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An ihrem Geburtstag findet Kay Scarpettas auf ihrer Mailbox eine kryptische Nachricht von einem gewissen "Copperhead", und kurz darauf entdeckt sie an ihrer Gartenmauer sieben blank polierte Münzen. Ein alberner Scherz? Bevor sie darüber nachdenken kann, klingelt das Telefon und Detective Pete Marino berichtet ihr, dass ganz in ihrer Nähe ein Mann erschossen wurde. Auf dem blank polierten Projektil, so stellt man später fest, ist die Zahl 3 eingraviert. Es ist bereits der dritte Mord, der nach diesem Muster begangen wurde - und die Opfer stammten alle aus Scarpettas Umfeld. Sieben Münzen, drei Morde: bleiben noch vier ...
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Seitenzahl: 623
Patricia Cornwell
Ihr eigen Fleisch und Blut
Ein Kay-Scarpetta-Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Dufner
Mit Kurzporträts der Serienhelden im Anhang
Hoffmann und Campe
Für Staci
Die Weisheit findet keinen Eingang in böse Gedanken, und Wissenschaft ohne Gewissen ist nichts weiter als der Untergang der Seele.
Rabelais,1532
Für Kay Scarpetta
Von Copperhead
Sonntag, 11. Mai
(23:43 Uhr, um genau zu sein)
Hier ein kleines Gedicht, das ich nur für dich geschrieben habe. Alles Gute zum Muttertag, Kay!!!!
(bitte umblättern …)
Das Licht kommt
Und die Dunkelheit
die du geschaffen hast
(& glaube ich auch gesehen)
Ist fort fort fort!
Frag-
mente zer-
splitterten Goldes
und der Henker stiehlt sich unbemerkt davon.
Lust sucht sich ihren Ausdruck selbst, Dr. Death
Auge um Auge
Raub um Raub
Der sinnliche Traum deines letzten Atemzugs
Und Pennys für deine Gedanken
Das Wechselgeld behalte
Und schau auf die Uhr!
Tick Tock
Tick Tock Doc!
12. Juni 2014
Cambridge, Massachusetts
Oben auf der alten Backsteinmauer hinter unserem Haus funkelt Kupfer wie Scherben aus Sonnenstein. Ich denke an die alten pastellfarben verputzten Werkstätten mit den roten Ziegeldächern entlang des Kanals Rio dei Vetrai und an die heißen Schmelzöfen, wo die maestri flüssiges Glas auf Marbelplatten formen. Ganz vorsichtig, damit ich nichts verschütte, balanciere ich die beiden mit Agavensirup gesüßten Espressi.
Ich halte die mundgeblasenen Kristalltassen an den zart geschwungenen Henkeln und schwelge in der glücklichen Erinnerung an den Tag, an dem ich sie auf der venezianischen Insel Murano entdeckt habe. Der Duft nach Knoblauch und gerösteten Paprikaschoten folgt mir nach draußen, als die Fliegengittertür mit einem sachten Klappern zufällt. Ich erschnuppere den aromatisch-kräftigen Geruch des frischen Basilikums, das ich mit bloßen Händen zerpflückt habe. Es ist ein wundervoller Morgen. Er könnte nicht schöner sein.
Mein Spezialsalat ist schon angemacht, Saucen, Kräuter und Gewürze vermengen sich und durchdringen die Stücke der mantovana, die ich schon vor Tagen auf einem Stein gebacken habe. Dieses Olivenölbrot sollte am besten schon ein wenig hart sein, wenn man es für eine panzanella verwendet, den toskanischen Brotsalat, der früher einmal, wie Pizza, das wichtigste Nahrungsmittel der armen Leute gewesen ist. Ihre Phantasie und ihr Erfindergeist hat Stücke eines Fladenbrots namens focaccia und verschiedene Gemüse in eine abbondanza, ein Festmahl, verwandelt. Einfallsreiche und leckere Gerichte laden geradezu zum Experimentieren ein und winken mit reicher Belohnung. Deshalb habe ich heute morgen noch ein in dünne Scheibchen geschnittenes Fenchelherz, koscheres Salz und geschroteten Pfeffer dazugegeben. Ich habe süße Zwiebeln anstelle der roten benutzt und noch einen Hauch Minze von der Veranda hinzugefügt, wo ich in großen, vor Jahren in Frankreich entdeckten Olivenkrügen Kräuter züchte.
Auf der Terrasse bleibe ich stehen, um nach dem Grill zu schauen. Hitze steigt auf. Grillanzünder und Holzkohlebriketts befinden sich in einem sicheren Abstand. Mein Mann Benton, Mitarbeiter des FBI, hat zwar kein Händchen fürs Kochen, weiß aber, wie man ein richtiges Feuer anzündet, und achtet außerdem sehr auf Sicherheit. Das ordentliche Häufchen orangerot glühender Kohlen ist mit weißer Asche bedeckt. Bald kann ich die Schwertfischfilets auflegen. Im nächsten Moment jedoch werde ich jäh aus meinen genießerischen Träumereien gerissen, als mein Blick wieder auf die Mauer fällt.
Mir wird klar, dass ich Pennymünzen vor Augen habe. Ich überlege, ob sie vorhin auch schon da gewesen sind, als ich bei Morgengrauen mit unserem Windhund Sock draußen gewesen bin. Er war bockig und klebte an mir wie eine Klette, und ich war ungewöhnlich geistesabwesend. Meine Gedanken rasten in die verschiedensten Richtungen, angetrieben von der Vorfreude auf einen toskanischen Brunch, bevor ich in Boston in den Flieger steige. Nicht zu vergessen, das allmählich nachlassende sinnliche Flirren nach einem hemmungslos lüsternen Morgen, bei dem nur das Vergnügen gezählt hat. Ich kann mich kaum daran erinnern, mit dem Hund an der Luft gewesen zu sein. Von meinem kleinen Ausflug mit ihm in den dämmrigen Garten ist mir keine Einzelheit im Gedächtnis geblieben.
Vielleicht sind mir die funkelnden Kupfermünzen oder ein anderer Hinweis auf einen ungebetenen Gast auf unserem Grundstück deshalb vorher nicht aufgefallen. Ein leichtes Grauen beschleicht mich, und ein dunkler, beunruhigender Schatten legt sich über meine Gedanken. Wieder fällt mir etwas ein, mit dem ich mich lieber nicht beschäftigen möchte.
Du hast dich schon innerlich in den Urlaub verabschiedet, obwohl du noch hier bist. Und eigentlich solltest du es besser wissen.
Meine Gedanken kehren in die Küche zurück, und zwar zu der Rohbaugh 9-Millimeter aus blauem Stahl, die in ihrem Taschenholster auf der Anrichte neben dem Herd liegt. Die Pistole, leicht und mit Laser-Zielbeleuchtung ausgestattet, begleitet mich auf Schritt und Tritt, auch wenn Benton zu Hause ist. Allerdings habe ich mich heute Morgen überhaupt nicht mit Waffen oder Sicherheit beschäftigt. Ich habe die Nacht damit verbracht, mich gedanklich von den Anlieferungen in mein Institut zu befreien: fünf tote Patienten, die, diskret in schwarze Leichensäcke verpackt und in fensterlosen weißen Transportern liegend, auf ihren Termin mit den letzten Ärzten warten, die sie auf Erden berühren werden.
Obwohl ich eigentlich klüger sein müsste, habe ich verdrängt, wie gefährlich, tragisch und tödlich die Wirklichkeit sein kann.
Verdammt.
Doch ich rede mir ein, dass ich übertreibe. Jemand treibt Spielchen mit Pennys. Mehr ist nicht dabei.
Unser Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert steht in Cambridge, und zwar am nördlichen Rand des Campus von Harvard, gleich um die Ecke vom Priesterseminar und gegenüber der Academy of Arts and Sciences. Immer wieder haben wir mit Leuten zu tun, die unser Grundstück als Abkürzung benutzen. Es ist nicht eingezäunt, die Mauer eher eine dekorative Ruine als ein Hindernis. Die Kinder haben ihren Spaß daran, drüberzuklettern und sich dahinter zu verstecken.
Wahrscheinlich ist einem von ihnen jetzt in den Schulferien langweilig geworden.
»Hast du gesehen, was auf unserer Mauer liegt?« Ich gehe durch das von der Sonne beschienene Gras zu der Steinbank, die rings um den Magnolienbaum verläuft. Benton hat sich dorthin zum Zeitunglesen zurückgezogen, während ich den Brunch vorbereite.
»Was gesehen?«, fragt er.
Sock liegt ausgestreckt neben Bentons Füßen und blickt mich vorwurfsvoll an. Er weiß genau, was ihm bevorsteht. Sobald ich gestern Abend anfing, die Koffer herauszuholen und Tennissachen und Tauchausrüstung zu sortieren, hat sich seine Stimmung verfinstert, ein Gefühlsloch, das er sich selbst gräbt, nur dass es diesmal noch tiefer geraten ist. Ganz gleich, wie sehr ich mich auch bemühe, gelingt es mir nicht, ihn aufzuheitern.
»Pennys.« Ich reiche Benton einen Espresso aus frisch gemahlenen Bohnen, ein kräftig gesüßtes, anregendes Getränk, das in uns beiden großen Appetit auf alles Fleischliche weckt.
Er prüft die Temperatur vorsichtig mit der Zunge.
»Hast du beobachtet, wie jemand sie hingelegt hat?«, erkundige ich mich. »Was war, als du den Grill angezündet hast? Waren die Pennys schon da?«
»Mir ist nichts und niemand aufgefallen. Seit ich hier draußen bin, sind sie bestimmt nicht hingelegt worden«, erwidert er. »Wie lange braucht die Kohle noch?« Das ist seine Art zu fragen, ob er seine Sache gut gemacht hat. Wie alle Menschen freut er sich, wenn man ihn lobt.
