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Wieder etwas ganz anderes von Friedrich Gerstäcker: Ein Kriminalroman. Der Schauplatz wurde durch die Forschung mit der Stadt Braunschweig identifiziert. Das Besondere ist aber auch, dass es hier einen Ermittler gibt, der nicht zur Polizei gehört. Friedrich Gerstäcker hat als einer der ersten deutschen Autoren die Figur des Notar Püsters zum Detektiv gemacht und führt uns mit seinem Kriminalroman nicht nur einen spannenden Fall vor Augen, sondern bietet zugleich ein interessantes Bild der damaligen Zeit. Lesenswert!
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Seitenzahl: 945
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Gesammelte Schriften
Friedrich Gerstäcker
Im Eckfenster
Der Krimi vom Hagenmarkt zu Braunschweig
Volks- und Familien-Ausgabe
2. Serie Band Siebzehn
der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig
Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Thomas Ostwald. 6 Vollbilder von Ant. C. Baworowski aus der Ausgabe des Verlages C. Grumbach, Leipzig.
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar
Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17
38108 Braunschweig
Alle Rechte vorbehalten. © 2005 / 2020
itten in Rhodenburg, einer ziemlich großen deutschen Provinzialstadt, dem alten, jetzt nur noch selten benutzten Schlosse gegenüber, wohnte in einem nicht sehr ausgedehnten, aber dafür höchst elegant eingerichteten Gebäude Freiherr von Solberg, aus einer alten, sehr reichen Familie und durch sein bedeutendes Vermögen auch vollständig unabhängig von der Welt gestellt. Da der Mensch
aber nur in Ausnahmefällen selber weiß, wann es ihm wohl ist, und außerdem auch noch eine Beschäftigung verlangt, so suchte von Solberg bald nach seiner Verheiratung den Hofdienst und bekleidete jetzt die Stellung eines Kammerherrn, ohne jedoch verpflichtet zu sein, dem Hofe überallhin zu folgen.
Nur im Spätsommer jedes Jahres zog auch der Hof, oft nur der Fürst allein, auf kurze Zeit nach Rhodenburg, und zwar auf ein benachbartes Jagdschloss, und hielt dort einen kleinen Hofstaat. Dann allerdings lagen dem Kammerherrn von Solberg die üblichen Funktionen ob, die oft seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Freiherr von Solberg nannte sich, aber mit Stolz, einen ‚fürstlichen Diener‘, war jedoch in der Zeit nicht einmal sein eigener Herrn, viel weniger ein Freiherr.
Gegenwärtig hielt der Fürst aber seinen Hofstaat in der Residenz – es war Frühjahr in Deutschland, und zwar ein so prachtvolles Aprilwetter, dass es den Sommer schon um diese frühe Jahreszeit hereinzauberte. Die glänzenden, klebrigen Knospenkolben der Kastanien brachen auf, die Vögel zwitscherten in allen Zweigen, und die Sonne sandte ihre Strahlen so warm auf die Erde nieder, dass sie den Schnee selbst aus den höheren Gebirgen aufsog und in Sturzbächen hinab ins Tal sandte.
In dem Frühstückszimmer des Solbergschen Hauses war die Familie heute Morgen versammelt – der Kammerherr, die gnädige Frau und ihre Tochter Franziska, ein liebes, lebensfrisches junges Mädchen von etwa achtzehn Jahren – und das kleine, freundliche, mit jedem Luxus ausgestattete Gemach sah dabei überaus wohnlich und behaglich aus. Die Fenster standen geöffnet und ließen die Morgensonne voll herein, der große Blumentisch war bedeckt von prachtvollen Blüten und breiten, saftigen Blättern, und das silberne Kaffeegeschirr blitzte und funkelte in den lichten Strahlen – aber an den Insassen dieser reichen Heimat schien das alles machtlos abzugleiten. Die sonst so stolze und gefeierte Dame hatte den Kopf in die linke, feine, mit kostbaren Ringen bedeckte Hand gelehnt und sah still und trüb vor sich nieder; in Franziskas Augen glänzten ein paar große Tränen, und selbst der im Ganzen etwas steife und förmliche Kammerherr schien von irgendeinem Schmerz gedrückt und schaute, während er nur langsam dann und wann an seiner Tasse nippte, still und sinnend vor sich nieder.
Wieder und wieder aber flog ein Blick der Frau zu einem mit einem frischen Kranz umschlungenen Bilde hinüber, das über dem Sofa hing und einen jungen Mann, eigentlich noch einen Knaben, zeigte, der, in einer kurzen Jacke, mit offenem Hemdkragen und keckem, gutmütigen Ausdruck in den jugendlichen Zügen, den linken Arm auf ein neben ihm stehendes kleines schottisches Pony gestützt, einen großen Neufundländer an der Seite, stand, als ob er nur eben noch auf etwas warte und dann fröhlich in das freie Land hinaustraben wolle.
„Zehn Jahre“, sagte endlich mit leiser, schmerzgedrückter Stimme die Mutter, „zehn lange, endlose Jahre sind es heute, Rudolf, dass unser Hans uns verließ, an seinem Geburtstag gerade. Heute würde er dreißig Jahre alt, wenn er noch lebte“, setzte sie leise und kaum hörbar hinzu, und auch quollen jetzt ein paar große, heiße Tränen an den Wangen nieder.
