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Monas Glück scheint vollkommen, als sie in ihre zauberhafte Heimatstadt Lüneburg zurückkehrt, um mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Andreas in ein neues Abenteuer zu starten. Im Rosenhaus mit mehreren Generationen unter einem Dach finden sie eine wunderschöne Bleibe. Und aus einer Zufallsbegegnung mit der temperamentvollen Tatjana entwickelt sich schnell eine innige Freundschaft. Mona fühlt sich Tatjana stark verbunden, ahnt jedoch nicht, dass sie beide mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist: ihre große Liebe Andreas! Wie lange kann er sein perfides Doppelleben noch geheim halten?
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Seitenzahl: 274
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Monas Glück scheint vollkommen, als sie in ihre zauberhafte Heimatstadt Lüneburg zurückkehrt, um mit ihrem langjährigen Lebensgefährten Andreas in ein neues Abenteuer zu starten. Im Rosenhaus mit mehreren Generationen unter einem Dach finden sie eine wunderschöne Bleibe. Und aus einer Zufallsbegegnung mit der temperamentvollen Tatjana entwickelt sich schnell eine innige Freundschaft. Mona fühlt sich Tatjana stark verbunden, ahnt jedoch nicht, dass sie beide mehr gemeinsam haben, als ihnen lieb ist: ihre große Liebe Andreas! Wie lange kann er sein perfides Doppelleben noch geheim halten?
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog – 100 Tage später
Mit jedem Kilometer, mit dem ich mich meiner Vergangenheit nähere, wird mein Gefühl im Bauch wärmer. Nach über zwei Stunden Autofahrt durch die verheißungsvolle Morgensonne verwandelt sich mein Unbehagen allmählich in immer prickelndere Vorfreude. Vorfreude auf meine Heimatstadt, der ich eine halbe Ewigkeit lang den Rücken gekehrt habe. Und Vorfreude auf meinen Schatz Andreas, den ich zwar erst vor wenigen Tagen verabschiedet habe, aber genauso vermisse wie in unserer verliebten Anfangszeit vor drei Jahrzehnten.
Ich lasse die dunklen Wälder entlang der Landstraße an mir vorbeirauschen und lächele, wann immer ich dazwischen ein kleines Fleckchen Heidefläche entdecke. Als Jugendliche empfand ich die Lüneburger Heide mit ihren Hügeln, Wacholdern und Heidschnucken natürlich als unendlich langweilig und stahl mich so oft es nur ging mit meinen Freunden nach Hamburg, um Kneipen, Discotheken und Shoppingzeilen unsicher zu machen. Doch je älter ich wurde, desto mehr konnte ich diesem wunderschönen, wie aus der Zeit gefallenen lila Landstrich abgewinnen, etwa bei Ausflügen zum höchsten Punkt Norddeutschlands – dem Wilseder Berg, ins Pietzmoor oder rund um Haverbeck mit der Kutsche. Nur um die Salzstadt Lüneburg habe ich stets einen großen Bogen gemacht – bis heute.
Auf der großen, grünen Wiese steht inzwischen ein stattliches Parkhaus, bemerke ich beeindruckt bis befremdet, als ich im Weggehen die digitale Gebührenanzeige betrachte. Das ist natürlich nicht das Einzige, was sich in all der Zeit verändert hat. Bereits die Umgehungstraße, der letzte Abschnitt meiner gut 300 Kilometer langen Fahrt von Münster hierher, ist viel breiter und besser angebunden als früher, weswegen ich kurz das Gefühl hatte, mich in dieser stark wachsenden Stadt gar nicht mehr auszukennen. Etliche Neubauten, Läden und Lokale habe ich noch nie gesehen, denke ich staunend und schlendere über das zum Glück altbekannte Kopfsteinpflaster in Richtung Innenstadt. Nein, ich tänzele geradezu, drehe mich immer wieder lächelnd im Kreis und bewundere den Charme all der unvergänglichen Gebäude, die mit meinem inneren Bild vom idyllischen Lüneburg, das ich fast zwanzig Jahre bloß als Erinnerung abgespeichert hatte, übereinstimmen. Die Heiligengeiststraße mit ihren Brauhäusern und anderen Bauten, an deren Ende ein beeindruckender Renaissancebau aus dem Jahr 1548 angesiedelt ist, in dem die Handelskammer seit Langem ihren Sitz hat. Sie markiert den Beginn zum weiten Marktplatz am Sande, von wo aus man einen freien Blick auf die Johannis-Kirche genießen kann, deren Turm mit leichter Neigung genauso gut in Pisa stehen könnte. Bereits in der Grundschule lernte ich, dass Lüneburg nicht nur eine alte Hansestadt ist, sondern auch quasi auf Salz gebaut. Salz, das Gold des Mittelalters, war es auch, das der Region zu Reichtum und dieser berührenden Schönheit verholfen hat. Sie scheint unvergänglich, auch wenn der Salzabbau inzwischen für unterirdische Hohlräume und Senkungsgebiete gesorgt hat. All das macht wohl den Zauber dieser Kleinstadt aus, die mit ihren mehr als 80.000 Einwohnern gar nicht mehr so klein wirkt wie damals, als ich mit Anfang 20 wegging.
