Im dunklen Land der Träume - Marie Louise Fischer - E-Book

Im dunklen Land der Träume E-Book

Marie Louise Fischer

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Beschreibung

Saskia Bittner verordnet ihrem Leben eine radikale Veränderung: Sie verlässt ihren untreuen Freund, gibt ihren Beruf auf und zieht von Berlin nach München. Jetzt möchte sie durchstarten. Voller Hoffnungen für die Zukunft tritt Saskia ihre neue Stelle bei einer Münchner Werbeagentur an. Doch die Kollegen, die die bezaubernde Werbeassistentin anfangs mit ihrem Charme und Esprit für sich gewinnen kann, erweisen sich zunehmend als schwierig. Bernhard Schlüter, für Promotion zuständig, geht ihr aus dem Weg. Ihre Kollegin Ute wird immer eifersüchtiger auf Saskias erste Erfolge. Nachdem Saskia sich vorübergehend Medikamenten zugewandt hat, um über all das hinwegzukommen, wehrt sie sich und lässt nicht zu, dass man ihr Leben zerstören will.Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Im dunklen Land der Träume

SAGA Egmont

Im dunklen Land der Träume

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1988 by Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711718933

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Als sie die düstere Eisenbahnunterführung an der Rosenheimer Straße verließ, hatte die Sonne die tiefen Frühlingswolken am Münchener Himmel durchbrochen, und der flimmernde Glanz blendete Saskia für Sekunden. Unwillkürlich schloß sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war die Sonne nicht verschwunden, wie sie fast gefürchtet hatte, sondern ihr Schein war noch intensiver geworden.

Saskia freute sich. ›Der Beginn eines neuen Lebens!‹ schoß es ihr durch den Kopf.

Doch sogleich wies sie sich zurecht. Sie wollte nicht übertreiben, nicht einmal vor sich selber. Von einem neuen Leben konnte keine Rede sein. Sie war jetzt 24 Jahre alt und fühlte sich, auch wenn sie wieder bei ihrer Mutter lebte – nur vorübergehend, darin waren sie sich einig – als erfahrene Frau. Sie stand im Begriff, eine neue Stellung anzutreten, das war alles. Und es wäre falsch gewesen, sich zuviel davon zu versprechen. Auf große Hoffnungen folgten immer nur Enttäuschungen, zwangsläufig, wie sie wußte. Also hieß das Gebot der Stunde: sachlich, ruhig und nüchtern bleiben.

Aber das war leichter gedacht als getan. Sie konnte ihrem Herzen nicht verbieten, schneller zu schlagen.

Als sie in die Friedenstraße einbog, tauchte schon der Sitz der Firma vor ihr auf, ein großes graues Haus mit einer eleganten, von Bogenfenstern durchbrochenen Fassade. Moser Chips und Snacks verkündeten Riesenbuchstaben vom flachen Dach her. Ein Messingschild neben der Einfahrt wies sich bescheidener als Moser Compagnie aus. Saskia wußte, daß Moser führend in Deutschland war. Der Parkplatz vor dem Gebäude war noch nicht belegt. Saskia hatte an ihrem ersten Arbeitstag unbedingt pünktlich sein wollen, und das hatte sie geschafft. Daß sie zu früh gekommen war, machte ihr nichts aus. Immerhin war die schwere, polierte Tür, gegen die sie etwas zaghaft drückte, schon geöffnet. Sie brauchte nicht zu klingeln und stand gleich danach in der Eingangshalle. Der Raum war so hoch wie die dahinter liegende Fabrik, die unsichtbar blieb, wenn auch das Rattern der Maschinen zu hören und ein leichtes Beben fühlbar waren, das auf seltsame Weise erregend wirkte.

Aber die Halle war klein, geradezu eng. Die beiden Aufzüge lagen gegenüber der Tür, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Linker Hand standen ein Sofa, ein niedriger Tisch, mit Prospekten belegt, rechts ein Empfangspult, das noch nicht besetzt war. Bei Moser wurde nichts verschwendet, nicht einmal Raum.

Saskia überlegte, ob sie abwarten sollte. An der Wand zwischen den Aufzügen und dem Pult waren Messingtafeln angebracht, die die Tätigkeiten in den einzelnen Stockwerken auswiesen. Saskia versuchte, sich auf ihnen zurechtzufinden.

Plötzlich spürte sie, daß sie nicht mehr allein war, obwohl sie keine Schritte gehört hatte. Sie zuckte zusammen und drehte sich um. Ein junger Mann stand vor ihr. Sie sah in fröhliche braune Augen, entdeckte ungebärdiges dunkles Haar und einen dicken Schnauzbart über einer festen Unterlippe.

»Oh, hallo!« sagte er, deutlich überrascht, einer Unbekannten zu begegnen.

»Könnten Sie mir bitte sagen …«, begann sie zögernd.

»Wohin Sie wollen?« ergänzte der junge Mann scherzhaft.

Saskia strahlte. »Das weiß ich schon! Nur nicht, wo das ist!«

»Im zweiten Stock«, erklärte er prompt.

»Danke, vielen Dank! Nett von Ihnen.« Plötzlich stutzte sie. »Woher wissen Sie?«

Sein Lächeln verstärkte sich, kräftige Zähne wurden sichtbar. »Dank meiner Menschenkenntnis. Sie sind Fotomodell.«

»Nein! Bin ich nicht!« widersprach sie prompt.

Sein Lächeln erlosch. »Nein?« wiederholte er enttäuscht; er klang fast beleidigt.

Saskia wußte selber nicht, wie schön sie war. Sie haßte ihr helles, von Natur aus krauses Haar, das sie nur bändigen konnte, wenn sie es auf große Wickler drehte, fand ihren Mund zu breit, die Nase unbedeutend und hätte lieber blaue Augen gehabt als braune.

Unwillkürlich sah sie an sich herab, um zu entdecken, wodurch sie einen so falschen Eindruck erweckt hatte. Ihr sandfarbenes Kleid mit dazu passender Jacke in Leinenstruktur waren ganz unauffällig. Sie war jetzt froh, daß sie einen Büstenhalter trug, den sie ihrer Meinung nach nicht nötig hatte. Aber sie hatte dem Drängen der Mutter nachgegeben.

»Du hast freche Spitzen«, hatte Hertha Bittner gemahnt, »und die solltest du nicht sehen lassen, zumindest nicht bei der Arbeit.«

An den Füßen trug sie bequeme, schon ein wenig ausgelatschte Laufschuhe, und unter dem Arm eine lederne Reisetasche.

