Ich will anders als du willst, Mama - Britta Hahn - E-Book

Ich will anders als du willst, Mama E-Book

Britta Hahn

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Beschreibung

Im Zusammenleben mit Kindern treten in der Regel zwei Auslöser von Konflikten auf: Die Kinder wollen etwas und die Eltern sagen nein - oder die Eltern wollen etwas und die Kinder sagen nein. Die Autorin zeigt, wie es mit Hilfe der Gewaltfreien Kommunikation möglich ist, dass in solchen Konflikten eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kindern bestehen bleibt und jedes Mitglied der Familie sich zu Hause wohlfühlen kann. Im Zusammenleben mit Kindern geht es insbesondere auch um die Frage nach Schutz und Grenzen. Dabei gilt es abzuwägen, wo ein Kind Schutz und damit Grenzen braucht und wo es selber entscheiden darf, weil es die Folgen seines Handelns schon überblicken kann. Auch gilt es abzuwägen, wo Eltern dem Kind Freiraum geben, damit es selbst Erfahrungen sammeln kann. Diesen Fragen rund um das Thema der schützenden Macht geht die Autorin in vielen Beispielen nach.

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Seitenzahl: 273

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Titel

Britta Hahn

Ich will anders, als du willst, Mama

Kinder dürfen ihren Willen haben – Eltern auch

Erfahrungen mit der Anwendung von Gewaltfreier Kommunikation in der Familie

Copyright: © Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2007 2. Auflage 2010

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2011

Coverfoto: © Conny Kurz Fotos im Buch: Jochen Hahne, Ulrike Frey, Conny Kurz

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN der Printausgabe: 978-3-87387-665-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-804-4 (EPUB), 978-3-95571-065-1 (PDF),  978-3-95571-064-4 (MOBI).

Einleitende Gedanken

Kinder einfühlsam ins Leben zu begleiten heißt verstehen, dass diese nicht durch Befehlen, Verbieten, Ermahnen, Belehren, Bestrafen und Belohnen lernen und wachsen, sondern durch Zuschauen, Nachmachen, Mitmachen, Vereinbaren und Selbermachen all dessen, was sie auf ihrem Weg brauchen. Eine solche Erziehung ist keine Norm, sondern eine Richtung.

Britta Hahn zeigt sie uns in ihrem Buch auf. Weitgehend geprägt von den Elementen der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg, beschreibt sie die Erfahrungen im Leben mit ihren Kindern in lebendigen und authentischen Dialogen. Sie erinnert sich dabei an ihre eigenen Erziehungsmuster. Während sie diese zu überwinden versucht, lernt sie Dinge, die ihren Kindern selbstverständlich sind. Sie entdeckt die Kraft, die auf gegenseitigem Vertrauen und Respekt beruht, die Menschen dafür öffnet, aufeinander zu hören, voneinander zu lernen und einander zu geben mit dem Wissen, zum Wohlbefinden des anderen beizutragen.

Es geht vor allem darum, den Willen des Kindes zu achten, sein Tun, das aus Freude und nicht aus Pflicht heraus geschieht, das frei ist von Angst, von Gefühlen der Schuld und Scham, zu respektieren und damit die innere Verbindung zu stärken. Dann erwächst Kindern aus einer solchen Beziehung die Kraft, in unserer Welt anzukommen und ihren eigenen Weg zu finden.

Möge dieses Buch für alle, die mit Kindern leben und immer wieder vor Fragen und Herausforderungen stehen, Anregung und Unterstützung sein!

Isolde Teschner

Dank

Mein größter Dank gilt meinen Kindern Oskar, Albert, Clara und Hildegard.

Jedes hat dazu beigetragen, dass ich meine Fähigkeiten erweitern konnte, einen anderen Menschen und dessen Sichtweise wahrzunehmen. Fremden Menschen wäre ich aus dem Weg gegangen, wenn diese nicht akzeptiert hätten, dass ich sie umformen wollte. Meine Kinder blieben bei mir, weil sie aufgrund ihrer seelischen Abhängigkeit auf mich angewiesen waren. Sie boten aber meinen Erziehungsmaßnahmen erfolgreich Widerstand, an dem ich lernte. Zeitweise war es für meine Kinder anstrengend, gut für sich zu sorgen. Ich bin sehr dankbar, dass nach allem, was schmerzhaft war, heute zwischen uns ein liebevolles Wohlwollen füreinander steht. Ich freue mich daran, dass sie, auch wenn sie älter sind, mich an ihrem Leben teilnehmen lassen.

Meine Kinder erscheinen im Buch mit geänderten Namen, da es ihnen wichtig ist, dass ihre Geschichten privat bleiben. Grundsätzlich sind sie einverstanden, dass ich von ihnen schreibe, weil sie möchten, dass andere Kinder ohne Strafe aufwachsen können. Gerade meine älteren Kinder kennen den Unterschied noch aus eigener Erfahrung. Ich danke auch den Eltern, die mir ihre Geschichten mit ihren Kindern anvertraut haben und einer Veröffentlichung unter veränderten Namen zustimmten. Die Kinder dieser Eltern merkten Erleichterung im Zusammenleben mit ihren Eltern, nachdem diese das hier Beschriebene umzusetzen lernten.