*
Ich erreiche den quirligen Stintmarkt, der übersät zu sein scheint von jungen Studierenden, die offenbar ihre Vorlesungen schwänzen, um ja keinen einzigen Sonnenstrahl dieses bislang allzu verregneten Mais zu verpassen.
»Entschuldigung!«, spreche ich eine Frau an, die schwungvoll an mir vorbei will, aber freundlicher Weise für mich stoppt. »War hier früher nicht das Eiscafé von Roberta? Kennen Sie das?« Die sympathische Frau mit den auffallend langen rotbraunen Haaren lacht und fragt zurück: »Das beste Spaghetti-Eis der Stadt?!«
Ich muss ebenfalls lachen. Denn mein Herz macht einen freudvollen Hüpfer, als ich an diese unvergleichliche Köstlichkeit meiner Jugend denke. Doch dann die Enttäuschung. »Robertas Eis war offenbar zu gut. Sie hat sich schon vor Jahren nach Sardinien abgesetzt«, erklärt die Dame mit einem aufmunternden Lächeln, »aber im Carlas, dem Restaurant im Drei Könige, gibt es den besten Cappuccino der Stadt!«
Wir nicken uns zum Abschied freundlich zu. Mit versonnenem Blick sehe ich der temperamentvollen Frau hinterher und erinnere mich. Das Hotel Drei Könige gehörte schon damals zu den besten Adressen Lüneburgs. Als Schülerin träumte ich immer davon, dort einfach unterzuschlüpfen, wenn es zu Hause mit meinem Vater mal wieder Ärger gab. Doch das war natürlich unerschwinglich und auch diese Erinnerungen sollten mir nicht die Freude vermiesen, ermahne ich mich innerlich und hole ungeduldig mein Handy hervor, um Andreas zu sagen, dass ich da bin.
»Ich hab’ erst heute Mittag mit dir gerechnet!«, begrüßt er mich offenbar überrascht.
»Die Sehnsucht hat mich getrieben«, entgegne ich lachend, »aber wenn wir uns später …«
»Nicht doch! Ich freu mich. Lass uns in zwanzig Minuten im Carlas treffen. Das ist das Restaurant im …«
»… im Drei Könige, ich weiß!«
Ich habe es im Gefühl: Heute ist ein guter Tag!
*
Meine Knie sind weich, als ich ehrfürchtig das erste Mal in meinem Leben das einladende Eingangsportal des 5-Sterne-Hotels betrete. Beeindruckt sehe ich mich um und wundere mich über das muntere Treiben, das hier herrscht. Am Empfangstresen steht eine auffallend attraktive Blondine in einem großgemusterten Hosenanzug und perfekt dazu abgestimmten High Heels. Sie scheint die Chefin des Hauses zu sein und ist offenbar dabei, einen Angestellten im Hoteljungen-Outfit zu briefen. Danach wendet sie sich mir mit offenem Blick zu.
»Kann ich etwas für Sie tun?«
Überrascht über diese Freundlichkeit gerate ich in eine mir leider ureigene Unsicherheit und beginne zu plappern: »Nicht wirklich. Ich … nun ja … ich bin hier verabredet. Mit meinem ... mit meinem Lebensgefährten. Also mit Herrn …« Ich komme mir vor wie ein Eindringling und bin heilfroh, als Andreas tatsächlich in dieser Sekunde wie mein Retter zu uns geeilt kommt. Charmant wie eh und je nickt er uns beide gewinnend an und reicht der Dame die Hand.
»Ich grüße Sie, Frau Fährmann!«
Ich bin verblüfft. Die beiden scheinen sich tatsächlich zu kennen. Doch ehe ich nachfragen kann, stellt Andreas mir seine Bekannte auch schon vor und dann umgekehrt: »… und das ist Mona Herzberg, meine … meine Lebensgefährtin!«
Auch wir schütteln uns die Hände. Frau Fährmann mustert mich einen winzigen Augenblick leicht irritiert, wie mir scheint, und tritt hinter den Tresen.
Sie blickt mit ihren perfekt geschminkten Augen angestrengt auf einen Computerbildschirm und stöhnt auf.
»Offenbar ist Ihre Reservierung noch nicht im System. Wenn man nicht alles selbst in die Hand nimmt …«, zischt sie leise und doch habe ich es gehört und korrigiere. »Das ist ein Missverständnis. Wir wollen gar nicht hier im Hotel übernachten, sondern nur nebenan ein spätes Frühstück einnehmen.«
»Das ist nicht ganz korrekt«, widerspricht Andreas und grinst. Mit wissendem Blick in Richtung Frau Fährmann fährt er fort, »ich habe uns hier ein Doppelzimmer gebucht!«
»Und in gut einer Stunde kann ich Ihnen Ihre Zimmerkarte aushändigen«, ergänzt sie mit einem Werbe-Lächeln.
Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht. Ungläubig sehe ich Andreas an, dessen strahlende Augen beweisen, wie viel ihm daran liegt, mir diese Freude zu machen.
