien. Wir fanden heraus, dass wir offensichtlich ein Objekt waren unter vielen anderen, das schließlich auch einen Namen bekam. Das war nützlich, denn jetzt konnten wir unseren Bedürfnissen Nachdruck verleihen: „Peter Hunger hat“.
Vom Namen zum Ich war es dann vermutlich kein weiter Weg mehr. Schließlich behandelten uns die Bezugspersonen so, als wären wir ein autonomes Selbst, das einen eigenen Willen und eine freie Wahl hat und das sich verantworten muss, wenn es Unfug treibt. Nach einer gewissen Zeit elterlicher Bearbeitung erfolgte dann zwangsläufig die Etikettierung des Selbst als „Ich“ und wir begannen, von uns in der ersten Person zu sprechen. Die Trennung des scheinbar autonomen Ich von der Welt war perfekt.
Wenn man der Gehirnforschung5 glauben darf, besitzen Kinder in den ersten Lebensjahren noch kein sogenanntes „episodisches“ Gedächtnis. Das kindliche Gehirn kann zwar neue Denk- und Verhaltensweisen aufbauen, weiß aber später nicht mehr, woher der Anstoß dazu gekommen ist. Es nimmt das Gelernte sozusagen wie von Gott gegeben auf, ohne es jemals zu hinterfragen. Diese frühkindliche Gedächtnislücke könnte dafür verantwortlich sein, dass wir über unsere ersten Jahre so wenig wissen und weshalb uns unsere Ich-Erfahrung so selbstverständlich vorkommt. Die Trennung des scheinbar autonomen Ich von der Welt erschien uns aufgrund unserer frühkindlichen Amnesie als unumstößlich wahr, eben wie von Gott gegeben.
Aber die frühkindliche Separation bildete natürlich nur den Anfang des Dramas. Für die Kommunikation mit unseren Mitmenschen benötigen wir fortan ein Abbild von uns selbst, über das wir reden und uns austauschen können. Durch die Spiegelung des eigenen Verhaltens im Anderen entsteht ein „Selbstbild“, das nicht das Subjekt, sondern ein Gegenstand der eigenen Anschauung darstellt. Das „Ich“ wird also zum Objekt, über das man kommunizieren und dessen Wirkung auf die Umwelt man erproben kann. Ich habe einmal folgenden Spruch gehört: „Ich weiß, was du denkst, dass ich fühle, und darum tu ich so, als fühle ich anders, womit ich deine Gedanken über mich manipuliere …“ Die Erfindung des Ich-Objektes bzw. des Selbstbildes stellt offensichtlich eine wichtige Voraussetzung für eine komplexe soziale Interaktion dar. Man kann vermuten, dass der Mensch einen großen Teil seiner geistigen Ressourcen in derartige Überlegungen investiert.
Die Objekthaftigkeit der eigenen Ich-Anschauung wird schon in einfachen Aussagesätzen wie „Ich habe Hunger“ deutlich, wobei das genannte Ich ein Objekt darstellt, über das eine Aussage gemacht wird. Noch klarer tritt das Ich-Objekt zutage in alltäglichen Sätzen wie „Ich möchte mich verändern“, wobei sich das Ich in zwei Teile aufspaltet: In einen, welcher verändern will, und in einen anderen, welcher verändert werden soll. Im Laufe des Lebens reift das Ich-Objekt dann zu einen wahren Kunstwerk heran, das in Erzählungen ausgestaltet oder gar dramatisiert und durch unzählige Selbstbildnisse (früher Porträt, heute Selfie) in den sozialen Archiven für die Um- und Nachwelt archiviert wird. Das Ich-Objekt wird zum Ausdruck und Symbol für unsere Selbstauffassung als getrenntes Ich.
So attraktiv das Selbst der Umwelt gegenüber auch immer präsentiert wird, es beinhaltet im Kern auch immer negative Attribute, die nicht zuletzt auf frühkindliche Erfahrungen zurückgehen. Wir benötigen nicht viel Phantasie, um uns die Erfahrungen von Einsamkeit und Verlassenheit auszumalen, die durch die zwangsläufige Trennung von der Mutter entstehen. Hinzu kommt der schmerzhafte Eindruck der Bedürftigkeit und Hilflosigkeit, der wohl keinem Lebewesen erspart bleibt, das nicht das Glück hatte, ein bereits recht gut ausgerüsteter Nestflüchter zu sein statt ein nackter und blinder Nesthocker. Und schließlich müssen Menschenkinder unglücklicherweise fast alles erst lernen, was auch nicht gerade dazu beiträgt, dass sich das junge Wesen als komplett und mangelfrei erfährt.