„Aber warum soll er nicht mehr leben, Mutter!“ sagte die Tochter leise und musste sich Mühe geben, die Eltern nicht merken zu lassen, wie wenig Hoffnung dafür sie selber hatte. „Es sind so viele Menschen weit in die Welt hinausgezogen und gesund und kräftig wieder zu den Ihren zurückgekehrt, und wo sich einer durchschlägt, da darfst du’s dem Hans gewiss auch zutrauen.“
„Und glaubst du den“, rief die Mutter besorgt aus, „er hätte, wenn er wirklich noch unter den Lebenden weilte, nicht ein einziges Mal an mich, an den Vater geschrieben? Und wovon sollte er gelebt haben? Das wenige Geld, das er mitgenommen, langte ja nicht einmal auf Monate, viel weniger denn auf die langen Jahre aus! Nein, nein, mein Kind ist tot, tot verscharrt an irgendeinem fremden, unbekannten Platz, mir sagt es das Mutterherz, meine Augen werden sein liebes Antlitz nie, nie wieder im Leben sehen.“
Franziska seufzte schwer auf, sie konnte nichts darauf erwidern, so gern sie die Mutter auch getröstet hätte, und der Kammerherr stand auf. Er schämte sich, seine eigene Bewegung zu zeigen, und ging mit langen, raschen Schritten im Zimmer auf und ab.
Die Mutter weinte still vor sich hin, aber sie konnte das nicht heimlich und allein tragen, was ihr jetzt in lang zurückgehaltenem Schmerz die Brust erfüllte.
„Wie still und öde das jetzt hier im Hause ist!“ sagte sie nach einer kurzen Pause. „Weißt du noch, Rudolf, wenn Hans morgens vor uns aufgestanden war und ungeduldig auf das Frühstück wartete, wie er dann da drinnen an das Instrument ging und mit aller Gewalt, um uns herbeizurufen, den Hochzeitsmarsch aus dem Sommernachtstraum spielte? Ich kann den Marsch seit der Zeit nie mehr hören, ohne dass es mir einen förmlichen Stich durchs Herz gibt.“
Franziska rollten ein paar große Tränen an den Wangen nieder und sie wandte sich halb von der Mutter ab, damit diese sich nicht noch mehr aufregen sollte. Aber plötzlich zuckte sie empor und fühlte zugleich, wie die Mutter fast krampfhaft ihren Arm ergriff und festhielt. Auch der Vater blieb mitten in der Stube erschrocken stehen und horchte nach dem Nebenzimmer hinüber, aus dem jetzt kräftig gegriffene Akkorde herübertönten, die aber auch schon in demselben Moment eine bestimmte Form annahmen.
„Heiliger Gott“, rief die Mutter und richtete sich, ohne aber den Arm der Tochter loszulassen, halb von ihrem Stuhl empor. „Was ist das? Ist das nicht ...“
Sie hatte in der Tat Ursache, erstaunt zu sein, denn wer konnte jetzt da drüben überhaupt spielen? Die Gesellschafterin Franziskas lag seit acht Tagen krank in ihrem Zimmere, und die Töne – es war der nämliche Marsch, von dem die Mutter eben gesprochen und den sie nie wieder seit der langen Zeit in dem Hause gehört.
„Hans!“ kreischte die Frau mehr, als sie den Namen rief. „Allerbarmer!“
Die Musik war plötzlich verstummt, aber wenige Sekunden später und ehe sich selbst der Vater besonnen hatte, nach der Tür zu eilen, wurde sie aufgerissen. Eine schlanke, kräftige, sonnengebräunte Gestalt mit einem wirren, dunklen Lockenkopf stand auf der Schwelle, und mit dem Jubelschrei „Mutter, meine liebe, liebe Mutter!“ sprang er auf die Dame zu, fasste sie in seine Arme und drückte sie, während er ihre Stirn mit Küssen bedeckte, fest und innig an sich.
Die Mutter lag halb ohnmächtig, selig in seinen Armen, doch auch Franziska war herbeigeeilt und hatte den Bruder umfasst, während der Kammerherr einen Moment in einer Art von Betäubung stand, denn diese Art von Überraschung, die ganze Szene mit ihrer Aufregung, selbst neben dem Ungesetzlichen des Einschleichens, ohne dass auch nur einer der Dienstboten einen Fremden gemeldet hätten, widerstrebte für den ersten Augenblick seinem aristokratischen Gefühl, aber es war doch auch wirklich nur ein Augenblick. Sein Sohn, sein Kind, sein Erbe, an dem ja von je sein ganzes Herz gehangen, stand da vor ihm, nicht verloren, sondern kräftig und gesund, wie sich der Sohn jetzt, ohne jedoch die Mutter loszulassen, zu ihm überbeugte, schlang auch er seinen Arm um ihn, und eine glücklichere Gruppe gab es vielleicht in diesem Augenblick nicht auf der ganzen weiten, sonnenbeschienenen Welt.