Das gesamte Buch ist inspiriert durch stundenlange Gespräche mit meinem Mann. Zeitweise vereinbarten wir, dass wir weder den Namen Rosenberg noch Kinderthemen eine Stunde vor dem Schlafengehen erwähnten, weil wir wegen der daraus entstehenden Diskussionen keinen Schlaf mehr fanden. Meine Erkenntnisse profitieren von dem historischen und juristischen Wissen meines Mannes. Durch ihn lernte ich die Gedanken vieler berühmter Vordenker kennen, die mein eigenes Denken beeinflussten: Leo Tolstoi, Immanuel Kant, Karl Jaspers, Simone Weil, Hannah Arendt, Dorothee Sölle und Anarchisten wie Clara Wichmann, Peter Kropotkin, Erich Mühsam, Gustav Landauer und andere. Die Anarchisten des 19. Jahrhunderts entwickelten in ihren Ideen Gesellschaftsformen, in denen alle Menschen ihren selbstbestimmten Lebensraum haben. Diese Art von Anarchismus hat nichts mit Chaos oder Gewalt zu tun, sondern will ein Gleichgewicht von Freiheit und Geborgenheit in Gemeinschaften vermitteln. Dieses Gleichgewicht von Freiheit und Geborgenheit wollen wir auch mit unseren Kindern leben und suchen bis heute Wege, wie jeder seinen Lebensstil entwickeln kann in Achtung vor dem Lebensstil des anderen.

Die Lebensumstände brachten es mit sich, das wir mit Ernst-Ludwig Iskenius zusammen unter einem Dach leben. Beruflich kümmert er sich als Arzt in einem Folteropfer-Zentrum um Außenseiter unserer Gesellschaft, eine Randgruppe von Flüchtlingen. Ich konnte rein praktisch dieses Buch schreiben, weil er jederzeit mit anpackt, wenn es ums Organisieren eines Haushalts mit vier Kindern geht. Wie sonst kann ich als Mutter, die drei Viertel der Woche ärztlich arbeitet und Elternseminare gibt, noch ein Buch schreiben. Seit 17 Jahren verlasse ich mich darauf, dass er einmal die Woche kocht und die Kinder ab und zu ein Wochenende betreut, wenn auch mein Mann unterwegs ist.

Zusätzlich kommt Letezion Dannecker jede Woche mehrere Stunden die Woche zu uns und putzt und räumt auf, eine Arbeit, die nie endet. Sie kam vor 16 Jahren als Flüchtling aus Eritrea nach Deutschland und sagte immer in den vielen Jahren, als der Staat Deutschland ein hohes Interesse hatte, sie wieder zurückzuschicken: „Der Herr Hahn und Jesus helfen mir, dass ich bleiben kann.“ Heute ist sie Deutsche, weil sie einen Deutschen geheiratet und ein Kind von sechs Jahren hat. Ich wünsche jeder Mutter eine Haushaltshilfe und bin gespannt, wann der Staat Deutschland aufhört, Menschen wegzuschicken, die mit uns leben wollen. Ich danke Elu und Letizion, die es mir leicht machen, dass ich in einem Familienparadies lebe.

Unsere Oma wohnt in der Nähe, ist 90 Jahre alt und jederzeit für ihre Enkel da. Wenn ein Kind sagt, „Mama, du bist nie da“, dann bin ich traurig, weil ich eigentlich als „ideale“ Mutter „immer“ für sie da sein möchte. Ich weiß jedoch, die Kinder haben ihre Oma, die aus ihrer Lebenssituation heraus diese verlässliche Präsenz zeigen kann. Oma ist für mich ein Modell von Großmutter, das ich schon in mir trage. Großeltern können mit mehr Lebenserfahrung und weniger Verantwortung für die gesamte Lebensgestaltung Enkelkindern bedingungslose Liebe weitergeben. Auch meine Eltern, die räumlich nicht zu Fuß erreichbar sind, haben mit ihrem Engagement für ihre Enkel mich in vielen Situationen entlastet. Jetzt haben sie sich von ihrem Erziehungsauftrag mir gegenüber gelöst, und ich erlebe sie angenehm nachsichtig, mehr als in der Zeit, in der ich selbst Kind bei ihnen war.

Raymond di Ronco war acht Jahre der Klassenlehrer meines älteren Sohnes. In einer Waldorfschule lernen die Eltern an den Elternabenden parallel zum Alter ihres Kindes dessen Entwicklungsschritte kennen. Das anthroposophische Weltbild war mir anfänglich fremd, gab mir aber Einsichten, die mich als Mutter stärkten. Die Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit steht im Mittelpunkt der pädagogischen Bemühungen. Eingeflossen sind in dieses Buch Erkenntnisse aus der Anthroposophie über die Bedeutung von Regeln und Rhythmen innerhalb der ersten Lebensjahre eines Kindes. Raymond verdanke ich, dass er die „verschnörkelte“ Sprache der Anthroposophie zeitgemäß übersetzen kann. So konnte ich zuhören und viel verstehen und wichtige Gedanken für meine Kinder mitnehmen. Diese Erkenntnisse beflügelten ein paar Eltern und mich, den ersten Waldkindergarten unserer Region zu gründen. Ich erkannte, wie wichtig „Lernen durch Be-greifen“ in den ersten Lebensjahren ist. Seitdem kenne ich den spielzeugfreien Kindergarten. Ich danke allen Eltern und den damaligen Erzieherinnen. Es war eine spannende Zeit, und ich bin froh, dass wir es (www.wald-kindergarten.de) geschafft haben.

Zuletzt gilt mein Dank Ulrike Frey. Sie hat in vielen Stunden mein Manuskript korrigiert. Erst durch ihre Bemühungen wurde es sprachlich lesbar, sodass der Junfermann Verlag es übernommen hat und das Buch so einem großen Leserkreis zur Verfügung stellt.