Es ist sicher keine besonders neue psychologische Weisheit, dass Babys und Kleinkinder „echte“ Zuwendung, Einfühlung und Bestätigung benötigen, um eine sichere Basis für ihre Entwicklung und Selbsterprobung zu haben. Die eigene Unvollkommenheit drückt weniger schwer, wenn man trotzdem und ohne Gegenleistung bedingungslos geliebt wird. Aber wo finden sich schon so ideale Verhältnisse? Sie mögen aus eigener Erfahrung selbst beurteilen, ob diese förderlichen Bedingungen häufig gegeben sind oder doch eher Ausnahmen darstellen.
Vermutlich ist Liebesmangel kein Phänomen bestimmter sozialer Gesellschaftsschichten. Er findet sich auch und vielleicht gerade in den ansonsten bestens versorgten Familien, wo Kinder zur elterlichen narzisstischen Selbstdarstellung missbraucht werden. Die Frühförderung von Kindern durch Sprachunterricht, Logopädie, Musik, Physiotherapie etc. hat heute ungeahnte Ausmaße angenommen. Im Fernsehen haben Kinder-Castingshows Konjunktur, und schon in der Babyzeit überbieten sich Eltern mit der Präsentation der herausragenden Sprach-, Ess- und Schlafgewohnheiten ihrer Kinder.
Neulich habe ich auf einem Spielplatz eine Mutter beobachtet, die mit abgewandtem Körper ihr schluchzendes Kind ausschimpfte, weil es sich ungeschickterweise beim Rutschen am Rand der Rutsche den Kopf angeschlagen hatte. Ich fürchte, dass dieses Reaktionsmuster kein Einzelfall darstellt. Die fatale Wirkung einer solchen Reaktion wird klar, wenn wir uns bewusst machen, dass das Kind sich selbst alleine die Schuld für seine Unvollkommenheit zuschreibt. Es macht sich selbst dafür verantwortlich, dass es die elterlichen Erwartungen nicht zu erfüllen vermag. Zu der Erfahrung der eigenen Unvollkommenheit gesellt sich auf diese Weise noch der Eindruck der Schuldhaftigkeit, was das persönliche Unglück komplettiert und die Selbstwahrnehmung als getrenntes Ich zementiert. Der Eindruck, eine getrennte Person zu sein, verknüpft sich in engster Weise mit dem Gedanken „Ich bin nicht gut genug“, der das ganze weitere Leben zutiefst prägen kann.
Natürlich beeinflusst die eigene Grundauffassung „Ich bin ein getrenntes und mangelhaftes Ich“ auch den Umgang mit den eigenen Kindern, womit sich eine entsprechende Haltung in der Erziehung begründet und sich der Kreis aus Anklage und Mangelempfinden schließt. Die Weitergabe der sogenannten „narzisstischen Störung“ von Generation zu Generation wird zum Beispiel in den Büchern von Alice Miller6 anschaulich beschrieben, ist aber auch sonst ein weit verbreitetes Thema in der Psychologie (siehe zum Beispiel auch Hans-Joachim Maaz7 „Die narzisstische Gesellschaft“).
Wie bereits gesagt, begreift sich ein Kleinkind ab einem bestimmten Zeitpunkt als ein Objekt inmitten vieler anderer Objekte. Dadurch findet eine erste fundamentale Trennung statt. Empfand sich das Kind zuvor noch als Bestandteil der Umgebung, sieht es sich jetzt als ihr Gegenüber. Die damit einhergehende räumliche Aufteilung weist jedem Bestandteil selbstverständlich nur einen begrenzten Platz zu. Mit seiner Verdinglichung reduziert sich das Selbst zwangsläufig auf einen endlich großen Raum. Es verliert seine Vollständigkeit, seine Ganzheit.
Gleichzeitig mit der räumlichen Aufteilung dämmert es dem jungen Leben, dass auch seine Lebensspanne nicht unendlich, sondern zeitlich begrenzt ist. Ihm wird bewusst, dass es so etwas wie einen Tod gibt. Dieser unangenehme Gedanke bereitet die zuverlässige Grundlage für alle Arten von Ängsten, ja er stellt vermutlich die tiefe Ursache jeder Angst dar.