Es dauerte auch eine geraume Zeit, bis sich die einzelnen Glieder dieser fest ineinander geschlungen Kette wieder lösten und Gedanken, Sprache gewannen, dann aber stürmte eine solche Flut von Fragen auf den jungen Mann ein, dass er, noch unter Tränen lachend, beide Hände vorstreckte und ausrief: „Aber Mutter, Fränzchen, um Gottes Willen nicht alles auf einmal, und nur nach der Reihe! Ich gebe euch mein Wort, dass mir der Kopf schon außerdem so wirr ist, ich weiß kaum, wo er mir steht, und ich muss mich selber erst besinnen, ob ich auch wirklich hier bei euch in dem lieben, alten Rhodenburg sitze und die Geschichte nicht, wie schon vieltausendmal vorher nur eben träume, um nachher den ganzen langen Tag an dem Traum zu brüten und gegen das Heimweh anzukämpfen!“
„Aber wo kommst du jetzt her?“ sagte der Vater. „Du bist ganz von der Sonne verbrannt.“
„Direkt von Peru.“
„Von Peru?“ rief die Mutter und schlug die Hände in blankem Erstaunen zusammen. „So weit und den langen Weg über das Meer?“
„Ja, Mama“, lachte ihr der Sohn freundlich zu. „Eine lange Strecke ist’s freilich, aber auf den englischen Postdampfern fährt man jetzt so rasch und so bequem...“
„Und die vielen furchtbaren Stürme, die wir in der letzten Zeit hier gehabt“, sagte die Mutter innerlich zusammenschauernd. „Oh, da kann ich dem Himmel ja gar nicht genug danken, dass ich dich mit keiner Ahnung meines Herzens auf dem großen Wasser wusste, ich wäre sonst in meiner Todesangst hier vergangen.“
„Das ist allerdings ein Glück, Mama“, lächelte Hans. „Denn du würdest dich ganz ohne Not gesorgt haben. Wir hatten die ganze Zeit das herrlichste ruhige Wetter und außerdem eine sehr vergnügte Reise mit äußerst angenehmen Reisegefährten.“
„Und nicht ein einziges Mal geschrieben hast du, Hans“, rief die Mutter in vorwurfsvollem Ton. „Nicht einen einzigen Brief, so dass wir doch wenigstens wussten, du lebst und denkst noch an uns.“
„Ja, Mama“, sagte Hans verlegen. „Das ist mit dem Briefeschreiben von da drüben her eine ganz eigene Sache, und ich könnte dir Hunderte von jungen Leuten nennen, die sich desselben Vergehens schuldig gemacht haben. So lange man noch nichts ist und noch nichts verdient hat, schämt man sich, nach Haus zu schreiben. Man will nicht gern eingestehen, dass man sich in allen Hoffnungen getäuscht gesehen hat, und nachher, wenn man es erst zu etwas bringt, ja, dann denkt man wieder vor allem an die Heimat, schiebt aber das Briefschreiben ebenfalls wieder und wieder hinaus, immer in der Hoffnung, auch gleich recht bald und im ersten Briefe den Tag bestimmen zu können, wo man imstande ist, wieder heimzukehren – und so wird immer nichts daraus.“
„Aber wie bist du nach Peru gekommen?“ fragte der Vater.
„Und hast du denn schon gefrühstückt, Hans?“ rief die Mutter, indem sie auch schon die neben ihr stehende Glocke anschlug. „Armes Kind, meine Seele hat nicht daran gedacht!“
„Gewiss, Mama!“ lachte Hans, während ein Diener in der Tür erschien. „Ich bin in der Nacht angekommen, und da ich euch so spät nicht stören wollte und auch wusste, dass ihr nicht so früh zu sprechen wart, trank ich meinen Kaffee im Wirtshaus. Aber das schadet nichts, ich trinke noch einmal. Zu lange habe ich mich darauf gefreut, hier mit euch wieder einmal in dem traulichen Stübchen am runden Tisch zusammenzusitzen, und du darfst mir immer eine Tasse kommen lassen.“
Die Befehle waren rasch gegeben, und wenn auch der Diener äußerst erstaunt war, einen fremden Herren mit an der Frühstückstafel zu sehen, den er gar nicht angemeldet hatte, ja, von dem er nicht einmal etwas wusste, so durfte er doch natürlich dieser Verwunderung keine Worte geben. Franziska aber war sein verdutztes Gesicht nicht entgangen, und sich lachend an den Bruder wendend, sagte sie: „Aber wie bist du nur unbemerkt ins Haus gekommen, Hans? Müller, unser Diener hier, kann wenigstens nichts von dir gewusst haben, denn er guckte dich mit groß verwundertem Gesicht an.“
„Durch den Garten, Schatz!“ rief ihr Bruder.