»Sie glüht ganz wunderbar. Vielen Dank. Lass uns noch ein Viertelstündchen warten«, antworte ich, während er sich wieder seinem Artikel über die dramatisch angestiegenen Fälle von Kreditkartenbetrug zuwendet.
Im schräg einfallenden Licht der Morgensonne leuchtet sein Haar silberfarben. Es ist ein wenig länger als gewöhnlich, fällt ihm in die Stirn und kräuselt sich im Nacken.
Ich betrachte die Fältchen in seinem markanten und ebenmäßigen Gesicht, die hübschen Lachfalten und die Spalte in seinem kräftigen Kinn. Seine schlanken, schönen Hände wirken elegant. Die Hände eines Musikers, denke ich immer, wenn er eine Zeitung, ein Buch, einen Stift oder eine Waffe hält. Der dezente Duft seines erdigen Rasierwassers steigt mir in die Nase, als ich mich über ihn beuge, um den Artikel zu überfliegen.
»Keine Ahnung, was die Kreditkartenfirmen tun werden, wenn das noch weiter zunimmt.« Ich trinke einen Schluck Espresso und erinnere mich mit einem Schaudern an meine jüngsten Erfahrungen mit Cyberkriminellen. »Die Welt wird von Verbrechern ausgeplündert werden, die wir weder sehen noch fangen können.«
»Kein Wunder, dass die Verwendung von Keyloggern immer mehr um sich greift und schwieriger festzustellen ist.« Eine Seite raschelt, als er umblättert. »Jemand verschafft sich deine Kartennummer und tätigt über Dienste wie zum Beispiel PayPal Einkäufe, häufig in Übersee, und dann kann man es nicht mehr nachvollziehen. Ganz zu schweigen von Schadsoftware.«
»Ich habe seit Menschengedenken nichts mehr bei eBay bestellt. Und von Craigslist und ähnlichem halte ich mich fern.« Wir führen dieses Gespräch in letzter Zeit häufiger.
»Ich weiß, wie lästig das ist. Aber es passiert auch anderen vorsichtigen Menschen.«
»Dir nicht.« Ihr fahre ihm mit den Fingern ins dichte weiche Haar, das schon in seiner Jugend, bevor ich ihn kannte, platinweiß geworden ist.
»Du kaufst mehr ein als ich«, entgegnet er.
»Das stimmt doch wohl nicht. Du und deine schicken Anzüge, Seidenkrawatten und teuren Schuhe. Du solltest mal sehen, wie ich Tag für Tag rumlaufe. Cargohosen. OP-Anzüge. Krankenhausclogs aus Plastik. Stiefel. Außer, wenn ich zu Gericht muss.«
»Ich male mir dich in Gerichtsklamotten aus. Hast du einen Rock an, den engen mit Nadelstreifen und hinten einem Schlitz?«
»Und Pumps mit vernünftigem Absatz.«
»Das Wort vernünftig ist nicht mit meinen Phantasien kompatibel.« Als er zu mir aufschaut, bewundere ich seinen schlanken, muskulösen Hals.
Ich fahre den zweiten Brustwirbel hinunter bis zum C7 und grabe die Fingerspitzen sanft in den Longus colli und spüre, wie er sich entspannt und das angenehme körperliche Gefühl genießt. Er sagt immer, ich sei sein Kryptonit, und das ist wahr. Das erkenne ich an seiner Stimme.
»Worauf ich hinauswill?«, spricht er weiter. »Es ist unmöglich, mit all den Schadprogrammen Schritt zu halten, die da im Umlauf sind, Tastenbewegungen aufzeichnen und die Informationen an Hacker weiterleiten. Man kann sich ganz schnell ein Virus einfangen, einfach indem man einen infizierten E-Mail-Anhang öffnet. Wenn du so weitermachst, kann ich nicht mehr klar denken.«
»Trotz der Antispy-Programme, nur einmal gültiger Passwörter und Firewalls, die Lucy installiert, um unsere Server und E-Mail-Konten zu sichern? Wie kann man sich da einen Keylogger runterladen? Außerdem ist es genau meine Absicht, dir das klare Denken schwer zu machen. So schwer wie möglich.«
Koffein und Agavennektar verfehlen ihre Wirkung nicht. Ich erinnere mich daran, wie sich seine Haut und sein schlanker, sehniger Körper angefühlt haben, als er mir unter der Dusche die Haare gewaschen, die Kopfhaut massiert und mich so lange berührt hat, bis ich es kaum noch aushalten konnte. Ich kann nie genug von ihm bekommen.
»Software kann keine Schadsoftware analysieren, die sie nicht erkennt«, erwidert er.
»Ich glaube nicht, dass das die Erklärung ist.«
Meine Nichte Lucy, ihres Zeichens Computergenie, würde niemals ein solches Eindringen in das Computersystem zulassen, das sie in meinem Institut, dem Cambridge Forensics Center, kurz CFC, programmiert und pflegt. Dass sie vermutlich eher als Urheberin von Schadsoftware und Hackerattacken infrage kommt, als zum Opfer zu werden, steht auf einem anderen Blatt.
»Wie ich schon sagte, hat vermutlich jemand in einem Restaurant oder einem Laden Zugriff auf deine Karte gehabt.« Benton schlägt die nächste Seite um. Ich streiche über seinen geraden Nasenrücken und die Kurve seines Ohrs entlang. »So lautet zumindest Lucys Theorie.«
»Viermal seit März?« Allerdings bin ich in Gedanken bei unserer Dusche, den glänzend weißen U-Bahn-Fliesen und dem Geräusch des strömenden Wassers, das im Gleichtakt mit unseren Bewegungen mal lauter und mal leiser geplätschert hat.
»Außerdem gibst du sie Bryce, damit er am Telefon Bestellungen für dich erledigen kann. Nicht, dass er sich je leichtsinnig verhalten würde, wenigstens nicht mit Absicht. Dennoch wäre mir lieber, wenn du das lassen würdest. Er sieht die Wirklichkeit anders als wir.«
»Er wird jeden Tag mit den schlimmsten Dingen konfrontiert, die man sich vorstellen kann«, protestiere ich.
»Das heißt nicht, dass er sie versteht. Bryce ist im Gegensatz zu uns vertrauensselig und naiv.«
Es ist schon einen Monat her, dass ich meinen Bürochef das letzte Mal gebeten habe, einen Einkauf mit meiner Kreditkarte zu bezahlen, und zwar Gardenien für meine Mutter zum Muttertag. Der jüngste Betrug wurde mir gestern gemeldet. Ich bezweifle wirklich, dass er mit Bryce oder mit meiner Mutter zusammenhängt, obwohl es die Krönung dessen wäre, wie meine kaputte Familie tickt: Meine guten Taten werden bestraft, und zwar nicht nur dadurch, dass meine Mutter sich ständig über mich beklagt und mich mit meiner Schwester Dorothy vergleicht. Und dabei säße die längst im Gefängnis, wenn es strafbar wäre, eine nur mit der eigenen Nabelschau beschäftigte Egomanin zu sein.
Die in Form geschnittene Gardenie wurde als gedankenlose Kränkung gewertet, weil meine Mutter selbst Gardenien im Garten hat. Da kann man ja gleich Eis zu den Eskimos schicken. Dorothy hat mir so wunderhübsche Rosen mit Schleierkraut geschenkt, lautete die wortwörtliche Reaktion meiner Mutter. Da spielt es keine Rolle, dass Gardenien ihre Lieblingsblumen sind – und außerdem war mein Geschenk, im Gegensatz zu Schnittblumen, lebendig.
»Nun, es nervt einfach, und natürlich wird meine Ersatzkarte erst dann eintreffen, wenn wir längst in Florida sind«, sage ich zu Benton. »Also muss ich ohne Kreditkarte verreisen, was nie ein guter Start in den Urlaub ist.«
»Du brauchst sie nicht. Ich lade dich ein.«
Das tut er ohnehin meistens. Ich verdiene zwar nicht schlecht, doch Benton ist das einzige Kind einer schon seit Generationen wohlhabenden Familie. Wir sprechen hier von sehr viel Geld. Sein Vater, Parker Wesley, hat sein Vermögen klug in beständige Werte investiert, wozu auch der Handel mit Kunstwerken zählte. Deshalb hingen im Hause Wesley häufig Meisterwerke von Miró, Whistler, Pissaro, Modigliani, Renoir und anderen Malern für eine bestimmte Zeit an der Wand. Außerdem kaufte und verkaufte er Oldtimer und seltene Manuskripte und behielt niemals ein Stück. Es ging nur darum zu wissen, wann man etwas abstoßen musste. Benton hat diese Sicht und Herangehensweise übernommen. Ein weiteres Erbe seiner neuenglischen Wurzeln sind eine gnadenlose Logik und die eherne Entschlossenheit eines Yankees, der harte Arbeit und Unbilden ertragen kann, ohne mit der Wimper zu zucken.
Das bedeutet nicht, dass er das schöne Leben nicht zu schätzen wüsste oder sein Mäntelchen nach dem Wind hängen würde. Benton neigt weder zu Protz noch zu Verschwendungssucht, sondern tut einfach, was er will. Ich betrachte unseren wunderschön gestalteten Garten und die Rückseite unseres alten Holzhauses, das vor kurzem frisch gestrichen worden ist. Die Holzwände sind in einem rauchigen Graublau gehalten, die Läden haben das Grau von Granit. Das Dach besteht aus dunklen Schieferpfannen, zwischen denen zwei geschwärzte Backsteinkamine aufragen. Einige der Fenster haben noch die originalen Scheiben aus gewelltem Glas. Wir könnten also ein absolut idyllisches und sorgenfreies Leben führen, wenn da nicht unsere Berufe wären. Und so wandert mein Blick wieder zu den kleinen Kupfermünzen, die, nicht weit entfernt von uns, grell in der Sonne funkeln.