»Na, wenn du schon nach Lüneburg zurückkehrst, solltest du auch adäquat residieren, meine Schöne!«
Ich freue mich sehr. Typisch Andreas! Sogar nach dreißig gemeinsamen Jahren schafft er es noch immer, mich zu überraschen. Ich falle ihm dankbar in die Arme.
»In deinem Appartement hätten wir es doch bestimmt auch ganz gemütlich gehabt«, sage ich leise und blicke zu ihm auf.
Er nickt und erwidert zärtlich, für mich sei ihm nichts zu teuer. »Außerdem haben wir einen Grund zu feiern!«
»Was denn, noch eine Überraschung?«
Andreas tritt einen Schritt zurück und sieht mich mit feierlichem Blick an, als er sagt: »Vor dir steht der neue Vertriebsleiter Nord der Sandmann AG!«
Dann redet er weiter. Über das gute Gespräch, das er mit seinem Chef hatte, die satte Gehaltserhöhung mit noch mehr Provision für all die Wäschedeals, die er für Großkunden macht, einschließlich des Drei Könige. Und über seinen neuen Arbeitsplatz, einem Büro, das er ausgerechnet in Lüneburg einrichten darf. Leicht abwesend nehme ich wahr, wie Andreas Frau Fährmann gegenüber ankündigt, später wiederzukommen und dass sie eine Flasche Champagner aufs Zimmer bringen lassen solle. Mir wird warm ums Herz. Ich freue mich so für Andreas und diesen mehr als verdienten und längst überfälligen Karriereschritt. Und ich freue mich für uns, weil all seine Reisetätigkeiten quer durch die Republik endlich ein Ende haben.
Da ist es wieder, dieses Kribbeln, das sich wie Vorfreude anfühlt. Vorfreude auf ein neues Leben, ertappe ich mich gedanklich. Die Vorstellung, in Zukunft Nacht für Nacht mit meinem Liebsten verbringen zu können und noch mal ganz von vorn anzufangen, lassen urplötzlich Glückshormone in mir sprudeln. Eine Zukunft, die Frieden in meine Vergangenheit und Ruhe in meine Gegenwart bringt. Ja, das ist es! Das fühlt sich gut und richtig an, einen Neuanfang in Lüneburg zu wagen.
Nach nur einem aufregenden Tag und einer noch aufregenderen Nacht in meiner alten Heimat fühlt es sich so an, als sei ich nie wirklich weg gewesen. Jedenfalls nicht für eine so lange Zeit. Das liegt womöglich daran, dass alles in mir endlich nach diesem mutigen Schritt schreit, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Welcher Zeitpunkt könnte wohl besser sein als dieser – zwei Jahre vor meinem 50. Lebensjahr – um das Ruder herumzureißen, mit Altem abzuschließen und etwas ganz Neues zu wagen?
Ich sitze draußen in der Sonne vor einem Café direkt an der Ilmenau und beobachte all die zufriedenen Menschen, die entspannt durch die hübschen, engen Gassen mit ihren Inhaber geführten Läden schlendern, die oftmals mit so viel Liebe zum Detail und dieser ganz besonderen Aufbruchsstimmung eine magische Anziehungskraft ausüben. Ich schüttele amüsiert den Kopf, wenn ich an meine Jugend zurückdenke, als es absolut uncool war, vor der eigenen Haustür shoppen zu gehen. Wer zu den angesagten Schülerinnen am Johanneum-Gymnasium gehören wollte, musste schon ins 50 Kilometer entfernte Hamburg fahren, um dort die Einkaufspassagen zu erobern. Und nun ist es beinahe umgekehrt. Heute kommen Tagestouristen in Scharen, um zwischen Grapengießer- und Großer Bäckerstraße die zauberhafte Atmosphäre dieser pulsierenden Metropole zu genießen.
Nachdem ich meinen Milchkaffee bezahlt habe, schließe ich für einen Moment die Augen, um Mut zu tanken. Mut, den ich brauchen werde, um das Versprechen einzulösen, das ich mir vor diesem Wochenende gegeben habe, um nicht ständig das ungute Gefühl zu haben, meine Vergangenheit säße mir im Nacken und es sei nur eine Frage der Zeit oder auch des Zufalls, wann sie mich einholt.
Auch wenn mein Weg ein paar Schleifen macht, weil ich kein Schaufenster der vielen hübsch eingerichteten Läden auslassen will, zieht es mich schließlich auf den Salzmarkt. Als ich schon von Weitem das kleine Schild mit der Aufschrift Tischlerei Herzberg entdecke, wird mir flau im Magen. Mit weichen Knien gehe ich auf den breiten Eingang zu, ohne eine Ahnung zu haben, wie ich meinem Vater gegenübertreten soll nach all dem, was damals war. Der Tag, an dem ich ihn das letzte Mal sah, war die Beerdigung meiner Mutter. Er kommt mir vor wie aus einem anderen Leben. Ein Leben mit bitterem Nachgeschmack. Doch das ist nun hoffentlich vorbei! Heute bin ich eine andere. Und fast so, als würde ich mir genau das beweisen wollen, mache ich mich gerade und atme einmal tief durch, um das vertraute Gebäude mit neugieriger Anspannung zu betreten.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine leicht verwunderte weibliche Stimme.
