Ich werde fliegen - Dana Czapnik - E-Book

Ich werde fliegen E-Book

Dana Czapnik

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Beschreibung

New York, 90er-Jahre: Lucy Adler ist klug und hinterfragt alles und jeden. Auf dem Basketballplatz ist sie ein Ass. Nichts liebt die 17-Jährige mehr, als mit ihrem Freund Percy Körbe zu werfen und andere Jungs in Matches zu besiegen. Doch in ihrer Schule bringt ihr dieses Talent gar nichts: Angesehen sind dort nur die Mädchen, die mit dem Strom schwimmen, immer perfekt aussehen und am Spielfeldrand die Jungs anfeuern. Lucy dagegen diskutiert mit Percy über französische Existenzialisten und zweifelt alle angeblichen Selbstverständlichkeiten im Leben an. Sie liebt Percy seit einer gefühlten Ewigkeit – und umso mehr schmerzt es sie, dass er zwar alle Gedanken mit ihr teilt, aber stets eine oberflächliche Schulschönheit als Freundin wählt. Wie kann sie ihren Weg in sein Herz finden? Und wie ihren Weg in eine selbstbestimmte Zukunft, in der sie alle Freiheiten hat wie ein Junge, aber trotzdem eine junge Frau bleibt?

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Seitenzahl: 405

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Das Buch

New York in den 90er-Jahren: Lucy Adler ist klug und hinterfragt alles und jeden. Auf dem Basketballplatz ist sie ein Ass. Nichts liebt die 17-Jährige mehr, als mit ihrem besten Freund Percy Körbe zu werfen und andere Jungs in Matches zu besiegen. Doch in ihrer Schule bringt ihr dieses Talent gar nichts: Angesehen sind dort nur die Mädchen, die mit dem Strom schwimmen, immer perfekt aussehen und am Spielfeldrand die Jungs anfeuern. Lucy dagegen diskutiert mit Percy über französische Existenzialisten und zweifelt alle angeblichen Selbstverständlichkeiten im Leben an. Seit einer gefühlten Ewigkeit ist sie in Percy verliebt – und umso mehr schmerzt es sie, dass er zwar alle Gedanken mit ihr teilt, aber als Freundin schon wieder die nächste oberflächliche Schulschönheit wählt. Wie kann sie ihren Weg in sein Herz finden? Und wie ihren Weg in eine selbstbestimmte Zukunft, in der sie alle Freiheiten hat wie ein Junge, und trotzdem eine junge Frau bleibt? Dann geschieht eines Abends zwischen Lucy und Percy etwas, das alles verändert ...

Die Autorin

Dana Czapink wurde in New York geboren und studierte dort die schönen Künste. Anschließend arbeitete sie als Redakteurin für das Sportmagazin ESPN, die United States Tennis Association und die Arena Football League. 2017 wurde sie für ihre literarischen Texte mit dem Förderpreis des Center for Fiction ausgezeichnet. 2018 war sie Literaturstipendiatin der New York Foundation for the Arts. »Ich werde fliegen« ist ihr Debütroman. Sie lebt mit ihrer Familie in Manhattan.

Dana Czapnik

ich werde fliegen

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Stefanie Frida Lemke

Die Originalausgabe erscheint unter dem Titel The Falconer bei Atria Books, einem Imprint von Simon & Schuster, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 by Dana Czapnik

Copyright © 2019 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte sind vorbehalten.

Redaktion: Steffi Korda und Astrid Finke

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München,

unter Verwendung einer Illustration von © Lynn Buckley

Zitatnachweis (Abdruck mit freundlicher Genehmigung

des Rowohlt-Verlags): Simone de Beauvoir,

Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau.

Deutsche Übersetzung (Neuübersetzung)

von Uli Aumüller u. Grete Osterwald.

Copyright © 1951 Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg;

1992 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg (für Neuübersetzung)

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23741-7V001

Für meine Eltern,

Tobie und Sheldon Czapnik

Heutzutage wird es (der Jugendlichen) möglich, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, statt es dem Mann zu überlassen. Wenn sie sich von ihrem Studium, ihren sportlichen Aktivitäten, ihrer Berufsausbildung, ihrem politischen oder sozialen Engagement voll ausgelastet fühlt, kann sie sich von ihrem zwanghaften Gedanken an den Mann befreien, ist sie weniger in sentimentalen oder sexuellen Konflikten befangen. Dennoch hat sie viel größere Schwierigkeiten als der junge Mann, sich als autonomes Individuum zu vollenden. (…) ihre Bemühungen (werden) weder durch die Familie noch durch die Sitten begünstigt. Darüber hinaus räumt sie dem Mann, der Liebe, auch dann einen Platz in ihrem Leben ein, wenn sie sich für die Unabhängigkeit entscheidet. Oft fürchtet sie, ihren Weg als Frau zu verfehlen, wenn sie sich ganz in die Sache hineinstürzt. Dieses Gefühl bleibt vielfach unausgesprochen, aber es ist da, es verdirbt gefaßte Absichten, es setzt Grenzen.

Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht

NEW YORK CITY

1993

Touch ist ein wesentliches Element

Der Ball ist ein Gesicht. Gezeichnet von Alter und Wetter, Narben und Lachen. Nein, es ist kein Gesicht. Es ist eine große, runde Welt mit Spalten und Schluchten, die auf tektonischen Platten umherrutschen. Ich lasse die Welt hart auf dem schwarzen Asphalt aufprallen, und als sie zurück in meine Hand springt, ist sie mit einer dünnen Schicht New Yorker Diamantenstaub bedeckt: Asphaltkrümel, Glas, kristallisierte Abgase vom West Side Highway. Die Welt fühlt sich an wie ein Stoppelbart – oder wie ich mir vorstelle, dass sich ein Stoppelbart anfühlt –, und der Ball ist wieder ein Gesicht. Ich lasse ihn erneut auf dem Boden aufprallen, und als er das nächste Mal in meiner Hand landet, ist er wieder was anderes. Eine Sonne. Ein roter terrestrischer Planet. Ein multidimensionales Sphäroid aus Kuhhaut, gefüllt mit Stickstoff und Sauerstoff. Was auch immer der Ball ist oder was auch immer ich mir vorstelle, was er ist, er hat eine magische Macht.

Aus den Augenwinkeln sehe ich Percy. Gliedmaßen wie ein Windspiel im Wirbelsturm. Er steht frei. Will den Ball. Aber ich hab es unter Kontrolle. Ich hab das ganze Spiel schon den Touch. Ich dribbele die Sonne ganz entspannt auf Knöchelhöhe, als würde sie am Horizont immer wieder unter- und aufgehen. Unter und auf. Abgeben kommt nicht infrage. Der Typ, der mich deckt, hat die vergangene Klasse eines ehemaligen College-Spielers: einen kraftvollen Wurf, aber Knie, die nur bei jedem zweiten Mal funktionieren. Kein ernsthafter Gegner für Lucy Skywalker. Ich bin kleiner, aber viel schneller, und ich hab einen furchteinflößenden ersten Schritt und schlanke, straffe Muskeln, denen ich absolut vertraue.

Der Typ ist eine einfache Nummer. Unvorbereitet und stocksauer, als ich ihn links liegen lasse. Ich springe hoch und feuere von einer Stelle in der unteren Atmosphäre, wo die Schwerkraft abgeschwächt ist, einen Regenbogen ab. Der rote Planet fliegt durchs Kettennetz, ohne irgendwas zu berühren. Als ob er ins perfekte Zentrum eines schwarzen Lochs gesogen wird. Swoosh. Prallt sanft auf dem schwarzen Platz auf. Setzt einen Punkt ans Ende dieses Siegs in einem spontanen Spiel.