Sock liegt reglos im Gras und folgt mit aufgerissenen Augen jeder meiner Bewegungen, als ich näher an die Mauer herantrete und den Duft der englischen Rosen, apricot, pink und warme Gelbschattierungen, schnuppere. Die dichten, üppigen Sträucher ragen bis zur halben Höhe der alten Backsteinmauer hinauf, und es macht mich froh, dass die Teerosen in diesem Frühjahr ganz besonders gut gedeihen.
Die sieben Pennys mit Lincolns Konterfei darauf liegen alle mit dem Kopf nach oben und stammen aus dem Jahr 1981, was eigenartig ist. Obwohl sie über dreißig Jahre alt sind, sehen sie aus wie frisch geprägt. Vielleicht sind die Münzen ja falsch. Das Datum fällt mir auf. Lucys Datum. Ihr Geburtsjahr. Und heute habe ich Geburtstag.
Ich spähe die etwa fünfzehn Meter lange und eins fünfzig hohe Backsteinmauer entlang, die ich mir in meinen poetischen Momenten als Knick in der Zeit vorstelle. Als Wurmloch, das uns mit anderen Dimensionen verbindet, ein Portal zwischen uns und denen, unserem jetzigen Leben und der Vergangenheit. Die Überreste unserer Mauer sind zum Sinnbild unserer Bemühungen geworden, uns gegen alle abzugrenzen, die uns schaden wollen. Was eigentlich unmöglich ist, falls der Betreffende genug Entschlossenheit besitzt. In meinen Gedanken flackert ein Gefühl auf, so tief, dass ich es nicht zu fassen bekomme. Eine Erinnerung, vergraben oder noch nicht vollständig geformt.
»Warum sollte uns jemand sieben Pennys mit dem Kopf nach oben hinterlassen, die alle dasselbe Prägedatum tragen?«, frage ich.
Unsere Überwachungskameras erfassen die hinteren Ecken der Mauer nicht, die sich ein wenig neigt und mit von oben bis unten mit Efeu überwucherten Sandsteinsäulen abschließt.
Als das Haus im frühen neunzehnten Jahrhundert von einem wohlhabenden Transzendentalisten erbaut wurde, war das gesamte Grundstück von einer geschwungenen Mauer umgeben. Übrig sind nur noch ein zerbröckelnder Abschnitt aus Backsteinen und fünftausend Quadratmeter Grund mit einer schmalen gepflasterten Auffahrt und einer freistehenden Garage, die ursprünglich das Kutschhaus war. Deshalb ist der Mensch, der die Pennys abgelegt hat, vermutlich nicht ins Bild der Kameras geraten. Und wieder spüre ich dieselbe Beklommenheit.
»Sie sehen poliert aus. Das, oder sie sind falsch.«
»Nachbarskinder«, erwidert Benton.
Seine bernsteinfarbenen Augen beobachten mich über den Rand des Boston Globe hinweg, ein Lächeln spielt um seine Lippen. Er trägt Jeans und Mokassins und eine Windjacke mit dem Logo der Red Sox. Nun stellt er die Espressotasse ab, steht von der Bank auf und kommt auf mich zu. Nachdem er mir von hinten die Arme um die Taille geschlungen hat, küsst er mich aufs Ohr und stützt das Kinn auf meinen Scheitel.
»Wenn das Leben nur immer so schön wäre«, sagt er, »dann würde ich vielleicht in Rente gehen und das Räuber-und-Gendarm-Spielen an den Nagel hängen.«
»Das würdest du niemals. Und wenn es nur das wäre, was du spielst. Wir sollten bald essen und uns auf den Weg zum Flughafen machen.«
Er wirft einen Blick auf sein Smartphone und tippt rasch eine offenbar ein oder zwei Wörter lange Antwort auf irgendeine SMS.
»Ist alles in Ordnung?« Ich ziehe seine Arme fester um mich. »Wem schreibst du da?«
»Alles bestens. Ich verhungere. Verführ mich.«
»Gegrillte Schwertfischsteaks mit Salmoriglio-Würze, also eingepinselt mit Olivenöl, Zitronensaft und Oregano.« Als ich mich an ihn lehne, spüre ich seine Wärme, die kühle Luft und die Hitze der Sonne. »Deine heiß geliebte panzanella. Heirloom-Tomaten, Basilikum, süße Zwiebeln, Gurken …« Ich höre Laub rascheln und rieche den zarten, zitronenartigen Duft der Magnolienblüten. »… dazu den abgelagerten Rotweinessig, den du so magst.«
»Voller Körper und köstlicher Geschmack, so wie du. Mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen.«
»Bloody Marys. Meerrettich, frisch gepresste Limetten von den Keys und Habanero-Chilis, damit wir für Florida richtig in Stimmung kommen.«
»Und danach duschen wir.« Er küsst mich auf die Lippen, diesmal ohne sich darum zu kümmern, ob uns jemand sehen könnte.
»Wir haben schon geduscht.«
»Wir müssen aber noch mal duschen. Ich fühle mich schrecklich schmutzig. Vielleicht habe ich ja noch ein Geschenk für dich. Wenn es dir nicht zu viel ist.«
»Die Frage ist, ob es dir zu viel ist.«
»Wir haben zwei ganze Stunden, bevor wir zum Flughafen müssen.« Er küsst mich wieder, länger und inniger, während ich das entfernte schnelle Rattern eines Hubschraubers höre. »Ich liebe dich, Kay Scarpetta. Immer mehr, mit jeder Minute, jedem Tag, jedem Jahr. Warum übst du so einen Zauber auf mich aus?«
»Muss am Essen liegen. Ich koche eben gut.«
»Der Tag, an dem du geboren worden bist, ist ein Glückstag.«
»Nicht, wenn du meine Mutter fragst.«
Plötzlich weicht er fast unmerklich zurück, als sei ihm etwas aufgefallen. Er blinzelt in die Sonne und späht in Richtung der Academy of Arts and Sciences, einen Häuserblock nördlich von uns. Zwischen der Academy und unserem Grundstück gibt es eine Reihe von Einfamilienhäusern und eine Straße.
»Was ist?« Ich folge seinem Blick.
Von unserem Garten aus können wir das gewellte, von Grünspan bedeckte Kupferdach durch die dichten Bäume ragen sehen. Hier, in der Academy of Arts and Sciences, tagt regelmäßig die internationale Elite aus der Welt der Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, weshalb das Gebäude im Volksmund auch House of the Mind heißt – das Haus der klugen Köpfe.
»Was ist denn?« Ich schaue weiter in die Richtung, die Benton mit Blicken fixiert. Das Dröhnen des tief fliegenden Hubschraubers kommt immer näher.
»Keine Ahnung«, erwidert er. »Ich glaube, da drüben hat etwas aufgeblitzt. Wie das Blitzlicht einer Kamera, aber nicht so hell.«
Ich mustere die Wipfel der alten Bäume und das verwinkelte grüne Metalldach, bemerke allerdings nichts Ungewöhnliches. Es ist niemand in Sicht.
»Vielleicht hat sich das Sonnenlicht in einem Autofenster gespiegelt«, suche ich nach einer Erklärung. Benton tippt wieder etwas in sein Smartphone, eine Kurznachricht an irgendjemanden.
»Es kam aus den Bäumen. Es könnte sein, dass ich vorhin etwas Ähnliches gesehen habe. Nur aus dem Augenwinkel. Ein Glitzern. Ein flackerndes Licht vielleicht. Ich bin nicht sicher …« Wieder starrt er hin. Inzwischen dröhnt der Hubschrauber sehr laut. »Hoffentlich ist es kein dämlicher Reporter mit einem Teleobjektiv.«
Gleichzeitig schauen wir nach oben, als der dunkelblaue Augusta in Sicht kommt, stromlinienförmig, mit einem grellgelben Streifen und einer flachen silbrigen Unterseite. Das Fahrwerk ist eingezogen. Ich spüre das Vibrieren bis ins Mark. Im nächsten Moment duckt Sock sich neben mich ins Gras und drängt sich an meine Beine.
»Lucy«, sage ich und blicke gebannt hin. Sie hat so etwas schon öfter getan, allerdings nie auf so niedriger Flughöhe. »O mein Gott, was hat sie vor?«
Die Rotorblätter wummern laut, und der Luftstrom bringt die Baumwipfel ins Schwanken, als meine Nichte in knapp hundertfünfzig Meter Höhe über das Haus fliegt. Sie umkreist es, begleitet von einem ohrenbetäubenden Dröhnen, verharrt dann in der Luft und kippt die Nase, bevor sie sich wieder entfernt, über der Academy of Arts and Sciences ein Stück tiefer geht und dort noch eine langsame Kehre vollführt. Dann ist sie fort.
»Ich glaube, Lucy wollte dir gerade alles Gute zum Geburtstag wünschen«, stellt Benton fest.
»Sie sollte hoffen und beten, dass die Nachbarn sie nicht wegen Verstoßes gegen die Lärmschutzvorschriften bei der Luftfahrtbehörde melden.« Dennoch freue ich mich und bin gerührt.
»Da wird sie keine Probleme kriegen.« Wieder sieht er auf sein Smartphone. »Sie kann es aufs FBI schieben. Weil sie gerade in der Gegend war, habe ich sie um einen Erkundungsflug gebeten. Deshalb ist sie so tief geflogen.«
»Du wusstest also, dass sie uns fast das Dach abrasieren würde?«, frage ich. Natürlich ist das so; er kannte auch den genauen Zeitpunkt, der Grund, warum er dafür gesorgt hat, dass wir im Garten bleiben, damit wir ja nicht gerade im Haus sind, wenn sie kommt.