»Ach, wegen der großen Tasche!« rief sie erleichtert. »Sie denken, ich habe wer weiß was da drin. Aber es sind nur Schuhe zum Wechseln und ein paar Kleinigkeiten für das Büro. Ich bin nämlich neu hier.«

Der Mann mit dem Schnauzbart unterbrach sie schroff. »So genau«, sagte er, »wollte ich es eigentlich gar nicht wissen.«

Das war beleidigend, und sie mußte schlucken. Aber sie sagte sich schnell, daß er es nicht so gemeint haben konnte. Endlich entschlossen, drückte sie auf den Schalter des Aufzugs, vor dem sie standen, und die Türen schoben sich zur Seite. Sie trat in die Kabine, drehte sich um und verbarg ihre Verletztheit hinter einem freundlichen Lächeln.

»Sind Sie im Marketing-Bereich?« fragte er.

Sie nickte.

»Dann müssen Sie in den fünften Stock.«

Sie drückte auf den entsprechenden Knopf und erwartete, daß der junge Mann jetzt zu ihr einsteigen würde.

Aber er tat es nicht, sondern murmelte etwas wie: »Ich nehme lieber die Treppe.« Damit verschwand er aus ihrem Gesichtsfeld.

Die Türen begannen sich zuzuschieben.

»So warten Sie doch!« rief eine schrille weibliche Stimme.

Saskia drückte auf ›Stop‹.

Atemlos und erhitzt zwängte sich eine Frau in die Kabine, noch bevor sich die Türen wieder vollkommen geöffnet hatten. »So, jetzt können wir!« befahl sie dann.

Sie war blond wie Saskia, aber einen guten Kopf kleiner, so daß sie ihren breiten dunklen Scheitel sehen konnte. Ihre Formen waren hübsch und rund, wirkten aber, als wäre ihr Körper in einen zu engen Body gezwängt. Vielleicht entstand dieser Eindruck dadurch, daß sie ein weiches kleines Doppelkinn hatte.

Während sich der Lift in Bewegung setzte, musterte sie Saskia, die sich ihre Reisetasche zwischen die Füße gestellt hatte, aus blauen Augen abschätzend und mit unverhohlener Neugier. »Wer sind Sie denn?« fragte sie sehr direkt.

Saskia stellte sich vor.

»Ach, Sie sind also die Neue in der Werbung! Freut mich, Sie gleich kennenzulernen.« Sie streckte Saskia die Hand hin. »Ich bin Ute Frühauf, Produktmanagerin«, sagte die andere, »im Bereich Snacks.«

Saskia war beeindruckt. »Klingt toll!«

Frau Frühauf lächelte geschmeichelt. »Ist eine gewaltige Aufgabe. Da haben Sie ganz recht. Verlangt Verantwortungsgefühl und größte Selbständigkeit.«

»So was würde ich mir noch lange nicht zutrauen«, gestand Saskia.

»Brauchen Sie ja auch nicht, Kindchen!« meinte die Frühauf.

Die diminuierende Anrede paßte Saskia nicht, aber sie hütete sich, dagegen zu protestieren; sie ging davon aus, daß es freundlich gemeint war.

»Was haben Sie sich denn zum Ziel gesetzt?« wollte Frau Frühauf wissen.

»Oh, nichts Besonderes. Ich will meine Arbeit so gut wie möglich machen.«

»Sehr schön. Sie scheinen eine vernünftige Person zu sein. Mal jemand, der keine großen Flausen im Kopf hat.«

Der Aufzug hielt, sie waren im fünften Stock angekommen. Saskia hatte sich ihre schwere Tasche wieder unter den Arm geklemmt und ließ der anderen beim Aussteigen den Vortritt.

Sie standen in einem Vorraum mit einem Empfangspult, das aber unbesetzt war. Die Wände waren mit bunten Plakaten geschmückt, die die Produkte der Moser Compagnie anpriesen. Es gab einen niedrigen Tisch und drei Sessel. Ein Gang führte nach links, ein anderer nach rechts.

»Kennen Sie sich schon aus?« fragte Frau Frühauf.

»Leider nicht. Ich dachte, jemand würde …« Saskia warf einen Blick auf das verlassene Empfangspult und verstummte.

»Da ist nie jemand«, erklärte die Frühauf rasch, »wir haben beschlossen, daß wir hier niemanden brauchen. Besucher werden von der Halle aus gemeldet, das genügt.«

»Ja, natürlich.«

»Es ist unangenehm, eine Person hier sitzen zu haben, die hin und wieder mal den Hörer abnimmt, aber ansonsten damit beschäftigt ist, sich die Fingernägel zu polieren.«

Dazu hätte Saskia einiges zu sagen gewußt, sie schwieg jedoch, weil sie sich mit ihrer neuen Bekanntschaft nicht anlegen wollte. »Wo muß ich hin?« fragte sie statt dessen.

»Ich zeige es Ihnen!«

»Riesig nett! Aber wenn Sie mir nur erklären würden …«

Doch Frau Frühauf ließ es sich nicht nehmen, Saskia persönlich in ihr Büro zu führen. Es war das vorletzte Zimmer auf dem rechten Gang. Es war ein zweckmäßig, aber höchst einfach eingerichteter Raum mit einem rundbogigen Fenster und einer zweiten Tür, die offenstand und nach nebenan führte.

»Das also ist jetzt Ihr kleines Reich!« erklärte Frau Frühauf mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Ich hoffe, daß Sie sich hier wohl fühlen werden.«

Saskia wuchtete ihre Tasche auf den Schreibtisch. »Das Fenster ist hübsch«, bemerkte sie und spürte selber, daß das etwas kläglich klang.

»Nicht zufrieden?« hakte die Frühauf sofort ein.

»O doch! Natürlich. Ja!«

»Aber?«

»In meiner vorigen Stellung hatte ich einen Computer.«

Frau Frühauf wies auf die geöffnete Tür. »Sie können den von Mister Pee benutzen.«

»Mister Pee?« wiederholte Saskia und kam sich selber töricht vor.

Frau Frühauf lachte fröhlich. »Paul Potters, Chef der Werbeabteilung. Wir nennen ihn gern so. Ein kleiner Scherz, verstehen Sie. Und er nimmt das auch gar nicht übel. Ein sehr umgänglicher Mann, auch wenn er bei Satchi und Satchi gearbeitet hat, worauf er sich einiges zugute hält. Aber ansonsten – sehr sympathisch. Sie werden gut mit ihm zurechtkommen. Überhaupt – wir sind hier alle wie eine große Familie.«

Saskia zwang sich zu einem Lächeln. »Klingt gut.«

»Sie werden sich schon bei uns wohl fühlen, Kindchen.« Verschmitzt fügte die Frühauf hinzu: »Auch ohne Computer.«

»Ja, natürlich. Ist ja auch gar nicht so wichtig. Es fiel mir nur auf …« Saskia hatte das Gefühl, zuviel zu erklären – es gab ja keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen, daß ihr der Computer fehlte – und stockte, ohne den Satz zu beenden.