Einführung: Wozu das Kind seinen Willen braucht

Je mehr Bewusstsein, desto mehr Selbst; je mehr Bewusstsein, desto mehr Wille; je mehr Wille, desto mehr Selbst. Ein Mensch, der keinen Willen hat, ist kein Selbst; aber je mehr Willen er hat, desto mehr Selbstbewusstsein hat er auch.– Sören Kierkegaard

Eltern wollen das Beste für das eigene Kind

Thomas Gordon hat durch die Einführung der Familienkonferenz in den 60er-Jahren dazu beigetragen, die autoritären Strukturen in den Familien zugunsten von mehr Gleichwertigkeit zwischen Eltern und Kindern zu verändern.

Als mein erstes Kind acht Jahre alt war, habe ich an einem Gordon-Training teilgenommen. Dieses Training hat mir eine erste Orientierung für einen gewaltfreien Umgang mit meinen Kindern gegeben. Vier Jahre später habe ich Marshall Rosenbergs Gewaltfreie Kommunikation kennengelernt. Meine Kinder waren zu diesem Zeitpunkt zwölf, neun, sieben und drei Jahre alt. Seitdem sind sieben Jahre vergangen.

Die Ich-Botschaften, die ich bei Thomas Gordon kennengelernt hatte, um ein für mich unannehmbares Verhalten meines Kindes anzusprechen, enthielten drei Elemente: die Bewertung dessen, was mein Kind tut, mein Gefühl, während ich dieses Verhalten des Kindes beobachte, und die für mich daraus entstehenden Folgen. Auf folgende Weise habe ich ein unannehmbares Verhalten meines Sohnes angesprochen:„Das Radio ist zu laut. Ich ärgere mich, weil ich mich bei meiner Arbeit nicht konzentrieren kann.“

Obwohl durch dieses Gordon-Familientraining sich in unserer Familie alle entspannter und wohler fühlten, sorgte gerade der obige Satz für sehr viel Konfliktstoff. Zum einen fragte mich mein achtjähriger Sohn, ob er das Radio so laut stellen solle, dass ich merken könne, was für ihn wirklich laut sei. Zum anderen fing er an, mir zu erklären, wie gut er sich konzentrieren könne, wenn er beim Arbeiten laute Musik höre. In solchen Situationen schrie ich dann zurück: „Maaaaach endlich das Radio leiser!!!“, und er antwortete überrascht: „Warum hast du mir das denn nicht gleich gesagt?“

Marshall Rosenberg, der wie Thomas Gordon bei Carl Rogers Gesprächstherapie gelernt hat, erweiterte die Ich-Botschaft um einige Elemente. Was sich zunächst für mich wie eine sinnvolle Gesprächstechnik anhörte, damit meine Kinder besser funktionieren, entfaltete sich mir in den folgenden Jahren als eine innere Haltung gegenüber meinen Kindern und allen anderen Menschen.

Die Formulierung des oben genannten Radio-Satzes hört sich mit den vier Schritten der Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg folgendermaßen an:„Das Radio ist angeschaltet, es ist für mich zu laut, ich bin genervt, weil ich meine Aufmerksamkeit für meine Arbeit brauche, und das gelingt mir besser, wenn das Radio abgeschaltet ist. Schalte bitte das Radio aus.“

So ungefähr sagte ich es meinem Sohn bei der nächsten Gelegenheit. Ich war völlig überrascht, als er mich erstaunt anschaute, nach seinem Kopfhörer griff und meinte:„Komisch, ich kann bei Musik aufmerksam sein. Wenn du es nicht kannst, höre ich über Kopfhörer, dann kannst du aufmerksam sein, und ich kann Musik hören.“

Ich begriff, dass ein anderer Mensch mir leichter zuhören kann, wenn ich von meinen Bedürfnissen rede statt von negativen Folgen, die das Verhalten des anderen auslösen. Ich war von den kooperativen Reaktionen der Kinder begeistert. Sowohl ich wie auch die Kinder lernten unsere Bedürfnisse zu äußern. Ich trennte Beobachtungen von Bewertungen. Die Lautstärke eines Radios ist eben eine subjektive Wahrnehmung, je nachdem, ob man einen Jugendlichen oder eine Mutter fragt. Objektiv ist die Beobachtung, ob ein Radio an- oder ausgeschaltet ist. Ich lernte auch im Laufe der Jahre, Ich-Botschaften mit einer Bitte enden zu lassen. Das hilft meinem Kind zu verstehen, was ich überhaupt von ihm will. Zuvor waren meine Kinder von mir darauf trainiert worden, Forderungen zu erfüllen. Es dauerte Jahre, bis sie vertrauen konnten, dass ich wirklich Bitten statt Forderungen meinte.

Durch die Gordon-Methode lernte ich, überhaupt mit den Kindern zu reden, statt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen, wie ich es in dem Erziehungsmodell meiner Kindheit erlebt hatte. Wie bei allen neuen Entdeckungen hatte ich es mit den Erklärungen etwas übertrieben. Wenn ich heute den Gesprächen junger Mütter lausche, merke ich, dass es nicht nur mir so ging. Erklärungen helfen, die Welt zu verstehen, können aber auch über die Kinder eine nicht mehr zu verarbeitende Informationsflut ausschütten. In diesen Situationen helfen sich Kinder, indem sie ihr Gehör auf Durchzug stellen.

