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Zwei über den Wolken Maren ist mächtig im Stress, weil sie eine große Hochzeit vorbereitet. Leider nicht die eigene. Sie arbeitet als Weddingplanerin, auch wenn sie den Glauben an die große Liebe längst verloren hat. Für einen aktuellen Auftrag reist sie nach Frankfurt. Als sie auf dem Flug versehentlich ihr iPhone mit dem des Sitznachbarn vertauscht, kommt das einer Katastrophe gleich. Denn Jo sitzt schon im Anschlussflug nach New York. Er ist Scheidungsanwalt – ausgerechnet! Notgedrungen bleibt Maren mit ihm in Kontakt und gibt mehr von sich preis, als ihr lieb ist. Plötzlich ist da ein fremder Mann in ihrem Leben. Aber auch dieses Kribbeln im Bauch, das sie schon so lange vermisst hat …
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Seitenzahl: 264
Sofie Cramer
iLove
Roman
Ihr Verlagsname
Zwei über den Wolken
Maren ist mächtig im Stress, weil sie eine große Hochzeit vorbereitet. Leider nicht die eigene. Sie arbeitet als Weddingplanerin, auch wenn sie den Glauben an die große Liebe längst verloren hat. Für einen aktuellen Auftrag reist sie nach Frankfurt. Als sie auf dem Flug versehentlich ihr iPhone mit dem des Sitznachbarn vertauscht, kommt das einer Katastrophe gleich. Denn Jo sitzt schon im Anschlussflug nach New York. Er ist Scheidungsanwalt – ausgerechnet! Notgedrungen bleibt Maren mit ihm in Kontakt und gibt mehr von sich preis, als ihr lieb ist. Plötzlich ist da ein fremder Mann in ihrem Leben. Aber auch dieses Kribbeln im Bauch, das sie schon so lange vermisst hat …
Sofie Cramer stammt aus der Lüneburger Heide, geboren wurde sie 1974 in Soltau. Zum Studium der Germanistik und Politik ging sie zunächst nach Bonn, später nach Hannover. Nach ihrer Zeit als Hörfunk-Redakteurin machte sie sich selbständig. Heute lebt sie in der Nähe von Hamburg, schreibt Romane und Drehbücher und entwickelt Film- und Fernsehstoffe. Nach dem Bestseller «SMS für dich», der 2016 erfolgreich fürs Kino verfilmt wurde, hat sie diverse weitere Romane geschrieben.
«Visitenkarten, Handy, Sonnenbrille, Füller, Notizbuch …», brabbele ich hektisch vor mich hin. «So ein Mist! Wo ist das verdammte Handy?»
Wie ich so was hasse!
Mir bleiben nur noch drei Minuten. Dann ist es bereits 9.00 Uhr, und mein Taxi steht hoffentlich wie vereinbart vor der Tür. Was für ein grausiger Montag. Nach einer schlaflosen Nacht bin ich schon seit vier Stunden auf den Beinen. Und trotzdem wird es hektisch. Dabei wollte ich doch wenigstens ein Mal generalstabsmäßig vorbereitet sein auf meine Geschäftsreise, die erste mit Flugzeug! Schließlich habe ich eine Scheißangst vor dem Fliegen. Aber was tut man nicht alles für das Event des Jahres? Meine ehemalige Klassenkameradin Sille, sorry, Silvana Estelle, wie sie sich seit neuestem nennt, heiratet einen Adeligen, und ich durfte die Hochzeit organisieren und werde den Akt selbst bezeugen. Doch nun finde ich nicht einmal mein nigelnagelneues Telefon, ohne das ich unmöglich meine Wohnung verlassen kann.
Jetzt fällt es mir wieder ein. Beinahe fege ich die Schwarz-Weiß-Fotos meiner lieben Mama von der Wand meines langen Flures, als ich eilig ins Badezimmer stürme. Tatsächlich! Da liegt es auf der Fensterbank. Das kommt davon, wenn man aus reiner Zeiteffizienz sogar während des Klobesuchs noch Nachrichten schreibt.
Wieso nur erledige ich immer alles auf den allerallerletzten Drücker? Das war schon bei meinem Seepferdchen mit immerhin acht Jahren und sogar der Vorbereitung auf die Abiprüfung so. Wieso ausgerechnet ich inzwischen Managerin von Riesenevents mit bis zu dreihundert Leuten geworden bin, obwohl ich es nicht einmal schaffe, mein eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen, ist mir immer noch ein Rätsel. Wahrscheinlich weil mir damals nach dem Abi nichts Besseres eingefallen ist. Während all meine Freundinnen in die Republik ausgeschwärmt sind, um zu studieren, bin ich in unserem Nest vor den Toren Berlins hängengeblieben und habe eine Ausbildung zur Eventmanagerin gemacht. Konnte ja vorher keiner ahnen, dass die Agentur bloß langweilige Firmenjubiläen und fünfundsiebzigste Geburtstage abzuwickeln hat. Das habe sogar ich im Schlaf hinbekommen. Aber nun spiele ich in einer ganz anderen Liga, in der ich über mich hinauswachsen muss. Nein, ich will! Ich will verdammt noch mal die glanzvollste Hochzeit aller Zeiten über die Bühne bringen und es nicht schon beim Start versauen.