Mein Gegner steht einfach nur da, Hände in den Hüften, und guckt mich kopfschüttelnd an. Grinst doof. Der Schweiß läuft ihm in Strömen übers Gesicht. Ich freue mich diebisch. Bin aber nach außen hin total cool. Ich finde es großartig, es alten Knackern, die mich für leicht besiegbar halten, zu zeigen.

»Mädchen«, sagt er, »du bist der Wahnsinn, du bist echt der Wahnsinn«, nimmt meine Hand und zieht mich an sich, schlägt mir dreimal auf den Rücken und umarmt mich, verschwitzt wie er ist, wie einen echten Kumpel.

Es gibt nur einen Ort im ganzen Universum, wo ein Pizza-Bagel – ein jüdisch-italienisches Mädchen – genau dieses Kompliment von einem Schwarzen mittleren Alters bekommt. 40. Breitengrad und -73. Längengrad. Guckt es im Atlas nach.

»Ego-Zocker!«, sagt Percy, als er schlendernd auf mich zukommt. Wie zu Musik. Er hängt mir seinen lilienweißen Arm mit den blassbraunen Sommersprossen über die Schultern und jammert: »Ich war frei, Mann.«

Ja, und ich auch. Doch ich grinse ihn nur an, als wollte ich sagen: Pech gehabt. Der Blödmann sieht nur noch besser aus, wenn er angepisst ist. Sogar mit dem ungleichmäßigen, dünnen Bart und seinen fettigen Haaren und dem rauswachsenden Topfschnitt, den er schon mit fünf hatte. Irgendwas an dieser Mischung aus Schweiß und Drakkar Noir und der sportlichen Herausforderung hat eine ziemlich starke Wirkung auf mich.

Die alten Typen hauen ab, mit den üblichen Ausreden. Muss nach Hause. Schon spät. Meine Frau. Jaja, was auch immer. Ich kenne den wahren Grund. Es macht keinen Spaß, von Highschool-Kids den Arsch vollzukriegen, besonders wenn eins davon ein siebzehnjähriges Mädchen ist.

Sie nehmen die Rote-Sphäroid-Gesichts-Sonne mit. Ich hab den Ball erst vor einer halben Stunde zum ersten Mal getroffen, aber ich weiß jetzt schon, dass ich ihn bedingungslos liebe und er mich auch, und zwar auf eine Weise, wie es keine auf Kohlenstoff basierende Lebensform jemals tun wird. Traurig sehe ich ihm nach, wie er unter den Arm meines Gegenspielers geklemmt verschwindet. Ich sollte einen Ball nicht mit so viel Magie aufladen, aber wenn ich einen in der Hand halte, wird aus Lucy Adler, dem unsichtbaren Mädchen, Lucy Adler, Kriegsgöttin von Mannahatta, der Insel der vielen Hügel. Das Spielfeld ist meine Telefonzelle. Ich verwandle mich.

Percy sagt: »Ich hab Lust auf bisschen Action eins gegen eins.«

Ach ja? Ich auch. Aber auf eine andere Art von Action. Seufz. Dummes Mädchen, er ist nicht interessiert.

Natürlich spiele ich mit ihm. Ich spiele mit ihm, obwohl er mir letztes Mal im Eifer des Gefechts seine knochige Schulter ans Kinn gerammt und mir den Schneidezahn angeknackst hat. Wenn ich mit der Zunge drüberfahre, fühle ich immer noch den Sprung. Ich spiele mit ihm, obwohl er fast fünfzehn Zentimeter größer ist als ich und es echt draufhat – er ist ein erstklassiger Post Player, der in der Zone mit genauso viel Finesse spielt wie ein echter Shooting Guard. Ich spiele mit ihm, obwohl ich verlieren werde. Denn wenn ich mit ihm spiele, kann ich ihn berühren. Und beim Aufposten seine Brust an meinem Rücken spüren.

Ich nehme meinen Ball, der die ganze Zeit am rostigen Metallzaun auf seinen Einsatz gewartet hat. Er ist ein bisschen älter als der, mit dem wir davor gespielt haben, das Leder hat keine Gänsehaut mehr. Er ist keine Sonne, kein Planet und kein Gesicht. Er fühlt sich schwerer an, weniger ätherisch. Ich hab schon Spiele verloren mit diesem Ball. Der Ball, mit dem ich vorher gespielt hab, wird immer perfekt für mich sein. Das ist mir auf brutale Weise nur zu bewusst.

»Bin dabei«, sag ich. »Du kriegst dein übliches Handicap.«

»Okay, ich geh nicht in die Zone. Sonst hätt ich ja auch sofort gewonnen.«

Es gab eine Zeit, da hab normalerweise ich Percy geschlagen. Die ganze Mittelschule durch war ich größer als er, und er hatte noch nicht raus, wie er ein Crossover verteidigt. In den Jahren hab ich so oft gegen ihn gewonnen, dass es eine ganze Weile gedauert hat, bis er unser Sieg-Niederlage-Verhältnis umkehren konnte. Seit wir an der Highschool sind, macht er es mir allerdings ganz schön schwer. Es ist nie selbstverständlich, dass er mich besiegt, doch ohne erzwungenes Handicap gewinne ich nur noch selten.

»Ich fang an«, sag ich.

Ich lasse mir Zeit. Pirsche mich wie ein Wolf an der Dreipunktlinie entlang. Er weiß nicht, wie hart ich den ganzen Sommer über an meinem Distanzwurf gearbeitet hab, und so lässt er etwas Abstand, um meinen Weg zum Korb zu verteidigen. Ich dribbele langsam auf die linke Seite, gerade innerhalb der Dreipunktlinie, meiner neu entdeckten Lieblingsposition.

Swoosh. Perfekt. Das Kettennetz macht ein Geräusch, so leise, als würde jemand einen Rosenkranz beten.

»Reines Glück«, sagt Percy, als er den Ball aus dem Korb fängt.

»Können.«

Wenn es einen Beruf gibt, irgendwas, das ich in meinem Leben als Job machen, womit ich mein Geld verdienen kann, was sich genauso gut anfühlt, wie einen Sprungwurf zu versenken, dann will ich genau das machen. Genau dafür will ich bezahlt werden. Ich hab versucht, das meiner Studienberaterin zu erklären, aber sie hat nur gelacht, »Das ist echt süß« gesagt und gemeint, ich solle mich besser auf meinen Collegevorbereitungskurs in Physik konzentrieren. Okay, wenn ich einen Ball aus drei Metern Entfernung vom Korb werfe und fünfzehn Zentimeter hoch springe, kann ich den Verlauf der Parabel berechnen, kein Problem. Und was bedeutet das dann? Nichts. Ganz genau. Das Einzige, was mich im Moment interessiert, ist das Gefühl. Hitze zu spüren. Den Ball zu spüren. Gedanken zu spüren. Meinen Körper zu spüren. Und nichts fühlt sich so gut an, wie den Ball direkt vor den Augen deines Gegners durchs Netz sausen zu lassen. Nada.

Da Percy überzeugter Darwinist ist, spielt er nach strengen Freiplatz-Regeln, was bedeutet, dass ich den Ball kriege: Winner’s Ball. Im Sportunterricht spielen wir immer Loser’s Ball, denn das gegnerische Team soll eine Chance haben, wieder ins Spiel zu kommen. Ob jemand meint, dass bei einem Pick-up-Game Winner’s oder Loser’s Ball gespielt werden sollte, sagt eigentlich schon alles über diesen Menschen.