Kinder lernen in den ersten Lebensjahren überwiegend durch eigenes Tun und Experimentieren statt durch Erklärungen der Eltern. Um ein Glas Milch einzuschenken, braucht ein Kind die Erfahrung, dass Milch ab einer bestimmten Füllmenge überläuft. Erst dann weiß ein Kind, Milch kann überlaufen. Die Erklärung„Pass auf, gleich läuft Milch über!“ist vergebens, wenn die Erfahrung fehlt. Diese Erfahrung kann das Kind auch beim Matschen im Sandkasten gewonnen haben. Kleine Kinderbegreifenund verstehen die Welt durch eigene Handlungen.

Viele Eltern wollen ihre Kinder heute nicht mehr zum Gehorchen erziehen. Häufig wissen sie genau, wie sie mit ihren Kindernnichtumgehen wollen:„Mein Vater hat mich angeschrien, und meine Mutter hat mir den Hintern versohlt, um ein erwünschtes Verhalten zu erreichen. Das werde ich auf keinen Fall mit meinen Kindern machen.“

Aus der Gehirnforschung wissen wir heute, dass unser Gehirn immer dann Probleme bekommt, wenn es etwas denkt, wasnichtsein soll. Es ist unmöglich für das Gehirn,nichtan „einen Schneemann in der Wüste“ zu denken. Wie Sie vielleicht im Moment selber feststellen, können Sie trotz aller Anstrengung „den Schneemann in der Wüste“ kaum aus Ihrem Gehirn verbannen, er drängt sich Ihnen förmlich auf. – So ergeht es auch Eltern, wenn sie nur wissen, dass sie die Erziehung ihrer Elternnichtwiederholen wollen, aber noch nicht wissen, wie sie die neue Erziehung gestalten werden: Sie werden, wenn sie hilflos sind und mit dem Rücken an der Wand stehen, auf das zurückgreifen, was sie gut kennen. Sie greifen zurück auf die eigene Erziehung, die sie in der Regel fast zwei Jahrzehnte in der eigenen Herkunftsfamilie studiert haben.

Mir ist es ein Anliegen, den Willen jedes Menschen zu respektieren. So wie ich jedem erwachsenen Menschen seinen eigenen Willen zugestehe, möchte ich dies auch bei meinen Kindern tun. Mir geht es darum, Kinder ins Leben zu begleiten, statt sie zu lehren, für andere zu funktionieren. Und wie dies im Alltag umzusetzen ist, möchte ich in diesem Buch zeigen.

Ich möchte auch nicht mehr von „Erziehung“ sprechen. Der Begriff „Erziehung“ zeigt in seiner Bedeutung schon an, dass es darum geht, die Kinder irgendwo hinzuziehen, meist dahin, wo die Eltern sie haben wollen. Die Begriffe„Beziehung“oder Kinder zum Leben„begleiten“beschreiben, wie Eltern Verantwortung wahrnehmen und dabei gleichzeitig den Willen ihrer Kinder respektieren können.

Mein Wille ist dem Willen anderer Menschen gleichwertig. Dieser Gedanke findet sich in Albert Schweitzers Leitgedanken:„Ich bin Leben, inmitten von Leben, das auch leben will.“Die hierauf beruhende „Ehrfurcht vor dem Leben“ war ein zentraler Aspekt in seiner Philosophie und seinem Leben. Was ihm ein Anliegen war, ist heute auch zu meinem geworden: Ich will sowohl meinen wie auch des anderen Wunsch, leben zu können, achten, und zwar hinsichtlich der jetzigen wie auch der zukünftigen Generation.

Dass es dabei zu Konflikten kommen kann, ist leicht nachvollziehbar, gerade auch zwischen Eltern und Kindern. Es geht mir darum aufzuzeigen, wie wir in diesen Konflikten achtungs- und respektvoll miteinander umgehen können. Sowohl der Wille der Eltern wie auch der Wille der Kinder soll respektiert werden. Der Wille eines Menschen ist die Kraft, sich seine und anderer Menschen Bedürfnisse zu erfüllen.

Ich greife in diesem Buch immer wieder auf Gedanken der Gewaltfreien Kommunikation zurück, stelle sie aber nicht umfassend dar. Deshalb verweise ich auf das gleichnamige Werk von Marshall Rosenberg.

Der Wille der Eltern und der Wille des Kindes

Eine Mutter rief ihre Freundin an und weinte bitterlich:„Ich weiß überhaupt nicht, was ich machen soll, ich komme nicht aus meinem Haus heraus. Tom will sich nicht anziehen. Dabei habe ich noch viele Termine zu erledigen, und solange er sich nicht anziehen lässt, kann ich nicht losgehen. Was habe ich mir da für ein Monster geschaffen. Auf keinen Fall will ich noch weitere Kinder haben!“

Tom ist drei Jahre alt. Drei Wochen zuvor wollte die Familie in den Urlaub fahren, kam aber nach drei Tagen wieder zurück, weil Tom es wollte.

In dieser Familie ist die Balance zwischen dem Lebensraum der Eltern und des Kindes völlig in Schieflage geraten. Hier hat nur noch das Kind seinen Lebensraum. Dem Kind wird uneingeschränkte Freiheit gewährt, was derantiautoritärenErziehung entspricht. Das Kind will, und Eltern gehorchen dem kindlichen Willen.