Ich wende mich nach rechts und blicke durch die offenstehende Tür des Ladens, der vor einem Nebeneingang zur Werkstatt meines Vaters liegt.
»Entschuldigen Sie, dass ich hier so reinplatze!«
Unsicher blicke ich zwischen zahlreichen Kartons hindurch und entdecke ein paar schöne Vasen, Lampen, Stoffmuster und dergleichen.
»Alles gut!«, entgegnet die schlanke Frau mit brünetter Löwenmähne, die ich etwas jünger schätze als mich. »Ich eröffne zwar erst in einer Woche, aber wenn ich jetzt schon irgendetwas für Sie tun kann?«
»Ich bin Mona Herzberg und eigentlich auf der Suche nach meinem Vater?!«
»Gerhard Herzberg?! Das ist Ihr Vater?!«, fragt sie mit einem sympathischen, herzlichen Lächeln zurück. »Es tut mir leid, der arbeitet zurzeit in Tschechien. Wussten Sie gar nichts davon?«
»Nein«, sage ich leise und spüre, wie die Anspannung allmählich weicht. Ich erkläre, ich wisse zwar, dass mein Vater oft in der Weltgeschichte unterwegs sei und wochen-, manchmal auch monatelang das Gebälk in Kirchen restauriere. Aber dass er aktuell nicht in Lüneburg ist, wusste ich nicht. Innerlich bin ich dann doch erleichtert.
»Die Werkstatt … haben Sie einen Schlüssel?«, höre ich mich fragen und winke gleich wieder ab. »Oder nein … Ich werde gelegentlich mal wieder vorbeikommen.«
»Machen Sie das gerne. Auf Wiedersehen!«
Wir nicken einander freundlich zu und wünschen uns noch einen schönen Tag. Mein Blick auf die Uhr verrät mir, dass mir eine gute Stunde Zeit bleibt, bis ich Thomas, einen alten Bekannten, im Kurpark auf einen kleinen Spaziergang treffe. Also nutze ich die Gelegenheit, um weiter gemütlich durch die Altstadt zu flanieren. Es tut so gut, hier zu sein, denke ich und frage mich, ob der Groll auf meinen Vater es wert war, mir die Stadt, in der ich geboren und durchaus unbeschwert aufgewachsen bin, zu versagen. Vielleicht wäre es mir wie Verrat an unserer Tochter vorgekommen, hätte ich schon früher mehr Milde walten lassen. Doch nun ist Sara zu einer wundervollen, selbstbewussten und glücklichen jungen Frau herangewachsen. Unser Verhältnis könnte nicht besser sein, obwohl oder gerade weil es unter sehr besonderen Umständen gereift ist. Dafür bin ich unendlich dankbar und ich bereue keinen einzigen Tag, an dem ich ihr Wohl über meines gestellt habe. Umso mehr aber möchte ich jetzt, da sie in Baden-Württemberg ihren Weg als ausgebildete Krankenschwester geht, für mich selbst einen neuen, vollkommen selbstbestimmten einschlagen.
Und genau das ist auch der Grund, warum ich beim Spaziergang mit Thomas zügig zum Punkt komme.
»Wenn sich einer in der Stadt gut auskennt, dann du«, schmiere ich ihm Honig um den Bart, den er inzwischen trägt, als wir durch den Kurpark, einer ansprechend angelegten Grünfläche in unmittelbarer Nachbarschaft zur Salztherme, schlendern. Jeder kennt Thomas Jansen, den früheren Oberbürgermeister und vor allem kennt er jeden. Schon Thomas’ Vater Paul Jansen war im Stadtrat, ist aber bereits verstorben, nicht aber seine Mutter Johanna, die ebenfalls mit Gott und der Welt bekannt ist und sich sogar als Buchautorin einen Namen gemacht hat. Selbst wenn Thomas keine Ahnung hat, ob es irgendwo eine berufliche Perspektive für mich gäbe, ist er so gut vernetzt, dass er es bestimmt gerne für mich herausfinden würde.
»Ist deine aktuelle Stelle nicht so etwas wie die Assistenz der Geschäftsführung?«, fragt er nachdenklich und stoppt, um mich mit seinen fröhlichen Augen direkt anzusehen. Er ist ein kleiner, aber durchaus attraktiver Mann, der immer für einen Spaß zu haben ist.