Diesmal mach ich’s andersrum. Nutze meine Schnelligkeit. Percy lässt mich mitten im Schwung abbrechen. Mit seiner unmenschlichen Spannweite und den flinken Füßen spiegelt er jede meiner Bewegungen. Ich drehe mich um und werfe mich mit meinem ganzen Gewicht gegen ihn, dribbele den Ball und schiebe Percy rückwärts in Richtung Korb, Stück für Stück. Er hält dagegen, aber nicht so stark, wie er es bei einem Gegner seiner Größe machen würde. Arschloch. Ich will nicht, dass er’s mir leicht macht. Dafür zeig ich’s ihm. Ducke mich unter seinem Arm durch und lege den Ball rein.

»Du willst es auf die harte Tour? Kannst du haben«, sagt er.

Ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Als würden Blitze aus meinen Fingerspitzen schießen. Als würde ich die Seele einer Lucy Adler aus einer anderen Dimension herchanneln. Einer, in der ich unendlich schön und sexy und lässig bin.

Ich kneife die Augen zusammen und flöte: »Dann zeig mal, was du kannst.«

Warum muss ich ihn herausfordern? Seine Arme sind lang und seine Hände schnell, also hebe ich den rechten Arm, um ihn abzuwehren, und dribbele mit links. Lehne mich mit dem Ellbogen gegen ihn. Er greift quer über mich rüber, streift meine Brüste. Das bisschen, was ich hab, ist mit einem Sport-BH an meine Rippen gedrückt, von daher wird er nichts spüren, was ihn irgendwie berührt. Er schlägt unter meinem Arm durch nach dem Ball, und ich versuche, ihn Richtung Korb zu werfen.

»Foul«, rufe ich, als der Ball hochfliegt und direkt neben Percy aufprallt.

»Nicht dein Ernst. Das war kein Foul. Kein Blut, kein Foul. Sei kein Weichei.«

»Du hast ein kleines Problem mit deiner Selbstkontrolle. Ich versuch nur, dir zu helfen. In einem richtigen Spiel wäre es ein Foul.«

Percy glaubt nicht ans Unterdrücken des Es. Er ist ein vom Lustprinzip regiertes Wesen und kann einem Reach-in-Foul einfach nicht widerstehen. Und da es sich zu gut anfühlt, wenn er damit durchkommt, ist es ihm das Risiko immer wert. »Ach was. Du willst doch nur gewinnen.«

Ich lächle. »Vielleicht.« Ich gehe zur Linie. »Du gibst das Foul also zu?«

»Totaler Scheiß. Aber klar, mach nur. Nimm deinen scheiß Freiwurf. Dann macht es nur noch mehr Spaß, dich zu schlagen.« Er feuert mir den Ball zu. Ich fange ihn, ohne mit der Wimper zu zucken.

Fünfmal dribbeln. In die Knie. Körper aufrichten. Und ab. Verdammt. Knapp daneben. Percy schnappt sich den Rebound, bevor ich überhaupt darum kämpfen kann.

Ich werfe einen kurzen Blick zu den Jungs auf dem Feld neben uns, die fünf gegen fünf spielen. Es sind hauptsächlich Schwarze und Hispanics, aber auch drei Weiße und ein asiatischer Junge sind dabei. Sie sind so alt wie wir, vielleicht ein bisschen älter, und spielen Shirts and Skins. Das Team mit freiem Oberkörper kann es sich auch durchaus leisten: lauter glatte Six-Packs und schöne Bauchnabel. Unter ihren ausgeleierten Nike-Shorts blitzen die Unterhosen hervor. Die Typen rufen: Pass auf. Pass auf. Hier. Hier. Hier. Gib ab. Gib ab. Wirf, du Weichei. Sie klatschen, schlagen einander auf den Rücken, lachen. Der Ghettoblaster spielt die ganze Zeit schon einen Hip-Hop-Mix – Beastie Boys und DAS EFX und jetzt Slam!Duh-dun-uh, duh-dun-uh, Let the boys be boys! Der Lautsprecher kommt mit dem Bass nicht klar. Die Musik scheppert blechern und hart über den Platz. Macht aber nichts. Es geht um den Beat.

Kaum waren wir im Riverside Park angekommen, hat das Team mit Shirts Percy gefragt, ob er bei ihnen mitspielt. Völlig klar. Ich meine, man muss sich das Tier nur mal ansehen mit seinen eins neunzig und den langen Armen und Beinen. Er hat erst mich angeguckt, ob ich einverstanden bin, und dann gesagt: »Klar spielen wir mit.« Und die so: »Nur du, das Mädchen nicht.« Percy hat auf den Platz gerotzt, schön von tief unten hochgezogen. »Euer Problem. Die steckt euch alle in die Tasche.« Mir zerfließt das Herz. Was die Jungs mit Shirts nicht wissen: Percy spielt mit mir im Team besser. Haben die eine Ahnung, wie viele Stunden wir an seinem Alley-Hoop gearbeitet haben? Dass ihm niemand den Ball an genau die richtige Stelle werfen kann so wie ich? Dass wir schon zusammen auf diesem Platz spielen, seit wir Babys waren? Dass wir inzwischen so was wie Basketball-Telepathen sind? Einen Scheiß wissen die.

Ich hab sie stehen lassen und mich zugleich großartig und winzig klein gefühlt. Die können mich mal. Dafür haben wir gegen die dicken Alten gespielt und gewonnen. Auch okay.

Ich übernehme den Rhythmus von ihrem Hip-Hop. Mein momentanes Metronom. Ich gehe auf die Fußballen, versuche, mich bereit zu machen, aber meine Konzentration ist eine Sekunde nicht voll da, und das ist schon zu viel. Percy führt.

»Auf die Tour jetzt also«, sage ich.

»Wenn du weiter so scheiße verteidigst, punkte ich eben.«

»Halt’s Maul und mach schon.«

Diesmal spiele ich die dreckige Verteidigung, von der ich weiß, dass er sie mag. Zwinge ihn auf seine schwache Seite, die rechte. Er lässt die linke Schulter fallen und stößt sie mir ans Schlüsselbein. Ich nehme alle Kraft zusammen und halte dagegen. Setze mein ganzes Körpergewicht ein. Versuche, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er kracht wieder gegen mich, doch wenn er denkt, er kriegt mich so einfach aus dem Weg, täuscht er sich. Kontakt wie dieser ist es, wofür ich lebe. Ich versuche, ihn mit körperlicher Stärke zu besiegen. Stoße ihn kräftig zurück, so kräftig, dass ich tatsächlich anfange zu knurren, als würde die Anstrengung, ihn zu verteidigen, die Hilfe jedes einzelnen Muskels in meinem Körper erfordern, inklusive meines Solarplexus. Jedes Mal, wenn wir wieder zusammenprallen, ist es noch härter. Er knallt mit einer Wucht in mich rein, von der ich jetzt schon weiß, dass ich davon blaue Flecken kriegen werde. Es fühlt sich gut an. Aber lange halte ich das nicht mehr durch. Es wird immer schwieriger, ihn wegzustoßen. Der elektromagnetische Sog zwischen uns ist zu stark. Bei jedem Ächzen von mir wird Percys Grinsen breiter und breiter und … Moment mal. Verdammt. Er spielt mit mir. Er könnte den Ball auch einfach werfen, aber er will mich kämpfen sehen. Neeee. Nicht mit mir. Lucy. Adler. Lässt. Sich. Nicht. Verarschen. Also höre ich auf. Lasse von ihm ab. Er zieht sich zurück, dribbelt ein paarmal und wirft. Sein Shirt fliegt hoch, und ich erhasche einen verführerischen Blick auf die Haare, die ihm zum Bauchnabel hochwachsen. Sie sind aschblond und schweißnass. Verdammt. Ich hätte nicht hingucken sollen. Hoffentlich hat er es nicht gemerkt.

