Im Bann von Smoo Cave - Lore Hellschrey - E-Book

Im Bann von Smoo Cave E-Book

Lore Hellschrey

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Beschreibung

Die Hexenschwestern Silvana, Umbra und Holly führen ein beschauliches Leben im Schwarzwald. Als Silvana ihren Freund Beowulf ins Zwischenreich verbannen muss, um ihr eigenes Leben zu retten, fällt sie in tiefe Verzweiflung. Denn das Zwischenreich gilt als unerreichbar - für Diesseitige wie für Jenseitige. Doch Silvana ist wild entschlossen, ihren Gefährten dem Schicksal zum Trotz wieder aufzutreiben. Auf ihrer Suche gelangen die drei Hexen in den hohen Norden Schottlands, wo sich die Highlands so unbegreiflich und endlos wie ihre Sorgen erstrecken, wo sich klaffende Zwiespälte, ungeahnte Gefahren und eine magische Höhle auftun.

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Im Bann von Smoo Cave

Lore Hellschrey

Im Bann vonSmoo Cave

Lore Hellschrey

Fantasyroman

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Alle im Buch vorkommenden Personen, Schauplätze,

Ereignisse und Handlungen sind frei erfunden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen

oder Ereignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2024

© Text und Coverbild: Lore Hellschrey

© net-Verlag, 09117 Chemnitz

Covergestaltung: net-Verlag

printed in the EU

ISBN 978-3-95720-408-0 eISBN 978-3-95720-409-7

INHALT

Cover

Halftitle

Title

Kapitel 1

Erst im stärksten Sturm herrscht vollkommene

Stille. Erst im größten Schreck beginnen wir zu

leben. Der sanfte Wind und die kleinen

Aufregungen können uns immer wieder daran

erinnern, wie es ist …

Kapitel 1

Rotgold schimmerte die späte Oktobersonne durch das Blattwerk des Birkenhains über Silvanas flammendem Haar. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte ihren ohnehin schon langen, schlangenhaften Körper, um eines der kleinen Blätter zu erhaschen. Später würde sie daraus einen Sud kochen, den sie mit Sternanis, Nelken, Honig und einer Prise Hexerei abschmeckte.

Ihre Füße drückten sich tief in das feuchte Gras, bis die Zehen in der dunklen Erde versanken. Anmutig legte sie den Kopf in den Nacken, sodass ihre Haare wie flüssiges Kupfer über die Taille wallten. Gebannt starrte sie in die hohe Krone.

Goldene Lichtreflexe mischten sich in ihrem Blick mit dem fahlen Grün eines Aventurins, bis ihre Augen selbst wie Birkenblätter schimmerten. Warmes Blut schoss den gebogenen Hals hinauf, trat in die von Sommersprossen übersäten Wangen, drückte gegen ihre Schädeldecke, dass ihr schwindlig wurde.

Plötzlich drehte sich die Krone des mächtigen Baumes über ihrem Gesicht, schien sich von ihr zu entfernen. Hilflos suchten ihre schmalen Füße nach Halt, wollten sich in ein weiches Moosbett graben, fanden jedoch nichts außer dem Sog der Leere unter sich.

»Hihi! Hihihihi!«, kicherte es in einem näselnden Ton von unten aus dem Erdreich, während sie weiter fiel, die Arme rudernd ins Nichts ausgebreitet.

Um sie herum wurde es dunkler, kühler. Die Kälte ging Hand in Hand mit dem modrigen Geruch abgestorbener, verwesender Pflanzenteile. Dann verschwand die letzte Spitze der Krone aus ihrem Blickfeld. Mit einem Ruck kam der Himmel über ihr zum Stehen. An Rücken und Kniekehlen spürte sie einen sanften, aber bestimmten Druck, der Sicherheit verhieß.

»Hallo, du Schöne«, wisperte die nasale Stimme mit einer Spur von Schmeichelei und lang gehegter Sehnsucht.

»Beowulf«, schalt Silvana die Stimme aus der Dunkelheit vorwurfsvoll, »du weißt genau, wie ich diese Art von … Überraschungen hasse!«

»Oho, so gereizt heute«, kicherte ihr unsichtbarer Bekannter, der nach Pfeifentabak, Minzöl und Nachtkälte roch. Ungestüm drückte er ihr seine immateriellen Lippen auf die erhitzte Wange. Sein Kuss fühlte sich anders an als der eines warmen Wesens mit intaktem Blutkreislauf, stand ihm aber in Keinerlei nach.

Was an echter Haut fehlte, machte Beowulf durch seinen Geruch und ein wenig Magie wett. Die Luft knisterte, sobald seine Lippen warme Haut berührten, durch seinen Mund flossen winzige Kristalle, die wie gefrorenes Meersalz prickelten …, oder zumindest war das der einzige irdische Vergleich, der seinem Zauber annähernd gerecht wurde. Das Prickeln setzte sich, je länger der Kuss anhielt, über Schultern und Rücken fort, bis sie hochfuhr und ihn unterbrach: »Beowulf, ernsthaft! Reiß dich zusammen!« Zu gerne hätte sie ihn fortfahren lassen, doch es gab einen guten, einen existentiellen Grund, seinen Liebkosungen Einhalt zu gebieten.

