Mama, was schreist du so laut? - Britta Hahn - E-Book

Mama, was schreist du so laut? E-Book

Britta Hahn

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Beschreibung

Eltern wünschen sich einen liebe- und respektvollen Umgang mit ihren Kindern ... Und dann passiert es völlig unerwartet und ganz unwillkürlich: Schreien und Schimpfen, weil Kinder und Eltern anders handeln als erwünscht. Die Emotionen kochen hoch, alle guten Vorsätze sind vergessen. Eltern und die Gesellschaft sind empört über die Kinder – die Kinder sind empört über ihre Eltern. Unwillkürliches Handeln und Fühlen begleiten den Menschen; die Vernunft hat da wenig zu melden. Die Autorin veranschaulicht, wie diese Mechanismen in uns zustande kommen. Sie zeigt auf, wie in fünf Schritten in ruhigen Minuten der Konzentration Wut in Gelassenheit verwandelt werden kann. Erst wenn Eltern mit dem Unwillkürlichen kooperieren, statt es zu bekämpfen, kann gleichwertiges Zusammenleben gelingen.

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Titel

Britta HahnMama, was schreist du so lautWut in Gelassenheit verwandelnErfahrungen mit der GFK bei unwillkürlichem Handeln und Fühlen

© Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2010 © Coverfoto: Teodor Lazarev – Adobe Stock © Illustrationen: Sarah Zeese Covergestaltung/Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2012

Satz & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-766-5

ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-859-4 (EPUB), 978-3-95571-261-7 (PDF), 978-3-95571-260-0 (MOBI).

Vorbemerkung

„Mama und Papa“

Der Leser wird gebeten, „Mama“ mit „Papa“ gleichzusetzen. Auch wenn Elternkurse heute noch hauptsächlich von Müttern besucht werden, tragen Vater wie Mutter die gleiche Verantwortung für das Kind. Aus sprachlichen Gründen wird im Buch häufig nur ein Elternteil genannt, es sind aber beide gemeint. Wenn ich in meinem Buch „Ich will anders als du willst, Mama!“ die Mutter gewählt habe, wäre es aus Gleichheitsgründen möglich, jetzt bevorzugt den Vater zu nennen. Dem widerspricht aber, dass der Eindruck entstehen könnte, Väter schreien eher mit Kindern als Mütter. Ich gehe davon aus, dass die Gründe für Schreien in der eigenen Geschichte und im Temperament zu finden sind, nicht aber im Geschlecht. Es gibt sowohl ruhige, ausgeglichene Väter und Mütter als auch schreiende Väter und Mütter.

„Wut tut gut“

Wut ist für das Überleben des Menschen als soziales Wesen notwendig und somit eine Quelle für Veränderung. Ohne Wut könnte ein Mensch nicht erkennen, wann er sich schützen muss, um sein Überleben zu sichern. Die Wut hilft zu erkennen, wann persönliche Grenzen überschritten werden.

Der Steinzeitmensch konnte seinen Knüppel schwingen und angreifen. Wenn die Übermacht zu groß wurde, bekam er Angst und rannte weg. Er erstarrte, wenn beides unmöglich erschien. Als zivilisierte Menschen wollen wir uns mit Worten schützen und erlernen beispielsweise die Gewaltfreie Kommunikation, um dem anderen Menschen mitzuteilen, was wir von ihm brauchen. Zum Angreifen oder Wegrennen brauchen wir keine Sprache. Wir reagieren mit dem Mittelhirn, welches auch den Säugetieren zur Verfügung steht. Das Großhirn und damit auch das Denken in Sprache steht, während Wut gefühlt wird, nur begrenzt zur Verfügung. Die Wut in Gelassenheit zu verwandeln ist in einem zweiten Schritt sinnvoll, wenn in einem ersten Schritt anerkannt wurde, dass Wut eine wichtige Botschaft für das Überleben sendet. Bleiben Menschen nach dem ersten Schritt stehen, ist es beim besten Willen nicht möglich, Zugang zum Großhirn zu finden. Der die Wut verwandelnde zweite Schritt ist notwendig, um den Weg vom Knüppel der Steinzeit zur Sprache des 21. Jahrhunderts zu finden. Wenn in diesem Buch Schritte aufgezeigt werden, wie Wut verwandelt werden kann, wird gleichzeitig davon ausgegangen, dass Wut für das soziale Überleben unbedingt notwendig ist.