Es hupt! Wenigstens ist das Taxi pünktlich. Plötzlich merke ich, wie mein Hals allmählich trocken wird. Schon der Gedanke, in weniger als zwei Stunden im Flieger von Berlin nach Frankfurt zu sitzen, macht mich fertig. Zur Beruhigung stecke ich lieber noch schnell den Piccolo ein, der schon seit meinem vorletzten Geburtstag verloren und einsam im Kühlschrank steht. Meine Handtasche quillt nun über. Schon das Notizbuch passte kaum rein, das in den letzten Tagen auf die doppelte Dicke angewachsen ist, weil ich es mit gefühlt hundert Post-its und To-do-Listen angefüttert habe. Wieso musste ausgerechnet jetzt, nur einen Monat vor dem großen Tag, mein altes geliebtes Handy von meinem Nachttisch purzeln und zu Bruch gehen?
Weil ich zu faul war! Hätte ich den Vibrationsalarm ausgeschaltet, statt mich im Bett noch einmal umzudrehen, wäre das Chaos um ein Vielfaches überschaubarer. Und hätte ich die Handydaten irgendwann einmal auf meinem Laptop gesichert, wie normale Menschen es machen, wäre es auch kein großes Problem gewesen. Nun muss ich demnächst wohl leider alles fein säuberlich ins neue iPhone tippen, das mir ohnehin ziemlich suspekt erscheint. Anders als mein vertrautes Uralt-Smartphone hat es Funktionen, von denen ich noch nie gehört habe, geschweige denn wüsste, was ich damit anstellen soll. Also müssen erst einmal die gelben Zettel herhalten.
Jetzt muss ich nur noch in meine für eine Flugreise mega-unpraktischen Highheels schlüpfen, mein Kleid von Guido Maria Kretschmer unfallfrei in den Koffer stopfen, und dann kann es losgehen. Wobei mein Kleid reichlich übertrieben ist. Aber es braucht ja niemand zu wissen, dass ich es für fünfzig Euro in einem Laden für Designerklamotten geliehen habe.
In Windeseile schließe ich die Tür meiner Zweiraumwohnung ab und drehe den Schlüssel sicherheitshalber mehrmals bis zum Anschlag rum. Man weiß ja nie in Pankow. Und ich werde zehn Tage nicht zu Hause sein. So lange war ich noch nie weg, und schon gar nicht privat, seit ich mich nach der Pleite meines Chefs vor zwei Jahren gezwungen sah, mich selbständig zu machen.
Hab ich auch den Herd und die Kaffeemaschine ausgemacht?
Ich stöhne auf und schließe genervt noch einmal auf, um in die Küche zu sprinten und nachzusehen. Erst jetzt fällt mir ein, dass ich vorhin weder den Herd noch die Kaffeemaschine benutzt habe. Ich vertrage nämlich kein Koffein, wenn ich aufgeregt bin. Sobald es sich in meinem Körper mit einer Überdosis Adrenalin mischt, kommt es unmittelbar unten wieder raus. Mit allzu gut funktionierender Verdauung im Flieger zu sitzen oder heute Abend beim Get-together mit den Brautleuten samt Eltern wäre sicher geschäftsschädigend. Einen Flop kann ich mir nicht leisten. Wenn diese Sache schiefgeht, kann ich einpacken, weil die Auftragslage in der letzten Zeit nicht gerade üppig war. Ich brauche dringend tadellose Referenzen, und was noch besser wäre: Referenzen der Schönen und Reichen, zu denen Sille mittlerweile gehört. Ich muss jetzt endlich den Durchbruch schaffen, sonst bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mir einen Zweitjob als Kellnerin zu suchen oder noch mal mit etwas anderem von vorn anzufangen. Doch es gibt eigentlich nichts, was ich besonders gut kann. Außer Schauspielern vielleicht. Schließlich braucht es schon etwas Talent, sich in besseren Kreisen zu bewegen, obwohl man eigentlich nicht dazugehört.
«O, shit!», entfährt es mir.
Weil ich nicht erwartet habe, wie schwer mein Riesentrolley ist, rutscht er mir beim Anheben im Treppenhaus doch glatt aus der Hand und rattert mit lautem Scheppern die Stufen bis ganz nach unten. Ich schwinge meine Handtasche über die Schulter und haste hinterher. Als ich sie abstellen will, um den Koffer wieder hochzuwuchten, rutscht die Tasche ab und knallt auf den Boden – mit einem Knacken und Zischen.
Das darf nicht wahr sein!
Die Flasche ist kaputt. In meiner schönen Louis-Vuitton-Kopie vergnügt sich nun eine blubbernde Prosecco-Papier-Suppe! Aber wo ist mein Handy???
Jedenfalls nicht im Seitenfach, wo es eigentlich hingehört. Bitte nicht!!!
Ah, ein Glück, mein sündhaft teures Smartphone liegt ganz unten, unter meinem Portemonnaie, und scheint nichts abgekriegt zu haben. Umständlich versuche ich, es in meine enge Hosentasche zu stopfen, und renne die Treppen runter und aus dem Haus. Die Sektsuppe muss noch warten.