Der Geist mit der überwältigenden Aura eines Hünen und der unbefangenen, leichten Seele eines Kindes sandte eine Woge der Entschuldigung an ihr Herz, versuchte dabei, weitere Spötteleien zu unterdrücken, und setzte Silvana schließlich wieder auf dem Boden ab.

Widerwillig schüttelte sie ihr Haar, Erdklumpen flogen in alle Himmelsrichtungen.

Niemals würde er erwachsen oder gar ernsthaft werden, dafür war das Leben einfach zu früh aus ihm gewichen, dafür hatte er zu viel Zeit in der Anderwelt, der Welt der Geister, der Jenseitigen verbracht. Entwicklung war durchaus möglich, auch wenn Zeit dort einen anderen Wert hatte, die Uhren nicht richtig vorwärtsliefen, aber genauso wenig stillstanden. Doch nicht jeder war automatisch bereit, sich zu entwickeln, nachträglich aus seinen Kinderschuhen, Jugendsünden oder Erwachsenengewissheiten herauszuwachsen.

In Beowulfs Fall sprach lediglich die Größe seiner Aura für sein fortgeschrittenes Alter, zeugte davon, dass sich auch die Anderwelt täglich drehte, gemächlich und unbemerkt wie der Mond.

Silvana zupfte die letzten Grashalme und Blattüberreste von ihrem beigen Kleid und funkelte ihr unsichtbares Gegenüber strafend an. Seine Ausstrahlung und seine Gedanken verrieten ihr, wo er stand. Ihre Wahrnehmung war untrüglich, solange er sich in ihrem nahen Umfeld befand.

»Wenn ich ein Mensch aus Fleisch und Blut wäre, würde ich auf der Stelle bei lebendigem Leib verbrennen«, kommentierte Beowulf ihren Blick theatralisch. »Du siehst hinreißend aus, wenn du wütend bist.«

»Pfhhh, spar dir das für deine Bettgeschichten!« Silvana bereute ihren Ausbruch von Sarkasmus, noch bevor das letzte Wort verklungen war. In solchen Momenten hasste sie sich für ihre Hellsichtigkeit, dafür, dass ihre Angriffe unweigerlich die schwächsten Stellen ihres Gegenübers trafen, sobald sie in Rage geriet.

»Du weißt, dass du die einzige Bettgeschichte wärst, auf die ich stolz sein könnte, diesseits wie jenseits.«

Seine Wehmut kroch ihr hinter die Stirn, zwang sie zu unbedingtem Mitgefühl. Was er sich wünschte, konnte unmöglich Realität werden. So sehnlichst sie ihm seinen Wunsch, ihren gemeinsamen Tagtraum, erfüllt hätte …, es durfte einfach nicht sein. Geister verkehrten ausschließlich mit Geistern.

Wenige Erzählungen berichteten von den Folgen, wenn Jenseitige sich den Gesetzen der Natur zum Trotz mit Diesseitigen vereinten. Einstimmig bezeugten die Überlieferungen, dass eine derartige Verbindung, wie himmlisch sie auch sein mochte, für keinen der Beteiligten gut ausging.

Mal wurde die Sterbliche zu weit ins Reich der Unsichtbaren gezogen, fand den Weg in ihre körperliche Präsenz nicht mehr und verblieb irgendwo zwischen beiden Welten, unfähig, mit den Diesseitigen wie mit den Jenseitigen zu kommunizieren. Mal wurde der Geist zu stark vom irdischen Körper angezogen und schließlich in diesen aufgenommen. Der Körper, fortan Diener zweier Seelen, ging an einer solchen Überlastung schnell zugrunde, sodass schlussendlich keinem der beiden eine lange irdisch-physische Erfahrung zuteilwurde.

Silvana war weder so mutig noch lebensüberdrüssig, dass sie eine Wiederholung der Legenden riskiert hätte. Ebenso respektierte Beowulf die Gesetze, die Hier und Dort trennten. Umso stärker war seine Sehnsucht, die alle anderen Anteile seiner Aura überstrahlte. Die Zerstreuung, die er in der jenseitigen Welt suchte und fand, war nichts gegen die Anziehung, die Silvana auf ihn ausübte, und seine Affären waren verständlicherweise wenig amüsiert, wenn sie herausfanden, dass sie nie mehr als Platzhalterinnen sein würden.

»Lass die trübsinnigen Gedanken, Silv, wenn du schon einmal hier bist«, versuchte er, sie aufzumuntern.

Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass ihr Gehirn kein geschützter Raum war, dass er auf jeden ihrer Gedanken Zugriff haben konnte, wenn er nur wollte.

Krampfhaft konzentrierte sie ihre Wahrnehmung auf seinen kühlen, herben Geruch. Die starke, beinahe stechende Minze vertrieb ihre Melancholie, verströmte Klarheit, lenkte ihre Sinne nach außen.

Er küsste sie erneut, diesmal vorsichtiger, weniger stürmisch. Das sanfte Prickeln legte sich auf ihre Lippen wie eine leichte Betäubung. »Eigentlich wollte ich dich nur daran erinnern, dass du mir bald wieder Honigbonbons mit Ingwer, Anis und Vanille mitbringen kannst«, entschuldigte er seine kleine Attacke.