Eine andere Frau sagte mir einmal:„Ich kann einfach nicht sagen ,Ich will‘. Ich habe in meiner Kindheit gelernt, wenn ich etwas will, dann nehme ich es jemandem weg. Das prägt mich bis heute. Ich kümmere mich immer nur um andere Menschen und stehe selbst stets an letzter Stelle. Ich habe als Kind von meinen Eltern und Lehrern gehört: ,Nimm dich nicht so wichtig und höre auf, deinen Willen ständig durchzusetzen!‘“

In der Kindheitsfamilie dieser Frau war die Balance zwischen dem Lebensraum von Eltern und Kind auch in einer Schieflage. Hier durfte das Kind seinen Lebensraum nicht ausfüllen. Die Frau lebte als Kind in einer Umgebung, in der ein autoritärer Erziehungsstil angewendet wurde: Die Eltern wollen, und das Kind gehorcht dem elterlichen Willen.

Jeder Mensch braucht einen eigenen Willen

Alle Lebewesen haben Bedürfnisse, die sie sich erfüllen möchten. Gefühle helfen dabei festzustellen, ob Bedürfnisse gerade gestillt oder ungestillt sind. Negative Gefühle wie Ärger und Verzweiflung deuten darauf hin, dass Bedürfnisse gestillt werden möchten, positive Gefühle wie Freude und Dankbarkeit lassen fühlen, dass Bedürfnisse gestillt sind. Alle lebenden Wesen streben Zustände an, in denen ihre Bedürfnisse erfüllt werden, weil sie das Leben genießen wollen.

Ein ungestilltes Bedürfnis wahrzunehmen ist ein Anfang. Das Wissen um einen Mangelzustand kann diesen aber noch nicht beheben. Dafür braucht es eine Tat, und um die Tat in Gang zu setzen, braucht es den Willen. Das Durchhaltevermögen, das Ziel zu erreichen, ist die Willenskraft, die auch Widrigkeiten auf dem Weg überwinden kann.

Ein Schüler beschließt, nach dem Realschulabschluss noch das Abitur zu erlangen. Mit dem Abitur kann er sein Bedürfnis nach Bildung befriedigen, da er diesen Abschluss als Eintrittskarte für die Universität benötigt. Sich das Abitur zu wünschen reicht nicht. Es bedarf zusätzlich der Willenskraft des Schülers, sich hinzusetzen und zu lernen und an manchen Tagen seine anderen Bedürfnisse nach Spielen und Geselligkeit zurückzustellen.

Die Willenskraft ist die Verbindung zwischen dem ungestillten Bedürfnis und der dazugehörigen Tat, die zum Ziel führt.

Zunächst wird das kleine Kind seinen Willen für kurzfristige Ziele einsetzen, die das eigene körperliche Wohlbefinden befriedigen. Kinder sagen: „Durst haben will“ oder „Puppe haben will“, und sie bewegen sich (Willenskraft), während sie noch reden, in die Richtung, wo sie das Gewünschte vermuten.

Erst mit zunehmendem Alter lernt ein Kind, die Spanne bis zum Erreichen des Ziels mehr und mehr auszudehnen. Ein einjähriges Kind braucht sofort das Wasser, wenn es Durst hat, während ein vierjähriges Kind schon warten kann, bis dem kleineren Geschwister eingeschenkt wurde.

Die Erwartungsspannung eines erwachsenen Menschen kann die Fähigkeit entwickeln, seine Willenskraft für Bedürfnisse einzusetzen, die weit über das eigene Verlangen hinausgehen und erst der zukünftigen Generation dienen. So konnte die Nobelpreisträgerin Wangari Maathai aus Kenia Bäume pflanzen, die das regionale Klima in Zukunft positiv beeinflussen werden.

Der Mensch braucht seinen Willen, um selbst gesteckte Ziele zu erreichen. Der Weg dorthin wird durch die Willenskraft überwunden, besonders wenn Hindernisse vorhanden sind.

Da Kinder im Gegensatz zu vielen Tieren in ihrer Fähigkeit zum Überleben unreif auf die Welt kommen, brauchen sie zunächst den Willen ihrer Eltern oder anderer Bezugspersonen, die ihre Bedürfnisse stillen. Wenn ein Kind sich aus seiner eigenen Willenskraft versorgen kann, ist es erwachsen geworden.

Der Unterschied von Wille und Wunsch

Wenn Eltern von ihrem willensstarken Kind sprechen, denken sie an ihr kleines Kind, das laut und ausdauernd schreit:„ICH WILL ...“

Diese Worte haben nichts mit „dem eigenen Willen“ zu tun. Es ist ein Schrei, der den Wunsch ausdrückt, ein Bedürfnis nach den eigenen Vorstellungen zu stillen.

Willenskraftist die Kraft, sich den Wunsch zu erfüllen.

Willeist die Entscheidung, welcher Wunsch gewählt wird.

Wünschesind unterschiedliche Wege, Bedürfnisse zu erfüllen.

Bedürfnissewollen gestillt werden, um überleben zu können.

Bisher lebte das Kind wie im Paradies. Es wusste, dass die warme süße Milch in den Mund läuft, wenn es vor Hunger weint, vorausgesetzt es hat eine Mutter, die das hungrige Weinen des Kindes richtig deutet. Es erlebte: „Ich bekomme sofort, was ich brauche.“

Die Mutter hatte mit ihrer Willenskraft auf ihren Schlaf verzichtet und mitten in der Nacht sich dem Baby zugewendet und es gestillt. Der Wunsch des Kindes nach Milch wurde durch den Willen der Mutter erfüllt, die aufstand. Zum Überleben ist das Kind auf den Willen der Erwachsenen angewiesen, denn es kann seine Bedürfnisse noch nicht selber stillen.