»Kein Fotograf oder sonst jemand mit einer Kamera oder einem Tele.« Benton schaut zu dem Wäldchen und dem verwinkelten grünen Dach hinüber.
»Hast du sie gerade gefragt, ob sie mal nachschauen könnte?«
»Richtig, und, um sie wörtlich zu zitieren: no joy.« Er zeigt mir die beiden Wörter auf dem Display, die Lucys Partnerin Jane soeben gesimst hat, Fliegerjargon, der bedeutet, dass sie nichts entdeckt haben.
Die beiden fliegen zusammen, und ich frage mich, ob sie wirklich nur dort oben sind, um mir laute und dramatische Geburtstagsglückwünsche zu überbringen. Dann fällt mir noch etwas ein. Lucys zweimotoriger italienischer Helikopter sieht offiziell aus, weshalb die Nachbarn vermutlich glauben, dass der Überflug mit Präsident Obamas Besuch in Cambridge am heutigen Nachmittag zu tun hat. Er wird in einem Hotel unweit der Kennedy School of Government übernachten, also nur anderthalb Kilometer von hier.
»Nichts Außergewöhnliches«, sagt Benton. »Falls also jemand in einem Baum oder sonst irgendwo gesessen hat, ist er jetzt weg. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich Hunger habe?«
»Sobald ich unseren armen, verstörten Hund dazu gebracht habe, sein Geschäft zu machen«, erwidere ich, während mein Blick wieder zu den Pennys auf der Mauer wandert. »Setz dich noch einen Moment gemütlich hin. Er war heute Morgen schon so bockig, und inzwischen ist es sicher nicht besser geworden.«
Ich kauere mich ins Gras und streichle Sock.
»Die laute Flugmaschine ist weg, und ich bin hier bei dir«, beruhige ich ihn. »Das war nur Lucy, die da rumgeflogen ist. Vor der brauchst du doch keine Angst zu haben.«
Es ist Donnerstag, der 12. Juni, mein Geburtstag, und ich weigere mich, über mein Alter oder darüber nachzugrübeln, dass die Zeit mit jedem Jahr schneller vergeht. Es gibt so vieles, worüber ich mich freuen und für das ich dankbar sein kann. Das Leben ist so schön wie nie zuvor.
Wir haben eine Woche Miami eingeplant. Lesen, essen, trinken und tun und lassen, was wir wollen. Vielleicht Tennis spielen, ein paarmal tauchen und lange Strandspaziergänge. Ich würde gern ins Kino gehen und zu zweit einen Behälter Popcorn vertilgen und morgens erst dann aufstehen, wenn wir Lust dazu haben. Die Idee ist, uns auszuruhen, Spaß zu haben und den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen. Bentons Geburtstagsgeschenk an mich ist, dass er eine Wohnung direkt am Meer gemietet hat.
Wir hätten einen Punkt im Leben erreicht, an dem wir unsere Freizeit genießen sollten. Allerdings sagt er das schon, seit ich denken kann. Das gilt für uns beide. Seit heute Morgen sind wir offiziell im Urlaub, zumindest in der Theorie. Denn eigentlich existiert so etwas für uns nicht. Benton ist Geheimdienstanalyst, also das, was man landläufig noch als Profiler bezeichnet. Das FBI lässt ihn nie von der Leine, und der Spruch, dass der Tod niemals Urlaub macht, trifft leider zu. Auch ich habe niemals wirklich frei.
Die grelle Morgensonne beleuchtet die Pennys. Sie strahlen und sehen zu makellos aus, und ich fasse sie nicht an. Ich kann mich nicht erinnern, sie vorhin so kerzengerade aufgereiht und alle in dieselbe Richtung zeigend auf der Mauer gesehen zu haben. Allerdings lag der Garten zum Großteil im Schatten, als ich das erste Mal draußen war. Außerdem hat mich mein schmollender Hund abgelenkt, der sich geweigert hat, ein Häufchen zu machen. Und hinzu kam die Planung der noch zu erledigenden Gartenarbeiten. Die Rosen müssen gedüngt und gegen Blattläuse behandelt werden. Und bevor ein Sturm die für heute Nacht angekündigte Hitzewelle bringt, steht für den Rasen Unkrautjäten auf dem Programm.
Ich habe für Bryce eine Liste geschrieben. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass nicht nur im CFC, sondern auch zu Hause alles reibungslos klappt. Lucy und Janet kümmern sich während unserer Abwesenheit um den Hund. Wir werden unseren üblichen Trick anwenden, damit wir Sock nicht auch nur zehn Minuten lang in einem leeren Haus allein lassen müssen.
Wenn meine Nichte eintrifft, werde ich mit ihm zur Tür hinausspazieren, als wolle ich ihn mitnehmen. Dann locke ich ihn in den Wagen, mit dem sie gerade da ist, hoffentlich nicht einer ihrer Panzer auf vier Rädern. Ich habe sie gebeten, den SUV zu nehmen – nicht dass das ein normales Auto wäre. Nichts, was meine Nichte – früher bei FBI und ATF, heute machtbesessene Computerunternehmerin – fährt oder fliegt, ist für die breite Masse bestimmt. Weder ihr mattschwarzer gepanzerter SUV, der an einen Tarnkappenbomber erinnert, noch ihr Ferrari 599GTO, dessen Motorlärm die Nachbarschaft noch einen Block weiter aus dem Schlaf reißt. Sock hasst diesen Radau, und Lucys Helikopter mag er auch nicht. Er ist sehr schreckhaft und fürchtet sich rasch.
»Komm schon«, locke ich meinen stillen vierbeinigen Freund, der mit weit aufgerissenen Augen neben mir im Gras liegt, eine Haltung, die ich als totstellen bezeichne. »Du musst ein Häufchen machen.« Er rührt sich nicht, sondern starrt mich nur aus braunen Augen an. »Los. Ich habe dich ganz freundlich gebeten. Bitte, Sock. Aufstehen!«
Er hat sich schon den ganzen Vormittag seltsam verhalten, herumgeschnüffelt und verschüchtert gewirkt. Dann wieder hat er sich mit unter dem Körper eingezwängtem Schwanz hingelegt, die lange, schmale Nase zwischen die Vorderpfoten geklemmt und ein abgrundtief niedergeschlagenes und verängstigtes Gesicht gemacht. Sock spürt es, wenn wir ihn allein lassen wollen, und das schlägt ihm aufs Gemüt. Ich habe deshalb stets ein schlechtes Gewissen und fühle mich wie eine Rabenmutter. Nun bücke ich mich, streichle sein kurzes Fell, taste seine Rippen ab und berühre sanft seine Ohren, die wegen früherer Misshandlungen auf der Rennbahn deformiert und zernarbt sind. Er rappelt sich auf und lehnt sich an meine Beine wie ein Schiff mit Schlagseite.
»Alles ist gut«, beschwichtige ich ihn. »Du kannst auf einem riesigen Grundstück herumtollen und mit Jet Ranger spielen. Das magst du doch so gern.«
»Tut er nicht.« Benton setzt sich wieder auf die Bank und greift zur Zeitung. Über ihm breiten sich Äste mit dunkelgrünen Blättern aus, strotzend von wachsweißen Blüten, so groß wie Kuchenbleche. »Es passt zu dir, ein Haustier zu haben, das nicht gehorcht und dich ständig um den Finger wickelt.«
»Los.« Ich führe ihn zu seinem liebsten abgelegenen Plätzchen hinter einigen Buchsbaumbüschen und immergrünen Pflanzen, die in hohen Haufen aus nach Pinie duftendem Mulch stehen. Aber er will nicht. »Wirklich? Er benimmt sich sonderbar.«
Ich halte Ausschau nach weiteren Hinweisen darauf, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Und wieder wandert mein Blick zu den Pennys. Ein Schauder läuft mir den Nacken hinunter. Ich sehe niemanden. Ich höre auch nichts als die Brise, die in den Bäumen wispert, und das ferne Brummen eines Laubbläsers. Nun fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Die Twitter-Nachricht mit einem Link, die vor einigen Wochen eingetroffen ist. Im Anhang lagen eine seltsame Nachricht an mich und ein Gedicht, wenn ich mich recht entsinne.
Der Twitter-Name lautete Copperhead. Von dem Gedicht sind mir nur Bruchstücke im Gedächtnis geblieben. Etwas von einem Licht, das kommt, und einem Henker, was mir wie das wirre Geschreibsel eines psychisch gestörten Menschen erschien. Dass mir Leute, die unter Wahnvorstellungen leiden, Nachrichten hinterlassen oder auf die Mailbox sprechen, kommt nicht selten vor. Meine E-Mail-Adresse und Telefonnummer beim CFC sind allgemein bekannt. Lucy verfolgt ungebetene elektronische Kontaktaufnahmen und gibt mir Bescheid, falls da etwas ist, worüber ich mir Sorgen machen sollte. Undeutlich erinnere ich mich an ihre Worte, der Tweet sei von einem Kongresshotel in Morristown, New Jersey, abgeschickt worden.
Ich muss sie noch einmal fragen. Am besten erledige ich das sofort. Ich nehme mein Telefon aus der Jackentasche, doch bevor ich Lucy anrufen kann, werde ich selbst angerufen. Detective Pete Marino. Ich erkenne seine Mobilfunknummer auf dem Display, nicht seine Privatnummer, sondern die, die er beruflich benutzt.