»Immerhin«, sagte die Frühauf mit einer Kopfbewegung zum Beistelltisch hin, »steht Ihnen ja ein Laptop zur Verfügung. Der sollte Ihnen fürs erste genügen.«

Saskia machte sich daran, ihre Reisetasche zu öffnen. »Ja. Stimmt«, sagte sie nachgiebig.

»So, jetzt lasse ich Sie aber mal allein«, erklärte Frau Frühauf.

Doch sie blieb stehen, bis Saskia den Inhalt ihrer Tasche ausgeräumt hatte: ihre Handtasche, ein Paar elegante Schuhe, einen Schal, eine Strickjacke, Unterhöschen und einen Duden.

»Zwischen zehn und elf gehen wir meist in die Lounge«, erzählte sie, »eine Tasse Kaffee trinken und eine Zigarette rauchen. Vielleicht kommen Sie dann auch.«

»Ja, gerne! Aber wo ist die Kantine?«

Die Frühauf überlegte kurz und sagte dann: »Wissen Sie was? Ich werde Sie einfach abholen.«

»Aber wenn ich dann keine Zeit haben sollte?«

»Dann sagen Sie es mir rund heraus! Nur keine Hemmungen. Die Arbeit geht in diesem Haus natürlich immer vor.«

Mit diesen Worten verließ sie Saskia, die sich auf den Stuhl hinter ihrem Schreibtisch sinken ließ. Es war ein körpergerechter, bequemer Stuhl, wie sie mit Erleichterung feststellte. Immerhin konnte sie also damit rechnen, daß sie von Rückenschmerzen verschont bleiben würde.

Jetzt sah sie sich noch einmal gründlich um, um das Zimmer innerlich in Besitz zu nehmen. »Ihr kleines Reich«, hatte die Frühauf es genannt, eine reichlich bombastische Bezeichnung für diesen bescheidenen Raum. Saskia hatte einen schmalen Wandschrank gefunden, in den sie ihre Sachen eingeräumt hatte. Die Handtasche hatte sie in einer Schreibtischschublade verstaut, den Duden neben den Laptop gelegt.

In den nächsten Tagen würde sie einen Blumentopf mitbringen und ihn auf das Fensterbrett stellen. Das würde ihrem Büro eine freundliche Note geben. Wasser konnte sie sich sicher aus der Toilette besorgen. Aber wo war die Toilette? Das hätte sie Frau Frühauf fragen sollen. Ach was, das würde sie früher oder später auch selber herausfinden.

In Berlin hatte sie ein Foto in einem breiten Silberrahmen auf ihrem Schreibtisch stehen gehabt. Ein Foto ihres Freundes. Den schönen Silberrahmen hatte sie immer noch. Aber mit Veit war es aus. Es gab niemanden, dessen Bild sie sonst hätte hineinstecken mögen, ohne sich lächerlich zu machen. Eins aus der Kindheit? Sie mit ihren Eltern? Mit ihrem Hund? Nein, lieber nicht. Wenn sie auch bedauerte, daß sie nichts Persönliches in ihrem Büro hatte.

Vielleicht war es aber auch besser so. Dieser Ute Frühauf war durchaus zuzutrauen, daß sie indiskrete Fragen stellen würde.

Aber durfte sie ihr einen Vorwurf daraus machen? Ohne es selber zu merken, schüttelte Saskia heftig den Kopf. Nein, die junge Managerin hatte jedes Recht, neugierig zu sein und so viel wie möglich über einen Menschen in Erfahrung bringen zu wollen, den man gerade erst kennengelernt hatte und mit dem man in Zukunft womöglich tagtäglich zu tun haben würde. Nein, sie durfte nicht schlecht von ihr denken, denn sie hatte ja allen Grund, ihr dankbar zu sein. Ute Frühauf hatte sich redlich bemüht, ihr den Anfang leichtzumachen, und es hatte zwischen ihnen ja auch wunderbar geklappt.

Dagegen hatte es mit dem Schnauzbärtigen beinahe einen regelrechten Zusammenstoß gegeben. Ein bißchen war das auch ihre eigene Schuld, das wußte sie. Sie hätte sich sofort und eindeutig vorstellen sollen. Eigentlich wurde das von einer Dame zwar nicht erwartet, aber in ihrem Fall hätte es jeden Irrtum von vornherein ausgeschlossen.

Ausgerechnet sie, Saskia, ein Fotomodell? Einfach lächerliche.

Aber so peinlich hätte ihm das auch nicht zu sein brauchen. Es war ja keine Beleidigung, sondern eher ein Kompliment gewesen. Doch hatte er sich offensichtlich so darüber geärgert, daß er die Fassung verloren hatte. Nicht einmal den Aufzug hatte er mit ihr zusammen benutzen wollen. Denn nur das konnte der Grund gewesen sein, daß er sich entschlossen hatte, die fünf Stockwerke hinaufzulaufen.

Andererseits wäre es ihr natürlich auch nicht angenehm gewesen, in der gleichen Kabine mit ihm eingesperrt zu sein. Was hätten sie sich noch sagen sollen? Oder hätten sie stumm aneinander vorbeigesehen, wie es so oft bei solchen Gelegenheiten geschah? Das wäre eher peinlich gewesen!

Allerdings wären sie auf der Fahrt nach oben kaum allein gewesen, da Ute Frühauf sich zu ihnen gesellt hätte, und der munteren jungen Frau wäre es wahrscheinlich sogar gelungen, die Fäden zu entwirren und die Situation zu entspannen.

Aber es war anders gelaufen, ausgesprochen dumm, und daran war nun nichts mehr zu ändern.

Saskia seufzte tief, streifte ihre Trotteurs ab, verstaute sie im Wandschrank und schlüpfte in die Pumps. Sie überlegte, ob sie auch die Jacken wechseln sollte, unterließ es dann aber doch. Es schien ihr richtiger, für die erste Begegnung mit Paul Potters sehr formell angezogen zu sein.

Er kam eine halbe Stunde später.

Sie hörte ihn nebenan rumoren, und sie erwartete, daß er im nächsten Moment bei ihr hereinschauen würde. Aber er tat es nicht.