Um diesen wohligen Zustand der sofortigen Befriedigung seiner Bedürfnisse zu erhalten, schreit ein Kind auch, wenn es älter wird, damit die Eltern etwas tun, das seine Wünsche erfüllt.

Eltern sagen dann: „Jetzt ist unser Kind im Trotzalter.“ Dabei kommen sie manchmal an ihre emotionalen Grenzen, weil sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Wollen sie den Wunsch des Kindes erfüllen oder dem Kind zumuten, darauf zu verzichten?

Der Erwachsene erkennt die Realität des Lebens an und hat sozusagen das Paradies schon verlassen. Er weiß, dass es vor der Ernte im Herbst gilt, den Acker umzugraben. Es gilt, Widrigkeiten des Lebens zu überwinden. Der Erwachsene kann abschätzen, ob er sich seinen Wunsch erfüllen kann, weil er weiß, wie viel ihn der Wunsch kostet. Er weiß, ob er den Preis bezahlen kann und wie es ihm gehen würde, wenn er sich den Wunsch erfüllt. Vielleicht kann er sich beispielsweise keinen weiteren Schrank kaufen, weil seine Wohnung zu klein ist. Aus dieser Erkenntnis heraus kann ein Erwachsener auch auf einen Wunsch verzichten.

Die Fähigkeit, aus Vernunft Nein sagen zu können, unterscheidet den kindlichen, herausgeschrieenen Wunsch „Ich will!“ vom erwachsenen Willen. Der erwachsene Wille hat Einsicht in die Lebenszusammenhänge und kann sich nach Abwägen der Umstände verantwortlich für ein Ja oder ein Nein entscheiden.

Dies alles weiß ein kleines Kind noch nicht, wenn es anfängt, diese Welt kennenzulernen. Das kleine Kind schreit nur: „Jetzt will ich, ich brauche es jetzt, und zwar sofort!“

Es ist die Aufgabe der Eltern, das Kind in diese Welt zu begleiten und ihm möglichst viele Fähigkeiten zu vermitteln, die helfen, sich in einer komplexen Welt zurechtzufinden. Dazu gehört, selbst mit dem eigenen Willen entsprechend seiner Bedürfnisse aktiv zu werden. Eltern vermitteln auch, dass es zu bestimmten Zeitpunkten sinnvoll sein kann, auf einen Wunsch zu verzichten.

Hier kommen Eltern in einen Konflikt, denn neben dem Anliegen, manchmal einen Verzicht zu vermitteln, ist es Eltern ein Herzensanliegen, ihre kleinen Kinder glücklich zu sehen. Wenn Eltern zum Wunsch ihres Kindes Nein sagen, wird das Kind selten darauf antworten:„Danke, Mami, du sorgst so gut für mich und ich freue mich, weil du gerade eben wieder die beste Entscheidung für mein Leben getroffen hast!“

Es wird im Gegenteil laut schreien, sich auf den Boden werfen und die Eltern beschimpfen. Diesen emotionalen Gefühlsausbruch des Kindes empathisch zu begleiten bedeutet für Eltern eine große emotionale Kraftanstrengung. Trotzdem gilt:Wille und Wünsche sind erlaubt und völlig in Ordnung, auch wenn sie nicht erfüllt werden können.

Ich spielte häufig mit meinen kleinen Kindern das „Ich-wünsche-mir-Spiel“: 

Siebenjährige:„Ich will dieses Traumschloss haben!“

Mutter:„Das wäre so schön, ein Traumschloss zu haben und vielleicht auch noch mehr ...“

Siebenjährige:„Ja, ich wünsche mir noch einen Zoo und die Eisenbahn und den Zirkus ...“

Mutter:„... und die Prinzessin gehört auch dazu, am besten kaufen wir noch einen echten Kran, mit dem buddeln wir ein Loch vor deinem Zimmer, um dein Zimmer für das Spielzeug zu vergrößern. Vielleicht können wir bei dieser Gelegenheit gleich noch einen Swimmingpool einplanen.“

Siebenjährige:„Am besten um das ganze Haus herum mit einem Delphin drinnen.“

Mutter:„Genau! Eine Brücke führt dann zu unserem Eingang.“

Siebenjährige:„Vorne am Gartentor gibt es eine Kasse, und alle Leute, die den Delphin sehen wollen, sollen Eintritt zahlen ...“

Mutter:„Ach wäre das schön, wenn wir uns alle unsere Wünsche erfüllen könnten.“

Siebenjährige:„Vielleicht kaufen wir das Traumschloss nächstes Jahr.“

Der Wille gestaltet – ohne den Willen bleiben Wünsche unerfüllt

In unserer Küche werkeln sieben Menschen. Es kann vorkommen, dass manche Küchengegenstände mal in diesem, mal in jenem Schrank verschwinden. Nachdem mein 17-jähriger Sohn wieder die Käseraspel vergeblich suchte, sagte er sinnend:„Es wäre gut, wenn die Schränke beschriftet wären, dann könnte jeder schauen, wo er das entnommene Teil hinstellt, und man erspart sich das Suchen.“

Mir gefiel sein Vorschlag. Auf meine Frage, wer die Schränke nun beschriften würde, konnten wir uns schnell einigen, dass dieser „Jemand“ zum Beschriften leider fehle.

Seitdem ist auch meinem Sohn klar, dass gute Ideen im Geist stecken bleiben, wenn niemand den Willen aufbringt, der Idee eine Tat folgen zu lassen.