Sofort eilt mir der dickbäuchige Taxifahrer mit Schnauzbart und Karohemd zu Hilfe. Wahrscheinlich hat er Mitleid, weil ich mit meinem Gepäck und dem gleichzeitigen Offenhalten der Haustür überfordert bin und mein Gesicht mal wieder genauso flamingofarben anläuft wie der Nagellack an meinen erstmals professionell manikürten Händen.
Ich bedanke mich, als er meinen Koffer erfolgreich, aber unter Stöhnen im Wagen verstaut. Er nickt freundlich. Als ich jedoch meine locker zugehaltene Handtasche noch schnell auf den Kopf drehe, um den Großteil der Flüssigkeit auf den Asphalt tropfen zu lassen, verzieht er, wie mir scheint, leicht genervt die Mundwinkel. Schnell entsorge ich noch die Scherben auf dem Bordstein. Glücklicherweise ist die Flasche nur in zwei Teile zerbrochen. Und immerhin, der von mir lange Zeit befürchtete vorzeitige Wintereinbruch Anfang September ist ausgeblieben. Dann endlich sitze ich hinten auf der Rückbank und sage, was ich immer schon mal sagen wollte: «Zum Flughafen, bitte!»
Boah, das zieht sich hier wie mein ausgelutschtes Kaugummi. Schon eine Stunde Verspätung, ich sitze am Gate und überall diese Klammeraffen um mich herum. Paare, die sich noch auf den gemeinsamen Urlaub freuen, bevor die große Ernüchterung kommt. Oder ganz fies, Männchen und Weibchen im Partnerlook! Er das atmungsaktiv-topimprägnierte Funktionsoutfit in Blau, sie das gleiche in Rot.
Krass!
Hätte ich letzte Nacht weniger Spaß und mehr Schlaf gehabt, hätte ich gut Bock, grinsend ein bisschen Schlechtwetterstimmung zu verbreiten. Wäre doch lustig, zum Beispiel bei der Dame in Rot einen auf Liebhaber vergangener Tage zu machen, ihr eine Nummer zuzustecken und so die Paarroutine ein bisschen in Wallung zu bringen. Aber ich bin ja kein Unmensch. Nur was tun gegen diese Langeweile? Ich blättere ein bisschen in der GQ. Die habe ich im Vorbeigehen im Duty-free-Bereich gezockt. Aber auch darin nur Männer und Frauen, die alle gleich aussehen. Wer bitte steht auf solche Mädchengerippe? Da lohnt sich das Hinterherschauen nicht mal, weil man eigentlich ein Mikroskop dafür bräuchte.
Ich schmeiße das Trash-Magazin dahin, wo es hingehört, und bemerke zu spät, dass ich den Mülleimer für Plastik erwischt habe. Passt schon, denke ich belustigt, ist ja auch bloß alles Kunststoff, wenn man sich heutzutage die Hochglanz-Möpse der Frauen so anguckt.
Ich liebe mich und meinen Humor!
Ich mache mir mal besser eine Dose Cola zum Wachwerden auf. Ein richtiges Frühstück war einfach nicht mehr drin. Während meine Jungs noch selig von der gelungenen Party träumten, musste ich zeitig los, um den Flieger zu kriegen. Sonst war’s das mit meinem Job und seinen kleinen Annehmlichkeiten. Zum Glück lag mein wohlgeformter Riecher richtig. Der schnelle Abstecher nach Berlin hat sich gleich doppelt gelohnt. Meinem Kumpel hab ich die Klöten und roten Ohren klingeln lassen mit einem top-organisierten Junggesellenabschied, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Und auch mein Mandant wird voll auf seine Kosten kommen, weil ich im Borchardt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und seiner Bald-Ex auf den Zahn oder, besser gesagt, ihren Designerfummel fühlen konnte. Dabei ist diese Schickimicki-Welt überhaupt nichts für mich. Überall nur Fake statt Fakten!
Aber was tut man als Paragraphenjongleur nicht alles, um erfolgreich zu sein? Zum Beispiel übelst verkatert nach kurzem Zwischenstopp in Frankfurt gleich weiter nach New York zu fliegen. Eigentlich wäre ich ja lieber kurz nach Hause gefahren, um noch zu duschen oder wenigstens noch mein schräges Hemd zu tauschen. Aber aufgrund der Verspätung habe ich meinen Koffer vorsichtshalber gleich durchgecheckt. Ich bin ja nicht unschlau! Wenn du anderen immer und überall einen Schritt voraus sein willst, musst du halt besser gleich zwei machen. Und ich habe gute Nachrichten im Gepäck! Schon jetzt erfüllt mich der Gedanke an die Verhandlung über die Unterhaltszahlung mit einer gewissen Vorfreude. Harrison, mein Mandant, wird sich freuen, wenn ich ihm brühwarm berichten und sogar durch Fotos beweisen kann, mit welch dekadenten Luxusgütern seine gebotoxte Noch-Frau in Doppel-D sich in der Berliner Society präsentiert. Und das, obwohl sie behauptet, sie lebe unterhalb der Armutsgrenze und besitze gar keine Reichtümer. So sind sie, die Frauen!