Der Ball fällt hinter mir durchs Netz, und Percy läuft ihn holen. Ich stütze die Hände in die Hüften und sehe in den Himmel, während ich versuche, wieder zu Atem zu kommen.

»Du bist ein Arschloch, weißt du das?«

»Bitte. Du liebst es doch. Gib’s zu.« Er lässt den Ball sanft von meinem Rücken abprallen, an der empfindlichen Stelle zwischen den Schulterblättern.

Ich wünschte, es wäre nicht so.

Das Spiel geht mir viel zu schnell. Nach einem 2:2 steht es auf einmal 4:2, dann 6:2. Wir spielen bis 7, und meine Chance, ihm zu zeigen, dass ich immer noch eine würdige Gegnerin für ihn bin, immer noch fast ebenbürtig, schwindet.

Er führt mit einem ordentlichen Polster, und das eingebildete Arschloch probiert einen Wurf so weit von der Dreipunktlinie entfernt, dass er quasi schon in Downtown Manhattan in der Bowery steht. Der Ball prallt vom Rand ab, und ein Geräusch wie von einer Kirchenglocke hallt in Sinuswellen über den Platz.

Wir rennen los, um ihn zu fangen, aber Percy hat das Adrenalin eines Siegers. Er schnappt sich den Ball und dreht sich zu mir und dem Korb um.

Das ist er, Leute. Der entscheidende Moment. Ich laufe auf ihn zu und gehe in die Knie. Raffe meine Champion-Mesh-Shorts. Mache mich bereit.

Er nimmt den Ball mit seiner riesigen linken Hand, hält ihn einfach hinter sich, als wäre er Jordan, und tippt mit der Fußspitze des Standbeins auf den Boden. Verhöhnt mich. Fordert mich heraus, ihm den Ball zu klauen. Ich bin nicht blöd auf dem Basketballplatz. Vielleicht in anderen Lebensbereichen, aber hier nicht. Er hat diese Scheißnummer schon mal mit mir gemacht, von daher weiß ich, dass ich einfach defensiv bleiben und warten muss, bis der Wichser weiterspielt.

Aber dann guckt er mich an. Guckt mir direkt in die Augen. Versucht, mich mitten im Nahkampf niederzustarren wie in der vierten Klasse. Ich hab keine Angst vor ein bisschen Blickkontakt. Ich sehe ihn an und blinzle nicht ein einziges Mal. Percy hat grüne Augen mit einem tiefen Dunkelblau um die Pupillen und einem Fleck in der linken Iris, der aussieht wie ein Mond in der Umlaufbahn vom Jupiter. Selbst von Hand reingemalt könnte er nicht schöner sein. Was für eine Unvollkommenheit. Es haben sich schon Mädchen wegen weniger in Jungs verliebt.

Ein Miniatur-Fluss aus Schweiß strömt ihm von der Stirn und tropft von seiner Nase. Ich würde ihm den Schweiß vom Gesicht lecken, wenn ich dürfte. Wie er wohl schmeckt? Wie Orange Crush? Er bewegt sich, endlich. Fängt an, Richtung Korb zu dribbeln. Dann nimmt er den Ball auf und umkreist mich, indem er den rechten Arm hinter dem Rücken um meine Taille führt. Ich spüre seine große Hand auf meinem Körper. Meine Pupillen weiten sich. Meine Kapillaren platzen auf. Er springt hoch und rollt den Ball über den Rand hinein.

Game. Over.

Eigentlich müsste ich sauer sein. Er hat sein Handicap ignoriert und ist in die Zone gegangen. Aber ich sage nichts. Die Kriegsgöttin hat den Platz verlassen. Ich bin wieder, wer ich immer bin. Mein Herz schmilzt mir aus dem Brustkorb, sickert durch meine Haut und klatscht auf den heißen, schwarzen Asphalt.

Percy merkt, dass ich enttäuscht bin. »Sorry, Loose, aber es hat sich nun mal so angeboten, das konnte ich mir nicht verkneifen.« Als ob es mir was ausmachen würde zu verlieren.

»Schon okay.« Ich zucke mit den Schultern. Es ist immer okay. Es macht mir nie was aus. Ist schließlich nur ein Spiel.

Ich hole den Ball, der auf den Platz nebenan gerollt ist. Einen Moment bleibe ich stehen und betrachte die Sonne. Nicht den Ball, die echte Sonne. Den Stern, der uns das Leben schenkt. Der gerade hinter den Piers von New Jersey untergeht. Und alle Farben der Welt mit sich nimmt. Erst neulich habe ich erfahren, dass unser Sonnenuntergang heute ganz anders ist als noch in prähistorischen oder vorindustriellen Zeiten. Er ist menschengemacht. Die Farbe kommt von der Luftverschmutzung, von den ganzen Aerosolen. Meine Cousine Violet, fünfundzwanzig und Künstlerin, hat erzählt, das war die Inspiration für Der Schrei. In Indonesien war ein riesiger Vulkan explodiert, woraufhin die Sonnenuntergänge auf der ganzen Welt tiefrot wurden. Die Leute, die noch nie einen roten Sonnenuntergang gesehen hatten, glaubten wohl, das Ende der Welt wäre nah. Aber wir sehen ständig rote Sonnenuntergänge, besonders um diese Jahreszeit, wenn die Luft irgendwie dicker ist. Ich sehe hinauf zu den Vorkriegsbauten aus Stein und Glas neben dem Riverside Park und bewundere die Spiegelung des Lichts.

»Guck dir den Sonnenuntergang an«, sage ich zu Percy, der verschwitzt und schmutzig und golden leuchtend dasteht. »Absolut … vollkommen.« Vielleicht war das Einzige, was mir die ganze Zeit gefehlt hat, einfach das richtige Licht.

»Sei nicht so ein Mädchen.«

Ich boxe ihn so hart gegen den Oberarm, wie ich nur kann. »Leck mich, du Arsch«, sage ich und lache, wie ein Typ lachen würde.

Er verzieht das Gesicht und reibt sich die Stelle, wo ich ihn getroffen habe. Doch er schlägt nicht zurück. Wir gehen vom Platz in den Riverside Park und nach Osten, Richtung Straße. Percy legt mir den Arm um die Schultern, als wäre ich seine persönliche Armstütze, und ich sehe hoch in sein Gesicht. Wäre ich eine andere, wie leicht wäre es, ihn jetzt zu küssen. Könnte ich doch nur meine Sportlichkeit gegen Schönheit tauschen, nur für kurze Zeit, nur um zu sehen, wie es ist.

Er fängt an, mir von einem Buch von irgendeinem französischen Nihilisten zu erzählen, den er gerade entdeckt hat. Mein Arm liegt um seine Taille, und ich spüre, wie seine Lunge sich im Rhythmus seiner Stimme ausdehnt und wieder zusammenzieht. Wir haben das so oder so ähnlich schon oft gemacht. Er wird mir gleich sagen, dass ich das Buch auch lesen soll, damit er jemanden hat, mit dem er darüber reden kann. Und ich werde es lesen, teilweise weil es mich wirklich interessiert, aber hauptsächlich, weil ich mich gern mit ihm unterhalte. Weil es Pfeile und Honig regnet, wenn er in meiner Nähe ist. Schmerzhaft und süß.