Der Ausgangspunkt

Eltern und die Gesellschaft sind empört über ihre Kinder – Kinder sind empört über ihre Eltern. Da fällt dem anderen im wahrsten Sinn des Wortes etwas ein, womit wahrscheinlich niemand gerechnet hat. Was fällt Eltern und Kindern ein, wenn sie schreien oder sogar schlagen, obwohl sie mit der Gewaltfreien Kommunikation einen liebevollen gemeinsamen Umgang anstreben? Unwillkürliches Handeln und Fühlen begleitet den Menschen. Die Vernunft hat da wenig zu melden. Gleichwertiges Zusammenleben kann gelingen, wenn Eltern mit dem Unwillkürlichen kooperieren, statt ES zu bekämpfen.

1. Das unerwünschte unwillkürliche Verhalten

1.1 Sehnsucht nach wertschätzender Kommunikation

Eltern wenden die Gewaltfreie Kommunikation an und haben Kontakt zu einer Haltung von Wertschätzung und Achtung vor dem Leben, wie es Albert Schweitzer ausdrückte: „Ich bin Leben inmitten von Leben, das auch leben will.“ Diese Eltern haben sich bewusst entschieden, einen wertschätzenden und achtsamen Umgang mit ihren Kindern pflegen zu wollen. Möglicherweise verstehen sie dies auch als einen Beitrag für den Frieden in dieser Welt.

Trotzdem sagen sie: „Ich verstehe zwar die Gewaltfreie Kommunikation (GFK), aber ich bin viel zu impulsiv. Häufig kann ich die Erkenntnisse der GFK einfach nicht umsetzen.“

In der Vorstellungsrunde eines Elternkurses antworten die meisten Eltern, die die GFK kennenlernen wollen, auf die Frage, weshalb sie teilnehmen: „Ich bin unglücklich, wir schreien uns in unserer Familie an. Das entspricht nicht meinen Vorstellungen, wie ich mit meinen Kindern zusammenleben will. Ich weiß nicht, wie ich das ändern kann. Ich habe schon alles probiert und leide furchtbar darunter, da weder die Kinder noch ich uns wohl fühlen. Wegen der kleinsten Kleinigkeiten schreie ich sie an und sie zurück. Wieso können wir uns nicht normal miteinander verständigen?“

Nach so einer Vorstellungsrunde breitet sich eine gewisse Erleichterung unter den Eltern aus: Sie sind nicht die einzigen mit dieser Erfahrung. Das Schreien scheint fast „normal“ zu sein. Und trotzdem tragen Eltern weiterhin eine große Sehnsucht in sich, in einer wohlwollenden Atmosphäre mit ihren Kindern zusammenleben zu können. Schreien wollen sie nicht grundsätzlich ablehnen, eine gewisse Leidenschaft darf schon sein, aber Schreien bei jeder Gelegenheit und mit einem Inhalt, den sie ablehnen, das soll nicht mehr sein.

Manche Eltern werden wütend und reagieren gegenüber ihren Kindern schreiend, sogar mit einem Klaps oder heftigen Schlägen, um kurze Zeit später zu bereuen, was sie ihnen angetan haben. Obwohl sie ihre Kinder lieben und sich nie im Traum hätten vorstellen können, dass so etwas passiert, ist ES da: „Ich liebe doch mein Kind, wieso habe ich es so angeschrien? Ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist. Natürlich habe ich mich entschuldigt, aber am liebsten wäre mir, ich könnte vorher merken, dass ich etwas tue, was ich eigentlich nicht möchte. ES passiert einfach so.“

Und wenn ES geschah, verzweifeln diese Eltern. Noch infiziert von der bisherigen Logik unserer Kultur, es gäbe bessere und noch bessere Menschen, verfallen sie dann fast automatisch in eine Selbstabwertung und fangen sogar an zu zweifeln, ob sie die richtigen Eltern für ihre Kinder sein können.

Welche Kraft ist ES, von der Eltern sagen: „Es ist einfach passiert, ich konnte ES nicht kontrollieren“?

In der Hypnotherapie nach Milton Erickson wird diese ES-Kraft „unwillkürlich“ genannt, bestehend aus Prozessen, die spontan, schnell und wie unkontrollierbar ablaufen.