Ich werde einen Teufel tun, mir eine ans Bein zu binden, auch wenn meine liebe Oma Gertrude es gern anders hätte. Aber ich habe einfach schon zu viele Scheidungen erfolgreich hinter mich gebracht. Als Alex’ Trauzeuge bin ich eigentlich eine absolute Fehlbesetzung. Wäre er nicht mein bester Kumpel aus Schultagen, mit dem ich das Internat, eine Art Guantanamo in der Schweiz, überstanden habe, hätte ich seine Hochzeit boykottiert. Aber nun muss ich das Elend wohl oder übel hinter mich bringen und zusehen, wie mein alter Freund mit Lichtgeschwindigkeit in sein eigenes Verderben rennt. Die beiden kennen sich nicht einmal ein Jahr! Ich hatte noch keine Gelegenheit, seine Braut unter die Lupe zu nehmen, was, wenn ich so darüber nachdenke, durchaus an mir liegen könnte und meiner Einstellung zur Ehe. Konnte ja keiner ahnen, dass Alex plötzlich zum Spießer mutiert und die Sache so ernst wird.
Rüüüüüüülps.
Ups, das war mal ein anständiges Bäuerchen, das da durchs Terminal hallt! Sofort treffen mich strafende Blicke. Aber halt, oh, là, là!
Was ist das?
Wie können solch wunderschöne, braune Bambi-Augen nur so böse gucken? Ich grinse breit und nicke der dunkelblonden Dame in, na, ich schätze, 92–70–95 mit B-Körbchen zu. Ich persönlich finde es ja immer dämlich, sich an die Schlange am Counter zu stellen, obwohl es noch gar nicht losgeht. Demonstrativ setzt sie sich jetzt ihre Gucci-Gläser auf und wendet sich angeekelt wieder von mir ab. Auch gut, dann kann ich das Prachtexemplar mal von hinten scannen.
Auch ganz nett!
Der Arsch ist vielleicht ein bisschen flach. Aber die schlanken Beine sind hübsch verpackt in enge, weiße Jeans. Aber wieso nur sind solche Mädels immer in Highheels unterwegs, wo es doch auch Sneaker tun würden? Der Rest ist leider mit einem durchfallfarbenen Poncho verhüllt. Schade, dass ich nicht sehen konnte, wie sie durch den Nacktscanner geht. Scheint mächtig nervös zu sein, die Gute. Wedelt sich ständig mit einem Zettel Luft zu, obwohl sie doch viel besser ihr Alpakazelt ablegen könnte. Bei so einem Exemplar hätte ich gestern sicher nicht nein gesagt. Aber mir war einfach nicht danach, mit irgendeiner hohlen Durchschnittsschlampe rumzumachen. Mal ehrlich. Männer, die so etwas nötig haben, tun mir leid. Genau wie Alex, der sich im Auftrag seiner sogenannten Freunde die Finger schmutzig machen und das womöglich letzte Mal in seinem schon bald öden Leben Brüste x-beliebiger fremder Frauen begrabschen musste, und die waren echt nicht nur A-Klasse.
Aber war trotzdem ein netter Abend. Wenn ich nur diesen fiesen Zwiebelgeschmack von den Mettbrötchen nicht noch im Mund hätte, die wir auf dem Ku’damm auf dem Weg zum Hotel vor nicht mal drei Stunden zu uns genommen haben, um dem Tequila nachträglich eine Grundlage zu liefern. Selbst schuld, dass mein Schädel jetzt brummt. Bin ja nicht im Training. Und ein messerscharfer Verstand und Alkohol vertragen sich nun mal nicht. Jetzt heißt es: atmen, den kurzen Flug zur Akklimatisierung nutzen und den langen, um Ressourcen wieder flottzumachen. Wird schon, wenn ich nicht noch immer solchen Kohldampf und diesen fiesen Nachdurst hätte!
O Mann, ist mir übel! Diese Luft hier drinnen macht es auch nicht besser. Kommt das jetzt von meiner unsäglichen Panik vorm Fliegen oder vom Gin Tonic, den ich vorhin noch zur Beruhigung gekippt habe? Diese Warterei am Gate hat alles nur noch schlimmer gemacht. Hoffentlich brauche ich die Spucktüte nicht. Sicherheitshalber fische ich sie schon mal aus der schmalen Ablage heraus. Man weiß ja nie.
Mir ist heiß und kalt gleichzeitig. Ich ziehe mich besser aus, um freier durchatmen zu können, so wie es mir Giovanni, mein esoterisch angehauchter Friseur, empfohlen hat. Obwohl es angeblich noch Sommer ist, musste ich vorhin schnell noch meinen sauteuren Cashmere-Poncho überwerfen. Ich kann ja schlecht bei Familie von Weidenfels mit meiner innig geliebten und tausendfach getragenen stonewashed Glücksjacke auftauchen, die temperaturmäßig besser gepasst hätte. Aber gut, alles läuft nach Plan. Ich sitze tatsächlich im Flieger! Wobei ich diesen Entschluss in der Sekunde bereue, als sich ausgerechnet der Proll aus der Wartehalle neben mich pflanzt.
«Hallöchen Popöchen!», sagt er offenbar gut gelaunt. Igitt, er hat eine Fahne, obwohl oder vielleicht weil er mit offenem Mund Kaugummi kaut. Auch sein breites Grinsen macht ihn nicht gerade sympathischer.
Ich nicke kurz mit einem schnell ersterbenden Lächeln und starre dann aus dem Fenster. Jetzt hilft nur noch heimliches Beten.