„Durch den Garten?“ sagte der Kammerherr. „Aber um in den Garten zu kommen, musst du doch erst durchs Haus und den Gartensalon.“
„Ja“, meinte Hans, „wenn ich den ehrbaren Weg durch die Tür gemacht hätte, aber ich bin über das eiserne Staket gestiegen.“
„Hans!“ sagte die gnädige Frau erschreckt. „Am hellen Tage, was sollen denn die Nachbarn davon denken?“
„War mir verwünscht gleichgültig heute morgen, Mama“, lachte der junge Mann, „was die Nachbarn von mir dachten, wenn ihr mich nur nicht gewahr würdet.“
„Und über die spitzen Eisenstangen – du hättest ein Unglück haben können.“
„Bah – der Weg da hinüber ist kaum weniger bequem als durch die Tür- die Querstangen sind so pfiffig angebracht, dass sie eine förmliche Leiter bilden. Ich begegnete auch keinem Menschen, als glücklicherweise unserem alten Klaus, dem Gärtner, der mich natürlich nicht mehr kannte und gleich abfassen wollte. Die Freude von dem Alten aber, als ich ihm meinen Namen nannte – und der führte mich denn auch gleich die kleine Treppe hinauf, zu der er den Schlüssel hatte, in den Gartensalon.“
„Und von Peru kommst du jetzt?“ wiederholte der Vater noch immer kopfschüttelnd, denn er selber hatte nur einen höchst unbestimmten Begriff, wo Peru überhaupt auf der Karte lag. Alles, was er davon wusste, war, dass es Pizarro einst entdeckt und erobert hatte. – „Kind, Kind, wie bist du dahin gekommen, was hast du dort getrieben und woher überhaupt die Mittel erhalten, um nur zu leben, vielmehr denn die teure Reise zu bezahlen? Und du siehst“, fuhr er, einen prüfenden Blick auf ihn werfend, „wohl ein wenig verwildert und ein klein wenig zu ungeniert, doch immer ganz anständig aus.“
Hans lachte. „Ja, Papa“, sagte er, „wunderlich genug ist es mir allerdings gegangen, und im Anfang habe ich auch schwer und tüchtig arbeiten müssen.“
„Arbeiten!“ rief die Mutter in blankem Entsetzen. „Arbeiten? Was? In einem Büro?“
„Hahaha, Mama!“ lachte Hans, während der Diener gerade hereinkam und das Verlangte auf den Tisch stellte. „Ja, Büro! Du machst dir einen schönen Begriff von den dortigen Zuständen, mit der Spitzhacke und Schaufel, mit der Axt und Schürstange, ich war Feuermann auf einem Mississippi-Dampfer, Arbeiter an der Eisenbahn, ich habe Holz geschlagen und...“
Er traf den blick seiner Mutter, der mit einem wirklichen Ausdruck des Entsetzens auf ihm haftete und dann von ihm nach dem Diener hinüber flog. Wie war es möglich, dass ihr Sohn in Gegenwart eines Bedienten erzählen konnte, er habe an der Eisenbahn gearbeitet und Holz gehackt, was hier ja nur die niedrigsten Tagelöhner verrichten. Und er wurde nicht einmal rot dabei!
Hans lächelte leise vor sich hin. Er begriff recht gut, wodurch er die Gefühle seiner Mutter verletzt hatte, und wollte ihr ja nicht weh tun, wenn er selbst auch nichts Außerordentliches darin sah. Der Diener verließ auch gleich darauf das Zimmer wieder.
„Aber, Hans“, sagte die Mutter mit freundlichem Vorwurf im Ton, kaum, dass der Diener die Tür ins Schluss gedrückt hatte. „Solche Scherze solltest du doch nicht machen, wenn die Dienerschaft im Zimmer ist.“
„Was für Scherze, Mama?“
„Nun, mit deinem Arbeiten und Holzhacken!“
„Aber Mama, das war wahrhaftig kein Scherz, ich habe wenigstens tüchtige Blasen dabei an den Händen bekommen!“
„Aber du willst uns doch nicht sagen, dass du wirklich und gewiss im Ernst Tagelöhnerdienste hast verrichten müssen“, warf jetzt auch der Vater ein.
„Sicher will ich das, Papa“, sagte Hans, ihm treuherzig ins Auge sehend. „Der Mensch will doch leben, und ich war oft gezwungen, wenigstens am Anfang, alles zu ergreifen, um mich ehrlich durchzubringen.“
„Aber, weshalb um Gottes Willen, hast du denn da nicht an mich geschrieben, dass wir dir Geld hinüberschicken! Du weißt doch, dass ich alles geopfert hätte, ehe ich meinen Sohn einer solchen Schmach aussetze!“
„Schmach! Lieber Vater“, sagte Hans, langsam und mit besonderem Nachdruck auf das Wort. „Wir haben da drüben einen anderen Begriff von Schmach. Wir halten das dafür, wenn jemand durch Faulenzen und Schuldenmachen sein Leben durchzubringen versucht. Wer aber tüchtig und ohne Scheu zugreift und sich sein Brot durch seiner Hände Arbeit verdient, der gilt als Ehrenmann, und wenn es ein gewöhnlicher Holzhacker auf der Straße, ein Lastträger oder sonst etwas wäre. Weißt du, Papa, dass ich selbst Reisenden ihr Gepäck von der Dampfbootlandung bis in ihre Wohnung für einen Vierteldollar hinaufgetragen habe?“
„O mon Dieu!“ rief seine Mutter und faltete entsetzt die Hände, denn dafür fand sie nicht einmal einen deutschen Ausdruck, der sich anständigerweise hätte gebrauchen lassen. „Hans, Hans, hast du denn nicht an deinen Namen, deine Eltern gedacht? Wenn dich nun jemand erkannt hätte, wenn es hier bekannt würde! Sprich nur um Gotteswillen mit keinem Menschen darüber. Oh, warum hast du nicht an uns um Geld geschrieben!“
„Weil ich es für ehrenvoller hielt, Mama, mir selbst ehrlich durch die Welt zu helfen, als von anderen Hilfe zu fordern“, sagte der junge Mann, und seine hübschen Züge färbten sich mit einem dunklen Rot.
„Und das nennst du ehrlich?“ rief seine Mutter, noch immer durch das Furchtbare des Gedankens überwältigt.
Hans lachte.