Und schließlich wird das sich entwickelnde Selbstbild relativ häufig durch diverse Erfahrungen von Hilflosigkeit, Verletzlichkeit, Unwürdigkeit und Erniedrigung geprägt. So färbt sich das Selbstbild quasi „negativ“ ein und der Gedanke „Ich bin nicht gut genug“ gräbt sich tief unter die Oberfläche ein. Schließlich ist zu bedenken, dass allein schon das Gefühl der Trennung ein Zustand des Mangels darstellt, da das „Ich“ in der Trennung niemals vollständig sein kann. Insofern bleibt auch unter den besten Umständen, im behütetsten Elternhaus unter der Wirkung bedingungsloser Liebe, der Eindruck des Mangels nicht ganz aus.
Hat man diese einfachen Mechanismen durchschaut, dann ist auch völlig klar, weshalb viele Menschen von einem fast manischen Drang nach Selbstbestätigung angetrieben werden. Ihr Leben versteht sich als ständige Beweisführung gegen ein mutmaßliches Manko, als Dauerkompensation eines Gefühls der Unvollkommenheit. So erklärt sich die lebenslange Suche nach der eigenen persönlichen Erweiterung und Verbesserung. Das getrennte Ich möchte auf diese Weise seine Ganzheit wiedererlangen, die es durch seine fragmentierte Weltsicht scheinbar verloren hat. Die damit einhergehende Ablenkung und Zerstreuung erscheint zudem als probates Mittel gegen die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Der Wunsch nach persönlicher Erweiterung, Ablenkung und Selbstverbesserung ist daher die Antwort auf die fundamentale räumliche, zeitliche und psychische Trennung.
Nun lauert die Angst vor der eigenen Endlichkeit und Unvollkommenheit nicht irgendwo in der fernen Vergangenheit oder Zukunft, sondern sie wird als gegenwärtiges Unbehagen empfunden. Aufgrund unserer frühkindlichen Amnesie handelt es sich für uns um eine unumstößliche, existentielle Gewissheit, die immer dann verstärkt zutage tritt, wenn wir im gegenwärtigen Moment mit uns selbst konfrontiert werden. Das Grundempfinden im Zusammenhang mit dem Ich-Gedanken ist daher immer eine Unzufriedenheit, ein Widerwille gegen den Status quo, eine Allergie gegen den jetzigen Moment.
Wir leben immer im Aufbruch zu neuen Ufern, auf der Suche nach Glück, auf dem Weg zu einem „Dort“ und „Dann“, wo es uns mutmaßlich besser gehen wird. Man könnte daher das Grundempfinden des getrennten Ich vereinfacht durch einen Pfeil charakterisieren, der vom gegenwärtigen Moment, vom „Hier“ und „Jetzt“, weg weist zu einem „Dort“ und „Dann“. Oder verkürzt ausgedrückt: Das „Ich“ will immer „wohin“.
Wenn Ihnen die obige Analyse zu theoretisch oder zu drastisch erscheint, dann überprüfen Sie das Gesagte durch eine kurze Selbstreflexion. Hierzu könnten Sie sich zum Beispiel folgende Fragen stellen:
Bin ich im Augenblick vollständig entspannt (beobachten Sie die verschiedenen Muskelspannungen im ganzen Körper!) oder lebe ich in der Erwartung des nächsten Augenblicks?
Bin ich mit dem jetzigen Augenblick tatsächlich zufrieden oder schweifen meine Gedanken schnell ab und beschäftigen sich mit Zukünftigem/Vergangenem?
Was stört mich am gegenwärtigen Moment?
Welche Ziele verfolge ich gerade in meinem Leben? Was möchte ich erreichen? Worauf arbeite ich hin?
Bereitet mir das Verfolgen dieser persönlichen Ziele Freude oder eher Mühe/Stress?
Wird durch das Erreichen der Ziele tatsächlich ein dauerhafter Zustand von Zufriedenheit und Glück bewirkt?
Kann durch (lebenslange) Ich-Bestätigungen ein persönliches Mangelgefühl tatsächlich ausgeglichen werden?
Wann fühle ich mich wirklich glücklich?
Normalerweise halten wir unser mühsam zusammenkonstruiertes Selbstbild für unser „wahres Ich“. Auf die Frage nach unserer Identität antworten wir in der Regel mit der Aufzählung diverser Attribute wie Geschlecht, Beruf, Alter etc. Wir behandeln also unser Ich wie ein Ding, das man definieren und beschreiben kann. Auch unsere Gedanken drehen sich fast ständig um unser Selbstbild, um dessen Aussehen, Status und Wohlbefinden. Dabei entgeht uns, dass das Selbstbild keine eigene Identität besitzt, sondern lediglich ein „Bild“ darstellt.