Lieber Gott, bitte mach, dass ich hier lebend und ohne Panikattacke wieder rauskomme! Bitte, biiiiitte! Amen!!!
Irgendwo habe ich doch meine Reisetabletten. Das Verfallsdatum ist zwar schon überschritten, weil mein letzter Urlaub irgendwann im letzten Jahrtausend war. Aber schaden können die sicher nicht.
«Entschuldigung, ich müsste bitte noch mal an mein Handgepäck», sage ich zu dem Kerl neben mir, damit er aufsteht und mich durchlässt.
Eine gefühlte Ewigkeit starrt er mich regungslos an. Dann steht er umständlich auf und wühlt ungefragt im Gepäckfach über uns herum.
«Meinen Sie dieses stinkende … Ding hier?» Mit angewidertem Blick hält er meine Handtasche in die Höhe.
Zugegeben, wegen des kleinen Missgeschicks mit dem Piccolo wirkt sie etwas mitgenommen. Aber muss man mich deshalb gleich so vorführen? Zumal ich vorhin eine halbe Ewigkeit auf der Flughafentoilette zugebracht habe, um sie wieder einigermaßen herauszuputzen.
«Na, hören Sie mal!», protestiere ich. «Das ist eine Neverfull von Louis Vuitton!» Ich mustere abschätzig sein indiskutables Hawaiihemd und die ausgetretenen Chucks. «Aber von gutem Geschmack haben Sie offensichtlich keine Ahnung!»
«O, Frau Verteidigerin ist aber schnell in ihrer Urteilsverkündung!»
Ich ziehe meine Augenbrauen in die Höhe und verlange wortlos mit ausgestrecktem Arm nach meiner Tasche.
«Mussten Sie dafür keine Übergepäckgebühr bezahlen?», stichelt er grinsend weiter und hält die Tasche so in die Luft, als würde er sie wiegen. «Was haben Sie denn dadrin? Goldbarren oder eine Kalaschnikow?»
«Ha, ha», entgegne ich entnervt, erhebe mich umständlich und will schon nach ihr schnappen.
«Das ist garantiert keine echte Louis Vuitton. Das sieht doch ein Blinder!»
Ich spüre die amüsierten Blicke der anderen Fluggäste.
«Wird’s bald?!», ermahne ich ihn.
«Wie heißt das Zauberwort?»
«Arschloch!», zische ich.
«Ich sehe, wir verstehen uns!»
Na, das verspricht ja ein lustiger Flug zu werden. Es ist gerade mal Vormittag, und trotzdem verlangt Rehauge neben mir nach einem Wodka-O. Die Stewardess muss ihr den Wunsch leider abschlagen, wir stehen ja noch nicht einmal auf dem Rollfeld!
«Ist das nicht ein bisschen früh am Tag?», frage ich.
Statt einer Antwort schießt sie mit den Augen wieder Giftpfeile in meine Richtung. Dann kramt sie aus den unendlichen Weiten ihrer grässlichen Handtasche einen weißen Blister hervor.
«Tabletten sind aber auch keine Lösung.» Manche Frauen muss man ja vor allem vor sich selbst retten.
«Ich wüsste nicht, was Sie das angeht», schmettert sie mir entgegen.
«Na, wenn Sie mir in den Schoß kotzen, geht mich das sehr wohl etwas an.»
«Die Tabletten sind gegen Reiseübelkeit. Und da brauche ich ja wohl oder übel was zum Runterspülen.»
«Wohl mehr übel als wohl, oder? Obwohl …» Ich grinse und beuge mich näher zu ihrem hübschen Gesicht hin. «Haben Sie ein Drogenproblem?»
«Bitte, was? Unverschämtheit!», erwidert sie patzig und weicht zurück, so als ob ich Mundgeruch hätte. Das ist mir dann doch etwas unangenehm.
«Berufskrankheit», scherze ich, «ich bin Privatdetektiv, also quasi.»
Das ist eigentlich nicht mal gelogen angesichts der, nun ja vielleicht nicht ganz legalen Aufträge, die ich als Scheidungsanwalt schon ausgeführt habe. Allein all meine Flirtkünste, mit denen ich so manche Dame der versuchten Untreue überführt habe.
«Ich bin sozusagen Magnum 2.0!» Schnell krame ich aus meiner Hosentasche den Schnauzbart von gestern Nacht hervor und klebe ihn mir ins Gesicht. Die Nummer wirkt garantiert.
Tatsächlich kann sich Zuckerschnute ein Grinsen nicht verkneifen. «Ach, und deswegen tragen Sie auch dieses peinliche Tom-Selleck-Hemd?», fragt sie und rollt lässig mit ihren braunen Kulleraugen.
Doch als die Düsen des Jets plötzlich deutlich hörbar aufdrehen, erstarrt sie zur Salzsäule.
«Ruhig, Brauner! Statistisch gesehen sterben Sie eher auf dem Weg zum Flughafen als in der Luft», versuche ich sie zu beruhigen.
Aber Mrs. Flugangst schließt demonstrativ ihre Augen.
Okay, ich habe verstanden. Ich bin gerade nicht gefragt und sehe mich mal lieber nach der Stewardess um. Ob ich vor dem Start noch eine Packung Nüsschen abstauben kann?