Lauf. Lauf. Los! Schneller, schneller. Kopf zurück, Brust raus, Beine treten Asphalt. Nur laufen. Vorbei an der Baptisten-Kirche und dem Obdachlosen Steve, der »Eine kleine Spende, eine kleine Spende« singt, den Brownstones und Vorkriegsbauten voller Schriftsteller und alternder Beatniks und ehemaliger Revoluzzer in ihren mietpreisgebundenen Sechszimmerwohnungen. Vorbei an den architektonischen Scheußlichkeiten des West End, dem Fehler der Moderne, erbaut Mitte des Jahrhunderts. Den langen Hang hinab zum Riverside Drive. Beine von der Schwerkraft den Hügel runterfliegen lassen. Einzige Aufgabe der Muskeln: die newtonschen Gesetze befolgen. Über den Riverside Drive und weiterrennen. Fußgängerampel gar nicht beachten, sind eh zu schnell, um von den Autos erwischt zu werden. Bloß nicht stehen bleiben. Weiterrennen. Vorbei am West-Side-Highway-Parkplatz mit den Pendlern aus New Jersey. Vorbei an den Riverside-Park-Gassigehern mit ihren Hunderudeln. Vorbei an den mit offenem Mund auf Bänken schlafenden Junkies. Schneller. An Percy dranbleiben. Himmel, das Tempo strengt ihn noch nicht mal an. Läuft mit den Molekülen in der Luft um die Wette und gewinnt. Die geschwungene Fahrradrampe runter, am Efeu vorbei und dem alten Graffiti, das aussieht wie paläolithische Höhlenmalerei. Vorbei an der Obdachlosen-Villa im 79th-Street-Boat-Basin. Lauf.

Der letzte Teil ist nur zur Sicherheit. Wir laufen den ganzen Weg zur Promenade am Hudson runter, und Percy rennt zum Geländer und bleibt endlich stehen, bevor James und ich ihn einholen. Alle drei keuchen wir, vornübergebeugt, und versuchen, nicht in Ohnmacht zu fallen oder unser Mittagessen von Burger King wieder von uns zu geben. James lässt sich auf den Boden fallen, dreht sich auf den Rücken, sein Brustkorb hebt und senkt sich. Schließlich beruhigt sich seine Lunge, und das Keuchen wird zu Lachen. Von einem Bullen gejagt. Wenn Percy jetzt reden könnte, würde er es möglicherweise einen Initiationsritus nennen. So wie die Lenape vielleicht vor einem Bären oder einem Wolf geflohen sind, bevor die Niederländer kamen und das Land plattmachten und die Konturen seiner Topografie auslöschten. In einer Zeit vor Asphalt und Stahl und U-Bahn-Tunneln, Injektionsnadeln und silbernen Abzeichen, auf denen »City of New York« steht. Von einem Bullen gejagt. Die Mutprobe der heutigen Jugend. Und so wie die jungen Lenape, die vielleicht genau unseren Weg gelaufen sind, um einem fleischfressenden Raubtier zu entkommen, haben wir gewonnen. Wir sind stärker.

Immer noch nach Luft ringend lehne ich mich ans Geländer und sehe auf den Hudson. Die Lenape nannten ihn »der Fluss, der in beide Richtungen fließt«. Manchmal kann man es mit eigenen Augen sehen. An rauen, windigen Tagen, wenn die Welt nasskalt ist, kann man von der George Washington Bridge aus sehen, dass die Strömung in der Flussmitte nach Norden fließt, weg vom Meer. Dann entstehen leichte Kräuselungen im Wasser, wie ein V. Ich denke an die Leute damals, in ihren hölzernen Kanus – vielleicht waren es Kriegskanus, vielleicht Kanus zum Fischen –, die darin durchs Wasser paddelten und auf einmal völlig unerwartet gegen die Strömung kämpfen mussten. Doch da, wo ich stehe, ist sie nicht zu erkennen. Der graue, unruhige Fluss schwappt bloß gegen die rostigen Hausboote im Hafenbecken. Es gibt einen Grund dafür, dass Melville seinen Roman hier anfangen lässt, auf diesem düsteren Fluss, der sich in den Atlantik ergießt. Doch seitdem wurde er so kaputt gemacht, dass es keinerlei biologisches Leben mehr darin gibt. Er hat die dunkelblaue Schönheit, die er einst gehabt haben muss, verloren. Trotzdem liebe ich ihn, auch wenn er an Regentagen nach Abwasser riecht – so wie Leute, die am Meer aufwachsen, das Meer lieben müssen. Immerhin werden hier keine Leichen reingeworfen. Wer kann schon von der Brücke da oben dem Sog Manhattans widerstehen? Egal ob tagsüber oder nachts. Der Blick von da oben, er kann keinen Krebs heilen oder so, aber er kann garantiert jede denkbare psychische Krankheit heilen, denn in dem Moment, wo man über die Interstate 95 in die Smaragdstadt donnert, ist das Leben eine Postkarte, und auf Postkarten passiert nie was Schlimmes.

»Puh«, schnauft James, während er sich aufrappelt. Er schlägt Percy mit dem Handrücken gegen die Brust. »Mach das nicht noch mal, Perce.« Er lacht, obwohl er es ernst meint. »Ich hab echt keine Kohle, um wegen ’nem Graffiti Bußgeld zu blechen. Du kannst froh sein, dass der Donutfresser nicht so schnell war wie wir.«

»Es ist kein Graffiti. Sag das nicht immer, das ist herabsetzend.«

»Okay, dann halt nicht. Aber wir reden hier von New Yorker Bullen. Die kennen keinen Unterschied zwischen einem Nietzsche-Zitat – oder was auch immer du da geschrieben hast – und einem Gang-Symbol.«

Percy tritt einen Stein unterm Geländer durch und sieht zu, wie er ins Wasser plumpst. »Es war noch nicht mal wasserfest. Das ist abwischbar.«

»Echt?«

»Ja.«

»Warum sind wir dann abgehauen?«, frage ich.

»Schien mir einfacher als eine Erklärung.« Percy wischt sich mit seinem blaugestreiften Hemd den Schweiß von der Stirn.

»Na, dann danke für den Adrenalinkick.« James sieht auf seine Uhr. »Den brauchte ich jetzt, um Latein zu überstehen.«

Mit geschärften Sinnen, ständig Ausschau nach unserem Verfolger haltend, machen wir uns auf den Weg zurück in die Zivilisation, zurück zur Schule. Wo es keine Polizei gibt und mit abwischbaren Stiften auf große weiße Tafeln geschrieben wird, damit wir es in unsere Hefte abschreiben und die Prüfungen bestehen, die uns an gesellschaftlich akzeptable Colleges bringen.

Zum Abschied gibt es High fives und Peace-Zeichen und Versprechungen, uns nach der Schule wiederzutreffen, um noch mehr anzustellen. Percy und James laufen ein paar Blocks Richtung Downtown, zurück zur Colver, der episkopalen Jungenschule, wo sie Kakikosen und ein blaues Jackett mit Wappen auf der linken Brusttasche tragen und jeden Morgen sinnfreie Gebete flüstern. Ich laufe in die entgegengesetzte Richtung zu meiner letzten Stunde an der Pendleton, einer ähnlich schrecklichen, nicht konfessionellen Schule, die dafür bekannt ist, zukünftige korrupte US-Senatoren auszuspucken und die höchste Selbstmordrate aller Privatschulen in den USA zu haben. Gut, das Letzte habe ich mir vielleicht ausgedacht. Ich weiß nicht, ob es Menschen gibt, die makaber genug drauf sind, solche Statistiken zu führen.