Falls er mich anrufen wollte, um mir alles Gute zum Geburtstag oder eine schöne Reise zu wünschen, würde er das nicht mit dem BlackBerry des Cambridge Police Department tun. Er meidet es, dienstliche Ausrüstungsgegenstände, Fahrzeuge, E-Mail-Konten oder Kommunikationsgeräte in privaten Zusammenhängen zu verwenden. Das ist eine seiner neuen Marotten: In der Zeit, als er für mich gearbeitet hat, war er ganz und gar nicht so gewissenhaft.
»O Gott«, murmle ich. »Hoffentlich ist es nicht das, was ich glaube.«
»Entschuldige, dass ich dir das antun muss, Doc«, hallt Marinos kräftige Stimme in meinem Ohrhörer. »Ich weiß, dass du deinen Flieger nicht verpassen darfst. Aber du solltest erfahren, was los ist. Du bist die Erste, die ich anrufe.«
»Was gibt es denn?« Ich fange an, langsam im Garten hin und her zu gehen.
»Wir haben einen Zwischenfall in der Farrar Street«, erwidert er. »Am helllichten Tag, massenweise Passanten, und keiner hat was gesehen oder gehört. So wie bei den anderen auch. Außerdem finde ich die Auswahl des Opfers gar nicht prickelnd. Insbesondere das Timing, weil Obama doch heute herkommt.«
»Was für andere?«
»Wo bist du gerade?«, fragt er.
»Benton und ich sind im Garten.«
Ich spüre den Blick meines Mannes auf mir.
»Vielleicht solltest du besser reingehen und nicht draußen herumstehen. So ist es nämlich immer passiert«, fährt Marino fort. »Die Leute sind draußen, tun, was sie eben so tun …«
»Was für andere? Was für Leute?« Beim Auf-und-ab-Laufen schaue ich mich um.
Sock sitzt mit angelegten Ohren da. Benton steht von der Bank auf und beobachtet mich. Der Morgen ist zwar noch immer wunderschön, aber nichts weiter als eine Fata Morgana. Gerade ist die Welt hässlich geworden.
»In New Jersey kurz nach Weihnachten und dann wieder im April. Dieselbe Vorgehensweise«, erklärt Marino, und ich unterbreche ihn wieder.
»Warte. Moment mal. Was genau ist geschehen? Außerdem wollen wir nicht die Vorgehensweise in verschiedenen Fällen vergleichen, ohne die Fakten zu kennen.«
»Ein Mord, etwa fünf Minuten von dir. Wir haben den Anruf vor einer Stunde bekommen …«
»Und du informierst jetzt erst mein Büro? Oder, um genauer zu sein, mich?«
Je schneller die Leiche am Tatort untersucht und anschließend in mein Institut gebracht wird, desto besser, und das weiß er verdammt gut. Man hätte uns sofort anrufen sollen.
»Machado wollte den Tatort absichern.«
Sil Machado ist Ermittler beim Cambridge Police Department. Er und Marino sind außerdem gute Freunde.
»Er wollte sich vergewissern, dass da nicht irgendwo ein Typ mit einer Knarre rumlungert und noch jemanden umnietet. Das hat er wenigstens gesagt.« Marinos Tonfall ist seltsam.
Ich höre Feindseligkeit heraus.
»Bis jetzt haben wir nur die Info, dass das Opfer das Gefühl hatte, jemand sei hinter ihm her. In letzter Zeit war er schreckhaft, und das trifft auch auf die beiden Fälle in Jersey zu«, spricht Marino weiter. »Die Opfer glaubten, dass sie beobachtet und gestalkt wurden, und dann, aus heiterem Himmel, sind sie tot. Es gibt noch viel mehr zu erklären, aber im Moment haben wir keine Zeit. Der Schütze könnte noch in der Gegend sein, während wir uns hier unterhalten. Du solltest im Haus bleiben, bis ich da bin. Ich brauche etwa zehn Minuten.«
»Wenn du mir die genaue Adresse gibst, komme ich selbst hin.«
»Auf gar keinen Fall. Vergiss es. Und zieh eine kugelsichere Weste an.«
Ich sehe, dass Benton seine Zeitung zusammenfaltet und die Kaffeetasse nimmt. Seine fröhliche Stimmung ist wie weggeblasen, denn er spürt, dass etwas im Argen liegt. Das Leben wird sich gleich ohne unser Zutun ändern. Ich weiß es schon jetzt. Ich betrachte ihn mit ernster Miene, während ich stehen bleibe und meinen Espresso in den Mulch schütte. Eine unwillkürliche Handlung. Ein Reflex. Ein erholsamer, angenehmer Tag hat so plötzlich geendet, als habe ein Flugzeug einen in Nebel gehüllten Berggipfel gerammt.
»Glaubst du nicht, dass sich auch Luke oder einer der anderen Docs um diesen Fall kümmern kann?«, erkundige ich mich bei Marino, obwohl ich die Antwort schon kenne.
Er hat keine Lust, sich mit meinem Stellvertreter Luke Zenner auseinanderzusetzen. Und mit einem meiner anderen Rechtsmediziner wird sich Marino erst recht nicht nicht begnügen.
»Wir könnten auch einen unserer Ermittler schicken, wenn das reicht. Jen Garate wäre dem sicher gewachsen, und Luke könnte die Autopsie sofort durchführen«, versuche ich es trotzdem. »Bestimmt ist er ohnehin im Autopsiesaal. Wir hatten heute Morgen fünf Fälle.«
»Tja, jetzt hast du einen sechsten. Jamal Nari«, entgegnet Marino, als müsse ich wissen, von wem er redet.
»In seiner Auffahrt erschossen, während er zwischen Viertel vor zehn und zehn Einkäufe aus dem Auto geladen hat«, verkündet Marino. »Eine Nachbarin hat ihn da liegen sehen und genau vor einer Stunde und acht Minuten den Notruf alarmiert.«
»Woher willst du wissen, dass er erschossen wurde, obwohl du noch gar nicht am Tatort warst?« Ich schaue auf die Uhr. Es ist acht nach elf.
»Weil er ein hübsches Loch im Hals hat. Und außerdem noch ein zweites, wo früher mal sein linkes Auge war. Machado ist vor Ort und hat schon mit der Ehefrau telefoniert. Sie hat ihm erzählt, dass im letzten Monat einige komische Sachen passiert sind. Nari war so beunruhigt, dass er angefangen hat, seine Gewohnheiten zu ändern. Sogar sein Auto hat er gewechselt. So hat es wenigstens Machado geschildert.« Wieder dieser Tonfall.
Feindseligkeit, die ich mir absolut nicht erklären kann. Die beiden gehen zusammen zu Baseballspielen und Hockeyturnieren. Sie fahren Harleys, und Machado ist mehr oder weniger dafür verantwortlich, dass Marino als mein Chefermittler gekündigt und wieder bei der Polizei angefangen hat. Das war im letzten Jahr. Ich habe mich noch immer nicht an sein leeres Büro im CFC gewöhnt. Und an seinen neuen Stil, mir Vorschriften zu machen. Oder wenigstens zu glauben, dass er das kann. Er fordert meine Anwesenheit am Tatort, als hätte ich nichts mitzureden.
»Ich habe schon ein paar Fotos gemailt gekriegt«, fährt Marino fort. »Wie ich schon sagte, erinnert es mich an die Frau, die vor zwei Monaten in New Jersey getötet wurde, die, mit deren Mutter ich auf der Highschool war. Erschossen, während sie auf die Edgewater-Fähre wartete. Überall Leute, und keiner hat irgendwas gehört oder gesehen. Ein Schuss ins Genick, einer in den Mund.«
Ich erinnere mich, dass ich von diesen Fällen gehört habe. Der ursprüngliche Verdacht lautete, dass es sich um einen Auftragsmord handelte, möglicherweise mit familiärem Hintergrund.
»Im Dezember hat es einen Typen erwischt, der in Morristown vor seinem Restaurant aus dem Auto stieg«, spricht Marino weiter, und mir fällt wieder das seltsame Gedicht ein.
Der Tweet kam aus einem Hotel in Morristown. Copperhead. Ich muss wieder an die sieben Pennys auf der Mauer denken.
»Als dieser Mord passierte, war ich gerade über die Feiertage in der Stadt und habe mich mit ein paar alten Kumpeln von der Polizei getroffen. Also war ich am Tatort. Ein Schuss ins Genick, der zweite in den Bauch. Massive Kupfergeschosse, Hochgeschwindigkeitsmunition, so kleine Fragmente, dass wir keinen positiven ballistischen Abgleich hinbekommen. Doch die beiden Fälle weisen klare Übereinstimmungen auf. Wir sind ziemlich sicher, dass dasselbe Gewehr benutzt wurde, und zwar ein ungewöhnliches.«
Wir. Offenbar hat sich Marino in Ermittlungsarbeiten eingemischt, die nicht unter seine Zuständigkeit fielen. Ein Serienmord, möglicherweise mit einem Scharfschützen als Täter, zumindest scheint er das andeuten zu wollen. Und es gibt nichts Schlimmeres als Ermittlungen, die auf Mutmaßungen beruhen. Wenn man die Antwort schon kennt, biegt man sich alles passend zur Theorie zurecht.
»Lass uns nichts überstürzen, bevor wir genau wissen, womit wir es zu tun haben«, sage ich zu ihm, während ich zusehe, wie Benton gleichzeitig mich beobachtet und sein Smartphone überprüft.
Vermutlich überfliegt er Nachrichtenmeldungen und Mails, um selbst herauszufinden, was los ist. Immer wieder schaut er zur Academy of Arts and Sciences hinüber, wo er so etwas wie das Blitzlicht einer Kamera bemerkt haben will, nur matter. Ein Glitzern, ein flackerndes Licht, hat er gemeint. Mir fällt dazu das Zielfernrohr eines Gewehrs ein. Und das Niedrigdispersionsglas oder die reflexionshemmenden Kill-Flash-Sonnenblenden, wie Scharfschützen oder Sportschützen sie verwenden.