Sie schmunzelte. »Die letzte Packung ist sicher noch nicht einmal bis zur Hälfte leer, stimmt’s?«

»Hast mich erwischt«, gestand er mit Unschuldsmiene, »aber die Tage sind trostlos und schal ohne deinen Geruch.« Natürlich verzehrte er die Bonbons nicht, verzichtete als Geistwesen auf jegliche Nahrung, aber er umgab sich stets mit ihrem Duft, dem Duft ihrer Lieblingskräuter, konnte sich ihr näher fühlen, wenn Honig, Ingwer, Anis und Vanille in der Luft lagen. Die Bonbons, manchmal auch andere Leckereien, waren zu einer Droge geworden, auf die er nicht mehr verzichten wollte. Wenn sie den Großteil ihres Aromas verloren hatten, gab er sie den Eichhörnchen und Mardern, die den Nährwert des Honigs ohnehin mehr zu schätzen wussten.

»Du bist und bleibst ein alter Charmeur«, lachte Silvana, woraufhin er ein weiteres schnarrendes Kichern ertönen ließ. »Und jetzt bring mich bitte wieder nach oben, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Je eher ich nach Hause komme, desto eher bekommst du deine Dosis Raumerfrischer.« Mehr musste sie nicht sagen, um mit einem Satz an der Grasnarbe vorbei auf die Erdoberfläche katapultiert zu werden.

Beowulf konnte enorm schnell sein. Abwartend betrachtete er die in seinen Armen Liegende, beobachtete, wie die Schatten der Blätter über ihr ovales Gesicht huschten, als würden sie einen Reigen aufführen.

»Darf ich dich wenigstens bis zum Fuß des Horrsteins bringen?«, fragte er zurückhaltend.

Sie überlegte einen Moment, lächelte breit. »Aber nur, wenn du mich nicht weiter so anstarrst.«

Wenn er wollte, konnte er sie sogar im Dauerlauf betrachten, den halben Wald durchqueren, ohne den Blick von ihr zu wenden. Seine Orientierung bedurfte nur weniger sichtbarer Anhaltspunkte. Er kannte die Gegend viermal besser als Silvana, weil er viermal so lange dort lebte.

Mit dem Korb Birkenblätter in ihrem Schoß und Beowulfs riesiger Präsenz im Rücken flog sie vorbei an dem kleinen Hain, kreuz und quer durch Baumreihen, den steilen Hang hinauf. Der Horrstein, ihr Hausberg, thronte mittig in einer großen Formation aus drei Gipfeln. Der Anstieg war mühsam, wenn man nicht gerade von den übermenschlichen Kräften eines Geistes getragen wurde.

Nun schwebte sie wie in einem Sessellift zwischen Weißtannen und Douglasien, vereinzelten Buchen und unzähligen Lärchen bergan. Natürlich lag das Tempo an ihr, daran, dass er sie beeindrucken wollte. Ansonsten war Beowulf so aktiv wie ein Faultier, bewegte seine durchsichtige Präsenz nie weiter als ein paar Meter pro Tag. So albern sie seinen Anflug von Imponiergehabe auch fand, diesmal war es ausnahmsweise nützlich.

Als sie das kleine Plateau am Fuße des Horrsteins erreicht hatten, rief sie: »Halt!«

Er stoppte abrupt, sodass der Korb mit den Blättern bedenklich schaukelte.

»Nichts für ungut, Beo, ich würde mich gerne noch hundert Meilen von dir tragen lassen, aber ab hier gehe ich allein.«

Er wusste, dass Silvanas Freundinnen und Hexenschwestern ihre besondere Beziehung nicht guthießen. Ein Teil seines Herzens verstand sogar ihre Sorge um die Seelenverwandte. Sie, das hieß vor allem die älteste der drei Hexen, Umbra, betrachteten ihn als rücksichtslosen Verführer, der die Gesetze zwischen Diesseits und Jenseits missachtete, befürchteten, dass Silvana ihm eines Tages nicht widerstehen könnte.

Seit Umbra ihn zusammen mit Silvana vor etlichen Jahren am Mabonfest eng umschlungen unter der heiligen Eiche entdeckt hatte, vermied Silvana es, mit ihm gesehen zu werden. Nicht jede Hexe konnte Geistwesen sehen, so wie Menschen andere Menschen ins Auge fassen. Umbra jedoch sah einfach alles durch ihre riesigen schwarzen Pupillen. Jeden Fetzen einer Aura, jedes noch so verblichene, postmortale Nachbild einer Kreatur konnte sie erkennen, eine Gabe, über die nur eine Handvoll Hexen verfügte.

Holly, die Dritte des kleinen Zirkels, war wie Silvana nicht im Stande, Beowulf mit den Augen zu sehen, verfügte aber über einen ausgeprägten Geruchssinn.

Sie würde ihn noch zwei Wochen später in Silvanas Kleidern bemerken, sofern jene sie nicht wechselte und in einem Salbeifeld badete.