Dieses Knacken und Schmatzen macht mich wahnsinnig! Wir starten jeden Moment, und der Typ knabbert in aller Seelenruhe Pistazien, die er der Flugbegleiterin abgeschnackt hat. Und spuckt die Schalen einfach auf den Boden.
Ist das ekelhaft!
Dabei ist mir auch so schon schlecht.
Wenn er nicht so ein Oberproll wäre, würde ich mich am liebsten an seinen durchaus ansprechenden, weil gut trainierten Oberarm klammern. Aber das kommt überhaupt nicht in Frage. So viele Getränke kann ich gar nicht ordern, bis ich mir den akzeptabel getrunken habe.
Nein, ich werde das hier gelassen durchstehen und einfach an das Mantra denken, das mir Giovanni mit auf den Weg gab, nachdem er mich seelisch auf die bevorstehende Reise vorbereitet hat: Ich bin ausgeglichen in meiner Mitte. Ich bin ausgeglichen in meiner Mitte. Ich bin ausge…
Oh Gott, wir starten!
Der Flieger ist auf der Startbahn angekommen, die Maschinen heulen auf, und schon donnern wir los.
«Uuuaaaagggghhhh!», entfährt es meinem Mund, der irgendwie außer Kontrolle gerät. Mir wird schwindelig, so als hätte ich mitten am Tag schon zwei Longdrinks intus. Habe ich ja auch. War vielleicht nicht die beste Idee.
Mein Puls beschleunigt genauso schnell wie der Pilot das Flugzeug. Es fühlt sich an, als ob meine Gedärme mit Lichtgeschwindigkeit in die Rückenlehne gedrückt werden. Ich halte das nicht aus und kralle mich schreiend in den Unterarm meines Sitznachbarn.
Jetzt Augen zu und durch, bis wir im Himmel sind – tot oder lebendig.
Als der Starttornado nach einer gefühlten ewigen Ewigkeit vorbeizieht, blinzele ich erst mit dem linken und dann mit dem rechten Auge. Wir haben es tatsächlich nach oben geschafft, ohne zu explodieren und pulverisiert zu werden. Ungläubig sehe ich mich um. Alle anderen Reisenden wirken derart tiefenentspannt, dass vielleicht tatsächlich alles in bester Ordnung ist. Aber die Anschnallzeichen leuchten immer noch. Auch die Stewardessen lassen sich nicht blicken. Das sind doch eindeutige Hinweise darauf, dass da irgendwas im Argen …
«Machen Sie ruhig weiter. Tut fast überhaupt nicht weh», werde ich aus meinem Gedankenkarussell gerissen.
Ups!
Erst jetzt realisiere ich, dass ich meine künstlichen Fingernägel in das leicht behaarte Handgelenk meines Sitznachbarn bohre. Wie peinlich. Und außerdem hab ich einfach nicht das richtige Feeling mit diesen komischen Dingern. Ich löse meinen Eisengriff und beiße mir verlegen auf die Lippen.
«Entschuldigung», presse ich schließlich hervor, weil ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll. Ich mustere ihn. Der Typ sieht eigentlich gar nicht so schlecht aus mit seinen kurzen braunen Wuschelhaaren, dem Drei-Tage-Bart und den grünen gewitzten Augen, die mich schon wieder ein paar Sekunden zu lang fixieren. Ich werde nervös. Man wird einfach nicht schlau aus ihm.
Wenn das ein Flirtversuch sein soll, stellt er sich ziemlich ungeschickt an.
«Beleidigung, Körperverletzung und sexueller Missbrauch können mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwanzig Jahren geahndet werden. Da soll ein einfaches Entschuldigung reichen?»
Er zwinkert mir mit einem Auge zu. Dann lächelt er wieder so seltsam. Der Mundgeruch will dabei so gar nicht zu seinen schönen Zähnen passen, zu seinem aufmerksamen Blick. Das Hemd allerdings auch nicht.
Man spürt einfach, dass an diesem Typen etwas faul ist. Ich meine, woher kennt der sich überhaupt mit dem Strafmaß für Gewalttaten aus? Der ist doch nie und nimmer Privatdetektiv. Höchstens ein gesuchter Hochstapler! Aber ich will gar nicht wissen, was er alles auf dem Kerbholz hat, und widme mich besser meiner Arbeit. Ich muss dringend noch meine To-do-Listen abfotografieren, bevor sich die Schrift vollends durch den Prosecco-Unfall auflöst. Außerdem macht es bestimmt keinen besonders professionellen Eindruck, wenn ich vor Ort mit hunderten vollgekritzelten Zetteln hantiere. Mein Bruder fand das auch und hat mir ungefragt das neueste aller neuen iPhones besorgt, als er hörte, das alte habe endlich seinen Geist aufgegeben. Zum Glück hat er es auch gleich startklar gemacht. Er ist ein richtiger Nerd und kann sogar Ikeamöbel und Überraschungseierspielzeug ohne Anleitung zusammenbauen. Ich vergesse bei so etwas immer die Hälfte, und das trotz Beschreibung. Und auch jetzt suche ich wieder einmal nach meinem Handy, das ich doch eigentlich in das sichere, weil trockene, Seitenfach gesteckt habe, gleich nachdem ich es auf Flugmodus gestellt hatte.