Vielleicht war es besser so. Wenn er hereinkommen würde, konnte sie nicht gut aufspringen, denn das hätte womöglich zu beflissen oder gar lächerlich gewirkt. Sitzen zu bleiben hätte den Eindruck gemacht, daß sie sich als Dame aufspielen wollte. Nach diesen Überlegungen stand sie erst einmal auf.

Um sich mit etwas zu beschäftigen, trat sie vor ein Regal mit nach Inhalt und Jahreszahlen geordneten Disketten. Offensichtlich handelte es sich um Werbeunterlagen. Sie hätten ihr sicherlich geholfen, in die Materie einzudringen, wenn ihr ein Computer zur Verfügung gestanden hätte, um sie abzuspielen. So konnte sie nur die eine oder andere in die Hand nehmen und wieder zurückstellen. Immerhin boten sie vielleicht einen Anknüpfungspunkt, wenn Paul Potters dann doch erscheinen würde.

Aber er ließ sich nicht blicken.

Endlich entschloß sie sich, selber den Anfang zu machen. Sie klopfte vernehmlich gegen die halb geöffnete Tür, stieß sie dann vollends auf und trat ein.

Wie erwartet war der Raum des Werbechefs erheblich größer als ihrer; es war ein Eckzimmer, und es gab zwei Bogenfenster, durch die das helle Licht des Frühlingstages fiel.

Paul Potters saß an seinem Schreibtisch und arbeitete am Computer. Überrascht blickte er auf.

»Grüß Gott«, sagte sie nach bayrischer Art, »ich bin die neue Werbeassistentin.« Es sollte nur ja nicht wieder zu einem Mißverständnis kommen. »Mein Name ist Saskia Bittner.«

Er erhob sich langsam, fast widerwillig, ein großer schlanker Mann, ganz in Schwarz gekleidet, doch sehr elegant im Designerstil. Das volle schwarze Haar, nur an den Ecken zurückweichend, hatte er aus der Stirn gebürstet und, wie Saskia gleich vermutete, im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Saskia strahlte ihn an. »Sie sind Herr Paul Potters, nicht wahr?« sagte sie und reichte ihm die Hand.

Er nahm sie, sein Griff war fest, die Finger lang, trocken und kühl. »Sie müssen mich entschuldigen«, sagte er, »natürlich hätte ich Sie gleich willkommen geheißen, wenn ich gewußt hätte, daß Sie …« Er ließ den Satz unvollendet.

Saskia staunte. »Herr Potters, Sie haben gar nicht gewußt, daß ich heute bei Moser anfange?«

Er lächelte schief. »Sie haben recht. Eigentlich müßte ich es gewußt haben. Wahrscheinlich hat man es mir auch gesagt. Aber unverzeihlicherweise werde ich es wohl vergessen haben. Wie Sie sehen …«Er wies mit einer ausladenden Handbewegung auf die mit Ausdrucken und Prospekten voll gepackte Schreibtischplatte » … stecke ich tief in der Arbeit.«

»Vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

»Wollen wir’s hoffen«, sagte er, aber es klang nicht überzeugend, sondern eher skeptisch.

»Wenn Sie mir nur sagen würden, worum es geht«, erbot sie sich eifrig.

Wieder verzog er die schmalen Lippen zu einem schiefen Lächeln. »Um Chips und Snacks, um was denn sonst?« Jetzt schaltete er den Computer aus. »Aber setzen Sie sich erst mal hin und erzählen Sie mir etwas über sich selbst. Lebenslauf, Ausbildung, Interessen. Aber nur ganz kurz, wenn ich bitten darf. In großen Zügen sozusagen.«

»Ich weiß, Sie haben keine Zeit«, rutschte es Saskia heraus.

Seine Augen wurden schmal. »Wollen Sie sich über mich lustig machen?«

Sie erschrak. »Aber nein! Bestimmt nicht. Das würde mir doch im Traum nicht einfallen!«

»Das will ich für Sie hoffen.«

Er hatte hinter dem Schreibtisch Platz genommen, sie im Besuchersessel ihm gegenüber. Es gab zwar noch eine hübsche, moderne Sitzecke in seinem Büro, aber er betrachtete Saskia natürlich nicht als Besucherin, sondern als Mitarbeiterin, die sie ja auch war.

Jetzt achtete sie darauf, ihre langen Beine in den hochhackigen Schuhen hübsch aber züchtig hinzustellen, die Knie eng beieinanderzuhalten, und dann legte sie los, ohne auf eine weitere Ermunterung zu warten. »Ich habe hier in München Abitur gemacht, und zwar im Max-Josef-Stift, einem staatlichen Internat, in dem ich während der Woche untergebracht war. Meine Mutter war und ist berufstätig, so daß sie nicht viel Zeit hatte, sich um die Familie zu kümmern.«

»Weiter!« sagte er ungeduldig.

»Dann habe ich begonnen, Philologie zu studieren, weil Deutsch immer meine Stärke war, bin aber bald zur Kommunikationswissenschaft übergewechselt, weil ich denn doch nicht Lehrerin werden wollte. Nach dem fünften Semester ging ich nach Berlin, bekam dort in den Ferien einen Job in der Agentur Mercator. Mir gefiel es dort gut. Ich arbeitete mich rasch ein, und als man mir eine feste Stellung anbot, hängte ich mein Studium an den Nagel und schlug ein.«

»Und warum flogen Sie raus?«

Seine Direktheit schockierte sie. »Aber nein, nicht doch! Ich habe von mir aus gekündigt.«

»Ach ja?« fragte er skeptisch. »Eine gute Stellung gibt man meiner Erfahrung nach nicht so leichten Herzens auf. Jedenfalls nicht heutzutage.«

Sein Ton reizte sie. »Wie kommen Sie darauf, daß es leichten Herzens geschah? Das habe ich nicht behauptet.«

»Entschuldigen Sie, aber es hörte sich ganz so an.«

Sie sah keinen Grund, ihm auf die Nase zu binden, daß sie tatsächlich Knall auf Fall gegangen war, und behauptete: »In Wahrheit habe ich mir die Sache lange überlegt. Aber meiner Mutter ging es nicht sehr gut, und es zog mich nach Hause zurück.«

Er hob die rechte Hand vor seine Augen und betrachtete angelegentlich seine wohl manikürten Fingernägel. »Wahrscheinlich haben Sie sich dann schon von Berlin aus um eine Stellung hier im Raum bemüht«, bemerkte er beiläufig.

Sie wollte schon bejahen, denn diese Frage schien ihr ganz und gar unwichtig, witterte dann aber die Falle und gab zu: »Nein, habe ich nicht.«

»Ein bißchen leichtsinnig?« Jetzt musterte er die Fingernägel seiner anderen Hand.