Ich nicke. »Nur ist ein Sanitärgroßhandel auf den ersten Blick vielleicht nicht die beste Referenz. Aber mein Chef, Herr Katzinger, ist mehr als zufrieden mit mir und würde mir sicher keine Steine in den Weg legen, wenn ich ihn als Referenz angebe.«
Thomas lacht und ergänzt: »So gesehen kann ich dich genauso gut empfehlen. Schließlich war ich auch mal so etwas wie dein Chef!«
Zwar habe ich als Babysitterin seiner Kinder Tanja und Jule damals bestimmt ebenfalls einen guten Job gemacht. Andernfalls hätten wir über all die Jahre nicht diesen lockeren, aber wertschätzenden Kontakt gehalten. Aber ob mir das hilft, wage ich zu bezweifeln, gebe ich lachend zurück. Wir gehen wieder ein paar Schritte, ehe Thomas erneut anhält. »Ich werde mich mal umhören. Wenn ich richtig informiert bin, ist im Drei Könige gerade eine Stelle als Assistenz zu besetzen. Allerdings hat die Chefin Haare auf den Zähnen.«
Mein Herz schlägt sofort schneller. »Du meinst Frau Fährmann?!«
Thomas wundert sich kurz, dass ich sie kenne und relativiert schließlich. »Amelie Fährmann hat viele Feinde in der Stadt. Man nennt sie auch ›Die Eiskönigin‹!«
Ich höre dennoch aufmerksam zu, als Thomas irgendwelche alten Geschichten über seinen langjährigen Freund Gunter Flickenschild hervorholt, dem Mitbesitzer des Hotels, und dass mit der Direktorin angeblich nicht gut Kirschen essen sei. Ich winke ab. Es muss ja keine Lebensentscheidung werden, wenn ich mich bewerbe. »Denn die ist längst getroffen!«, verkünde ich feierlich und überrasche mich selbst damit. Auch Thomas fällt kein vernünftiger Grund ein, warum ich nicht zurück nach Lüneburg kommen sollte, jetzt, wo Andreas hier sein Büro oder zumindest einen festen Ausgangspunkt für seinen Vertriebsjob hat.
»Ich war zwischenzeitlich auch im Ausland auf Forschungsreise und in Wilhelmshaven. Aber irgendwie hat es mich doch immer wieder hierher gezogen.«
»Das kann ich sehr gut nachvollziehen!«, sage ich zum Abschied.
Ich schließe für einen Moment die Augen und dann Thomas zum Dank in die Arme, der einmal mehr wie ein väterlicher Freund verspricht, mir zu helfen und mich zu empfehlen.
*
Es ist lange her, dass ich meinen Liebsten nach Feierabend mit einer gut gekühlten Flasche Prosecco und frischen Erdbeeren in einem nigelnagelneuen Negligé begrüßt habe. Und es ist schon verrückt, auch nach all der langen Zeit, die wir zusammen sind, gab es nicht ein Wiedersehen, auf das ich mich nicht vorher gefreut hätte. Jetzt kommt sogar noch Aufregung hinzu, weil ich so sehr gespannt bin, was Andreas zu meinen mutigen Plänen sagen wird.
Ich bürste mir eben noch mein schulterlanges Haar glatt und frage mich, bei welchem Frisör ich wohl in Zukunft meine ersten, zum Glück bislang nur vereinzelt ergrauten Haare blond färben lassen könnte. Es ist schade, dass Thomas derzeit keine Partnerin hat, die ich um Rat fragen könnte, auch, wo es die beste Kosmetikerin oder aber das leckerste Sushi gibt. Nicht alles in Münster war schlecht oder mehr noch – es wird mir durchaus einiges fehlen, wenn ich meinen Traum vom neuen, unbeschwerten Lebensabschnitt wirklich wahrmache. Meine lieben Kolleginnen etwa sind mir sehr ans Herz gewachsen. Und auch meine Nachbarn aus der Wohnung gegenüber werde ich vermissen. Wie viele Abende haben wir zusammengesessen? Und wie oft nur zu dritt, weil Andreas den Großteil der Zeit unterwegs war …
Aber damit ist jetzt ein für alle Mal Schluss! Und ich kann es kaum erwarten, ihn mit meinem Vorhaben zu überfallen.
Von Minute zu Minute werde ich ungeduldiger. Schließlich wollte er schon längst zurück im Hotel sein. Ich greife nach meinem Handy, um nachzusehen, ob er eine Erklärung geliefert hat, warum er sich verspätet. Doch da ist nichts. Also schicke ich ihm per Messenger ein Herz-Emoji und ein Fragezeichen. Die blauen Häkchen, die mir versichern würden, dass er meine Nachricht auch erhalten und gelesen hat, bleiben aus. Ob ich mir Sorgen machen muss? Er wollte doch nur nach Hamburg zu einem Mitarbeiter-Gespräch und ja, er sagte, ich solle heute lieber allein zu Abend essen. Aber dass er so spät noch nicht zurück ist, macht mich nun doch unruhig.
Nach weiteren zehn Minuten beschließe ich, gelassen zu bleiben. Andreas wird schon gleich auftauchen, sage ich mir und greife nach der Flasche, um sie mit einem lauten Knall zu entkorken. Wer sagt denn, dass ich nicht auch alleine Spaß haben darf?! Ich mache es mir auf dem Bett gemütlich und genieße ein paar köstliche Erdbeeren. Auch der prickelnde Tropfen schmeckt mir an Abenden wie diesen besonders gut. Ich bin so dankbar, dass ich ein in vielerlei Hinsicht erfülltes Leben habe und sprühe geradezu vor Optimismus. Und als sei es ein schicksalhaftes Zeichen, kommt genau in diesem Glücksmoment Andreas zur Tür herein und macht genau das Gesicht, das ich mir seit Stunden erhofft habe. Überrascht bleibt er dicht vor mir stehen und mustert mich, als ich mich vor ihm aufs Bett knie. Ich gebe ihm zur Begrüßung einen zärtlichen Kuss und schenke ihm ebenfalls ein Glas Prosecco ein.