Für den Weg zurück zur Schule lasse ich mir Zeit. Ich habe eine Doppelstunde Spanisch vor mir, und der unebene Bürgersteig am Riverside Drive fühlt sich an wie ein nicht enden wollender Gang über die Planke. Als Percy noch mit mir auf die Pendleton ging, war das Leben dort erträglicher. Er war einer der angesagten Schüler, und weil wir beste Freunde waren, ließen die Leute mich meistens in Ruhe. Doch dann flog er Anfang der Neunten von der Schule, weil in seinem Rucksack zum wiederholten Mal Gras gefunden wurde. Das Geld seiner Familie hat ihm einen Platz auf der Colver gesichert, wo außer ihm auch James Fresineau aus Harlem beziehungsweise Haiti neu in seiner Klasse war. Seit Percy nicht mehr auf der Pendleton ist, gehöre ich ganz offiziell zum Abschaum der Schule.

Percy hat ein echtes Problem mit Autoritäten, deswegen hat er eine ganze Weile gebraucht, um mit den Leuten an der Colver warm zu werden, und sogar jetzt noch ist James sein einziger richtiger Freund da. Aber die Sache ist die: Wir spielen beide Basketball. Für Percy ist das soziales Kapital. Er kann zwar keinen der Snobs an seiner Schule ausstehen, aber niemand wagt es, sich über ihn lustig zu machen, denn seit er in der zehnten Klasse dreizehn Zentimeter gewachsen und unglaublich schlaksig geworden ist und außer auf dem Basketballplatz überhaupt nicht mehr weiß, was er mit seinen langen, dünnen Gliedmaßen anstellen soll, ist er der Topscorer an der Colver, und niemand wagt es, sich über ihn lustig zu machen. Bei mir ist es allerdings genau umgekehrt. Dabei mache ich nicht nur die meisten Punkte an meiner Schule, sondern in der gesamten Liga, und das schon seit zwei Jahren, was mir eigentlich denselben Respekt einbringen sollte wie Percy. Aber da ich nicht unbedingt, sagen wir mal, ein zartes Pflänzchen, sondern für ein Mädchen ziemlich groß bin und keine Haare wie in der Pantene-Pro-V-Werbung habe, denken alle, ich wäre lesbisch. Brian Deed – eher bekannt als »F hoch drei«, die jugendfreie Version seines Spitznamens »Frischfleisch-Ficker« – hat es mir letztes Jahr, als ich ihm auf dem Weg zum Kunstkurs auf der Treppe begegnet bin, sogar ins Gesicht gesagt. Es war einen Tag, nachdem ich in einem Spiel gegen das Team von der East Side ein double-double erreicht hatte, und er verpackte es als Kompliment: »Die Lesbe spielt echt gut.« Dann hat er die Hand gehoben, damit ich ihm High five gebe. Ich hab ihm stattdessen in die Eier getreten und wurde nach Hause geschickt. Das Lustige ist: Ich glaube, wenn ich tatsächlich lesbisch wäre und mich an der Schule outen würde, würde ich wahrscheinlich eher akzeptiert, weil die Leute mich dann in ihre Schublade stecken könnten.

Die Einzige an der Schule, mit der ich tatsächlich befreundet bin, ist meine Teamkollegin Alexis Feliz, dieses verträumte und toughe dominikanische Mädchen, das in der einen Minute ein Spiel mit einer Serie von 3-Punkt-Würfen richtig vorantreiben und in der nächsten Minute komplett runterfahren kann. Aber Alexis ist eine der Stipendiatinnen aus den Außenbezirken und muss nach dem Training immer gleich den Schulbus nehmen, weil der Nachhauseweg von der U-Bahn-Station abends zu gefährlich ist. Außerdem hat sie jetzt einen Freund, von daher ist unsere gemeinsame Zeit neben dem Basketball ziemlich begrenzt.

Die Schule ist auszuhalten, wenn ich sie in Zeitfenster einteile: anderthalb Stunden bis Basketball. Drei Stunden, bis ich Percy sehe. Ich hole tief Luft und gehe weiter. Vamos, Lucy. Geh weiter. Geh.

Percy öffnet mit den Daumen eine Zigarettenhülse an der Papierkante und schüttet den Tabak raus, der mit dem Wind davonfliegt. Er streicht sich die dicken, kinnlangen Haare hinter die Ohren, stopft ein paar Knospen in die Hülse und leckt über den Rand. Dann rollt er den Joint wie ein Nudelholz über sein Notizbuch, um das Ding kompakter zu machen. Wir sitzen im Kreis bei mir zu Hause auf dem Dach. Es ist kein schickes Park-Avenue-Penthouse-Dach. Es ist nicht für Partys, Champagnergläser und Teakholz-Liegestühle gedacht. Es ist ein einfaches New Yorker Teerdach, das noch nie sauber gemacht wurde und das wir eigentlich überhaupt nicht betreten dürfen. Bei jedem Schritt fühle ich den Abdruck, den mein Fuß im Teer hinterlässt, und manchmal habe ich Angst, dass das Dach eines Tages nachgibt und wir einfach durch die Wohnzimmerdecke von Mrs. Loo, der Nachbarin über uns, krachen, deren trauriges, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht mir als Kind Albträume bereitet hat.

Die Sonne ist bereits untergegangen und es wird langsam dunkel, aber der Teer ist noch warm von der frühen Septembersonne, die die Stadt den Tag über wie einen Brennofen befeuert hat, und unter dem Saum der Shorts sind meine nackten Oberschenkel schweißnass. Der ganze Staub von den Abgasen der Taxis und Busse hat sich auf dem Dach abgesetzt und klebt mir jetzt an der Haut. Wären wir in einem Stück von Tennessee Williams, würde es sich vielleicht anfühlen wie ein rauchiges Saxofon-Solo, aber in Wirklichkeit ist es, als würden wir im Dreck unter unseren Fingernägeln baden.

Percy zündet den Joint mit einem Streichholz aus einem Streichholzbriefchen an und nimmt einen Zug. Sein Brustkorb weitet sich theatralisch, er hält die Luft an, und unter dem löchrigen T-Shirt zeichnet sich sein Schlüsselbein ab. Er hält mir den Joint hin, und ich nehme ihn, ohne seine Finger zu berühren, ziehe daran und atme den Rauch tief ein.

James sitzt mit meinem Ghettoblaster auf dem Schoß im Schneidersitz und versucht, das Kassettendeck von Staub freizupusten, damit wir Velvet Underground hören können. Er hat seine sich ewig im Werden befindenden Dreadlocks mitten auf dem Kopf mit einem Gummiband zusammengebunden, damit sie ihm nicht durcheinander ums Gesicht fallen. Die Dreads sind schon seit vielen Jahren ein Streitthema zwischen ihm und seiner Mutter. Sie lässt ihn die Haare immer wieder abschneiden, sobald sie zu lang werden, aus Angst, dass sie bei den weißen Lehrern an der Colver heimliche Vorurteile hervorrufen könnten.