„Sorge dich nicht, Mütterchen, du, in den hiesigen Verhältnissen aufgezogen, hast andere Ansichten darüber, aber ich gebe dir mein Wort, du kannst Hunderte von jungen Leuten da drüben finden, die hier aus den ersten Adelsgeschlechtern stammen und trotzdem dort die gewöhnlichsten Handwerker-, ja Handlangerdienste verrichten, ohne dadurch im geringsten schlechter zu werden oder ihren alten Adel zu schädigen. Im Gegenteil sammeln sie da drüben in einem Jahr mehr Lebenserfahrung, als hier in der zehnfachen Zeit, und kehren sie dann zurück in die Heimat, so bringen sie allerdings andere Ansichten vom Leben und den gesellschaftlichen Verhältnissen mit, als sie hinüber genommen; aber du kannst dich darauf verlassen, Mütterchen, dass es ihnen und anderen Menschen nur nutzen wird.“
Die Dame schüttelte immer noch vor sich hin den Kopf, denn dies waren von den ihren so himmelweit entfernte Ansichten, dass sie sich dahinein natürlich nicht so rasch finden konnte. Der Vater aber, obgleich er wohl ebenso wenig wie seine Gemahlin mit den hier ausgesprochenen Grundsätzen übereinstimmen mochte, folgte einem anderen, bis jetzt noch unbegreiflichen Gedanken, wovon nämlich sein Sohn die ganze Zeit gelebt und sich auch Geld erworben habe, denn von Handarbeit hatte er sich nicht so gekleidet, wie er da vor ihm stand. Fehlten ihm doch nicht einmal feine Glacéhandschuhe, die jetzt neben ihm auf dem Tisch lagen, und einzelner Schmuck, den er an ihm bemerkte und der seinem forschenden Blick ebenfalls nicht entgangen war, rührte ebenso wenig von Spitzhacke und Schaufel her.
„Hm, Hans", sagte er endlich, indem er sich vorsichtig zuerst ein wenig räusperte, „das ist alles recht schön und gut, und davon sprechen wir vielleicht später, aber jetzt möchte ich doch – möchte ich doch wirklich erfahren, in welcher Weise du deinen – Lebensberuf, könnten wir sagen, da drüben erfüllt hast. Du siehst mir für einen Holzhacker oder Lastträger doch ein wenig zu anständig aus, musst also jedenfalls auch noch etwas anderes getrieben haben."
„Ich? Gewiss, Papa", sagte Hans, der sein Frühstück beendet hatte, die Tasse zurückschob und wie unwillkürlich mit der Hand in die Tasche griff, als ob er etwas herausholen wollte, aber doch dabei wieder innehielt. Er sah zugleich halb lächelnd, halb verlegen die Mutter an. Er hatte jedenfalls etwas auf dem Herzen, getraute sich aber, wie es schien, noch nicht mit der Sprache heraus.
„Was hast du, Hans?" frug die Mutter, die keinen Blick von dem Sohne wandte und der auch deshalb die Bewegung nicht entging.
„Oh, oh, nichts, Mama", lachte der junge Mann. „Es war nur – ich weiß nicht – ich - habe..."
„Nun, was hast du? Weshalb sprichst du nicht frei von der Leber weg?"
„Kannst du das Rauchen vertragen, Mama?"
„Das Rauchen?" rief Frau von Solberg wirklich erschrocken aus. „Aber, Hans, du rauchst doch nicht?"
„Nur einmal am Tage, Mama", lachte der Sohn, „und zwar von morgens bis abends."
„Aber Hans, das ist ja entsetzlich!" rief Fränzchen, während die Mutter sprachlos vor Entsetzen daneben saß. „Wie kannst du nur...?"
„Ja, sieh, Schatz", sagte der junge Mann. „Wenn man sich so Jahr nach Jahr da draußen allein in der Welt herumtreibt, fremd überall, wohin man kommt, und immer nur allein auf sich selber angewiesen, da fühlt man das Bedürfnis, irgendwelche Zerstreuung wenigstens zu haben, und fällt dann, als die unschuldigste, auf das Rauchen."
„Unschuldigste?" sagte die Mutter, indem sie mit dem Kopf schüttelte. „Die Raucher verpesten in ihrer Unschuld gewöhnlich ihre ganze Nachbarschaft."
„Aber doch nicht mit guten Zigarren, Mama, und dass ich keine schlechten rauche, kannst du dir ja denken. Mir selber ist wirklich das Rauchen zum Bedürfnis geworden, aber wenn es dich so geniert, werde ich es gewiss in deiner Nähe vermeiden. Irgendein Plätzchen findet sich ja doch überall, wo man diesem, wenn du willst, Laster frönen kann." Er zog die Hand wieder aus der Tasche zurück und faltete beide, wie in stiller Resignation, in seinem Schoß.
„Aber dann fühlst du dich nicht behaglich, und dein Zimmer ist natürlich noch nicht eingerichtet..."
„Oh doch, Mutter, sorge dich deshalb nicht", beruhigte sie Hans.
Die Mutter rang mit einem großen Entschluss. „Nein", sagte sie plötzlich. „Du sollst den ersten Tag in deiner Heimat nicht gleich etwas entbehren, woran du dich gewöhnt hast. Ich dulde sonst allerdings kein Rauchen in meinen Räumen, heute aber soll dir eine Ausnahme gestattet sein – aber auch nur heute. Morgen musst du dich wieder den Hausgesetzen fügen."
„Meine gute Mama", sagte Hans wirklich gerührt. „Das ist denn doch zu liebenswürdig von dir, und ich weiß nicht einmal, ob ich es nur annehmen darf." Er schwankte in der Tat einen Moment zwischen seiner Delikatesse und Sehnsucht nach einer schon schwer entbehrten Zigarre. Ihm selbst unbewusst war er aber dabei mit der Hand schon wieder in die Tasche gefahren, die seine Zigarren barg, als ihm auch die Schwester noch zu Hilfe kam.
„Ja, Mama, das ist recht, heute morgen darf er rauchen. Es sieht auch interessanter aus, wenn er von seinen Fahrten erzählt und dann gleich wie ein halber Bootsmann dabei sitzt, er hält es doch sonst nicht aus."