»Hab ich etwas verpasst? Unseren Hochzeitstag, oder so?«, scherzt er, weil heiraten schließlich nie ein Thema zwischen uns war, und sieht mich auch nach all den Jahren voller Bewunderung und Verlangen an.
»Wir hätten die Silberhochzeit womöglich längst hinter uns, wenn wir uns für den konventionellen Weg entschieden hätten«, entgegne ich leise.
Andreas sieht mir tief in die Augen, nimmt einen Schluck und ergänzt zärtlich: »Unser Weg war noch nie konventionell.«
Ich muss lachen. Denn tatsächlich erscheint mir ein Neubeginn, der alles, was wir uns aufgebaut haben, über den Haufen wirft, auch nicht gerade normal.
»Ich möchte mir dir ein neues Leben leben!«
Andreas sieht auf.
»Hier in Lüneburg! Ich hab mich schon entschieden. Ich werde meinen Job und die Wohnung in Münster aufgeben und zu dir nach Lüneburg kommen!«
Ich strahle Andreas an und freue mich so sehr über meinen Entschluss, der sich anfühlt, als würde sich nach all den teils düsteren Jahren endlich ein Kreis schließen. Doch statt eines ebenso strahlenden Lächelns bekomme ich einen entsetzten Blick als Antwort.
»Bist du verrückt geworden?!«, stößt er aus.
»Bitte?!«
Mein Bauch fühlt sich augenblicklich so an, als hätte ich einen Schlag in die Magenkuhle bekommen.
»Das kann unmöglich dein Ernst sein, Mona!«
Ich lasse mich aufs Bett sinken. Mir fehlen die Worte, während Andreas direkt nachsetzt: »Entschuldige, aber ich halte das wirklich für keine gute Idee!«
»Warum denn nicht? Ich dachte, du freust dich?!«
Andreas atmet schwer durch und stellt sein Glas ab. Dann setzt er sich neben mich und greift nach meiner Hand.
»Liebes, natürlich freue ich mich, dass du bereit wärst, unseretwegen alles aufzugeben. Aber wofür?!«
»Wie wofür?! Nach so langen Durststrecken haben wir jetzt endlich die Chance, ein normales Beziehungsleben zu führen statt bloß an den Wochenenden. Das Hin und Her kann endlich ein Ende haben. Und du fragst ›wofür‹?!«
Ich ziehe meine Hand zurück und kämpfe mit den Tränen. Tränen der Enttäuschung. Dabei habe ich es so satt, immer und immer wieder enttäuscht zu werden! Wie oft habe ich mich auf bessere Zeiten gefreut oder auf Ausflüge oder gar Urlaube, die kurzfristig wieder irgendeinem wichtigen Großkundentermin zum Opfer fielen?! Wie oft haben Sara und ich zurückstecken müssen, weil Andreas eine Schulung in Flensburg oder einen Akquisetermin in Freiburg hatte?! Doch damit ist jetzt Schluss! Um ja keinen sich auswachsenden Streit zu provozieren, atme ich ebenfalls tief durch und setze umso sanfter, aber entschlossener nach: »Andreas, wir haben so lange davon geträumt, mehr Zeit miteinander zu haben. Ich fühle mich in Münster wohl, ja. Aber was hält mich dort, wenn ich hier ein echtes gemeinsames Leben mit einem richtigen Beziehungsalltag mit dir aufbauen könnte?!«
»Das können wir eben nicht!«, insistiert er eine Spur zu laut und ungehalten für meinen Geschmack. »Nur weil ich jetzt ein Büro in Lüneburg und die Teamleitung habe, heißt das noch lange nicht, dass ich keine Außentermine mehr wahrnehmen muss!«
Ich schlucke und gebe zu, das habe ich mir wohl schöngeredet. Ich kann trotzdem nicht nachvollziehen, warum er mich deswegen so angeht und stelle ihn zur Rede. Immer schneller, immer lauter. »Wieso habe ich das Gefühl, du willst gar nicht, dass ich nach Lüneburg komme?!«, schleudere ich Andreas ins Gesicht und wische mir die Tränen schnell von der Wange.
»Stopp! Das stimmt nicht«, wird er sanfter, »ich finde nur den Zeitpunkt einfach falsch! Zum einen weiß ich noch gar nicht, ob ich für den neuen Job wirklich geeignet bin. Und zum anderen habe ich eine Probezeit und werde eben auch weiterhin Geschäftsreisen unternehmen müssen.«
»Aber doch sehr viel weniger, oder nicht?«
Andreas zuckt nur mit den Schultern. Und ich weiß nicht, was ich davon halten soll, und verschwinde ins Bad.
Durch die geschlossene Tür ruft Andreas mir betont freundlich hinterher, er verspreche, sich das gründlich durch den Kopf gehen zu lassen. Und in ein paar Wochen könnten wir immer noch sehen, ob dieser Schritt sinnvoll sei. Na toll, denke ich, wie immer war es ein Fehler, irgendwelche Erwartungen zu haben. Da bin ich wohl übers Ziel hinausgeschossen. Es fällt mir nicht leicht, umzuschwenken, ich sehe aber ein, dass ich für den Moment in dieser Diskussion nicht weiterkomme. Also entscheide ich mich für das, was ich immer tue und bemühe mich, das Beste aus der Situation zu machen und lieber den Abend zu retten, was mir mehr oder weniger gelingt.