Es gibt unwillkürliche Prozesse, die erwünscht sind: Beim Autofahren trainiert der Schüler in den Fahrstunden, alle bewusst wahrgenommenen Begebenheiten gleichzeitig zu kontrollieren, mit dem Ziel, sich sicher im Auto fortzubewegen. Erst wenn er die Fußgänger sieht, im richtigen Augenblick in den Rückspiegel schaut und gleichzeitig die Schalt-, Brems- und Kuppelungsvorgänge so automatisch ablaufen, dass er nicht mehr darüber nachdenken muss, was er als nächstes tun wird, dann fährt ES sich wie von selbst.

Es gibt unwillkürliche Prozesse, die unerwünscht sind: Wer Fahrradfahren mit einer Rücktrittbremse gelernt hat und auf ein Fahrrad mit Handbremse umsteigt, wird möglicherweise mehrfach aus Gewohnheit beim gewollten Bremsen unwillkürlich den Rücktritt betätigen, um zu bemerken, dass dieser an dem neuen Fahrrad nicht funktioniert. Wahrscheinlich wird er nach mehrfachen „Fehltritten“ umlernen und bald unwillkürlich nur noch die Handbremse benutzen.

Unwillkürliche Prozesse vereinfachen das Leben, weil nicht bewusst nachgedacht werden muss, welcher nächste Bewegungsschritt zu folgen hat. Automatische Bewegungsmuster können zu einem späteren Zeitpunkt sinnlos sein, wenn sich die Umwelt geändert hat. Das Fahrrad hat jetzt eine Handbremse und bei einem Freilauf braucht es keinen Rücktritt. Trotzdem werden wir, wenn wir den Rücktritt gewohnt sind, ihn mehrfach beim Bremsen ungewollt anwenden. Es braucht eine gewisse Zeit, bis wir diese Gewohnheit aufgeben und stattdessen die Handbremse benutzen.

Unwillkürlich heißt nicht unbedingt unbewusst. Es ist den Eltern ja gerade bewusst, dass sie ihre Kinder in einer für sie ablehnenden Weise behandeln, die sie nicht willkürlich gewählt haben. Üblicherweise wird diesen Eltern empfohlen, sie sollen sich zusammenreißen und sich mehr anstrengen, ein Verhalten zu entwickeln, hinter dem sie stehen können. Das Problem ist aber gerade, dass diese Eltern an sich selber den gleichen Anspruch stellen und verzweifelt sind, wenn sie registrieren, dass trotz aller Anstrengung ES wiederholt passiert. Dies ist der Moment, wo sie Hilfe suchen, weil sie sich ihr unwillkürliches Verhalten, das sie bewusst erleben, nicht erklären können.

1.1.1 „Ich schreie ungewollt“

Irene, Mutter von zwei Töchtern, sucht Hilfe, weil sie sich wiederholt in Situationen erlebt, in denen sie schreit, obwohl sie Ruhe bewahren will. Sie schreit ihre Kinder an oder im Stress sogar ihren Nachbarn:

„Ich schreie meinen Nachbarn an und bin sehr angespannt. Ich wünsche mir mehr Gelassenheit. Wir leben in einem Mietshaus mit mehreren Parteien. Das Haus ist hellhörig und es gibt Mieter, die haben keine Kinder. Ich spiele mit meinen Töchtern und ihren Freunden im Garten. Ich sehe, wie meine Tochter zu ihren Freunden aus dem Haus rennt. Ich gehe hinterher, damit sie nicht im Hausflur spielt, weil ich weiß, das stört manche Hausbewohner. – In dem Moment, wo ich sie hole, kommt ein Mieter und sagt: „Die Kinder im Flur sind wieder laut!“ Ich schreie Herrn Müller mit hochroten Kopf an: „Das sind nicht meine Kinder! Immer müssen Sie sich hier so aufregen.“

Tagelang spürt sie ihre Wut im Bauch. Irene fragt sich, was in sie gefahren ist, denn eigentlich ist sie eine ruhige Person, die den Wunsch hat, mit allen Menschen gut auszukommen. In unserem Kulturkreis aufgewachsen, hat sie gelernt, sich für ihr unerwünschtes Verhalten abzuwerten und sich Vorwürfe zu machen. Sie schämt sich, indem sie sich sagt, dass sie eine unmögliche Person ist, die ihre Reaktionen nicht im Griff hat. Gleichzeitig ist sie beschämt, weil sie sich vorstellt, dass der Nachbar von ihr denkt, sie habe einen Vogel, weil sie wegen einer solchen Kleinigkeit wie eine Furie reagiert. Es macht ihr in den nächsten Tagen Mühe, dem Nachbarn zu begegnen.