„Oh Fränzchen, da bist du im Irrtum", sagte Hans, aber schon mit der Zigarrentasche in der Hand. „Was ich entbehren muss, kann ich auch entbehren, und habe das schon oft genug bewiesen, wenn man’s aber haben kann..." Der Diener war eben wieder hereingekommen, um das Frühstücksservice hinauszutragen, als sich Hans an ihn wandte:
„Ach, lieber Freund, dürfte ich Sie wohl um etwas Feuer bitten!"
Der Diener sah ihn erstaunt an. Einmal war er diese freundliche Anrede und sogar Bitte nicht gewohnt, denn hier im Hause wurde nur befohlen, und dann hielt der Fremde eine wirkliche Zigarre in der Hand, die er doch jedenfalls mit dem Feuer anzünden wollte, und das hatte er in der freiherrlichen Familie noch nicht erlebt. Im Hause wusste auch noch niemand, wer er war, denn der alte Klaus, der ihnen hätte Auskunft geben können, verkehrte mit keinem von ihnen und hielt sich vornehm zurückgezogen von der ganzen Dienerschaft. Aber dem Wunsch des Gastes, da kein Gegenbefehl von der Herrschaft kam, musste natürlich Folge geleistet werden, und der Mann sprang auf das freundliche Wort und dem ersten Eindruck folgend (seine aristokratische Natur würde sich sonst dagegen empört haben) viel rascher als gewöhnlich, um das Verlangte herbeizuschaffen. Das war nicht leicht, denn Streichhölzchen gab es fast gar nicht im Bereich der Familie.
Als Hans den Diener um Feuer bat, flog Fränzchens Blick unwillkürlich zur Mutter hinüber, und sie bemerkte rasch, wie sich deren Augen erstaunt auf den Sohn hefteten. Auch der Freiherr wurde dadurch gewissermaßen aus seiner Lethargie aufgerüttelt, denn er hatte die letzte Viertelstunde wie in einem Halbtraum gesessen.
Wie gleichförmig war bis dahin sein Leben verflossen, wie alltäglich, die Zeit natürlich ausgenommen, welche die Herrschaften hier in Rhodenburg oder dem Jagd-Schloss zubrachten! Dann allerdings hatte seine Existenz einen Zweck, er war alle Tage zur Tafel befohlen, ja, eigentlich deren Seele, denn ohne ihn hätte die ganze Tafel nicht bestehen können; und wie gnädig verkehrten die Königlichen Hoheiten mit ihm, wie huldvoll wurde er manchmal angelächelt und trug dann den ganzen Tag Glück und Seligkeit im Herzen herum! So lange die Herrschaften mit ihm zufrieden waren, existierte weiter keine Welt für ihn, und es gab Momente, wo er mit seinen Füßen kaum den Boden zu berühren, sondern fast nur über der Erde zu schweben schien.
Wenn der Hof dagegen die Stadt verließ, war es, als ob Rhodenburg – für ihn wenigstens – ausgestorben gewesen wäre. Das Schloss stand leer, es gab kein Theater, keine Soirée, kurz, er wurde nicht mehr gebraucht und fühlte sich deshalb, da niemand sonst in Rhodenburg besondere Notiz von ihm nahm, verlassen und elend.
Jetzt dagegen war ihm plötzlich in dieses, sonst bodenlose Nichts ein Ereignis gefallen, das mit dem Hofe nicht in der geringsten Beziehung stand, und er brauchte erst einige Zeit, bis er sich das in seinem Inneren ordnete und sichtete. Auch die Einzelheiten der Überraschung frappierten ihn, das Übersteigen des Geländers, das unangemeldete Eintreten, die Unbefangenheit des Sohnes, und jetzt sogar der Zigarrendampf, den dieser in der größten Gemütsruhe hier in seinem Zimmer ausblies, ja, der Sohn selbst, der ihm so lange gefehlt, dass er ihn fast vergessen hatte, denn er war bei Hofe nie erwähnt worden. Er bedurfte wirklich einiger Zeit, bis er alle diese einzelnen Umstände in seinem Geiste zusammenfassen und ordnen konnte, und erst als das geschehen war, kam er wieder auf die Oberfläche der Erde zurück.
Die Mutter hatte, als die erste Dampfwolke zu ihr hinüberstrich, abwehrend etwas mit ihrem Tuche geweht, jetzt aber, da kein Hindernis mehr oblag, nahm sie die vorherige Frage ihres Gatten wieder auf und sagte:
„Ja, Hans, jetzt möchte auch ich dich bitten, uns zu sagen, welches Leben du da drüben geführt hast, es ist natürlich, dass die Mutter das zu erfahren wünscht. Apropos, wo sind denn eigentlich deine Sachen?“
„Mein Gepäck? Im Hotel, Mama, wo ich die Nacht geschlafen habe, wir können es nachher holen lassen.“
„In welchem Hotel bist du abgestiegen?“
„Im Goldenen Löwen, es war das nächste am Bahnhof.“
„Im Goldenen Löwen?“ rief der Vater in wirklichem Erstaunen aus. „Das ist ja eine ganz ordinäre Fuhrmannskneipe!“
„Sehr vorzüglich ist es nicht“, lachte Hans. „Aber was tat die eine Nacht, und früher, so weit ich mich erinnere, war es das Beste.“
„Du hast doch hoffentlich deinen Namen nicht in das Fremdenbuch geschrieben?“ sagte die Mutter erschrocken.