Würden Sie alle Gedanken über Ihr Ich nach und nach loslassen, dann würde Ihr Selbstbild mit all seinen Eigenschaften sang- und klanglos im Nichts verschwinden. Aber keine Angst. Auch wenn das im Moment wie ein Widerspruch klingt, Sie selbst mitsamt Ihrem Identitätsgefühl würden dadurch natürlich nicht sterben, es würde nur eine Vorstellung wegfallen, der außerhalb ihrer imaginären Gestalt ohnehin keine eigene Realität zukommt.
Im Folgenden sind stichpunkthaft typische Eigenschaften zusammengestellt, die häufig mit dem „Ich“ in Verbindung gebracht werden. Wie gesagt, es handelt sich hierbei nicht um Wahrheiten, sondern um Ansichten, Konzepte und um übliche Reaktionsmuster, die mit der Idee „Ich“ zusammenhängen. Und da es hier zweifellos von Mensch zu Mensch Unterschiede gibt, dürfen Sie gerne für sich selbst nachspüren, ob die genannten Punkte auf Ihre Sichtweise zutreffen oder nicht.
Typische Eigenschaften des Ich-Gedankens:
Das Ich ist der Kristallisationspunkt des Denkens. Das Denken kreist um das Ich, um dessen Wohlergehen und Verteidigung, um dessen Vergangenheit und Zukunft.
Das Ich möchte immer etwas bekommen (Wunsch) oder etwas vermeiden (Angst), wobei jeder Wunsch auch eine Art der Vermeidung darstellt, nämlich der Vermeidung des vermeintlich unvollkommenen augenblicklichen Zustandes.
Das Ich schließt aus, hält Distanz und grenzt sich von anderen ab. Es steht in dauerhaftem Wettbewerb und hält sich entweder für unter- oder für überlegen.
Das Ich vergleicht sich ständig, da es durch Abgrenzung seine Identität erfährt. Selbst als „Opfer“ fühlt es sich moralisch überlegen, was eine sehr starke psychische Kraft darstellt.
Das Ich ist immer der Chef. Es ist der Besitzer von Dingen, des Körpers, der Gedanken, Gefühle und des freien Willens.
Das Ich kann Verdienste und Ruhm erlangen, aber auch schuldig werden.
Der Ich-Gedanke führt zu unterschiedlichen Identifizierungen, wodurch das Selbstwertgefühl potentiell steigt. Identifizierungen sind immer Beschränkungen und Abgrenzungen, die auf eine Hierarchie (Über- und Unterlegenheit) hindeuten. Beispiele wären: Ich bin diejenige/derjenige, die/der dies und das kann, so und so aussieht, dies und das besitzt, dies und das weiß, sich so und so verhält, so und so denkt etc.
Das Ich identifiziert sich mit der „Person“, die ein äußeres Bild darstellt, das wir von uns haben bzw. das wir der Welt von uns anbieten (personare [lat.]: durch eine Maske sprechen).
Die Identifikation mit vergänglichen Merkmalen fördert das Ich-Gefühl der Unvollständigkeit, Bedürftigkeit und Sterblichkeit.
Das Ich ist nur ein Bruchstück und ständig gefährdet. Dadurch wird die ursprüngliche Vorstellung der Mangelhaftigkeit ständig bestätigt und verstärkt. Das Ich ist eine ewige Baustelle.
Die Vorstellung vom getrennten Ich speist sich zumeist aus unangenehmen Gefühlen der Unvollständigkeit und Mangelhaftigkeit, die dem gegenwärtigen Moment, dem Hier und Jetzt, zugeschrieben werden. Die damit verbundenen Vermeidungsstrategien führen zu allen Arten von Anstrengungen, um dem zu entkommen, was man für unvollkommen und mangelhaft hält. Diese Vermeidungsstrategien sind so vielfältig, wie es Menschen gibt, aber sie haben alle gemeinsam, dass sie auf unterschiedliche Weise das angekratzte Ich-Gefühl aufzupolieren versuchen. Hierzu gehört die Lebensausrichtung auf Stärke und Macht genauso wie der Versuch, die eigene Person zu verbessern, in diversen Aktivitäten Lebensglück zu finden oder gar spirituelle Erleuchtung zu erlangen. Im Folgenden werden einige dieser Lebensstrategien als Konsequenz des Ich-Gedankens näher betrachtet, wobei insbesondere auch die damit verbundenen Schwierigkeiten und Paradoxien zum Vorschein treten.