»Nein, überhaupt nicht. Ich sah keine Schwierigkeit darin, eine neue Stellung zu finden.«

Jetzt ließ er die Hände sinken und schlug die Arme übereinander. »Und, wie man sieht, hat’s ja auch geklappt.«

»Natürlich bin ich froh, gerade hier bei der Moser Compagnie untergekommen zu sein.«

»Verstehen Sie denn etwas von diesem Geschäft?«

Sie strahlte ihn an. »Nicht so viel, wie ich möchte. Immerhin weiß ich, daß die Chips aus Kartoffeln hergestellt werden oder auch aus Früchten. Damit sie schmecken, müssen sie in reinem Erdnußfett frittiert werden.«

Sie holte Atem und sah ihn Anerkennung heischend an. Doch er äußerte sich nicht, hielt seinen Oberkörper nur weiter fest umklammert.

»Die Snacks dagegen«, fuhr sie fort, »sind sogenannte Extruder oder Pellet-Produkte. Sie werden aus einem Teig hergestellt, zum Beispiel auf Erdnußbasis oder aus Maismehl oder Weizenmehl. Geschmack kriegen sie durch künstliches Aroma. Sie können durch Düsen in bestimmte Formen gepreßt werden, Muscheln, Monde, Vierecke, oder man kann sie auch ausstanzen, und zwar in alle möglichen Formen, zum Beispiel Männchen, Bären oder Krokodile. Danach werden sie frittiert oder auch gebacken.«

Jetzt winkte er ab. »Danke, Frau Bittner, das reicht. Ich muß zugeben, Sie haben Ihre Hausaufgaben gut gemacht.« Er legte seine ausdrucksvollen Hände vor sich auf den Tisch.

»Das habe ich schon bei Mercator gelernt, das und noch mehr. Wir haben unter anderem auch Bahlsen betreut.«

»Sehr gut. Dann kann ich mir ja lange Erklärungen sparen, Frau Bittner. Sie können sofort mit der Arbeit beginnen.«

Saskia begriff, daß dies das Ende der Besprechung war, und stand auf. »Was soll ich tun?« fragte sie.

»Ich habe da eine sehr hübsche kleine Aufgabe für Sie. Die Firma plant im Sommer einen neuen Snack auf den Markt zu bringen. Und zwar was ziemlich Ausgefallenes: süß-sauer.«

»Den würde ich gern erstmal probieren!«

»Warten Sie.« Paul Potters bückte sich, zog die unterste Schublade seines Schreibtisches heraus und brachte eine metallfarbene Packung ohne Aufschrift zutage; sie war bis über die Hälfte geleert und oben sorgfältig und vielfach zugekniffen. »Da haben Sie!« Er reichte sie Saskia über den Tisch. »Nicht mehr ganz frisch, aber hoffentlich doch noch knusprig.«

»Danke, Herr Potters.« Auf unerklärliche Weise fühlte sich Saskia in ihre Kindheit versetzt und geriet fast in Versuchung, einen Knicks zu machen.

»Sie können jetzt gehen«, beschied er sie – völlig unnötigerweise, wie Saskia fand, denn es gab für sie ohnehin keinen Grund, länger zu bleiben.

Sie schlüpfte hinaus und ließ die Tür hinter sich halb geöffnet, wie sie sie vorgefunden hatte. Wenn es ihn störte, sollte er sie selber schließen. Noch im Stehen knibbelte sie die Packung auf und zog einen der Snacks heraus. Er war dünn und braun und sicher kreisrund gewesen, bevor ein Stück an der Seite herausgebrochen war. Sie führte ihn dicht an die Nase und schnüffelte. Er roch appetitlich, leicht säuerlich. Als sie ihn in den Mund steckte und auf die Zunge legte, stellte sie fest, daß er tatsächlich sehr deutlich süß-sauer schmeckte.

Trotz Mister Pees Ankündigung überraschte sie das ein wenig, aber angenehm. Es war leichter, ein prägnantes Produkt zu empfehlen als eines, das sich von den anderen marktgängigen im Grunde kaum unterschied.

Während sie ihre elegante Jacke auf den Bügel im Wandschrank hängte und statt dessen ihre leichte, bequeme Strickjacke überzog, zerkaute sie den zweiten Snack. Er war immer noch knusprig genug, obwohl er sicher schon ein paar Tage alt war.

›Moser ist eben Klasse!‹ dachte sie zufrieden. Dann setzte sie sich an ihren Laptop und machte sich an die Arbeit, die hauptsächlich aus Nachdenken bestand.

Kurz nach zehn Uhr hörte sie aus Mister Pees Zimmer eine fröhliche Frauenstimme: »Hi und Hallo! Nein, keine Sorge, ich will Sie nicht stören, Paul. Ich weiß doch, wie sensibel ihr Kreativen seid.«

Saskia horchte auf; es war die Stimme von Ute Frühauf.

»Sie haben es erkannt«, gab Paul Potters zurück – etwas mürrisch und ohne eine Miene zu verziehen, wie Saskia sich vorstellte.

»Ich möchte nur fragen«, fuhr die Frühauf einschmeichelnd fort, »ob es genehm ist, das Fräulein Bittner zu einer kleinen Pause zu entführen.«

»Wen?« fragte er schroff zurück.

Die Frühauf lachte perlend. »Aber ich bitte Sie, Paul! Ihre neue Assistentin! Die können Sie doch nicht vergessen haben! Oder haben Sie sie etwa noch gar nicht kennengelernt?«

»Sie entschuldigen schon, Ute. Aber ich habe andere Dinge im Kopf.«

»Aber ja doch! Wie könnte jemand das vergessen! Zumal Sie uns immer wieder darauf aufmerksam machen.«

»Dann halten Sie mich, bitte, auch nicht länger auf. Zischen Sie mit der Kleinen ab – da Sie ja offensichtlich Zeit für einen Tratsch erübrigen können.«

Ute Frühauf zeigte nicht die Spur von Gekränktheit. »Vielfach innigsten Dank, Onkel Brummbrumm!« rief sie vergnügt.

Saskia war inzwischen schon aufgestanden und hatte ihre Handtasche aus dem Schreibtisch geholt.

»Ein kleiner Rat zum Schluß«, säuselte die Frühauf, »ein Auslüften des Hirns dürfte auch Ihnen, großer Meister, von Zeit zu Zeit recht guttun.«

Dann kam sie in das Büro von Saskia getänzelt, die sich fragte, ob sie wohl immer in diesem Ton mit Paul Potters umging, oder ob sie sich vor ihr hatte produzieren wollen. Sie empfand diese Möglichkeit als schmeichelhaft.