„Und weshalb nicht, Mama? Ich wollte doch nicht hier inkognito auftreten!“
„Es ist schrecklich! Morgen stehst du zwischen lauter Viehhändlern und Krämern im Tageblatt, Hans, ich begreife dich gar nicht!“ rief die Mutter.
„Ja, das ist nun nicht mehr zu ändern“, lachte Fränzchen. „Die Rhodenburger werden sich nicht schlecht den Kopf darüber zerbrechen. Aber nun lass ihn auch erzählen, Mama, denn wir erfahren ja sonst kein Wort von der Geschichte.“
„Ja, mein Herz“, sagte Hans und legte seinen Arm um die Schulter der neben ihm sitzenden Schwester. „Aber der fatale Tabaksrauch!“
„Um Gottes Willen, ich ersticke!“ rief Fränzchen, bog den Kopf so viel sie konnte zur Seite und fing an zu husten. Der ungewohnte Rauch war ihr wirklich in die Kehle gekommen.
„Ja, mein Herz", fuhr Hans fort, ohne von dem Husten weitere Notiz zu nehmen, nur dass er sie losließ. „Da ist eben nicht viel zu erzählen, so interessant auch vielleicht für euch die Einzelheiten meines allerdings sehr bewegten Lebens sein möchten. Mit kurzen Worten will ich euch aber wenigstens einen Überblick geben. Ich ging, wie ihr wisst, von hier nach Nordamerika, die Taschen so voll von Empfehlungen, das Herz voll froher Hoffnungen, ich sollte mich in beiden getäuscht sehen. Die Empfehlungen halfen mir gar nichts, als dass ich bei einem oder dem anderen der betreffenden Herren vielleicht einmal zu Tische geladen wurde. Damals zürnte ich allerdings der ganzen Welt, später aber sah ich doch selber ein, dass jene Leute ihren vollkommen guten Grund dafür gehabt, denn was in der Gottes Welt hätten sie mit mir anfangen sollen?"
„Aber ein gebildeter, junger Mann findet doch überall sein Fortkommen", sagte etwas ungläubig die Mutter, denn ihr Sohn hatte damals Briefe von den ersten Familien des Landes mitgenommen. „Solche Rekommandationen bekommt nicht jeder."
„Hilft alles nichts, liebe Mutter", lachte Hans. „Die Leute da draußen sind viel zu praktischer Natur, als sich solchen Schreibebriefen zu Liebe mit fremden Leuten einzulassen, die ihnen gleich beim ersten Anblick als 'grün' erscheinen."
„Grün?" fragte der alte Freiherr.
„Es ist der Ausdruck dort. Sagen wir: unreif, was etwa dasselbe bedeutet. Ich kam jedenfalls grün ins Land, und es fiel niemand ein, das Lehrgeld für mich zu zahlen. Das musste ich selbst tun und tat es ehrlich. Mein Geld, das ich mit hinübergenommen – es waren fünfhundert Taler – weißt du noch, Mama? Ich verzehrte nicht den zehnten Teil davon, um das Übrige betrog mich in größter Geschwindigkeit ein biederer Landsmann, ein junger Gauner, vielleicht eben so alt, wenn nicht noch jünger als ich selber, und dann erst wurde ich auf mich und meine eigene Kraft angewiesen. Ich fand bald, dass ich keine Stelle, das heißt, keinen Platz finden konnte, wo ich mir den Tag die Ellbogen hätte an einem Ladentisch abreiben dürfen und dafür meinen Lebensunterhalt bekam. Die Leute, die Geld zahlten, wollten auch wirklich etwas dafür getan haben, und dahinein fand ich mich zuletzt. Nun lesen wir allerdings hier oft in stetigen Berichten – in Amerika sind mir wenigstens verschiedene Male solche Bücher in die Hand gekommen – dass der Arbeitslohn für Zimmerleute, Maurer, Handwerker oder sonst wen soundsoviel Dollars pro Tag macht, und das klingt den Leuten in Europa wirklich fabelhaft. Dass diese Arbeiter aber oft Monate lang herumlaufen und das bis dahin verdiente Geld verzehren können, ehe sie wieder Beschäftigung in der Höhe des Lohnes, ja, oft um irgendwelchen Lohn finden, steht nicht dabei, und so ging es auch mir. Ich nahm jede Arbeit an, die ich bekommen konnte, aber die dauerte dann selten lange, und ohne mich lange zu besinnen, griff ich zu etwas anderem. Wenn ich dann auch keine Schätze dabei sammelte, lernte ich doch das amerikanische Leben gründlich kennen.
Das trieb ich sechs Jahre und war in der Zeit auch nicht einmal imstande, mir selbst nur hundert Dollar zu sparen. In der Zeit hatte ich aber auch herausgefunden, dass man in Amerika mit harter Arbeit sein Leben wohl fristen, aber nichts wirklich verdienen könnte, dazu war Spekulation nötig, und auf die warf ich mich; ich fing an, Handel zu treiben."
„ D u , Hans?" rief seine Schwester und sah ihn mit ihren großen Augen verwundert an. „Du bist Kaufmann geworden?"
„Das will ich nicht sagen, Herz", lachte der Bruder. „Kaufmann kann man es eigentlich nicht nennen, denn dazu fehlte mir das Kapital. Ich lernte aber bald, welche Waren einen möglichen Markt fanden und vorteilhaft verwertet werden konnten. Dabei verkehrte ich sehr viel mit deutschen Schiffen und kaufte gewöhnlich alles, was die Kapitäne privat mitbrachten. Daran machte ich, ohne meine Körperkraft weiter zu bemühen, einen ganz hübschen Nutzen, so dass ich mir in einigen Jahren mehrere tausend Dollars verdienen konnte.