Silvana machte es wütend, dass ihre Freundinnen, vor allem Umbra, Beowulf gegenüber so ablehnend waren, doch sie spürte gleichzeitig die Wärme ihrer beider Zuneigung. Es ging ihnen nicht um die Einhaltung der Gesetze, um blindes Traditionsbewusstsein, sondern um das blanke Leben ihrer Schwester.

Vorsichtig stellte Silvana den Korb mit Birkenblättern ab, bevor sie zwischen den dicht gewachsenen Salbeisträuchern verschwand. Sie hatte einen ganzen Hektar angebaut, nutzte Salbei beinahe täglich als Räucherwerk, um die Luft zu reinigen und ihre eigenen Sinne zu klären. Bereits ihr fahler Teint und die blassen Augen verrieten ihre Durchlässigkeit für fremde Energien. Geradezu zwanghaft hielt sie sich an ihre Rituale, um bei magischen Arbeiten nicht abgelenkt zu werden.

Geister und andere Unsichtbare konnten sehr aufdringlich sein, wenn man ein Gespür für sie hatte. Die meisten wollten einfach nur gehört werden, wollten Verständnis für ihre Schicksale, ihre Tristesse. Andere wiederum wollten mitmischen, in die irdische Sphäre hineinwirken, von kleinen Störmanövern bis hin zu großem Chaos.

Beowulf hatte seine eigenen Erfahrungen mit einnehmenden Wesen gemacht, seit er seinen Alltag im Reich der Unsichtbaren fristete. Auch deshalb war er sehr darauf bedacht, es gegenüber Silvana bei unschuldigen Streichen und flüchtigen Küssen zu belassen …, abgesehen von dem einen heimlichen Vergnügen, das er sich ab und an stahl.

Sobald Silvana sich etwa zwanzig Meter von ihm entfernt hatte, konnte sie ihn nicht mehr spüren. Ab fünfundzwanzig Metern war er für sie praktisch inexistent. Trotzdem verbarg er sich aus einem irrationalen Bedürfnis nach Verborgenheit hinter einer dicken Tanne, blinzelte, um ihren roten Schopf in dem grün-silbrigen Feld auszumachen.

Sie stand aufrecht, löste die Bänder, die ihr Kleid zusammenhielten, und ließ es von den geraden Schultern fallen. Das Licht der Dämmerung verlieh ihrer blassen Haut einen bläulichen Schimmer; sie fluoreszierte beinahe.

Er liebte das späte Licht, wenn der Sonnenuntergang in die blaue Stunde überging, die alle hellen Farben in überirdisches Leuchten tauchte. Herbstastern strahlten dann wie kleine Sterne vor dem unergründlichen Dunkel des Bodens.

Anmutig ließ Silvana den beigen Stoff über ihre Füße gleiten. Nun war sie ganz ohne Hülle der Dämmerung, dem aufgehenden Mond und seinen sehnsüchtigen Blicken ausgesetzt.

Sie bewegte sich frei, völlig unbefangen. Mit ausgebreiteten Armen drehte sie sich auf dem Feld um die eigene Achse, in einer größeren Ellipse, so wie die Erde um die Sonne kreiste. Dann pflückte sie einige Stängel Salbei und rieb ihre Haut mit dem Duft der ledrigen, grau-grünen Blätter ein.

Sie war darauf bedacht, keine jungen Blätter zu pflücken. Diese waren zu kostbar und außerdem weniger herb. Wenn sie Beowulfs Geruch bis auf die letzte Note von ihrer Haut entfernen wollte, brauchte sie das durchdringende Aroma der alten Blätter.

Eine Windböe streifte ihr Haar, wehte den flüchtigen Hauch von Honig, Ingwer, Anis und Vanille mitsamt der betäubend schweren Note des Salbeis zu Beowulf hinüber. Dann verschwand ihr Kopf; er blinzelte gegen die Dämmerung an. Seinem Geruchssinn und der spirituellen Verbindung zwischen ihm und Silvana konnte die Nacht nichts anhaben, doch sein Sehsinn war nicht besser als der eines durchschnittlichen Menschen.

Er wartete, starrte, fürchtete nach einer Weile, sie verloren zu haben, sah das Ende des erfüllten Augenblicks bereits gekommen, als sie ihren Oberkörper noch einmal aufrichtete, sodass ihr Haar wie eine Kerze in der blaugrauen Düsternis aufloderte. Also lag sie immer noch zwischen den Sträuchern. Von einer erhöhten Warte aus würde er sie noch wenige Minuten betrachten können.

Seine Augen sprangen wild umher, während er sich von seinem überflüssigen Versteck, der großen Tanne, entfernte. Seine Hände ergriffen den ersten Ast, den sie ertasten konnten. Gemäß physikalischer Maßstäbe war seine mächtige transzendente Gestalt schwerelos. Seine Aura würde den Baum in keiner Weise belasten. Doch sein Wille konnte sich in äußerst irdischer Kraft manifestieren, vor allem, wenn er von einem Ziel so besessen war wie von Silvanas Anblick.