Neben Percy sitzt Sarah, seine neueste Fickfreundin, die wahrscheinlich nicht mal weiß, was in der Präambel unserer Verfassung steht oder warum der Himmel blau ist, dafür aber genau, wie sie ihre weiblichen Vorzüge und im richtigen Moment einen Schmollmund voll einsetzen kann. Percy zieht ihr einen der grünen Clogs von den Füßen und betrachtet ihn. Sie kichert und fragt mit unangenehm hoher Stimme »Was denn?«, und ich könnte sie schlagen. Gar nicht, weil sie dumm ist. Sondern weil sie einfach total desinteressiert ist und ich keine Geduld für so was habe und nicht verstehe, warum Percy Geduld dafür hat, wo er doch der Neugierigste von uns allen ist.

»Was soll das eigentlich mit diesem Sixties Revival? Ich sehe in letzter Zeit ständig Mädchen mit Schlaghosen und solchen Dingern rumlaufen«, sagt er.

Sie schnappt ihm den Schuh aus den Händen, zieht den anderen auch aus und stellt sie hinter sich. »Ich mag die. Die sind total süß. Und die Sechziger waren toll. Damals haben die Leute wenigstens noch an was geglaubt.«

»Wenn man genug LSD einwirft, glaubt man an alles.« Er nimmt noch einen Zug und wiegt den Oberkörper mit geschlossenen Augen vor und zurück. Wedelt mit den Armen. Fängt an zu singen: »Hare Krishna … Hare Krishna … Hare Rama …« Er öffnet die Augen. Hört auf, sich zu wiegen. Reicht James den Joint. »Die Sechziger waren ein Scheiß. Die ganzen Hippies, die damals in den Süden zu den Demos gefahren sind, interessieren sich doch heute nur noch für die Aktien ihrer Betriebsrente. Ich wette, Gordon Gekko hat seinen Einberufungsbescheid verbrannt.«

James schlägt mit dem Joint zwischen den Fingern auf die Rückseite des Ghettoblasters. Die Kassette fängt endlich an zu laufen, aber Lou Reeds Stimme leiert und klingt wie HAL 9000 im Todeskampf. James holt die Batterien raus und steckt sie wieder rein, jede an eine andere Stelle. Er hofft wohl, dass eine Neuanordnung ihnen ein bisschen mehr Saft gibt. »Ist dein Dad nicht Gordon Gekko?«

»Mein Dad ist noch schlimmer. Gier ist gut, aber Ausbeutung noch besser!« Percy breitet die Arme aus, fächert seine enorme Spannweite auf.

Ich nehme von James den Joint entgegen. »Die Sechziger waren vielleicht fürn Arsch, aber ich hätte sie trotzdem gern erlebt. Die Ungerechtigkeit auf der Welt wurde damals zwar nicht abgeschafft, aber … Wir spielen halt lieber Mortal Kombat.« Ich nehme einen Zug – diesmal nicht so tief. Will nicht wieder total neben mir stehen und Paranoia fahren. »Wir leben eben in einer … bedeutungslosen Zeit.« Rauchkringel entweichen beim Sprechen aus meinem Mund, und ich fühle mich wichtig.

Percys Blick ist nicht verschleiert, mit weit geöffneten Augen schaut er mich an. Sarah beobachtet ihn, das sehe ich aus den Augenwinkeln. Sie ist eifersüchtig darauf, wie er mit mir redet. Eifersüchtig, weil er mich ernst nimmt. Sie hat glänzende, von der Sonne geküsste Haare, einen makellosen Teint und blassblaue Augen. Sie ist hübsch, aber ihr Gesichtsausdruck ist immer total verwirrt. Hinter ihrem Rücken nennt Percy sie das Reh, wie in: von Scheinwerfern geblendet. Aber sie ist zierlich, hat eine weiche, schmale Taille und sehr, sehr große Brüste und trägt Victoria’s-Secret-Spitzen-BHs in knalligen Farben, die durch ihre weißen Baumwoll-T-Shirts durchscheinen, und das, habe ich festgestellt, ist selbst für die intelligentesten und reflektiertesten Jungs tödlich.

»Du würdest dich also an einer Revolution beteiligen«, sagt Percy, »obwohl du weißt, dass du damit nichts bewirkst und Amerika genauso beschissen bleibt, wie es immer war.« Er lächelt mich an.

Ich muss lachen. »Ja. Klingt doch gut.« Ich lege den Kopf schief, tue so, als würde ich mir eine Haarsträhne um den Finger drehen, und sage in einer perfekten Imitation von Sarahs Pseudo-Village-Girl-Stimme: »Vielleicht mag ich auch einfach nur die Klamotten.«

James boxt mich und wirft mir einen Blick zu, der sagt: Das war ganz schön fies.

Auch wenn ich weiß, dass Percy nicht im Entferntesten an Sarah als Mensch interessiert ist, mag er sie auf eine Art, wie er mich nie mögen wird. Daher beruht unsere Eifersucht auf Gegenseitigkeit, wie ich mit der linken Gehirnhälfte begreife. Doch ich werde nun mal von der rechten Hälfte meines Gehirns gesteuert, dem Teil, den ein etwas sentimentalerer Mensch vielleicht Bauchgefühl nennen würde, und so kann ich nicht anders, als eine Bitterkeit ihr gegenüber zu empfinden, ihr und ihren bonbonfarbenen Spitzen-BHs, die ich, selbst wenn ich sie ausfüllen könnte, mich sowieso niemals zu tragen trauen würde.

»Wie auch immer.« Sie lässt ihr Kaugummi platzen und richtet ihren BH-Träger unterm T-Shirt, sodass wir alle einen guten Einblick in die Auslage bekommen. »Die Sechziger waren auf jeden Fall super. Freie Liebe, niemand hatte Angst vor AIDS, und alle haben sich umeinander gekümmert. Ich hätte ein tolles Blumenkind abgegeben.«

Percy tätschelt ihr die Wange und sagt: »Hübsches Blumenkind, mein hübsches, hübsches Blumenkind.« Als wäre sie ein Hund. Dann legt er sich aufs Dach.

Sarah macht einen Schmollmund, rutscht an ihn ran und legt sich auf ihn. Ihre nackten, pedikürten Zehen mit dem glänzenden blauen Nagellack, der wahrscheinlich irgendeinen ironischen Namen wie »Rubbish«, »Rancid« oder »Riot« trägt, reiben über seine behaarten Schienenbeine. Mit einer schnellen Handbewegung zieht sie sich das Haargummi aus dem zerzausten Pferdeschwanz und schmiegt sich in Percys Armbeuge. Gedankenverloren spielt er mit ihren langen, blonden Haaren, und wenn er auf Widerstand stößt, löst er sanft die Knoten. Er hat die Augen geschlossen. Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn mir jemand so durch die Haare streichen würde? Vielleicht wäre mein Blick auf die Welt ein komplett anderer, wenn ich es auch nur ein Mal erlebt hätte. Vielleicht würde jede der tausend Erschütterungen, die mein Körper schon abgespeichert hat, durch so eine Erinnerung, die ich im Bedarfsfall immer wieder hervorholen könnte, einfach ausgelöscht.