»Ich bin bereit«, sagte sie fröhlich.

»Fein, Kindchen.«

Auf dem Gang wollte Saskia nach links zum Aufzug hin.

Ute Frühauf zupfte sie am Jackenärmel. »Andere Richtung. Wir nehmen die Treppe. Das ist näher.«

Tatsächlich lag das Treppenhaus gleich hinter dem Zimmer von Paul Potters. Die Stufen führten entlang einer Wand aus Glasscheiben, die mit dunklem Metall gefaßt waren. Während sie hinunterstiegen, wurde Saskia an den Schnauzbärtigen erinnert, der, wohl auch um ihr auszuweichen, in der Frühe diesen Weg nach oben genommen hatte. Sie beschloß, sich nach ihm zu erkundigen. Aber im Augenblick schien ihr nicht die richtige Gelegenheit dazu.

»Wieso standen oben so viele Türen offen?« fragte sie statt dessen.

»Das ist bei uns so Usus. Stärkt den Teamgeist, wenn jeder bei jedem ein und aus gehen kann.«

»Aha«, sagte Saskia und spürte selber, daß das nicht gerade überzeugt klang; das würde für sie bedeuten, zwei Türen offenzuhalten, die zu Mister Pees Zimmer und die zum Flur. Das stellte sie sich alles andere als gemütlich vor.

Die Frühauf schien ihre Bedenken zu ahnen. »Wenn man sich ganz stark konzentrieren muß, macht man natürlich zu. Auch wenn man in einer wichtigen Besprechung steckt. Geschlossene Tür bedeutet, daß man nicht gestört werden will. Das wird dann auch respektiert. Es sollte natürlich nicht zu oft geschehen. Sonst kann man leicht in den Ruf geraten, ein Eigenbrödler zu sein.«

»Ich muß mich eigentlich immer furchtbar konzentrieren, wenn mir was einfallen soll!«

»Versuchen Sie es bei offener Tür. Reine Gewohnheitssache, glauben Sie mir. Es ist ja nicht so, daß dann jeden Augenblick jemand zu Ihnen hereingestürzt käme.«

»Im Moment«, erklärte Saskia aufrichtig, »wäre mir noch jede Unterbrechung recht.«

Sie waren im vierten Stock angekommen, und Frau Frühauf blieb stehen und sah Saskia an. »Was für eine Arbeit hat Mister Pee Ihnen denn aufgehalst?«

Saskia verzog das Gesicht zu einer komischen kleinen Grimasse. »Süß-saure Snacks.«

Die Frühauf lachte. »Ach die! Mit denen plage ich mich schon seit Wochen herum.«

»Dann ist Ihnen doch sicher schon was eingefallen.«

Schalkhaft legte die Frühauf den Zeigefinger auf die Lippen. »Streng geheim.« Sie stieß die breite Schwingtür auf, vor der sie standen, und hielt sie offen, damit Saskia hinter ihr eintreten konnte. »So, da wären wir.«

Ein heller, freundlicher Raum tat sich vor ihr auf, so groß, daß er sich wohl unter fünf Büros erstreckte. Im Vordergrund, auf dickem grauen Teppichboden, standen mehrere bequeme Sitzgruppen. Linker Hand gab es eine Theke mit einem Ständer, gefüllt mit bunt verpackten Moserprodukten. Hinten, auf glänzendem Parkett, entdeckte Saskia drei kleine, weiß gedeckte Tische.

»Hübsch!« rief sie beeindruckt.

»Ja, nicht wahr? Eine wahre Zuflucht im öden Alltag.«

Ute Frühauf schritt, gefolgt von Saskia, auf die Theke zu. »Wie immer, Frau Bohlen, einen Kaffee. Schwarz, bitte.«

Die Kaffeemaschine war schon eingeschaltet. Frau Bohlen, eine rundliche Frau mit braunen Kulleraugen, brauchte nur einen kleinen Hebel zu bedienen, und schon schoß der Kaffee in die bereitgestellte Tasse.

»Für mich bitte auch!« bat Saskia. »Aber, bitte, mit Sahne und Zucker.«

»Sie Glückliche«, sagte Ute Frühauf, ohne Saskia anzusehen, »können sich das erlauben.«

Saskia zuckte die Achseln. »Aber Sie doch auch! Die paar Kalorien …«

» … hätten bei mir eine verheerende Wirkung«, ergänzte die Frühauf. »Das ist übrigens Frau Bohlen, unser guter Geist, wie Sie sicher schon bemerkt haben, Kindchen – und das ist Frau Bittner, arbeitet seit heute im Haus.«

»In der Werbeabteilung«, fügte Saskia hinzu.

»Ich hoffe, Sie werden sich wohl bei uns fühlen«, sagte Frau Bohlen freundlich.

»Doch, das werd’ ich. Ganz sicher.«

»Vielleicht noch ein Gläschen Saft«, bot Frau Bohlen an, »Orange? Schwarze Johannisbeere?«

»Klingt verlockend. Aber – nein, danke.«

Ihre Tabletts in den Händen, wandten sie sich um, und Ute Frühauf steuerte zielbewußt auf eine Gruppe mit besonders tiefen und bequemen Sesseln zu. Sie ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung nieder, und Saskia dachte, daß sie hier wohl ihren Stammplatz hatte. Sie trug einen weiten zwar spießigen, aber bequemen Faltenrock und rutschte tief in den Sitz hinein, bis ganz zurück zur Lehne. Saskia tat sich da schwerer. Sie ärgerte sich, daß sie nicht auf ihre Mutter gehört hatte. Der enge und sehr kurze Rock ihres Kleides, in dem sie sich oben im Büro noch sehr wohl gefühlt hatte, zeigte jetzt die Tendenz, sich bis zu den Oberschenkeln hochzuschieben. Vergeblich zupfte sie daran.

Die Frühauf nahm einen Schluck Kaffee, holte eine Zigarettenschachtel und ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche, zündete sich einen Glimmstengel an und tat einen tiefen, gierigen Zug. »Sie rauchen nicht?« fragte sie Saskia, die noch damit beschäftigt war, die Zuckerstückchen auszupacken und Sahne in ihre Tasse zu tun.

»Nur hin und wieder.«

Die Frühauf schob ihr die Zigarettenschachtel zu. »Bedienen Sie sich.«

»Danke. Gern.« Saskia paffte, ohne den Rauch zu inhalieren, in der typisch oberflächlichen Art einer Nichtraucherin.