Der Wille ermöglicht, die Welt nach den eigenen Wünschen aktiv zu gestalten. Andernfalls bestimmt die Welt über denjenigen, der nicht selber gestaltet. Dies bedeutet im obigen Beispiel, dass wir uns weiterhin täglich der nötigen Suche unterwerfen, immer noch hoffend, der „Jemand“ wird mal die Willenskraft aufbringen und ein Beschriftungssystem in unserer Küche anbringen.

Willenskonflikte

Die Konflikte in der Vielfalt von Begegnungen zwischen Eltern und Kindern lassen sich auf zwei Situationen reduzieren:

1. Das Kind willund:

2. Das Kind will nicht.

Eltern fragen sich einerseits, ob sie dem Willen des Kindes Raum geben können, und andererseits, wie sie das Kind bewegen können, das zu wollen, was Eltern für das Kind als gut erkennen.

InbeidenTeilen dieses Buches möchte ich erläutern, dass der kindliche Wille ausnahmslos seine Berechtigung hat und Anerkennung braucht.

ImTeil Igeben die Eltern mit dieser Haltung dem kindlichen Willen dort Raum, wo das Kind die Folgen seiner Taten schon übersehen kann. Wenn die kindlichen Aktionen das Kind selbst, andere Personen oder Sachen in Gefahr bringen, begrenzen die Eltern das Handeln und damit auch den Spielraum des Kindes.

ImTeil IIerkennen und respektieren die Eltern, dass es mit einer gewaltfreien Haltung unmöglich ist, das Kind gegen seinen Willen zu einer eigenen Handlung zu überreden oder zu nötigen. Mit dem Nein sagt das Kind Ja zur Erfüllung seines eigenen Bedürfnisses. Es geht darum, ein Nein zu respektieren, gerade auch wenn es von einem Kind kommt. Vielleicht kann das Kind sich dann auch für eine eigene freiwillige Handlung gewinnen lassen, wenn es sich einfühlend verstanden weiß. Manipulation oder Tricks haben so keinen Raum mehr, weil sie eine gleichwertige Beziehung untergraben.

Viele Generationen von Eltern saßen dem Trugschluss auf, sie könnten den kindlichen Willen formen. Leider wurde dabei aber der Wille geschwächt und sogar gebrochen und das Kind ans Gehorchen gewöhnt.

Eltern waren dabei motiviert durch ihre Angst, ihr Kind würde ohne Rücksicht auf andere Menschen machen, was es will, wenn sie den kindlichen Willen nicht formen. Diese Angst hatten sie von den vor ihnen lebenden Generationen übernommen, die nie das Vertrauen entwickeln konnten, dass unsere menschliche Natur eine mitfühlende und zur gegenseitigen Hilfe bereit ist. Dieses Wissen wurde schon 1880 von einem Biologen namens Keßler veröffentlicht (Kropotkin 1989, S. 14) und wird heute in der neurobiologischen Forschung mehr und mehr bestätigt (Bauer 2005, S. 170).

Um als Erwachsener im Leben zu stehen, ist die Entwicklung eines starken Willens unverzichtbar. Überall in der heutigen Welt brauchen wir einen starken Willen, um unter den vielfältigen Angeboten, die sich uns aufdrängen, den eigenen Weg gehen zu können.

Wie soll ein Erwachsener seinen eigenen Willen kennen, wenn er als Kind lernte, sich einem anderen Willen anzupassen und unterzuordnen?

Wenn Eltern den Willen ihrer Kinder nicht mehr brechen oder formen, sondern stärken, indem sie ihn anerkennen, dann leben und lehren sie ihren Kindern Gewaltverzicht. – Eltern haben die Möglichkeit, das Kind zu beeinflussen, indem sie so leben, dass es auf Kinder anziehend wirkt. Vielleicht übernehmen Kinder dann auch Einstellungen ihrer Eltern. Dies kann aber nur freiwillig geschehen.

Teil I: Das Kind will – die Eltern sagen Nein

Das Kind darf wollen

Eltern freuen sich mit dem Kind, wenn es etwas will und in die Tat umsetzt, soweit die Bedürfnisse der Eltern dadurch nicht beeinträchtigt werden.

Als mein erstes Kind geboren war, konnte ich stundenlang zuschauen, wie es seine Händchen bewegte. Ich beobachtete das Kind, wie es entdeckte, dass es selbst Einfluss darauf hat, die Hände bewegen zu können. Was für eine Freude! Ich beobachtete meinen Sohn dabei, wie er seinen eigenen Willen entdeckte. Ich nahm ein Staunen in seinem Gesicht wahr, als er merkte, dass er seine Hände mit seiner Willenskraft bewegt.

Er entdeckte, es hat mit ihm selber zu tun, in welche Richtung die Hand sich bewegt. Wenn dieser Impuls, sich zu bewegen, aus dem eigenen Selbst kommt, dann handelt es sich um den eigenen Willen.

So gibt es im Zusammenleben mit Kindern viele Situationen, die unproblematisch sind. Das Kind lebt seinen Willen. Das Kind entdeckt sich selbst und seine Welt: Dabei erkundet es seine Umgebung, manchmal ganz allein und manchmal erbittet es Unterstützung der Eltern, um das Gewünschte zu bekommen. Eltern erfüllen gern und freiwillig den Willen des Kindes, wenn Raum und Zeit es ihnen ermöglichen. Hier ist es für die Eltern in Ordnung, den eigenen Willen des Kindes zu erleben. Sie freuen sich an der wachsenden Selbstständigkeit des Kindes.