Vielleicht braucht Andreas einfach nur ein bisschen Zeit, um sich an die Vorstellung eines gemeinsamen Alltags zu gewöhnen, denke ich später beim Einschlafen an seiner Seite.
Mein Kopf dröhnt noch immer. Ein Glas weniger hätte es gestern Nacht auch getan, ermahne ich mich innerlich und spanne den Schirm mit einer Hand auf, während ich mit der anderen umständlich ein paar Hemden und zwei Sakkos schleppe. Heute zeigt sich die Stadt nicht von ihrer besten Seite mit dem Grau in Grau am Himmel und der Nässe von gefühlt allen Seiten. Zum Glück ist der Weg zur Wäscherei nur kurz. Womöglich hätte ich es mir sonst anders überlegt. Aber wie das mit Andreas’ Charme so ist – ich erliege diesem auch nach 30 Jahren noch immer. Er bittet mich um einen Gefallen und ich kann ihm nichts abschlagen, obwohl mich seine Reaktion, auch nachdem ich eine Nacht drüber geschlafen habe, noch immer ziemlich enttäuscht. Ich verstehe, dass er meine Pläne als übereilt empfindet, zumal er die Probezeit zu überstehen hat und uns weiterhin durchaus diese mir so sehr verhassten Geschäftsreisen einen Strich durch einen normalen Paaralltag machen werden. Dennoch, die Vorstellung in Lüneburg noch einmal ganz von vorne anzufangen, fühlt sich derart richtig an, dass ich nur noch über das Wie und nicht mehr über das Ob nachdenke. Die zentral gelegene Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon werde ich in einer Stadt wie Münster sicher schnell los und mein Chef weiß schon eine ganze Zeit lang, dass ich hier und da meine Fühler austrecke, um mich weiterzuentwickeln.
Mit Schwung schiebe ich die Eingangstür zur Wäscherei auf und begrüße die freundlich aussehende Dame hinter dem Tresen. Ich schiebe Andreas’ Sachen rüber und stelle mir im Geiste vor, wie ich das zukünftig durchaus öfter hier an Ort und Stelle tun werde.
»Da ist noch etwas in der Tasche. Soll ich das entsorgen?«, fragt die Dame, nachdem sie die Taschen des grauen Sakkos geleert hat. Daran habe ich gar nicht gedacht, so lange ist es her, dass ich mit der Reinigung der Wäsche zu tun hatte. Sie hält ein unbenutztes Taschentuch und zwei Papierschnitzel in die Höhe. Ich zucke lachend mit den Schultern.
»Das sieht nicht nach Geldscheinen aus. Das kann gerne …«
Ich unterbreche mich. Intuitiv strecke ich eine Hand aus und entgegne scherzhaft: »Oder zeigen Sie es mir doch lieber. Nicht, dass es etwas Wichtiges ist. Dann bekomme ich Ärger.«
Ich stecke die Schnipsel zusammen mit dem Abholschein ein und verabschiede mich wieder. Als ich an der nächsten Straßenecke ankomme, folge ich kurzerhand meinem Impuls, nun doch einen schnellen Blick in meine Handtasche zu werfen. Plötzlich spüre ich einen Stoß und erschrecke mich. Ein Typ rennt an mir vorbei und reißt mir meine Tasche aus den Händen!
»Nein!«, rufe ich entsetzt und blicke ihm wie paralysiert hinterher. Offenbar hat die Untermieterin meines Vaters alles mit angesehen. Sie kommt nach draußen gestürmt und fragt: »Wo ist er hin?«
Ich zeige in die Richtung, in der ich in der Ferne gerade noch erkennen kann, wie dieser unverfrorene Dieb um die Ecke biegt. Und schon rennt die Frau ihm hinterher. Ich bleibe immer noch wie angewurzelt stehen und staune, denn sie ist verdammt schnell!
So etwas ist mir noch nie passiert. Mein Portemonnaie, mein Handy, Schlüssel – mein ganzes Leben trage ich in meiner Tasche mit mir herum. Eine Katastrophe … Bargeld ist natürlich auch darin. Aber das Schlimmste werden die Behördengänge sein. Und ein paar alte Fotos sind weg, gehe ich im Geiste voller Entsetzen meinen Verlust durch.
Doch da kommt die Inhaberin des Accessoires-Ladens zurück, mit einem breiten Lächeln und meiner Tasche!
»Das ist …«
Mir fehlen die Worte.
Hocherfreut nehme ich sie entgegen. Ein schneller Blick verschafft mir unendliche Erleichterung. Es scheint tatsächlich noch alles da zu sein.
»Wie haben Sie das geschafft?«, frage ich meine Retterin voller Respekt und Dankbarkeit.