Ich begegne Bentons Blick und bedeute ihm, dass wir ganz ruhig und langsam ins Haus gehen müssen, so als sei alles in bester Ordnung. Auf der Terrasse bleibe ich stehen und schaue nach dem Grill. Ich setze den Deckel darauf und gebe mich dabei lässig und unbesorgt. Falls uns jemand mit einem Zielfernrohr folgt, sind wir ohnehin machtlos dagegen.
Durch hektische Bewegungen oder panisches Verhalten würden wir unsere Lage nur verschlimmern. Lucy und Janet haben auf ihrem Überflug niemanden bemerkt, doch darauf verlasse ich mich lieber nicht. Der Schütze könnte sich getarnt oder einfach weggeduckt haben, als er den herannahenden Helikopter hörte. Und jetzt ist er vielleicht zurück.
»Sagt dir der Name Jack Kuster etwas?«, fragt Marino.
Ich verneine, während Benton und ich, gefolgt von Sock, die Hintertreppe hinaufgehen.
»Morristown«, fügt Marino hinzu. »Der dortige Leiter der Ermittlungen und außerdem ein erfahrener Ausbilder in Sachen forensischer Schusswaffenanalyse. Er hat den Verdacht, dass wir über ein 5R sprechen, wie man es bei Scharfschützen und Heckenschützen findet, die ihre eigenen Gewehre bauen. Meine Kumpel dort haben mich auf dem Laufenden gehalten. Außerdem habe ich ein persönliches Interesse an der Sache.«
Marino ist in Bayonne, New Jersey, aufgewachsen und besucht gern Konzerte und Sportveranstaltungen im MetLife. Im letzten Februar war es der Super Bowl. Angeblich haben seine Freunde im Büro des Sheriffs von Morris County ihm Tickets besorgt.
»Am Tatort gibt es Kupferfragmente und noch mehr von dem Glitzerkram dort, wo die Kugel den Körper wieder verlassen hat und in den Gehweg geknallt ist«, erläutert Marino.
»Wurde die Leiche bewegt?« Hoffentlich war es nicht das, was er andeuten wollte.
»Offenbar befindet sich ein Teil der Splitter in dem Blut, das unter seinem Kopf herausgelaufen ist. Keine Angst. Keiner hat etwas angefasst.«
Benton schließt die Fliegengittertür hinter uns. Danach zieht er die schwere Haustür aus Eichenholz zu und legt den Riegel vor. Ich stehe im Flur und telefoniere, während er in Richtung Küche geht. Ich beende das Telefonat, weil jemand in der Leitung anklopft, und schaue, wer es ist.
Bryce Clark.
Im nächsten Moment habe ich ihn im Ohrhörer.
»Erinnerst du dich noch an den Musiklehrer von der Highschool, der ein Riesentheater veranstaltet hat, er werde von der Regierung verfolgt, und zu guter Letzt wurde er von Obama auf ein Bier und zum Grillen eingeladen?«, beginnt Bryce ohne Einleitung, und plötzlich fällt es mir ein. »Ein richtiger Idiot, weißt du noch? Ist im Beisein des Präsidenten über dich hergezogen und hat dich als Leichenfledderin verleumdet? Und außerdem als Nazi, der Haut, Knochen, Augen, Lebern und Lungen an den Meistbietenden verhökert?«
Jamal Nari. Meine Stimmung verschlechtert sich zusehends.
»Habe ich vielleicht den Shitstorm vergessen?«, fährt Bryce fort. »Es ist schon überall in den Nachrichten. Frag mich nicht, warum die seinen Namen so früh herausgegeben haben. Wie lange haben sie gewartet? Eine Stunde? Danach solltest du dich mal bei Marino erkundigen.«
»Wovon redest du?«
»Nun, wo Nari wohnt – oder gewohnt hat –, ist ja offenbar kein Geheimnis, denn Fernsehteams von CNN, Reuters und meinem geliebten GMA kampieren schon draußen. Hängt wahrscheinlich mit dem desaströsen PR-Fehler zusammen, der ihm eine Happy Hour im Weißen Haus beschert hat. Jedenfalls heißt es, dass er es ganz bestimmt ist. Wie konnte es passieren, dass gleich die ganze Welt davon erfährt?«
Darauf habe ich keine Antwort.
»Fährst du zum Tatort, oder soll ich Luke hinschicken? Bevor du etwas sagst? Meine Meinung? Du solltest es selbst übernehmen«, fügt mein geschwätziger Bürochef hinzu. »Bei Twitter werden bereits Verschwörungstheorien verbreitet. Es ist nicht zu fassen. In einem Tweet steht, ein Mann aus Cambridge wurde möglicherweise in der Farrar Street ermordet. Das ist seit neun schon eine Million Mal retweetet worden.«
Ich begreife das nicht. Wenn ich mich recht entsinne, wurde Nari laut Marino zwischen Viertel vor zehn und zehn getötet. Ich bitte Bryce, so schnell wie möglich einen Transporter zum Tatort zu entsenden und außerdem dafür zu sorgen, dass ein Sichtschutz an Bord ist und auch wirklich aufgebaut wird. Gaffer und Leute, die Fotos mit ihren Smartphones machen, kann ich nicht gebrauchen.
»Wir geben keine Informationen heraus«, weise ich ihn an. »Kein Wort an niemanden. Der Reinigungstrupp soll sich bereithalten. Sobald wir alles dokumentiert haben, müssen Blut und weiteres biologisches Material entfernt werden, als wären sie nie da gewesen.«
»Ich kümmere mich gleich darum«, erwidert er. »Ach, und übrigens! Alles Gute zum Geburtstag, Dr. Kay! Eigentlich wollte ich dir Happy Birthday vorsingen. Aber vielleicht ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt …?«
Es war ein Computerfehler, ein folgenschwerer Irrtum. Jamal Nari war mit einem Terrorsympathisanten verwechselt worden, fand sich plötzlich auf einer Flugverbotsliste wieder und wurde geheimdienstlich überwacht.
Seine Konten wurden eingefroren. Das FBI erschien mit einem Durchsuchungsbeschluss bei ihm zu Hause. Als er sich wehrte, legte man ihm Handschellen an, und am nächsten Tat wurde er vom Schuldienst suspendiert. All das geschah vor etwa einem Jahr. Sämtliche Nachrichtensender berichteten darüber, und im Internet schlugen die Wellen hoch. Die Öffentlichkeit war empört, und schließlich lud man ihn ins Weiße Haus ein, was die Leute noch mehr auf die Barrikaden brachte. Ich hatte seinen Namen völlig vergessen. Möglicherweise habe ich ihn auch verdrängt. Immerhin hat dieser Mensch mich beleidigt und war auch sonst ein selbstgerechtes Arschloch.
Es passierte im Untergeschoss des Weißen Hauses, wo sich einige kleine Räume befinden, die »The Mess« genannt werden. Sie sind elegant mit feiner Tischwäsche aus Leinen, Porzellangeschirr und frischen Blumen ausgestattet. An den holzvertäfelten Wänden hängen Ölgemälde mit maritimen Motiven. Ich hatte eine Sitzung mit dem Leiter des National Institute of Standards and Technology, kurz NIST, und erörterte mit ihm die mangelnde Kommunikation zwischen den verschiedenen forensischen Disziplinen, die ungenügenden Mittel und die Notwendigkeit einer Unterstützung durch die Bundesregierung. In der Happy Hour erschien der Präsident, um Jamal Nari ein Bier auszugeben, und der hatte nichts Besseres zu tun, als mich nach Kräften schlechtzumachen.
Wieder ein Anruf. Marino verkündet, er stünde nun in meiner Auffahrt.
»Gib mir eine Viertelstunde, um meine Sachen zusammenzupacken«, teile ich ihm mit.
Sock drängt sich hinten an meine Beine, als ich den vertäfelten Flur entlanggehe, wo viktorianische Kupferstiche prangen. Sie stellen Szenen aus London und Dublin dar. Von dort aus gelange ich in die Küche, eingerichtet mit Edelstahlmöbeln aus dem Gastronomiebedarf und antiken Kronleuchtern aus Alabaster. Benton steht an einer Arbeitsfläche und benutzt eines der vielen MacBooks, die im Haus verteilt sind, um sich die Aufnahmen der Überwachungskameras anzuschauen.
»Haben deine Leute sich schon gemeldet?« Ich frage mich, ob die Außenstelle des FBI in Boston sich bereits mit ihm in Sachen Jamal Nari in Verbindung gesetzt hat.
»In diesem Stadium geht es uns noch nichts an, solange Cambridge uns nicht dazubittet. Marino wird es ganz sicher nicht tun. Außerdem ist es im Moment noch nicht nötig.«
»Soll das heißen, das FBI hat keinen Grund zu der Annahme, der Mordanschlag könnte etwas mit Obamas heutigem Besuch zu tun haben?«
»Im Augenblick noch nicht. Allerdings werden die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Wegen des Timings könnte der Killer jemand sein, der ein anti-islamistisches Signal setzen will. Die Pressekonferenz des Präsidenten findet morgen in Boston statt«, erinnert mich Benton. »Er wird darüber sprechen, dass der Hass und die Drohungen zunehmen, je näher der Prozess wegen des Bombenanschlags beim Boston Marathon rückt.«
»Jamal Nari war kein Terrorist. Wenn ich mich recht entsinne, war er nicht einmal Muslim.«
»Eine Frage der Wahrnehmung«, erwidert Benton.