„Was ist da in mich gefahren?“, fragt sie sich. „Ich kann doch verstehen, dass mein Nachbar mir mitteilen wollte, dass Kinderspiel im Flur hallt und laut ist. Außerdem möchte ich Vorbild für meine Kinder sein. Aber ich bringe denen das Schreien richtig bei, indem ich es vor ihren Augen und Ohren vorlebe!“

Es gibt auch unwillkürliches Verhalten, das unbewusst ist: Ich habe nach meinem ersten Elterntraining vor 13 Jahren erschreckt feststellen müssen, dass ich meinen Kindern gegenüber automatische Sprachmuster wählte, die ich heute ablehne – Unbewusstes wurde bewusst. Auf diese Art wollte ich nicht mehr mit meinem Kind reden. Ich hatte das Elterntraining mit einer Freundin besucht. Beim Kinderturnen wagten wir beide nicht mehr, mit unseren Kindern zu reden, weil wir uns zum ersten Mal bewusst zuhörten, wie wir die Kinder ununterbrochen disziplinierten, ohne die Sicht des Kindes wahrzunehmen.

In anderen Situationen haben mir meine Kinder mehrfach Rückmeldung gegeben, dass mein Ton der Situation nicht angemessen sei, und ich war erstaunt, denn auch dafür hatte ich kein Bewusstsein.

Als meine Tochter mich fragte, ob ich sie mit dem Auto zu ihrer Freundin in den nächsten Ort fahren könnte, antwortete ich „Nein“. Im Feedback hörte ich von ihr, dass ich einen hohen und lauten Ton nutzte, als hätte sie mich gerade gefragt, ob sie den Teller mit dem Essen an die Wand werfen dürfe. Erst durch ihre Rückmeldung wurde mir bewusst, wie dieser Ton die Musik macht. Hätte meine Freundin auf meine harmlose Frage mit so einem „keifenden“ Nein geantwortet, hätte mich das zutiefst erschreckt.

Bis zu dieser Rückmeldung war mir mein Ton nicht bewusst. Was läuft da unwillkürlich und sogar unbewusst ab?

1.1.2 Nicht Ich, ES tut dies und jenes

Bewusstwerden ist wie ein Erwachen. In den folgenden Ausführungen geht es darum, was wir unternehmen können, wenn wir schon bewusst erkennen, aber noch weiter unwillkürlich reagieren.

Sind diese unwillkürlichen Prozesse bewusst, können wir mit mehr oder weniger Übung mit der Zeit neue willkürliche Prozesse erlernen. Gelingt dies, haben wir die Wahl: „mit dem Kind respektvoll zu reden“, statt es „mit Worten an die Wand zu klatschen“ oder im Ton „anzufauchen“. Das zu ändern ist nicht einfach aber machbar.

Neben den hier genannten unerwünschten gibt es erwünschteunwillkürliche Prozesse, die unser Leben erleichtern. Die Gehirnforscher sagen, dass bis zu 90 Prozent unseres Handelns und Empfindens, unserer Sprachmuster, unseres Fühlens und unserer Körperkoordination unwillkürlich ablaufen. Vielleicht erscheint Ihnen das etwas hoch gegriffen, aber denken Sie daran, was Sie alles unwillkürlich tun, wenn Sie sich nur ein Glas Wasser einschenken: Den Schrank öffnen, zuvor den Arm heben, den Griff anfassen, das Glas herausheben, gleichzeitig die Beine Richtung Wasserhahn bewegen, das Glas im richtigen Winkel unter den Wasserhahn halten. – Haben Sie über irgendeine dieser Handlungen nachgedacht?

Sie machen das alles unwillkürlich, und nicht nur das: Vor allem laufen Ihre Gedanken unwillkürlich spazieren.

Während Sie das Wasser holen, denken Sie an den bevorstehenden Einkauf und an die Nachbarin, die Sie zuvor noch besuchen wollen, und Sie formulieren in Gedanken, was Sie ihr noch unbedingt mitteilen wollen. Emotional ärgern Sie sich über Ihre Frisur und machen sich Sorgen, ob Sie das Geld beim Friseur lassen oder die Freundin fragen, ob sie die Haare schneidet. Während das alles gleichzeitig passiert, sehen Sie Ihr Kind, wie es gerade dem jüngeren Bruder ein Haarbüschel ausreißt und Sie merken erst jetzt, dass die Stimmen Ihrer Kinder in den letzten Sekunden sich dramatisch erhöhten und schneller als Ihnen bewusst ist, ist ES wieder passiert. Sie reißen das Kind mit dem Haarbüschel, das Handgelenk fester greifend als nötig, an sich und werfen es dann unsanft auf den neben ihn stehenden Sessel. Mit laut erhobener Stimme teilen Sie ihm mit, dass er so nicht mit seinem Bruder umgehen darf.