«Sagen Sie ruhig Bescheid, wenn Sie in den Tiefen Ihrer Fake-Tasche auf Öl oder Ähnliches gestoßen sind», witzelt Mr. Oberschlau nun mit vollem Mund, nur um gleich danach wieder ein Stück Pistazienschale mit einem gezielten Schuss in meinen leeren Getränkebecher zu pusten.
Fassungslos starre ich ihn an. Es ist sicher besser, jede Art der Kommunikation umgehend einzustellen.
Mit jeweils zwei spitzen Fingern falte ich vorsichtig die Gästeliste auseinander. Blöderweise ist sie zu groß, um sie auf dem ausgeklappten Tischchen vor mir auszubreiten.
Ist ja auch kein Wunder bei insgesamt zweihundertvierzig Hochzeitsgästen, neben den Freunden und Verwandten vor allem Geschäftsbekannte der zukünftigen Familie von und zu.
Allein die Vorstellung, dass ich in fünf Tagen am Samstag als Trauzeugin die Fürbitte vor so vielen Leuten mit Rang und Namen in der imposanten Frankfurter Justinuskirche vortragen muss, verursacht mir eine weitere hübsche kleine innere Panikattacke. Aber ich bin schließlich ausgeglichen in meiner Mitte. Ich bin ausgeglichen in meiner …
«Was soll das denn sein?», fragt mein Sitznachbar nun.
«Besonders diskret ist Ihre Arbeitsweise ja nicht gerade!», beschwere ich mich, ohne meine Empörung auch nur im Geringsten zu unterdrücken.
Ich mache schnell mein Foto, reiße den Zettel in kleine Fetzen und stopfe sie in den leeren Trinkbecher, um ja keine weiteren dummen Fragen zu provozieren. Viel wichtiger als die Gästeliste ist ohnehin das Papier mit den gefühlt dreitausend Aufgaben, die ich noch vor der Hochzeit erledigt haben muss. Hoffentlich kann man die noch lesen. Sonst bin ich aufgeschmissen. Es muss alles wie am Schnürchen laufen, wenn dieses Mega-Event meine zukunftsweisende Referenz werden soll. Und ausgerechnet in der Vorbereitung hat sich auch noch mein Laptop verabschiedet, glücklicherweise nachdem ich die wichtigsten Dinge mit der Braut abgesprochen hatte und keine Riesendateien mehr senden musste. Und dann ist das Handy runtergefallen. Bei solchen Vorzeichen denke ich ja immer, das kann kein gutes Ende nehmen. Womöglich stehen meine Technikpleiten in einem Zusammenhang mit Silles Ehe, die genauso schnell vor dem Aus stehen kann wie meine äußerst unzuverlässigen Endgeräte. Da lobe ich mir das Altbewährte! Bis zu meinem Missgeschick mit dem Piccolo hat meine Zettel-und-Stift-Methode erstaunlich gut funktioniert.
Besorgt falte ich den Bogen auseinander. Ein Großteil der Aufgaben ist zum Glück noch lesbar:
Gleich nachher vor dem Get-together muss ich unbedingt noch die Blumendeko und das Menü absegnen, ich darf auch auf keinen Fall vergessen, den Anprobetermin mit Silles Designer zu bestätigen, und sollte mich um die etwa hundertfünfzig Gastgeschenke besser vor dem Junggesellinnenabschied am Dienstag kümmern, da ich nicht mit Sicherheit sagen kann, in welchem Zustand ich mich danach mental und physisch befinde. Zum Glück ist vor der standesamtlichen Trauung am Donnerstag noch ein Tag Pause, an dem ich aber noch mit dem Pfarrer über die Traurede sprechen muss …
Stopp, mein Hirn rotiert schon wieder!!
Mist, jetzt habe ich das labbrige Blatt mit meinen dummen künstlichen Fingernägeln eingerissen, sodass es in der Mitte einklappt und nicht zu lesen ist. Am liebsten hätte ich vier Hände, zwei zum Festhalten und zwei zum Fotografieren.
«Warten Sie!»
Dieser Langfinger greift sich ungefragt meine Liste. Aber das lasse ich nicht zu und schiebe seine Hand entschieden zur Seite. In derselben Sekunde reißt das Blatt komplett in zwei Hälften.
«Na toll, das haben Sie ja super hingekriegt!», beschwere ich mich.
«So wie Sie das machen, wird das sowieso nichts.»
«Und wieso nicht, bitte schön?!»
Dann klärt er mich in einem unnachahmlich überheblichen Ton darüber auf, dass ich schon das Blitzlicht einschalten müsse, wenn aus dem Foto etwas Leserliches werden soll. Kein Ding, denke ich siegesgewiss. Ich bin ja bereit, es zuzugeben: Technisch gesehen bin ich wirklich eine absolute Niete. Aber die Taschenlampenfunktion meines Handys habe ich schon mehrfach benutzt, wenn ich nach meinem Schlüssel gesucht habe. Ich bin doch nicht blöd!
O, mein Gott!
Wie dämlich ist die bitte?!!
Trotzdem irgendwie auch niedlich, wie sie mit ihren lackierten Krallen nervös auf dem Touch-Display rumtippt oder es zumindest probiert. Ich stehe ja nicht so auf manikürte Hände. Und ich verstehe auch nicht, wie Frauen mit solchen Säbeln überhaupt etwas essen, geschweige denn anfassen können. Aber es ist durchaus unterhaltsam anzuschauen.