Ute Frühauf beobachtete sie lächelnd. »Beneidenswert.«

Saskia verstand, was sie damit sagen wollte. »Darf in den Büros nicht geraucht werden?«

»Natürlich. Doch. Es ist nicht gerade verboten. Aber es wird nicht gern gesehen. Deshalb verkneif’ ich es mir, so gut es geht.«

»Toll, daß Sie das können«, sagte Saskia, die genug Erfahrung mit Rauchern gemacht hatte, um zu wissen, wie schwer ihnen Abstinenz im allgemeinen fiel.

»Man kann, was man will!« behauptete die Frühauf, fügte dann aber ehrlich hinzu: »Immer klappt’s ja nicht. Manchmal, in der Hitze des Gefechts …« Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen und erklärte statt dessen: »Hauptsache, man macht es sich nicht zur Gewohnheit.«

Eine junge Frau kam herein, grüßte im Vorübergehen und ging zur Theke. Sie wirkte schlank und elegant in einem gut sitzenden, streng geschnittenen Schneiderkostüm. Ihr braunes Haar war glatt und halblang, und auf der Nase, trug sie eine eckige, ziemlich extravagante Brille.

»Das ist Katharina Baumann«, teilte die Frühauf Saskia halblaut mit. »Produktmanagerin im Bereich Chips.«

»Interessanter Typ«, meinte Saskia.

»Kann man wohl sagen«, stimmte die Frühauf ihr zu.

Als Katharina Baumann zu ihnen an den Tisch kam, stellte sie die beiden Frauen einander vor. Saskia war nach kurzem Zögern aufgestanden. Katharina Baumann, gewiß zehn Jahre älter als sie selber, schien ihr so überlegen, daß sie es nicht für angebracht hielt, sie im Sitzen zu begrüßen. Bevor sie sich wieder niederließ, strich sie sich den Rock herunter und nahm auf der äußersten Kante des Sessels Platz. Ihre Beine waren schön genug, um sie zur Schau zu stellen. Dennoch fühlte sie, daß es in Gegenwart der damenhaften Katharina Baumann nicht angebracht war. Es war unnatürlich, wie ein Vogel auf der Stange zu hocken, aber sich bequem zurücksinken zu lassen, wagte sie auch nicht aus Angst, provozierend zu wirken. Sie beschloß, sich ab morgen anders zu kleiden oder einen anderen Sessel zu nehmen; am besten beides.

Es war ihr klar, daß sie einen komischen Eindruck machen mußte. Aber die andere ließ es sich nicht anmerken. Es wäre Saskia lieber gewesen, sie hätte es getan, denn dann hätte sie sich verteidigen können.

Doch Katharina Baumann, die Tee mit Zitrone trank und gar nicht rauchte, plauderte freundlich und gelassen und ohne jeden Hintersinn.

Saskia erfuhr, daß man in diesem Aufenthaltsraum, den Ute Frühauf als Lounge bezeichnete, Katharina Baumann als Kasino, auch zur Mittagszeit keine Mahlzeit erwarten durfte. Es standen nur diverse Salate zur Auswahl, überbackene Toasts, Cremes und Desserts.

»Aber davon kann man doch nicht satt werden«, äußerte Saskia impulsiv.

»Soll man ja auch nicht«, erklärte Katharina Baumann mit einem kleinen amüsierten Lächeln. »Ein voller Bauch macht erfahrungsgemäß träge, und von uns allen, die wir für die Moser Compagnie arbeiten, wird erwartet, daß wir stets hellwach sind. Das ist die Mindestanforderung, die an uns gestellt wird, selbst wenn es mit der Kreativität hapert.«

»Machen Sie nicht so ein erschrockenes Gesicht, Kindchen!« mahnte die Frühauf.

»Tu’ ich das denn? Wirklich? Das ist mir gar nicht bewußt.«

»Wenn Sie unbedingt eine richtige Mahlzeit brauchen, können Sie natürlich in die Kantine hinunter fahren. Dort gibt es reichlich zu essen.

»Nein, ich glaube, das werde ich lieber doch nicht. So wichtig ist mir essen gar nicht.«

»Um so besser. Machen Sie es wie wir anderen: Wenn uns der Magen knurrt, halten wir uns an Chips und Snacks.«

Zwei Herren schlenderten herein, Paul Potters und Markus Mettler. Sie machten ungefähr im gleichen Alter sein, aber ein größerer Unterschied zwischen zwei Menschen, zumindest äußerlich gesehen, war kaum denkbar. Mettler trug einen hellen grauen Maßanzug, ein pastellfarbenes Hemd und eine Seidenkrawatte. Seinem federnden Gang war anzumerken, daß er sich fit hielt, während der von Paul Potters eher träge und schleppend wirkte. Beide waren in ein intensives Gespräch verwickelt, das ihnen kaum Zeit ließ, den Frauen flüchtig zuzunicken.

»Der andere ist Markus Mettler, unser Marketingleiter«, erklärte Ute Frühauf, als sie vorüber waren, »ich könnte Sie natürlich mit ihm bekannt machen.«

Saskia wehrte ab. »Danke. Nicht nötig. Den kenne ich schon.«

»Ach, ja?« fragte die Frühauf, leicht irritiert.

Katharina Baumann schwieg, aber auch ihre Miene drückte Verwunderung aus.

»Sollte ich nicht?« fragte Saskia. »Er war bei meinem Einstellungsgespräch dabei.«

»War das nicht Sache des Personalbüros?« fragte die Baumann.

»Ja, natürlich. Es war Herr Beierlein, der mich eingestellt hat. Aber er hat Herrn Mettler zugezogen.« Saskia war verunsichert, und sie konnte es nicht verbergen.

»Warum Mettler?« fragte die Baumann. »Mit dem werden Sie doch kaum etwas zu tun haben. Wenn schon, dann wäre doch wohl Paul Potters der richtige Mann gewesen, um Sie zu begutachten.«

»Ich weiß es nicht. Warum fragen Sie mich das? Ich versuche mir doch gerade erst ein Bild zu machen, wie es in der Firma zugeht. Ich habe ja keine Ahnung.«

»Natürlich nicht«, sagte die Baumann begütigend, »niemand macht Ihnen einen Vorwurf. Regen Sie sich nicht auf!«

Ute Frühauf zündete sich eine zweite Zigarette an, genoß sie jedoch nicht so gierig wie die erste. »Vielleicht haben Sie selbst darum gebeten, daß Mettler zugezogen wird«, sagte sie und sah Saskia aus ihren wasserblauen Augen durchdringend an.