Solange das Kind sich und seine Umgebung erforscht und dabei sich und andere nicht in Gefahr bringt oder behindert, sind dies problemfreie Situationen zwischen Eltern und Kind. Es tut uns Eltern gut, solche Zeiten zu genießen.

In meinem Elterntraining bekommen Eltern die Aufgabe, bis zum nächsten Treffen sich abends bewusst Zeit zu nehmen, um sich der Situationen zu erinnern, in denen das Kind für sie annehmbares oder unannehmbares Verhalten zeigte.

Viele Eltern berichten nach einer Woche, wie sie erstaunt festgestellt haben, dass sie viel häufiger als erwartetet das Kind in Situationen erlebten, die für sie sehr akzeptabel und annehmbar waren. Sie erkennen, dass sie bisher darauf trainiert waren, auf Verhalten zu achten, das ihnen nicht gefällt. Vor lauter Ärger, weil die Eltern dieses Verhalten ihrer Kinder erfolglos ändern wollten, konnten sie gar nicht wahrnehmen, wie viele Situationen des täglichen Lebens harmonisch und mit gegenseitiger Freude verliefen. Die Änderung ihrer Wahrnehmung bewirkte, dass die Eltern mit mehr Gelassenheit den problematischen Zonen begegnen konnten.

Stopp in Gefahrensituationen

Bei heranwachsenden Kindern ist es ganz natürlich, dass sie sich manchmal in Gefahrensituationen begeben, die sie nicht übersehen können. Eltern erkennen aufgrund ihrer Lebenserfahrung solche Gefahren. Sie tragen die Verantwortung für den Schutz ihres Kindes und bewahren es vor Grenzüberschreitungen, die sein Leben oder das der Gemeinschaft bedrohen könnten. Sie tun dies, indem sie das Kind in der Ausführung seiner Handlungen und Bewegungen begrenzen. Sie wenden hier eine schützende Kraft an.

1. Wann setzen Eltern Grenzen?

1.1 Schutz für den Körper

Es ist für Kinder wichtig, ihren Lebensraum zu erforschen, um diese Welt, in der sie angekommen sind, kennenzulernen. Sie erleben und entdecken sich selbst als körperliches, seelisches und soziales Wesen.

1.1.1 Körperliche Grenzen

Nachdem ein Mensch geboren wird, lernt er zunächst seine körperlichen Grenzen kennen.

Der kleine Mensch spürt ein unangenehmes Gefühl im Magen, und durch sein Weinen bewirkt er, dass Milch in den Mund läuft. Manchmal aber, wenn er versucht, dieses sättigende Gefühl zu bekommen, wird es kalt am Po, und die Windel wird gewechselt. Das Menschenkind findet heraus, wie es sich ausdrücken muss, damit etwas passiert, das ihm wohltut. Eltern können am Klang des Weinens merken, ob ihr Baby Hunger hat, die Windel voll ist oder es Zärtlichkeit braucht. Mehr und mehr erkundet dieser kleine Mensch seine Welt, manchmal funktioniert sie, wie er will, und manchmal nicht.

Als körperliches Wesen entdecken Kinder, dass dieser Körper Grenzen hat, die es zu respektieren gilt. Das Kind lernt:Der Schaden ist die Konsequenz, wenn eine Grenze nicht respektiert wird.

Die Herdplatte ist heiß. Wenn das Kleinkind sie anfasst, obwohl die Mutter mit etwas lauterer und höherer Stimme „Vorsicht“ sagt, dann erfährt das Kind, dass es eine körperliche Grenze überschritten hat. Es tritt eineKonsequenzein, in Form vonSchmerzen.Es tut weh, eine Herdplatte anzufassen, und damit ist für das Kind einSchadenentstanden. In vielen Bereichen lernt das Kind, solche körperlichen Grenzen wahrzunehmen.

Körperliche Grenzen melden sich durch Schmerz, wie Hunger oder Luftnot, weil ein Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der körperlichen Funktionen erfüllt werden will. Wenn es draußen glatt ist, muss das Kind vorsichtig laufen und das Gewicht ausbalancieren, sonst fällt es hin. Das Kind wird lernen, dass es eine körperliche Gesetzmäßigkeit ist, dass der Körper im Wasser untergeht. Es schmerzt gewaltig, unter Wasser keine Luft mehr zu bekommen. Diese Erfahrung wird das Kind motivieren, Schwimmen zu lernen.

Kinder sind beim Kennenlernen von körperlichen Grenzen unterschiedlich schnell. Das eine Kind akzeptiert sofort, dass eine heiße Herdplatte schmerzt, das nächste Kind probiert vielleicht zehnmal aus, ob die Herdplatte heiß ist. Denn es erinnert sich, dass es kürzlich die Herdplatte angefasst hat und sie kühl war. Dies gilt es erneut zu untersuchen. Kinder akzeptieren Grenzen unterschiedlich schnell. Das entdeckungsfreudige Kind möchte häufiger experimentieren und hat Freude daran auszuprobieren, wo genau die Grenze verläuft. Dem anderen zaghaften Kind reicht es, einmal „Vorsicht“ zu hören, und es fasst nie mehr die heiße Herdplatte an.

Kinder können nicht alle Grenzen selbst durch Erfahrung kennenlernen. Manche körperliche Grenze zu überschreiten wäre lebensgefährlich. Eltern haben einen größeren Überblick und wissen zum Beispiel, dass es gefährlich ist, über eine Straße zu rennen. Wenn das Kind losrennt, halten die Eltern es fest. Sie handeln im Interesse des Kindes und wenden Macht an, die auch als