Wenn er etwas allzu sehr begehrte, vergaß er alles um sich herum. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von den restlichen Geistwesen, seiner Art, deren Wille solch immense Kräfte nur entfalten konnte, weil er nicht mehr an einen Körper gebunden war, der zwickte und zwackte und menschliche Bedürfnisse anmeldete. Geister wurden nicht von Hunger, Durst oder noch dringenderen Nöten abgelenkt, konnten all ihre Sinne und Absichten ununterbrochen auf einen Punkt richten. Für Beowulf war es ein kleiner flammender Punkt, umringt vom Grau der Erde.

Pfeilschnell schwang er sich in eine mächtige Ulme empor, verharrte am drittobersten Ast und ließ seinen Blick wie ein Adler über das weite Feld schweifen. Er konnte sie im vorderen Drittel ausmachen, jedoch nur schemenhaft.

Aufgeregt beugte er sich vornüber, umklammerte die dürren Zweige mit seinem Willen immer fester. Sie waren knochentrocken, da es in letzter Zeit kaum geregnet hatte.

Es knarzte verdächtig, dann zerbarst das spröde Holz unter dem Zangengriff seiner Gedanken. Er fluchte Verbotenes, biss sich auf die unsichtbaren Lippen, sodass sie geblutet hätten, würde das Leben, warm und rot, im Takt des Herzens durch sie strömen.

Er sah, wie Silvana hochschreckte. Selbst der Gegenwind hatte das widerwärtige Geräusch nicht von ihrem sensiblen Gehör fernhalten können. Wie versteinert stand sie in ihrer ganzen fahlen Schönheit nur vom Licht des Mondes erhellt und lauschte in die Stille. Ihre Konzentration übertrug sich auf den gesamten Körper, spannte alle Sehnen.

Beowulf schaute sie geradewegs an, fürchtete, dass die Lautstärke seiner Gedanken, so sehr er auch dagegen ankämpfte, die kurze Distanz mühelos überbrücken, sich bis in ihr Gehirn schleichen könnte.

»Wer ist da?«, schallte ihre klare Stimme, die vom gegenüberliegenden Hang zurückgeworfen wurde. »Beowulf, bist du es?«, klang es glockenhell von vorne, dann echoisch gedämpft von hinten.

Krampfhaft versuchte er, an nichts zu denken, nichts, bis auf die klare, kalte Stille des Waldes, die ein trügerisches »Niemand« in ihr Ohr hauchte.

Noch angestrengter sah Silvana in das Dickicht, direkt in seine immateriellen Pupillen.

Wie gelähmt sah er auf ihren schimmernden Körper. Noch näher durfte sie auf keinen Fall kommen. Er fühlte sich ohnmächtig, überwältigt, gleichzeitig unberechenbar. Herr seiner Sinne war er längst nicht mehr. Konnte er die Herrschaft über seinen Willen behaupten?

Ihre Beine setzten sich in Bewegung. Jedes Knistern, jedes Rascheln des vertrockneten Laubes unter ihren Fußsohlen elektrisierte ihn.

»Beo?«, rief sie in die Tiefe des Waldes.

Der Wind frischte auf, wehte noch stärker aus ihrer Richtung.

Er verfluchte ihn nicht, ließ sich in ihrem Geruch treiben. Mit den Sinnen verflog auch seine Widerstandskraft.

Als sie unter der Ulme stand, deren unzuverlässige Zweige ihn verraten hatten, ließ er sich lautlos auf den moosbedeckten Boden fallen.

»Beowulf, hab ich’s doch gewusst! Warum bist du noch hier? Wie lange …?«

Doch er verschloss ihren Mund mit seinen Lippen.

Sie murmelte etwas Unverständliches, dann versuchte sie, ihn von sich wegzudrücken, doch seine Präsenz umfing sie von allen Seiten. Es gab keine Richtung, in die sie fliehen, sich seinen Liebkosungen hätte entwinden können. Ein Teil von ihr, jener, der die eiserne Regel verdrängt hatte, wollte sich auch gar nicht entfernen, ihm entfremden, wollte mit ihm zu Boden gehen, im Sein des anderen versinken. Schlimmer noch, der existentielle Fluchtreflex schwand, je länger sie von ihm umschlungen wurde. Mit aller Mühe zwang sie sich, an den drohenden Untergang zu denken, während ihre Sinne auf Höhenflug schalteten.

Sein Atem klang wie frostiger, heiserer Wind aus den Wipfeln der Tannen, als er ihren Mund freigab.

»Beowulf, was tust du da? Lass mich los, verdammt! Bist du verrückt geworden?«, presste sie zwischen aufkeimender Lust und wachsender Todesangst hervor.

Doch er hörte sie gar nicht, war dem Diesseits entfernter denn je. Aus seiner Kehle drang ein wohliges Seufzen, erwartungsvoll, überglücklich und dennoch Unglück verheißend wie das entfernte Brummen einer Lawine.

Über Silvanas Nacken rannen heiße und kalte Schauer. Seine Lippen wanderten über ihren Hals, erkundeten fremdes Territorium.

»BEOWULF! HÖR AUF! DU WIRST UNS UMBRINGEN!«, schrie sie mit reißender Stimme, sodass die Tiere im Dickicht einen Moment aufhorchten, bevor sie weiter ihren eigenen Fährten folgten.