Saskia hielt ihrem Blick stand. »Warum sollte ich?«

»Weil Sie auf seine Fürsprache hofften.«

»Nein, nein! Ganz bestimmt nicht!«

»Aber Sie kennen ihn doch schon seit langem.«

Das war ein Schuß ins Blaue hinein. Aber er traf.

Saskia rutschte unruhig auf der Sesselkante hin und her. »Was heißt hier kennen! Früher mal war ich im gleichen Tennisclub. Aber wir haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt. Uns trennen doch Welten. Allein der Altersunterschied …« Sie wußte nicht weiter.

» … wird sich so etwa auf zwanzig Jahre belaufen. Gerade genug, um ein Mädchen für einen Mann interessant zu machen.«

»Sie spinnen ja!« protestierte Saskia und merkte erst nachträglich, daß sie sich im Ton vergriffen hatte. »Oh, verzeihen Sie mir, Frau Frühauf. Das hätte ich natürlich nicht sagen dürfen! Aber es ist einfach so, daß Sie sich da eine Geschichte zusammenreimen, die weder Hand noch Fuß hat.«

»Er ist inzwischen verheiratet«, sagte die Baumann, den Blick in ihre Teetasse gerichtet, als wollte sie einem Orakel auf den Grund kommen.

»Ich wußte nicht einmal, daß er früher Single war.«

»Er hat sich für eine sehr liebe Kollegin von uns entschieden«, fügte die Baumann hinzu, immer noch das Innere ihrer Tasse betrachtend.

»Dann kann ich nur hoffen, daß sie glücklich werden!« rief Saskia, aber es klang nicht wie ein Segenswunsch, sondern wie eine Herausforderung.

»Ich nehme an, sie werden sich nach Kräften darum bemühen. Inzwischen haben sie jedenfalls einen kleinen Sohn«, erzählte die Frühauf.

›Was geht mich das an?‹ hätte Saskia am liebsten gerufen, statt dessen räusperte sie sich und sagte: »Gratulation.«

Ein junger Mann betrat die Lounge. Er war schlank und zierlich wie eine Figur aus einer Puppenstube, mit schwarzen Locken, schwarzen Kulleraugen und olivfarbenem Teint. Dazu war er hypermodern und fast exzentrisch gekleidet, mit wundervoll verwaschenen Jeans, einem offenem Hemd über der Hose und einer großflächig bunt bestickten Weste.

Unwillkürlich strahlte Saskia ihn an, denn sie hoffte, er würde sich zu ihnen setzen und allein durch sein Erscheinen dem Gespräch eine andere Wendung geben.

An ihrem Tisch angekommen, verhielt er tatsächlich den Schritt und rief: »Hallo, die Damen! Wie geht’s? Wie steht’s?«

Aber niemand antwortete ihm oder forderte ihn auf, Platz zu nehmen, und so ging er weiter zur Theke und nahm von Frau Bohlen einen Saft entgegen. Es war deutlich, daß er Anschluß suchte, aber zu den ranghöheren Herren wagte er sich auch nicht zu gesellen. Mit gespielter Nonchalance nahm er dann allein Platz und zog ein in rotes Leder gebundenes Notizbuch aus der Gesäßtasche, in das er eifrig zu kritzeln begann.

»Wer ist denn das?« wollte Saskia wissen.

»Roberto Demiro, unser Junior-Produktmanager. Er kümmert sich um die Funnies«, erklärte Katharina Baumann.

»Den brauchen wir Ihnen nicht vorzustellen«, fügte die Frühauf hinzu, »das tut der selber. Ich wette, es wird gar nicht lange dauern.«

Sie standen auf. Saskia griff nach ihrem Tablett und wollte es zur Theke zurückbringen.

»Lassen Sie das! Das ist nicht nötig«, sagte Katharina Baumann.

»Es wird nachher abgeräumt«, fügte Ute Frühauf hinzu, »die Bohlen hat eh wenig genug zu tun.«

Die drei Damen nahmen ihre Handtaschen und verließen die Lounge.

Markus Mettler schlug die Beine übereinander und zog sich, ohne es zu merken, die Hosenfalten zurecht, eine Bewegung, die ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. »Was ich Sie noch fragen wollte, Paul – wie sind Sie mit der Neuen zufrieden?«

»Es ist zu früh, um das zu beurteilen«, gab Paul Potters mit einem leichten Stirnrunzeln zurück.

»Aber sie gefällt Ihnen doch wenigstens?«

»In welcher Hinsicht?«

Mettler lachte. »Also, Paul, wirklich! Ich bitte Sie! Stellen Sie sich nicht dumm!«

»Sie ist eine ausnehmend schöne Person.«

»Na also«, sagte Mettler selbstzufrieden.

»Aber was nutzt mir das?«

»Ein netter Anblick macht zumindest gute Laune.«

»Mir nicht. Im Gegenteil«, behauptete Potters.

»Das müßten Sie mir schon näher erklären.«

»Wenn Lilly dahinterkommt, ist der Teufel los. Sie wird mir unterstellen, daß ich sie mir ausgesucht habe. Daß ich in sie verknallt bin. Daß ich es mit ihr treibe.«

Mettlers blaue Augen wurden groß. »Und davor fürchten Sie sich?« fragte er verwundert und belustigt zugleich. »Aber das sind doch alles ganz haltlose Beschuldigungen, die sich leicht entkräften lassen. Rufen Sie mich zum Zeugen.«

»Nutzt nichts«, entgegnete Potters düster, »Lilly wird uns unterstellen, wir steckten unter einer Decke.«

Mettler lachte. »Ach was! Ich werde schon mit ihr fertig.«

»Werden Sie nicht, Markus. Wenn sie ihren Koller kriegt, ist sie keinem vernünftigen Argument mehr zugänglich.«

»Sie sollten heiraten, Paul!«

»Lilly? Das raten Sie mir doch nicht im Ernst.«

»Wenn sie sich Ihrer Gefühle sicher sein könnte …«

»Kann sie das etwa nicht? Wir sind seit mehr als drei Jahren zusammen, und ich habe sie nie betrogen – nicht einmal mehr einen Blick für eine andere gehabt.«

»Was ihr fehlt, ist wahrscheinlich nur der berühmte Ring am Finger.«

»Nein, Markus, das sehen Sie falsch.«

»Daniela war früher auch manchmal eifersüchtig …«

Potters ließ ihn nicht ausreden. »Sie vergleichen ein Lamm mit einer Löwin!« fuhr er ihm ins Wort.

»Wenn Sie meine Frau mit einem Lamm vergleichen, ist das nicht eben schmeichelhaft.«