Ich sehe zu James, und wir verdrehen beide die Augen. Ich weiß nicht genau, was ihn gerade stört, vermutlich nervt es mit der Zeit einfach, den Sohn reicher Eltern darüber reden zu hören, wie beschissen Amerika doch ist. Percival Smith Abney wird eines Tages das P.-B.-Abney-Vermögen erben. Aber Percy hasst seinen Reichtum. Percy wäre lieber arm. Denn arm ist echt. Und edel. So ist es in New York. Die ganzen reichen Kids wollen arm sein, die armen Kids reich, und die Kids in der Mitte gucken einfach zu, helfen in Suppenküchen und kaufen Klamotten in Secondhandläden und bilden sich eine Meinung. James und ich gehören der mittleren Kategorie an. Sein Dad ist Musiker und seine Mom Journalistin. Er kann nicht mit einer ergreifenden Drogenmissbrauchsgeschichte für die empathischen Liberalen aufwarten. Seine Eltern zahlen für die Colver genauso wie meine für die Pendleton, nämlich indem sie die Konten plündern, die eigentlich für die Rente bestimmt waren. Meine Familie ist nur geringfügig bessergestellt, weil mein Dad Anwalt ist – Staatsanwalt, so viel verdient er also nicht, aber genug, damit meine Mom den Großteil meiner Kindheit zu Hause bleiben und mir gefälschte Vans kaufen konnte. Vielleicht kann James es also einfach nicht mehr hören, oder es ist was ganz anderes. Vielleicht findet er Percys Begeisterung für Sarah genauso entwürdigend wie ich. Oder er ist neidisch. Vielleicht wünscht er sich gerade, Sarah würde ihre vollen Brüste an seine Rippen pressen. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit meiner Einsamkeit nicht allein bin, was ein ganz schön egoistischer Gedanke ist.

Das einzige Mal, dass James und ich was ohne Percy gemacht haben, war das Konzert von A Tribe Called Quest im Brooklyn Bridge Anchorage diesen Sommer. Percy hatte uns hängen lassen und stattdessen Sarahs Schwester beim Umzug geholfen. Ich kapierte es nicht. Die Tickets für Tribe kosteten mit unseren Schülerausweisen nur sieben Dollar, weil der Auftritt Teil einer Kunstausstellung war. Wir hatten uns den ganzen Sommer darauf gefreut. »Ich erklär’s dir, Loose«, sagte James in der Bahn nach Brooklyn, nachdem ich wahrscheinlich ein bisschen zu viel darüber gemeckert hatte, dass Sarah uns Percy wegnahm, und mich dadurch unter Umständen verraten hatte. James würde es garantiert bei nächster Gelegenheit Percy weitererzählen. »Sarah hat ein Zungenpiercing. Und sie bläst ihm einen, wann er will. Weißt du, wie viele Mädchen so was machen? Quasi keine. Wenn ich die Aussicht auf einen garantierten Blowjob heute Abend hätte, wärst du jetzt allein zu Q-Tip unterwegs.« Das war also Sarahs Geheimnis. Als hätte ich nicht selbst drauf kommen können.

Sarahs Arm liegt auf Percys Taille. Ich muss wegsehen und in den Himmel gucken, sonst werde ich noch verrückt vor Sehnsucht. Ich beobachte die sich zerstreuenden Wolkenfetzen. Am Himmel über New York ist ziemlich viel los: Hubschrauber von Nachrichtensendern, die den Verkehr aufzeichnen, und schwarze Polizeihubschrauber schweben über uns wie Libellen überm Wasser. Tief fliegende Privatflugzeuge und Himmelsschreiber, Jets und natürlich jede Menge Tauben. Der schwache Umriss des Mondes. Er ist da, gleich hinterm verschmutzten Himmelsgewölbe. Einen Block weiter, auf dem Broadway, spielt der Mann mit dem Geigenbogen auf seiner Säge Somewhere Over the Rainbow. Es ist ein verzweifeltes Geräusch, ähnlich dem Maunzen einer wilden Katze. Er spielt hier schon seit Jahren, der Mann mit der Säge. Als ich noch ein Kind war, hörte ich ihn die ganze Nacht draußen vor meinem offenen Zimmerfenster spielen. Während ich die über den Häuserfassaden aufsteigenden Dampfwolken beobachtete, schlief ich ein und träumte auf einem langen, dünnen Strang eines seiner endlosen Töne.

Das Einzige, was ich am High-Sein wirklich mag, ist, wie die Welt klingt, wie die Musik sich verändert. Der Verkehrslärm wird ausgeblendet. Der Typ, der irgendwo auf der Amsterdam »Socken ein Dollar« ruft, verstummt. Ich höre nur die Säge. Die Melodie fühlt sich an, als würde sie in meinen Adern explodieren und Teil meines Blutstroms werden. Ich schließe die Augen und atme durch die Nase ein. »Ich will mein Leben in Moll leben«, sage ich vor mich hin.

Kleidung raschelt, und als ich die Augen öffne, setzt Percy sich gerade auf. Er pikst mich in den Oberschenkel, und ich sehe zu, wie der weiße Abdruck, den er auf meiner sommersonnengebräunten Haut hinterlässt, wieder verschwindet. »Deswegen bin ich mit dir befreundet.«

Eine Hitzewelle durchströmt mich. Wir lächeln einander an, bis Sarah den Moment ruiniert. Sie richtet sich schnaubend auf, schlüpft in ihre Clogs und kippelt darauf zur eingedellten Metalltür. Sie zögert drei Sekunden. Garantiert erwartet sie, dass Percy ihr hinterherläuft oder fragt: »Wo gehst du hin?« Aber das tut er nicht. Er blickt sich noch nicht mal nach ihr um. Die schwere Tür knallt hinter ihr zu, aber weil wir das Schloss manipuliert haben, damit wir auf dem Dach nicht ausgesperrt werden können, schwingt die Tür wieder auf und donnert mit solcher Wucht gegen die Wand, dass einige Besen und Metallstangen umfallen.

James kriegt einen Lachanfall. Doch ich bin insgeheim stolz auf Sarah. Percy spielt schon seit Wochen mit ihr. Höchste Zeit, dass sie mal so einen Abgang hinlegt.

»Drama«, sagt Percy, legt sich wieder auf den Teer und streckt die Arme überm Kopf aus. »So ein Theater ist mir ein bisschen Sex echt nicht wert.«

Wir verlassen das Dach, um uns Pizza zu besorgen, und stellen meinen verstaubten, alten Ghettoblaster auf die oberste Treppenstufe, wo er seit Jahren schon steht, ohne dass es irgendwen kümmert.

Wir gehen zu Big Nick’s. Ich nehme ein schönes großes Stück Käsepizza für einen Dollar und klappe es zusammen. Das Fett tropft vom Rand und hinterlässt auf dem Pappteller große orangefarbene Flecken.

James erzählt von ein paar Mädchen, die er bei seinem Aushilfsjob an der Bar im Club seines Vaters kennengelernt hat, und überredet Percy, ihm bei der Arbeit Gesellschaft zu leisten. Sie fragen mich, ob ich mitkomme, aber ich merke, dass sie mich eigentlich nicht dabeihaben wollen.

Draußen vorm Big Nick’ s verabschieden wir uns. Als sie zur U-Bahn gehen, ich sehe den beiden nach. Percy mit seinen breiten, knochigen Schultern und einem Gang, als hätte er immer Rückenwind. Er macht beim Gehen lauter zusätzliche, unnötige Bewegungen, weil ein Körper in Bewegung sich noch mehr bewegen will. Es hat was Spielerisches, Spleeniges, eine wilde Mischung aus selbstgefällig und unbeholfen. James ist auch groß und breit, aber etwas fülliger und muskulöser. Seine T-Shirts spannen stärker, die Bewegungen sind runder, ökonomischer, rhythmischer. Die beiden. Ich kann gar nicht richtig beschreiben, wie sie von hier aussehen. Ihre Schulterblätter sind schimmernde rechte Winkel.

Ich lasse sie ziehen und mache mich auf den Weg nach Hause.