Schon Sekunden später fragen Sie sich, was denn da gerade passiert ist: Haben Sie wirklich Ihr Kind in diesem Ton angeschrien, es solle nicht schreien? Ist ES gerade wieder passiert? Haben Sie die Kontrolle über sich verloren und sich hilflos ausgeliefert gefühlt, einem Geschehen, das Sie nicht mehr steuern konnten und welches Sie so nicht wollten?

In diesem Buch möchte ich mich mit dieser Frage beschäftigen. Was geschieht, wenn ES passiert? Wann haben wir diese unwillkürlichen Reaktionen gelernt und wann waren sie sinnvoll? Wenn wir den Sinn von unwillkürlichen Reaktionen verstehen, dann fällt es uns vielleicht leichter, uns selbst empathisch und wertschätzend zu begleiten, wenn ES wieder passiert ist.

Wichtiger aber ist die Antwort, wie wir mit dem, was ES ist, umgehen können, um angemessen nach unserem Willen, also willkürlich, zu reagieren. Statt dem ES in mir will Ich agieren. Ist das überhaupt möglich?

Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Ausführungen geduldig begleiten. Vielleicht können Sie dann mit mir erkennen, dass, wenn ES unwillkürlich passiert, nicht nur Sie Empathie brauchen, sondern auch gleichzeitig ein jüngerer Teil von Ihnen.

Es gibt heute viele Elternratgeber, die gute Empfehlungen dazu geben, was ein Kind braucht. Diese Empfehlungen leuchten unmittelbar ein. Zwischenzeitlich haben Eltern genügend Informationen, wie sie ihre Kinder respektvoll und wertschätzend begleiten können.

Ich habe viele Bücher über Achtsamkeit und eine liebevolle Begleitung von Kindern verschlungen. Je mehr ich aber in der Umsetzung scheiterte, weil ES unwillkürlich eintrat, desto mehr bin ich mit der Zeit verzweifelt, weil ich nicht wusste, wie ich so leben kann wie ICH will. Jahrelang meinte ich, ich sei unfähig oder mein Ziel zu hoch. Ich sagte mir manchmal: „Was soll es denn, ich gebe auf und dann gehören Disziplinierungsmaßnahmen halt doch in die Familie.“ Ich kann nachempfinden, dass lebensfeindliche und beziehungsschädigende Disziplinierungs-Empfehlungen in der Elternliteratur eine Anziehung auf viele Eltern haben. Es ist die Sehnsucht, komplexe Lebenszusammenhänge einfach lösen zu können und somit die Welt übersichtlich zu gestalten.

Ich selbst hatte manchmal die Überzeugung, es sind Idealisten, die meinen, Achtsamkeit sei möglich. Ich meinte, vielleicht sind sie nicht ehrlich, wenn sie sagen, dass sie einen guten Kontakt zu ihren Kindern haben trotz ihrer Konflikte.

Heute weiß ich, dass das Ziel der Achtsamkeit im Zusammenleben mit den Kindern erreichbar ist. Ich brauchte keine weiteren Bücher, wie mein Ziel auszusehen oder was ich zu tun hätte, sondern eine Anleitung dazu, wie ich meine mir bewussten ungewollten und unerwünschten Reaktionen verändern kann, um meine wertvollen Ziele zu erreichen.

1.2 Ein kurzer Blick ins Gehirn

1.2.1 Das Gehirn und sein Aufbau

Für die Veränderung von unwillkürlichen Reaktionen braucht es wenige Informationen über die Funktionsweise des Gehirns. Selbstabwertung der eigenen Person oder noch mehr Anstrengung mit den gleichen erfolglosen Methoden ist kein erfolgversprechender Weg.

Ich möchte für die weiteren Ausführungen in einer möglichst allgemein verständlichen Sprache ein Kapitel über den Aufbau des Gehirns einschieben. Falls ein medizinisch gebildeter Mensch dies hier lesen sollte, bitte ich davon abzusehen, eine wissenschaftliche Erarbeitung zu erwarten. Ich gehe davon aus, dass ich hier einen Leser begleite, der primär daran interessiert ist, wie er seine ungewollten Handlungen und in der Folge auch seine Emotionen aus Liebe zum Kind willkürlich beeinflussen kann. Das Ziel ist eine für das Kind erlebbare liebevolle Beziehung, in der sich sowohl Eltern als auch das Kind wohl fühlen.