»Und Marinos Wahrnehmung nach besteht keinerlei politischer oder religiöser Zusammenhang. Seiner Ansicht nach gibt es eine Verbindung zwischen diesem Fall und denen in New Jersey«, wiederhole ich seine Vermutung. »Bestimmt hat das FBI mehr als nur ein flüchtiges Interesse an der Sache.«
»Wir haben keine Ahnung, was da los ist, Kay. Die Schüsse könnten persönliche Gründe haben. Oder es war ein Unfall. Alles ist möglich. Vielleicht wurde ja nicht einmal geschossen. Ich verlasse mich nicht auf die Aussagen anderer Leute, bevor du die Leiche nicht selbst in Augenschein genommen hast.«
»Kommst du nicht mit?« Ich decke die panzanella mit Frischhaltefolie ab.
»Das wäre unpassend.«
Die Art, wie er sich ausdrückt, weckt meinen Argwohn. Ich spüre es genau, wenn Benton mir nur das sagt, was ich hören soll, und das muss nicht zwingend die Wahrheit sein.
»War etwas?«, erkundige ich mich nach den Überwachungsbildern.
»Bis jetzt nichts, was mich nicht unbedingt erleichtert. Denn es war ganz sicher jemand an unserer Mauer. Wenn derjenige nicht in den Bereich der Kamera geraten ist, wusste er ganz genau, wie er kommen und wieder verschwinden konnte, ohne gesehen oder gefilmt zu werden.«
»Außer, es steckt wirklich nichts dahinter, und die Person ist rein zufällig nicht von Kameras aufgenommen worden, von denen sie gar nichts wusste«, stelle ich fest.
»Zufall?« Er glaubt es nicht. Und ich auch nicht.
Der toskanische Salat kommt in den Kühlschrank, wo schon der Schwertfisch und der Krug mit meiner scharfen Bloody-Mary-Mischung stehen. Vielleicht können wir heute Abend aus dem gescheiterten Brunch ja ein gemütliches Abendessen machen. Allerdings bezweifle ich das. Ich weiß nämlich, wie sich solche Tage entwickeln. Kein Schlaf, keine Pause, Pizza vom Lieferservice, wenn wir Glück haben.
»Unsere Agents haben Nari ganz schön eingeheizt. Egal, wer angefangen hat«, kehrt Benton zum ursprünglichen Thema zurück.
»Das wundert mich nicht. Auf mich hat er eindeutig weder sehr umgänglich noch sympathisch gewirkt.«
»Es sieht nicht gut aus, wenn wir unaufgefordert zum Tatort stürmen. Die Medien werden sich etwas daraus zusammenreimen. Für morgen sind Protestkundgebungen in Boston und Cambridge angesetzt, und auf der Boylston Street wird es einen Demonstrationszug geben. Nicht zu vergessen die Leute, die gegen das FBI und die Regierung demonstrieren wollen, und sogar Teile der örtlichen Polizei, die mit unserer Arbeit in der Bombensache ziemlich unzufrieden sind.«
»Weil du Informationen nicht weitergegeben hast, die den Mord an MIT Police Officer Collier möglicherweise verhindert hätten.« Das ist keine Frage. Sondern ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ich finde es nicht richtig.
»Ich kann versuchen, uns auf einen Flug nach Fort Lauderdale um sieben umzubuchen.«
»Ich möchte, dass du etwas für mich erledigst.« Ich öffne einen Schrank neben der Spüle, wo ich Socks Futter, seine Medikamente und einen Karton Untersuchungshandschuhe aufbewahre, weil ich ihn mit der Hand füttere. Ich hole ein Paar heraus und gebe es Benton. Dann reiche ich ihm einen Gefrierbeutel und krame einen Markierstift und ein Maßband aus der Schublade.
»Die Pennys«, erkläre ich. »Ich hätte es gern, wenn sie maßstabsgetreu fotografiert und eingesammelt werden. Vielleicht haben sie ja wirklich nichts zu bedeuten. Aber mir wäre es wirklich lieb, sie für alle Fälle ordentlich sicherzustellen.«
Er zieht eine Schublade auf und fördert seine Glock, Kaliber .40, zutage.
»Wenn Jamal Nari ermordet wurde, hat sich der Killer heute Vormittag ganz hier in der Nähe aufgehalten. Nicht einmal einen Dreiviertelkilometer entfernt«, sage ich und füge hinzu, ich hätte letzten Monat eine seltsame Nachricht von jemandem bekommen, in der Pennys erwähnt werden. »Es stand außerdem drin, ich könne das Wechselgeld behalten.«
»An dich persönlich gerichtet?«
»Ja.«
»Und das erzählst du mir jetzt erst?«
»Ich bekomme so oft Nachrichten von Spinnern. Nichts Neues also, und die hier schien sich nicht vom Rest zu unterscheiden – damals nicht. Doch wir sollten vorsichtig sein. Deshalb hielte ich es für eine sehr gute Idee, wenn du den Hubschrauber der Staatspolizei bitten könntest, noch einmal den Wald an der Academy zu überprüfen, bevor du raus in den Garten gehst. Nur, damit wir sicher sein können, dass niemand auf dem Dach oder in einem Baum lauert oder sonst irgendwo herumlungert.«
»Lucy hat das schon kontrolliert.«
»Dann kontrollieren wir es eben noch mal. Ich könnte Marino bitten, außerdem ein paar uniformierte Kollegen hinzuschicken.«
»Ich kümmere mich darum.«
»Wahrscheinlich ist es besser, wenn du unseren Flug auf morgen umbuchst«, beschließe ich. »Ich glaube nicht, dass wir heute noch verreisen.«
Ich gehe nach oben. Durch das französische Buntglasfenster auf dem Treppenabsatz strömt die Sonne herein und lässt die Naturszenen funkeln wie Edelsteine. Nur dass die farbenfrohen Rot- und Blautöne mich in diesem Moment nicht glücklich machen. Sie erinnern mich eher an die Signallichter von Rettungsfahrzeugen und Streifenwagen.
In unserem Schlafzimmer im ersten Stock ziehe ich die Jacke aus und werfe sie aufs ungemachte Bett – ich hatte gehofft, dass wir es noch brauchen würden.
Durch die Fenster an der Vorderfront des Hauses kann ich sehen, dass Marino an seinem zivilen dunkelblauen Ford Explorer lehnt. Sein rasierter Schädel leuchtet im Sonnenlicht, als würde er seine gewaltige Glatze polieren. Die Ray-Ban mit Metallrahmen ist so altmodisch wie seine Weltanschauung. Wie er so mitten in unserer Auffahrt steht, scheint er sich keine großen Sorgen zu machen, dass sich da draußen ein Scharfschütze herumtreiben könnte.
Ich begreife, dass er frei hatte, als der Anruf kam. Die ausgebeulte graue Jogginghose und die schwarzen Basketballstiefel aus Leder trägt er normalerweise, wenn er in seinem Boxclub am Sandsack trainiert. Vermutlich hat er unter der zugezogenen Windjacke mit Harley-Davidson-Aufdruck ein ärmelloses T-Shirt an. Quincy, seinen adoptierten deutschen Schäferhund, den er in seinem Wunschdenken noch immer für einen verkappten Polizeihund hält, kann ich nirgendwo sehen. Inzwischen bringt Marino ihn zu den meisten Tatorten mit, wo der Hund nur herumschnüffelt und dann für gewöhnlich auf irgendetwas Widerliches pinkelt oder sich darin wälzt.
Im Bad wasche ich mir das Gesicht und putze mir die Zähne. Dann ziehe ich Yogahose und Pulli aus und betrachte mich in dem bodenlangen Spiegel an der Rückseite der Tür. Apart und auf robuste Weise attraktiv, wenn man den Journalisten glauben kann. Allerdings bin ich überzeugt, dass sie bei Bemerkungen wie diesen eher an meine Persönlichkeit denken. Ich bin klein, walkürenhaft, wohlgerundet, zierlich, mittelgroß, zu mager oder kompakt – alles abhängig vom Auge des Betrachters. Tatsache ist jedoch, dass die meisten Reporter keine Ahnung haben, wie ich wirklich aussehe. Meistens irren sie sich auch in meinem Alter.
Ich mustere die kleinen Lach- und Lächelfältchen und den Beginn einer Stirnfalte, obwohl ich mich bemühe, nicht die Stirn zu runzeln, weil man damit auch nichts verändert. Nachdem ich mir ein wenig Gel ins kurze blonde Haar geknetet und einen Hauch Lippenstift aufgetragen habe, ist der Eindruck schon viel besser. Ich creme mir Gesicht und Handrücken mit einem Sonnenblocker auf mineralischer Basis ein.
Dann ziehe ich ein T-Shirt und darüber eine weiche Schutzweste Stufe IIIA an, kojotenbraun und mit Netzfutter. Aus einer Schublade krame ich eine Cargohose und ein langärmeliges marineblaues Hemd mit dem Logo des CFC hervor, meine Winteruniform, wenn ich zu Tatorten oder Ähnlichem gerufen werde. Ich hatte noch keine Zeit, zur leichteren Khakiversion zu wechseln. Das wollte ich eigentlich nach Florida erledigen.
Unten hole ich meinen zerschrammten schwarzen Tatortkoffer aus Plastik aus dem Wandschrank neben der Haustür. Ich setze mich auf den Teppich und schlüpfe in die knöchelhohen Stiefel, die ich nach dem letzten Einsatz mit Desinfektionsmittel behandelt habe. Dabei erinnere ich mich an die Begebenheit. Es war an einem Sonntag Ende April. Nachts wurde es noch unter zehn Grad kalt, als ein Professor von der Tufts Medical School eine Wanderung in die Estabrook Woods unternahm, sich verirrte und erst am nächsten Tag gefunden wurde. Ich habe mir seinen Namen gemerkt: Dr. Johnny Angiers. Dank meiner Arbeit schuldet die Lebensversicherung seiner Witwe nun Geld. Ich kann den Tod zwar nicht ungeschehen machen, aber dafür sorgen, dass die Folgen weniger ungerecht sind.