Er war nicht nur von Sinnen, sondern von jeder Vernunft abgefallen.

Ihre Sicht trübte sich. Bald sah sie die Geister der nahen Umgebung deutlicher. Sie waren an einer Hand abzuzählen, leuchteten jedoch wie ein Meer aus Glühwürmchen. Mit jeder Sekunde wurden die Umrisse der Unsichtbaren klarer. Silvana spürte einen seltsamen Sog, seltsam, aber stark zog er an jeder einzelnen Zelle, riss sie hinfort.

Beowulfs Aura dehnte sich aus, bildete ein eigenes Universum, wunderbar und todverheißend. Wenn sie ihn fortfahren ließ, würde er sie zwischen Hier und Dort ziehen, wo die Lebenden wie die Toten und die Toten wie die Lebenden wandelten, weder zum einen noch zum anderen gehörend.

Auch seine Gestalt trat langsam, aber deutlich aus der Unsichtbarkeit, war so schön und so gewaltig wie die eines jagenden Tigers. Eine schlummernde Wärme hatte sich entfacht, wo sonst stets die Kälte der Erde entströmt war.

Sie drehte sich, als er seinen Griff für den Hauch einer Sekunde lockerte, spie instinktiv und doch widerstrebend hervor, was ihr eine entfernte Erinnerung eingab: »Der Geist …, der die Grenze zu den Sterblichen missachtet …, wird im Reich der Unbestimmten wandeln. ABSISTE!«

Sie spürte die unmittelbare Schwächung seiner Aura, das Universum zog sich zusammen, implodierte.

Nun musste er sie loslassen, um nicht selbst zerrissen zu werden. Nun unterlag er einem unbezwingbaren Sog. Seine Augen waren glasig vor Schmerz, als er sich verzweifelt an die Wurzeln der Ulme klammerte. »Was geschieht mit mir?«, jaulte er auf. In seiner Stimme wohnte nicht mehr die Spannung der Lust, nur noch der Furcht und des Entsetzens. Sein von Panik entstelltes Antlitz brannte sich in ihr Gehirn, kurz bevor seine Gestalt verschwamm und mit ihr die Geister der Umgebung.

Er hingegen konnte sie jetzt in aller Deutlichkeit sehen.

»Warum hast du alles zerstört?«, flüsterte Silvana traurig.

Mit dem Heulen eines verletzten Wolfs löste sich seine Gestalt endgültig aus ihrer Realität, verlor sich irgendwo im Wurzelwerk, während seine Seele ins Zwischenreich floss, unfähig, zu den diesseitig Lebenden noch in die jenseitige Anderwelt vorzudringen.

Sie schlug sich die Hände vor das tränenüberströmte Gesicht und sank zu Boden. Dort verharrte sie kauernd.

Am nächsten Morgen

Irgendwann musste sie zur Seite gesunken und eingeschlafen sein. Vom Schrei der Lerche geweckt, blickte sie auf. Ihr wässriger Blick traf ein Paar violetter Augen, in denen Sorge, Mitgefühl und etliche Fragen schwammen.

Die Augen waren von hohen Wangenknochen, schwarzen Brauen und giftgrünen Haaren gerahmt, die in Stacheln vom Kopf abstanden.

»Holly«, brachte Silvana mühsam hervor. »Was … machst du hier?«

»Nachsehen, was mit dir los ist«, gab die helle Sopranstimme zurück. Zwei kräftige Hände, unter deren Haut die Adern hervortraten, griffen unter Silvanas Schultern und zogen sie hoch, sodass sie aufrecht saß. Vorsichtig wickelte Holly sie in eine buntgemusterte Decke und lehnte ihre erschöpfte Freundin gegen den borkigen Ulmenstamm.

»Danke«, flüsterte Silvana heiser, während sie die Decke enger um die nackten, zerkratzten Schultern zog und ihre Beine anwinkelte, um sie ebenfalls zu wärmen. Sie warf einen flüchtigen Blick auf ihre Unterarme und erschrak. Sie waren von Rissen, teilweise noch offenen Wunden übersät. Zweifelnd schaute sie Holly an, die ihre Gedanken auch ohne Worte verstand.

»Dein ganzer Körper ist zerkratzt, aber die Wunden sind nur oberflächlich. Mach dir darum keine Sorgen, das heilt in einer Woche. Nur was … wie konnte das überhaupt passieren?« Sie reichte der Verletzten einen Becher mit dampfender Brühe, einem Spezialgemisch aus Wurzelgemüse, Bärlauch und ausgekochten Rinderknochen.

Silvana nippte vorsichtig, ließ den würzigen Trank eine Weile abkühlen, nahm dann ein paar kräftige Schlucke. Langsam trat wieder ein wenig Farbe in ihr Gesicht.

»Magst du mir jetzt vielleicht erzählen, was passiert ist?«, fragte Holly sanft. Sie wartete, bis Silvana ihren leeren Blick wieder auf sie gerichtet hatte.