In dem jetzt folgenden Teil über das Gehirn werden Sie nur den Teil lesen, der für die weiteren Ausführungen notwendig ist. Wer sich tiefer gehend für diese Thematik interessiert, dem empfehle ich das Buch von Joachim Bauer: „Warum ich fühle, was du fühlst“.

Anatomisch lässt sich das Gehirn in drei Bereiche einteilen, einen unteren, mittleren und oberen.

Das untere Gehirn, bestehend aus Stamm- und Kleinhirn, wächst aus dem Rückenmark heraus und ist zuständig für alle automatischen Funktionen des Körpers wie die Atmung, den Herzschlag, den Blutkreislauf, den Schlaf, die Körpertemperatur und die Funktion der Verdauungsorgane, das Schwitzen und Erröten. Auch regelt es die automatischen groben und feinen Muskelbewegungen und somit die Körperhaltung, das Gleichgewicht und die unwillkürliche Bewegung der Gliedmaßen. Alle einstudierten Bewegungsabläufe werden automatisiert und archiviert. Dazu gehören beispielsweise das Schreiben, Rad fahren und Geige spielen.

Die Funktion von Stamm- und Kleinhirn ist vielleicht vergleichbar mit der Mechanik einer Eisenbahn, die automatisiert in vorgegebenen Gleisen läuft.

Das obere Gehirn enthält die grauen Nervenzellen, mit denen wir denken, sprechen, sehen, uns willkürlich bewegen, bewerten, was Scham und Schuld ist und wissen, was uns wert und wichtig ist und was uns logisch erscheint. Ideen, Kunst, Symbole und eigene Vorstellungen entwickeln wir dort und planen langfristig. Es ist der Ort, wo Strategien entworfen, Pläne geschmiedet und Phantasiereisen erdacht werden. Vergleichbar ist die graue Substanz mit einem Buch, was selbst den eigenen Inhalt begreifen könnte.

Zwischen diesen beiden Gehirnen befindet sich das Mittelhirn, das auch limbisches Gehirn genannt wird. Limbus ist ein lateinischer Begriff und bedeutet „der Saum“. Diesen Namen bekam es, weil der, der das Hirn aufschneidet, einen Gehirnteil sieht, der wie ein Saum aussieht, der das Stammhirn abschließt.

Das Mittelhirn hat die Reife eines Säugetiers, das angreifen, fliehen und erstarren, aber nicht sprechen kann. Im Mittelhirn entstehen die Gefühle entsprechend aller bisher erlebten Vorerfahrungen. Weiter unten im Text wird mit Beispielen gezeigt, wie das Mittelhirn „denkt“.

1.2.2 Das „Funktionieren“ im Gehirn

Seit einigen Jahren gibt es den Kernspintomografen. Das ist ein medizinischer Apparat, in dem der zu untersuchende Mensch liegt. Um ihn herum wird ein Magnetfeld aufgebaut und dieses fotografiert. Schattenartig werden die inneren Organe auf dem Foto erkennbar.

Wenn der Mensch nachdenkt, sieht, riecht, hört oder schmeckt, verbraucht sein Gehirn Sauerstoff. Im fotografierten Magnetbild des Gehirns ist an der veränderten Schattierung erkennbar, wo das Gehirn den Sauerstoff verbraucht. Somit kann man erfahren, wo im Gehirn eine bestimmte Aktivität stattfindet, wenn der Mensch sein Gehirn gebraucht.

In den letzten Jahren hat sich unser Wissen über die Funktionsweise des Gehirns enorm erweitert. Die Erkenntnisse der Hirnforschung sind so weitreichend, dass viele Lebensbereiche davon berührt werden.