Ich greife nach meinem Koffer und gehe die Vortreppe aus Backstein hinunter. Licht und Schatten wechseln sich ab, als ich unter blühenden Hartriegeln und Felsenbirnen dahinschreite, an deren Zweigspitzen weiße Büschel hängen. Darunter wachsen wilder Ingwer und Zimtrispenfarn. Ein paar Meter weiter werden die alten dunkelroten Backsteine unserer schmalen Auffahrt vollständig von Marinos SUV verdeckt.
»Wo ist Quincy?« Ich spähe in den leeren Hundetransportkorb auf dem Rücksitz.
»Als der Anruf kam, war ich gerade beim Fitness«, erwidert Marino. »Ich bin nur schnell auf dem Motorrad nach Hause gefahren, um mein Auto zu holen. Die Zeit reichte nicht zum Umziehen oder um mich mit ihm zu beschäftigen.«
Marino klopft eine Zigarette aus dem Päckchen.
»Nach dem Sport gibt es einfach nichts Besseres«, sage ich spitz, während das Feuerzeug aufflammt und der Geruch von brennendem Tabak aufsteigt.
Er nimmt einen tiefen Zug und lehnt sich ans Auto. »Heute wird nicht über meine Raucherei genörgelt. Sei bitte nett zu mir.«
»Im Moment würde ich mir am liebsten auch eine anzünden.« Ich steige ein und unterhalte mich durch die offene Tür mit ihm.
»Greif nur zu.« Als er an der Zigarette zieht, glimmt die Spitze auf, wie Grillkohle, der man Luft zufächelt.
Er schüttelt eine weitere Zigarette aus der Packung, der braune Filter schaut heraus. Er begrüßt mich wie ein alter Freund. Wie schon damals bin ich versucht. Ich schnalle mich an, und plötzlich erscheint Benton in der Auffahrt. Zielstrebig kommt er auf uns zu.
Die blitzblanken Kupfermünzen funkeln durch den Gefrierbeutel in Bentons Hand. Er hat den Beutel mit Klebeband versiegelt, das er beschriftet und mit seinen Initialen abgezeichnet hat.
»Was soll der Mist?« Marinos Worte werden von einer Qualmwolke begleitet. »Warum gibst du mir dieses Zeug?«
»Entweder nimmst du es mit, oder es landet im FBI-Labor in Quantico.« Benton reicht ihm den Beutel und einen Markierstift. »Was nicht sehr sinnvoll wäre. Nichts für ungut. Ich habe dir die Fotos gemailt.«
»Was? Willst du dich jetzt bei der Spurensicherung bewerben? Reicht dir der Blick in die Kristallkugel nicht mehr? Tja, ich kann mich ja mal erkundigen. Aber ich bin ziemlich sicher, dass in Cambridge im Moment keine Stellen frei sind.«
»Sie sind nicht gefälscht und wurden eindeutig poliert«, wendet Benton sich an mich. »Wenn du sie dir unter der Lupe anschaust, wirst du an jeder eine identische ganz schwache Einkerbung erkennen. Es könnte ein sogenannter Tumbler benutzt worden sein. Waffennarren, die ihre Hülsen wiederladen, reinigen sie oft mit Hilfe dieser Geräte. Die Pennys müssen jetzt ins Labor.«
Marino hält den Gefrierbeutel hoch. »Ich blicke da nicht durch.«
»Die wurden auf dem Rand unserer Mauer hinterlegt«, erkläre ich. »Das hätte auch warten können, bis wir sicher sind, dass niemand in der Nähe ist«, meine ich zu Benton.
»Da ist kein Mensch. Und so geht ein Täter wie dieser eigentlich nicht vor.«
»Ein Täter wie was?«, hakt Marino nach. »Offenbar habe ich den Anfang des Films verpasst.«
»Ich muss los.« Benton sieht mich durchdringend an. Er schaut sich um und dann wieder in meine Richtung, bevor er ins Haus zurückkehrt. Zweifellos hat er dort Pläne geschmiedet, die er uns nicht verraten wird.
Marino kritzelt seine Initialen, die Uhrzeit und das Datum auf den Gefrierbeutel und kneift ein Auge hinter der Ray-Ban zu, als ihm der Rauch ins Gesicht weht. Noch ein Zug, dann bückt er sich, drückt die Zigarette an einem Backstein aus und steckt die Kippe ein. Das ist eine alte Angewohnheit, da es als äußerst ungehörig gilt, an einem Tatort Abfälle zu hinterlassen, die dann später mit Indizien verwechselt werden. Ich kenne das. Früher habe ich es auch getan. Das Leeren meiner Taschen, bevor ich Hosen und Jacken in die Waschmaschine stopfte, war keine besonders erfreuliche Angelegenheit.
Marino steigt ein und verstaut den Gefrierbeutel im Handschuhfach.
»Die Pennys müssen erst auf Fingerabdrücke und danach auf DNA und Faserspuren untersucht werden«, sage ich ihm, während wir die Türen schließen. »Geh vorsichtig damit um. Ich möchte nicht, dass noch zusätzliche Spuren, wie zum Beispiel Kratzer, dazukommen, weil du sie herumwirfst.«
»Also soll ich sie ernst nehmen und wie echte Beweisstücke behandeln? In welchem Fall? Könntest du so gütig sein, mir zu erklären, was zum Teufel hier los ist?«
Ich berichte ihm alles, was ich noch von der anonymen E-Mail weiß, die letzten Monat bei mir eingetroffen ist.
»Ist Lucy hinter den Absender gekommen?«
»Nein.«
»Du willst mich auf den Arm nehmen, richtig?«
»Es hat nicht funktioniert.«
»Sie hat es nicht geschafft, sich einzuhacken?« Marino rollt rückwärts aus der Auffahrt. »Anscheinend verliert sie allmählich ihren Biss.«
»Offenbar war dieser Mensch so schlau, einen öffentlich zugänglichen Computer in einem Kongresshotel zu benutzen«, erkläre ich. »Lucy kann dir sagen, wo genau. Ich glaube, sie hat von Morristown gesprochen.«
»Morristown«, wiederholt er. »Mist. Dieselbe Gegend, in der die beiden Opfer in Jersey erschossen wurden.«
Wir fahren hinaus auf die Straße, und mich wundert es, wie friedlich es hier ist. Ein Junimittag, an dem man sich nur schwer vorstellen kann, dass jemand gerade Böses ausheckt. Die meisten Bachelor-Studenten sind über die Sommerferien weggefahren, und die anderen sitzen zu Hause und brüten über Arbeiten, die sie während des Semesters vor sich hergeschoben haben.
Der Wirtschaftsprofessor von gegenüber mäht gerade den Rasen. Er schaut hoch und winkt uns zu, als sei alles in bester Ordnung. Die Frau eines Bankers zwei Türen weiter schneidet eine Hecke, und vor ihrem Nachbarhaus parkt der Pick-up einer Gärtnerei: SONNY’S RASENPFLEGE. Nicht weit davon steht ein magerer junger Mann, der eine dunkle Brille, Schlabberjeans, Sweatshirt und Basecap trägt. Er reinigt mit einem dröhnenden Laubbläser den Gehweg und hebt nicht den Kopf, um höflich zu grüßen. Nein, er hält nicht einmal in der Arbeit inne, als wir vorbeifahren. Ein Schauer aus Rasenschnitt und Kies ergießt sich klappernd über den SUV.
»Arschloch!« Marino lässt das Blaulicht aufblitzen und die Sirene jaulen.
Der junge Mann achtet nicht auf uns. Er scheint uns nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen.
Marino tritt auf die Bremse, legt den Schalthebel in Parkposition und springt aus dem SUV. Der Laubbläser macht Geräusche wie ein Luftkissenboot. Abrupt tritt Stille ein, als der junge Mann die Arbeit unterbricht. Seine dunkle Brille ist starr auf uns gerichtet, sein Mund ausdruckslos. Ich versuche, mich zu erinnern, ob ich ihn schon irgendwann hier in der Gegend bei der Gartenarbeit gesehen habe.
»Was würden Sie sagen, wenn ich das mit Ihrem Auto mache?«, herrscht Marino ihn an.
»Ich habe kein Auto.«
»Wie heißen Sie?«
»Das brauche ich Ihnen nicht zu verraten«, erwidert er in demselben gleichgültigen Ton. Ich stelle fest, dass er langes, karottenrotes Haar hat.
»Ach, wirklich? Das wird sich zeigen.«
Marino marschiert um den Pick-up herum und untersucht ihn. Er fördert einen Notizblock zutage und schreibt sich demonstrativ das Autokennzeichen auf. Dann fotografiert er den Wagen mit seinem BlackBerry.
»Wenn ich auch nur einen Kratzer finde, zeige ich Sie wegen Beschädigung städtischen Eigentums an«, droht er. An seinem Hals treten die Adern hervor.
Ein Achselzucken. Der Junge hat keine Angst. Es ist ihm scheißegal. Er grinst sogar ein bisschen.
Marino steigt wieder ein und fährt los. »Blöder Wichser.«
»Nun, das hast du ihm ja deutlich genug mitgeteilt«, entgegne ich spöttisch.
»Was, zum Teufel, ist heutzutage nur mit den Jugendlichen los. Kein Benehmen mehr. Wenn das meiner wäre, würde ich ihm die Hammelbeine langziehen.«