»Zu irgendwas muss mein regelmäßiges Lauftraining ja gut sein«, entgegnet sie lachend und keucht noch ein wenig nach Luft, »der Typ hat vor Schreck die Tasche fallen lassen, als ich ihm immer dichter auf die Pelle gerückt bin und ihn angeschrien hab.«
»Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll!«
»Alles gut. Aber vielleicht sollten wir uns endlich mal offiziell vorstellen?«
Ich nicke lachend und reiche die Hand. »Ich bin Mona Herzberg, wie Sie wissen, die Tochter …«
»Und ich bin Tatjana Petrenko«, erfahre ich.
»Darf ich Sie zum Dank einladen?«
Frau Petrenko zögert. »Meine Eröffnung … ich habe noch so viel zu tun.«
Flehend sehe ich sie an. »Wenigstens auf einen Kaffee?«
Sie lächelt und gibt sich einen Ruck. »Na gut, die kleine Auszeit nehme ich mir gerne.«
Ich freue mich darüber.
*
»Stimmt es, dass es hier im Carlas den besten Cappuccino der Stadt gibt?«, frage ich Tatjana, die mir direkt nach der Bestellung das Du angeboten hat, obwohl sie tatsächlich ein paar Jahre jünger ist.
»Das kann schon sein. Ich bin allerdings erst seit drei Jahren in Lüneburg«, beginnt sie, etwas aus ihrem Leben zu erzählen. Ich erfahre, dass sie und ihr Mann von Schleswig aus hierhergezogen sind und sie ursprünglich aus der russischen Stadt Wolgograd stammt, aber im Kleinkindalter mit ihren Eltern nach Deutschland kam. Es ist also kein Wunder, dass ich keinerlei Akzent heraushören kann, denke ich und sehe sie bewundernd an. Tatjana ist eine ausgesprochen sympathische und attraktive Frau. Sie ist zart gebaut und strahlt dennoch eine gewisse Stärke und Souveränität aus. Ihre grünen Augen leuchten und wenn sie lächelt, geht mir das Herz auf. Es kommt mir fast so vor, als würden wir uns schon lange kennen. Für mich hat sie irgendetwas Vertrautes an sich. Wir trinken beide unseren Cappuccino ohne Zucker, gönnen uns aber ein überaus köstliches Stück Zitronentarte.
Und wie das so ist, berichte ich von mir, meinem Lebensgefährten, unserer Tochter und meinem an sich erfüllenden Job, den ich aber gewillt bin, zu kündigen.
»Es ist Zeit, mal etwas Neues zu wagen. Die Nichte meines Chefs ist schon länger scharf auf meinen Posten. So gesehen, lasse ich ihn gar nicht im Stich, wenn ich kündige, Resturlaub und Überstunden gegen einen schnellen Cut eintausche«, schließe ich und ergänze, dass ich soeben meine Bewerbung als Assistentin der Hoteldirektorin abgegeben habe. »Ich mag diese familiäre Atmosphäre hier im Haus«, ergänze ich und muss schmunzeln. Denn aus den Augenwinkeln erkenne ich die Passantin wieder, die mir das Carlas empfohlen hatte. Und jetzt verstehe ich auch warum. Denn sie kommt aus der Küche und arbeitet, ihrem Outfit nach zu urteilen, offensichtlich als Köchin hier. »Und ich mag an Lüneburg, dass es nicht so anonym ist wie größere Städte und doch nicht provinziell, allein schon wegen der Nähe zu Hamburg.«
Tatjana stimmt mir zu. Sie hat sich schließlich nicht ohne Grund für diesen Standort ihres Showrooms entschieden. Das ist offenbar auch ihr Stichwort, um sich leider schon wieder zu verabschieden.
»Ich hab wirklich noch alle Hände voll zu tun bis zur Eröffnung. Wenn du magst, bist du natürlich herzlich eingeladen!«
Ich bedanke mich zum gefühlt zehnten Mal.
»Wenn ich irgendwie helfen kann, lass es mich wissen! Du hast quasi mein Leben gerettet!«
Wir lächeln einander warmherzig an und ich sehe Tatjana hinterher, wie sie schwungvoll zum Ausgang geht und mir noch einmal zuwinkt. Ich glaube, ich mag sie und wer weiß, wenn ich tatsächlich in Lüneburg Fuß fasse, trinken wir bestimmt öfter mal einen Kaffee zusammen.
Als ich die Rechnung bezahlen und mein Portemonnaie aus meiner Tasche herausholen will, stutze ich. Mein Blick fällt nun doch auf die Schnipsel, die sich zu meiner Überraschung als Karten eines Lüneburger Kinos entpuppen: Das perfekte Geheimnis an einem Tag, an dem Andreas eigentlich in Freiburg war. Das weiß ich deshalb noch so genau, weil ich ihn gefragt hatte, ob ich ihn nicht mal wieder wie früher auf einer seiner Geschäftsreisen begleiten solle. Denn die Stadt habe ich bislang noch nie besucht und es hätte mich sehr gereizt. Doch Andreas hielt es für keine gute Idee, weil er mit einem Kollegen fuhr und schlug stattdessen vor, dass ich dieses Wochenende drauf dafür nach Lüneburg kommen sollte, nachdem er sein Gespräch bezüglich der Beförderung haben würde.
Ich starre auf die Tickets und frage mich, was es damit auf sich hat. Womöglich gehören sie gar nicht Andreas, grübele ich und schrecke hoch.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?!«