»Es … ist so furchtbar, Holly«, murmelte sie undeutlich. Sie schluckte, fuhr sich durch das zerzauste Haar, in dem Rindenstücke und Erdklumpen klebten. »Ich habe ihn verbannt, Holly. Für immer«, flüsterte sie starr. »Das … die Kratzer … das muss er gewesen sein. Ich habe noch versucht, ihn umzustimmen, mich ihm zu entwinden und …« Ihre Stimme erstickte an den Worten, die ihr nicht über die rissigen Lippen wollten. Selbst wenn sie sich aus seinen Armen hätte befreien können …, bei seiner Geschwindigkeit wäre jeder Fluchtversuch aussichtslos gewesen. Es hatte nie einen anderen Ausweg gegeben.

»Es tut mir leid, Silv. Ich hätte früher nach dir suchen sollen«, sprach Holly in beruhigendem Ton, während sie Silvana in die Arme schloss.

»Ich habe schon ihre Gestalten erkannt. Sie waren so … unfassbar schön, wie ein Schwarm Neonfische … oder Glühwürmchen und gleichzeitig klar wie ein Bergkristall«, beschrieb sie die Geister, die in der letzten Nacht durch den Wald gestreift waren.

»Oh, meine Liebe, bin ich froh, dass du noch da bist!« Jetzt schluchzte Holly beinahe, zog ein Taschentuch aus ihrer Jacke und putzte sich geräuschvoll die Nase.

»Er … ich habe ihn zu einem Schatten gemacht, Holly. Er wird es nicht aushalten können, abgeschnitten von den Lebenden wie den Toten. Er ist stark, aber nicht so stark«, versuchte Silvana, das Unbegreifliche zu umreißen.

»Silv, du hast getan, was du tun musstest. Er hätte euch … an einen anderen Ort gebracht. Du wärst nicht zurückgekehrt«, sagte Holly bestimmt.

»Jetzt kommt ER nicht mehr zurück. Nie mehr.« Silvanas Stimme mündete in herzzerreißendes Heulen.

»Er hat es nicht anders verdient«, erwiderte Holly. Ihr Tonfall wurde trockener. »Er wusste, dass er dir auf keinen Fall zu nahe kommen darf, und er hat deine, eure Zerstörung billigend in Kauf genommen.«

»Du … so war es nicht«, wollte Silvana protestieren, doch sie war zu schwach für weitere Einwände.

»Gib dir nicht die Schuld dafür, dass er sich nicht unter Kontrolle hatte. Er hätte sich von dir fernhalten müssen«, lautete Hollys nüchternes Urteil.

»Ich weiß, dass er mich geliebt hat. Er wollte mir nicht schaden …, er … war blind und taub vor Liebe.«

»Komm, wir gehen. Du musst den Dreck abwaschen, sonst entzünden sich die offenen Stellen.« Holly sprach wieder behutsam, drückte sanft gegen Silvanas Schulterblätter, sodass sie sich aufrichten konnte.

Sie war wackelig auf den Beinen, stolperte beinahe über einen Ausläufer des Wurzeltellers. Dankbar nahm sie Hollys Hand, bis sie auf das große Feld hinaustraten. Die Dunkelheit der dichten Kronen wich dem weichen Licht des Morgens. Azurblau mischte sich am Horizont mit Achatgrau und Apricot. Lachsfarbene Cirruswolken zogen sich lang über den Himmel, schienen unbeweglich zu verharren. Schwerer Nebel stieg aus dem Feld auf, brachte den Göttern der Luft den Geruch des Salbeis wie eine Opfergabe dar.

Silvana fand einen Moment des Friedens, bevor sie erneut von quälenden Sorgen ergriffen wurde. Sie wusste so gut wie jede andere Hexe, dass der Bannbefehl, das Absiste, unumkehrbar war. So deutlich, wie sie gestern die Erleichterung gespürt hatte, als die Schemen der Geister aus ihrem Blickfeld verschwanden, so unerbittlich rüttelte jetzt die Trauer an ihrer Seele, als säße er, Beowulf, dort irgendwo hinter einer Tür, erfolglose Tritte gegen das Holz austeilend.

Schweigend gingen die beiden Hexen nebeneinanderher, bis sie den letzten Anstieg überwunden hatten. Hinter dem weißen Nebel wurden die Umrisse eines alten Fachwerkhauses sichtbar, das für seine Lebensdauer von bald hundertsiebzig Jahren erstaunlich gut in Schuss war. Die mahagonifarbenen Balken waren erst vor Kurzem gestrichen worden und kontrastierten zusammen mit dem Schiefer den weißen Anstrich perfekt. Einige karminrote und waldmeistergrüne Verzierungen setzten frische Akzente und rundeten das bäuerlich-nostalgische Ambiente ab.

Silvana strebte gedankenverloren auf den Haupteingang zu, eine wuchtige Holztür mit zahlreichen hübschen Schnitzereien. Über der kleinen, siebenstufigen Treppe hing eine bunte Blumenampel, die Umbra in ihren Farben gestaltet hatte. Das intensive Blau der Kornblumen schmiegte sich an tiefvioletten Lavendel. Davor leuchteten Tagetes und Sonnenhut in feurigem Gelborange.

Holly hielt Silvana am Arm zurück, drückte dabei versehentlich auf einen der größeren Kratzer.

Silvana beschwerte sich, blieb jedoch widerwillig stehen.