So gibt es einen Hirnbereich Zeit, der leuchtet auf, wenn wir uns darüber orientieren, ob die Aktion jetzt, gestern oder morgen stattfindet. Dann gibt es einen Bereich, der zuständig für unser Sprechen ist. Steht nun ein Mensch unter Schock oder hat Angst, dann werden andere Hirnareale aktiv und die Verbindung zum Zeit- und Sprachgehirn ist unterbrochen. Dies erklärt, wieso Kinder, die gestresst sind, anfangen zu stottern und zeitlich nicht orientiert sind. Es ist völlig unsinnig, einem gestressten Kind Informationen zu entlocken. Der Satz „Sag mir, hast du das Geld gestohlen oder nicht?“, kann das Gehirn wegen drohender Folgen so in Angstbereitschaft versetzen, dass tatsächlich keine Antwort möglich ist. Angst macht dumm, was in diesem Zusammenhang bedeutet, dass das Gehirn bei Angst keinen Zugang zum Wissen hat. Das Wissen ist zwar da, aber der Zugang ist wegen der Angst blockiert. Das Gehirn ist von der Angst so besetzt, dass die Nervenzellen für das logische Denken nicht bedient werden können.

So sind Klassenarbeiten für die Gehirne mancher Kinder ein Test über deren Fähigkeiten zur Stressbewältigung statt eine Prüfung ihres Wissens. Die Kinder sind nicht „blöd“. Wäre Schule ernsthaft an dem interessiert, was Kinder gelernt haben, dann sind Tests, die an Noten gekoppelt sind, nicht das geeignete Testmittel. In Teilen unserer Kultur haben Noten Auswirkungen auf die Anerkennung des Kindes als Person. Für manche Kinder sind Klassenarbeiten Trainingseinheiten zur optimalen Förderung von Stresserleben. Wenn Kinder aus Erfahrung wissen, zu Hause bekommen sie eine Menge Ärger oder sehen die Enttäuschung in den Augen ihrer Eltern, wenn sie wieder eine „5“ schreiben, ist ihre Angst groß genug, um den Zugang zum eigenen Wissen zu versperren.

Wenn es in der Schule ums Lernen geht, sollte es ein Anliegen sein, angstfreie Räume zu schaffen. Vor allen Dingen sollten wir aufhören, unter Zwang zu lernen, weil das Gehirn nur freiwillig effektiv lernen kann. Schulen sollten zu Orten werden, an denen ein respektvoller Umgang zwischen Schülern, Lehrern und Eltern gepflegt wird, bevor irgend ein Unterricht beginnt. An Orten der Wertschätzung fühlen sich Menschen wohl und können eine Kultur des Friedens erfahren und umsetzen und dann auch noch nebenbei etwas lernen. Nach den Erkenntnissen der Hirnforschung ist es für mich erstaunlich, dass Kinder lernen, obwohl sie die Schule besuchen.

Es gibt die Welt außen und die Welt in uns. Jedes Erleben im Außen erfahren wir über unsere Sinneskanäle. Wir sehen, hören, fühlen, riechen oder schmecken etwas. Jedes Ereignis wird nun in ein persönliches Erleben zusammengefasst. Angeblich sind am Erleben unserer Wirklichkeit weniger als 20 Prozent unserer Sinne beteiligt, der Rest sind Interpretationen und Zuordnung des Gehirns entsprechend unserer Vorerfahrungen.

Die mit den Sinnen aufgenommene äußere Welt wird einem dem Gehirn schon bekannten Muster zugeordnet. Dabei geht das Gehirn vom Allgemeinen zum Besonderen: Da ist ein Kopf, der gehört also zum Muster Mensch. Da der Kopf blonde Haare hat, gehört er zum Muster der blonden Köpfe. Der Oberlippenbart gehört zu den Gesichtern, die blonde Haare haben und da die Nase gekrümmt ist, kann es nur Onkel Albert sein.

1.2.3 Das Mittelhirn

Erfahrungen mit Onkel Albert waren lustig und belebend. Die Wiedererkennung von Onkel Albert wird vom Mittelhirn (limbischen Gehirn) deshalb mit guter Stimmung verknüpft. Das limbische Gehirn färbt das momentane Erleben mit Gefühlen ein und zwar mit den Gefühlen, die in der Vergangenheit passend waren.

Wir reagieren gefühlsmäßig nicht nur auf das, was ein anderer sagt oder tut. Unser Mittelhirn vergleicht die jetzige Situation mit einer ähnlichen, bereits früher erlebten Situation aus unserem Leben.

Das Jetzt wird mit den damals erlebten Gefühlen eingefärbt.

Bildhaft gesprochen lebt im Mittelhirn ein Männchen und es gibt einen großen Aktenschrank, in dem alles Erlebte gespeichert ist. Alles was im Außen passiert, wird von ihm verglichen mit dem schon Erlebten. Die Gefühle von damals zeigen an, ob die Bedürfnisse erfüllt waren oder nicht.