«Sie wissen schon, dass das Ding auch einen automatischen Blitz eingebaut hat?!»
Statt einer Antwort beschießt Rehauge mich wieder mit ihren Giftpfeilen. Also fühle ich mich ermuntert, ihr etwas Nachhilfe zu erteilen.
Hält man ja echt nicht aus diese Unbeholfenheit!
Ich greife nach meinem Handy in der Hemdtasche, um zu zeigen, dass wir durchaus eine Sache gemeinsam haben, nämlich das gleiche Modell.
«Hier kann man die Blitzfunktion einschalten», erkläre ich und deute auf mein Display.
Doch das scheint dies Genie neben mir nicht zu interessieren, sondern ist weiter voll auf ihre Mission mit der Lampe konzentriert.
Alter, ich lach mich schlapp!
Jetzt versucht sie krampfhaft, ihre versifften Papierfetzen ins Licht zu halten und sie abzufotografieren, was schon daran scheitert, dass das Papier immer wieder in sich zusammenfällt.
Ein sehr kurzweiliges Entertainmentprogramm haben die hier an Bord.
«Nun geben Sie schon her», sage ich schließlich aus reinem Mitleid.
Ich halte ihr vorsichtig den ersten Lappen in die Höhe, damit sie endlich ihre Fotos machen kann. Was sie auch tut, ohne mir ein Lächeln zu schenken, versteht sich.
Kommentarlos reicht sie mir den nächsten feuchten Abschnitt und dann den übernächsten, bis sie alles dokumentiert hat. Wenn ich meinen Job so machen würde, wäre ich ihn schon los. Nicht dass mir das etwas ausmachen würde. Im Gegenteil, ich hasse es, Anwalt zu sein. Aber mein alter Herr besteht darauf, mindestens ein ganzes Jahr nach dem Studium diese überflüssige Familientradition aufrechtzuerhalten. Andernfalls wäre mein vorzeitiges Erbe pfutsch, und dann könnte ich meinen Traum vom Musiker begraben.
«Danke!», kommt es plötzlich aus ihrem durchaus schönen Mund.
Ich grinse mein breitestes Grinsen und riskiere mal einen unauffälligen Blick.
«Ist das die Liste mit den hundert Männern, die Sie vergrätzt haben?»
«Das geht Sie gar nichts an!», schimpft sie nun wieder empört und versucht, an den letzten, feuchten Papier-Lappen zu kommen. Aber mein Arm ist leider länger.
Kurze Arme, keine Liste!
«Geschenketransport klären, Großraumtaxen bestellen, Anprobetermin Brautkleid bestätigen …?» Belustigt sehe ich sie an. «Jetzt sagen Sie nicht, Sie wollen unter die Haube!»
Noch so eine verpeilte Romantikerin!
«Ich wüsste nicht, was daran so komisch sein soll», zischt mir Madame gereizt entgegen und bekommt doch noch ihren Wisch zu fassen.
«Haben Sie sich das auch gut überlegt?»
Wieder nur ein genervter Blick. Aber ich kann an ihren Augen sehen, dass sie diese Frage trifft. Lohnt sich bestimmt, da noch mal nachzubohren.
«Ich meine ja nur. Sie wissen schon, dass mehr als jede dritte Ehe geschieden wird? Da brauchen Sie ja nur abzuzählen.»
Genüsslich zähle ich die Herrschaften in den beiden Reihen vor uns ab – eins, zwei, drei … eins, zwei, drei … bis ich bei uns ankomme und mit meinem charmantesten Lächeln bei zwei auf mich und bei drei auf sie zeige.
«Das soll also heißen, ausgerechnet Sie sind glücklich verheiratet? Das ist aber schwer vorstellbar.»
Momentchen!
Nur, weil ich nicht an die Ehe glaube, heißt das noch lange nicht, dass ich Frauen nicht durchaus glücklich machen könnte – zeitweise zumindest.
«Dass Sie einen Dummen gefunden haben trotz Ihrer Zickigkeit!», hole ich zum Gegenschlag aus.
Sprachlos guckt sie mich mit einem waidwunden Blick an, als würde sie gleich losheulen. Das sieht so hammerwitzig aus, dass ich lospruste. Unglücklicherweise landet dabei ein Stück Pistazie direkt in ihrem Ausschnitt. Ich grinse betreten und bin versucht, meine Hand auszustrecken, um ihr Dekolleté zu säubern. Doch ehe ich mich’s versehe, schlägt sie mir volles Brett auf meine Hand.
Autsch!
«Okay, das war genug! Jetzt reicht’s!», schnauft sie und fixiert mich mit einem Blick, der in seiner faszinierenden Mischung aus wütend, empört, aggro und fassungslos seinesgleichen sucht.
Nicht schlecht.
Temperament hat sie auch noch!
Das darf nicht wahr sein!
Sogar so ein unterirdischer Obermacho ist verheiratet! Das ist wieder ganz typisch für mich. Es ist ja nicht so, dass ich verzweifelt auf der Suche wäre. Dazu habe ich viel zu wenig Langeweile. Aber wieder auf eine Hochzeit gehen zu müssen, auf der es nur glückliche Paare