»Willst du, dass Umbra dich so sieht?«, brachte Holly warnend vor. »Du weißt genau, dass sie deine Geschichte mit Beowulf noch nie gutgeheißen hat. Sie wird komplett überschnappen und dir auf der Stelle eine Gardinenpredigt halten.«

»Scheiße, du hast recht«, murmelte Silvana mit nervösem Blick. Ihre Glieder waren vor Müdigkeit taub, und ihre Augenlider hingen vor Trauer und Teilnahmslosigkeit herab.

»Ich bringe dich erst mal in mein Zimmer und hole dir ein paar Klamotten. Schließ ab und geh duschen, aber mach ein bisschen Musik an, damit sie es nicht hört«, riet ihre hilfsbereite Freundin.

Zum ersten Mal hatte Hollys Hang zu Extravaganz und Luxus einen praktischen Nutzen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, im Zuge der großen Renovierung ein eigenes Bad und obendrein einen begehbaren Kleiderschrank für sich einzurichten. Umbra und Silvana, beide weniger anspruchsvoll und allgemein bodenständiger, teilten sich seit jeher ein größeres Bad und sahen auch keinen Grund zu Veränderungen.

»Du stinkst regelrecht nach Salbei«, führte Holly ihre Bedenken aus, während sie im Flur des kleinen Seiteneingangs einen Räucherkegel mit Zitrusduft entzündete.

»Kann schon sein«, murmelte Silvana, während sie auf Zehenspitzen nach oben schlich. »Weißt du, wo sie ist?«, flüsterte sie tonlos.

»Als ich gegangen bin, war sie zumindest noch bei ihrer morgendlichen Meditation«, hauchte Holly, deren Stimme selbst im Flüsterton klangvoll war. »Warte, ich gehe vor und sondiere erst mal die Lage«, setzte sie nach und schob sich an der erschöpften und für jede Hilfe dankbaren Silvana vorbei.

Am Treppenabsatz hielt sie inne, blickte wie ein aufgeschrecktes Kaninchen mit der Frisur eines elektrisierten Papageis abwechselnd nach rechts und links. Dann schaute ihr herzförmiges Gesicht wieder in den dämmrigen Flur hinunter und nickte kurz zur Bestätigung.

Silvana folgte der kleinen, geduckten Person. Holly verstand es, aus jeder noch so tristen Situation etwas Aufregendes, ein kleines Abenteuer zu machen. Jetzt huschte sie wie in einem Action-Thriller mit Sonnenbrille und Lederjacke um die Ecken, schaute dabei jedoch so ulkig und verschroben wie Miss Marple, sodass Silvana trotz ihrer Abgeschlagenheit Mühe hatte, ein leises Kichern zu unterdrücken. Schwerfällig stolperte sie hinter ihr her.

In ihrem Zimmer angekommen, verschloss die kleine Action-Miss Marple sofort die Tür und stopfte sicherheitshalber noch einige Klamotten vor den breiten Spalt, damit sie sich wenigstens im Inneren nicht länger flüsternd verständigen mussten.

»Geschafft«, lachte Holly gedämpft und schenkte ihrer Freundin ein gewinnendes Lächeln. »Jetzt ruh dich erst mal aus.« Wieder verschwand sie in geduckter Position.

Silvana legte sich auf das schwarz-rot bezogene Bett und schloss die Augen. Sie war wieder im Wald. Die Oktobersonne schien ihr ins Gesicht, dann fiel sie in absolute Finsternis.

Am Morgen darauf

»Heee, aufwachen du Schlafmütze!«

Etwas rüttelte an Silvanas Schultern. Sie schlug ein Auge auf, schloss es sofort wieder, da die späte Sonne einen brennenden Strahl in Hollys Zimmer sandte, das mit West- und Nordblick ausgestattet war. Ruckartig fuhr sie hoch. »Wie spät ist es? Wie lange hab ich …?«

»Acht Stunden, du hast nicht viel verpasst«, flötete Holly. Ihre Freundin sah bereits erholter aus, jedoch noch nicht gesellschaftstauglich. »Ab unter die Dusche mit dir!« Holly schob sie sachte in Richtung Bad, das abgesehen von den weißen Fliesen, wie der Rest ihrer Einrichtung in verschiedenen Rottönen gehalten war.

Silvana schleppte sich schlaftrunken unter den riesigen Duschkopf. Aus dem Schlafzimmer ertönte prompt plätschernde Musik, ein Klangteppich aus Regen und Wind, auf dem sich verschiedene traditionelle Holztrommeln und ein Didgeridoo aufbauten. Mehr hätte sie im Augenblick auch nicht ertragen.

Das Wasser gluckerte durch die Leitung, verließ die Schwallbrause und landete noch etwas zu kalt auf ihrer Haut.

Sie zuckte zusammen. Wenigstens war sie jetzt wach.

Langsam erwärmte sich der Strahl, ihre Haut entspannte sich, einige Wunden gingen auf, sodass es wieder ein wenig brannte. So dumpf wie sie sich nach der gestrigen Nacht fühlte, spürte sie den leichten Schmerz, der sie von allen Seiten umfing, kaum.