In dem Bild bewegt das kleine Mittelhirnmännchen beim Erkennen von Onkel Albert den Schalter Glück, das jetzt ohne eigenes bewusstes Zutun durch den Körper fließt. Danach kann das Großhirn weitere Strategien sich ausdenken, um mit Albert in Kontakt zu kommen.

Alle drei Gehirne arbeiten zusammen und sind miteinander vernetzt. Hätte Onkel Albert letztens mit dem Messer gedroht, dann verknüpft das Mittelhirn sein Erkennen mit einem unsicheren Gefühl, das Vorsicht signalisiert. Gleichzeitig sendet es Signale an das Kleinhirn, damit die Muskeln in einer „Hab Acht“-Stellung sind. Im Anschluss an diese Erkennungsmuster und Aktivitäten erinnert sich das Denken bewusst und stellt sich vor, was wäre, wenn es zu einem Mord käme. Die erlernten Werte zeigen an, es ist Unrecht, jemand mit dem Messer zu bedrohen.

Wir bilden jedes Erleben auf verschiedenen Ebenen ab:

ein inneres Bild der Außenwelt,

ein Gefühlsmuster,

eine Körperempfindung,

ein Atemmuster,

eine Körperkoordination,

ein Kommentar über das Außen,

eine Aussage über uns selbst.

Ein Treffen mit dem netten Onkel Albert sähe bei einer jungen Frau vielleicht so aus:

ein inneres Erkennen von Albert,

ein Gefühl der Freude,

eine Körperempfindung von Entspannung im Bauch,

der Atem ist tief und regelmäßig,

die Körperkoordination ist locker und beweglich,

ihr Kommentar über das Außen heißt: „Wie schön, dass ich ihn treffe!“

ihre Aussage über sich selbst heißt: „Ich bin glücklich, wenn ich Albert sehe.“

Das Mittelhirn führt die Mustererkennung schneller durch, als die grauen Zellen denken können. Die junge Frau hat sich schon für Sympathie entschieden, bevor das denkende Gehirn sich überlegt, ob sie Chancen hat, um Albert auf sich aufmerksam zu machen. „Ist er verheiratet oder frei, möchte ich es wagen oder nicht“ sind Fragen, die das logische Großhirn stellt, nachdem das Mittelhirn längst eine Annäherung beschlossen hat.

Wir können der Funktionsweise des Mittelhirns nicht mit rationaler Logik gerecht werden. Es hat wenig Sinn, vernünftig zu sagen: „Mensch, streng dich an, stell dich nicht so an, höre mit deinen blöden Reaktionen auf und brülle dein Kind nicht an! Was lebst du ihm denn da vor, es hat was anderes verdient.“ Das Mittelhirn versteht keine Sprache, es arbeitet mit Symbolen, Bildern und schnellem intuitivem Wissen. Dieses intuitive Wissen begann schon in der vorsprachlichen Entwicklung zu entstehen. Dort wurde alles Erleben bildhaft gespeichert nach dem Kriterium, was erfüllt Bedürfnisse und was nicht.

Im Mittelhirn entsteht das ES, das unwillkürliche Erleben und Reagieren. Von dort kommt ES, wenn wir nicht willentlich unsere Kinder anschreien.

1.2.4 Der Mandelkern

Das limbische System sorgt als Frühwarnsystem für unser Überleben, indem es erkennt, ob unsere Bedürfnisse sich erfüllen und ob wir in Sicherheit sind oder Gefahr droht. Alles, was wir in unserem bisherigen Leben als Gefahr erkannten, ist dort abgespeichert. Jedes neue Erleben durchläuft einen Sicherheitscheck, wird verglichen mit dem bisher Erlebten und als harmlos oder gefährlich eingestuft. Für diesen Sicherheitscheck ist in der Mitte des limbischen Gehirns eine kleine Gehirnform zuständig, die wie eine Mandel aussieht. Von diesem Mandelkern weiß man heute, dass er eine wichtige Funktion für das ES hat. Es ist die Schaltstelle, die bei erkannter Gefahr Nervenimpulse ins Gehirn schickt, die automatische Handlungsmuster aktivieren.

Wichtig ist der Mandelkern, damit erinnert wird, wovor man sich zu fürchten hat. Wird einer Versuchsratte der Mandelkern herausoperiert, so geht sie munter auf eine schlafende Katze los und knabbert an deren Ohr.