Da kam der amerikanische Krieg, und ein spekulativer Deutscher hatte es für vorteilhaft befunden, eine Ladung alter, ausrangierter Gewehre von hier nach drüben zu schaffen, um dort, wie er glaubte, einen enormen Preis dafür zu bekommen. Die Amerikaner wissen aber recht gut ein brauchbares von einem unbrauchbaren Gewehr zu unterscheiden. Sie mochten die ihnen gebrachten Waffen nicht haben, und wie der Kapitän in aller Verzweiflung und in der Angst, die ganze Fracht wieder mitnehmen zu müssen, zu dem Entschluss kam, sie um jeden Preis loszuschlagen, kaufte ich ihm den ganzen Plunder ab und fand bald, dass ich einen sehr guten Handel gemacht hatte, denn es waren mehrere tausend Stück sehr guter Gewehre dabei. Jetzt engagierte ich eine Anzahl junger deutscher Handwerker, Schlosser, Schmiede und Büchsenmacher, um meinen Warenvorrat wieder in Stand zu setzen. Natürlich akkordierte ich die Arbeit, das Stück zum halben Dollar, was allerdings meinen ganzen Barvorrat so ziemlich auf die Neige brachte, aber ich wusste auch, wohin mit meinem Ankauf. In Peru war wieder eine Revolution ausgebrochen, die Spanier bedrängten das Land ebenfalls, und da gerade ein englisches Schiff Ladung für Lima einnahm, packte ich meinen ganzen Warenvorrat auf und ging nach Peru.
Ich hätte nichts Gescheiteres tun können. Ich verkaufte meine sechstausend Gewehre, die mich wenig genug gekostet hatten, jedes einzelne mit vier bis fünf Dollar Nutzen und bekam dadurch ein tüchtiges Kapital in die Hände. In Peru selbst machte ich dann noch ein paar andere glückliche Spekulationen, und – da bin ich! Das Heimweh packte mich und ließ nicht eher locker, bis ich den nächsten besten Dampfer über Panama benutzte, um zu euch zurückzukehren. Wie lange ich hier bleibe? Quien sabe - die Zeit muss es lehren, aber ich musste euch erst einmal wiedersehen, und kann ich mich dann mit dem alten Deutschland und seinen etwas wunderlichen Einrichtungen nicht befreunden, nun gut, dann fahre ich wieder nach dem Süden zurück und beginne mein abenteuerliches Leben aufs Neue."
Die Eltern hatten ihn mit keiner Silbe unterbrochen, denn was sie hörten, war zu ungeheuerlich, um sich ihrer Gefühle gleich bewusst zu werden oder ihnen sogar Ausdruck zu verleihen. Ihr Sohn, Hans von Solberg, Nachkomme des freiherrlich Solbergschen Geschlechts, als Kofferträger, als Handlanger, als Tagelöhner und dann mit dem Ankauf alter, ausrangierter Gewehre beschäftigt, um sie, da man sie dort für untauglich fand, mit vier bis fünf Dollar Nutzen für das Stück einem anderen Staate aufzuhängen! – Die Mutter fühlte allerdings mehr das Unpassende einer solchen Tätigkeit, und ebenso vielleicht die Schwester, der Vater dagegen in seinem alten, bis jetzt durch nichts gebrochenen Adelsstolze wagte diesen entsetzlichen und mit der größten Unbefangenheit vorgebrachten Tatsachen gegenüber kaum zu atmen, und als Hans endlich schwieg, war es ihm, als ob eine Zentnerlast von seiner Brust genommen, eine andere aber noch darauf liegen geblieben wäre.
„Das ist die Welt da draußen", murmelte er endlich leise vor sich hin. „Das sind die Länder, welche man die gelobten nennt – unbegreiflich, unbegreiflich!"
Hans hatte, in seine alten Erinnerungen vertieft, die Gegenwart der Eltern fast vergessen, keinesfalls aber an ihre alten Vorurteile und Ansichten dabei gedacht – du lieber Gott, sie waren in den alten Zopfverhältnissen aufgewachsen und konnten ja keinen Begriff von dem neuen, frischen Leben da draußen haben!
„Und das sind lauter Republiken?" gab der Vater endlich seinen Gedanken Worte.
„Lauter Republiken, Papa."
„Aber du erwähntest doch vorhin, dass du jenen – jenen Handel mit einer Regierung abgeschlossen hättest, mein Sohn."
„Nun ja, Papa, mit der republikanischen Regierung."
„Republikanische Regierung", murmelte der Freiherr halblaut und mit dem Kopf schüttelnd vor sich hin. "Das kommt mir gerade so vor, als ob ich sagen wollte: Monarchistische Anarchie, gesetzlicher Aufruhr, wohlwollender Mord oder etwas derartiges – republikanische Regierung, wo jeder tun und lassen kann, was er will – es ist rein lächerlich. Sage einmal, Hans, es müssen doch da ganz trostlose Zustände sein, und ich kann mir die Sache noch eigentlich gar nicht recht denken – eine Anarchie in Permanenz erklärt, eine ununterbrochene Revolution ohne Strafen für Meuterer oder Belohnungen für dem Throne anhängende Getreue. Es ist ganz undenkbar, dass so etwas nur auf die Länge der Zeit bestehen könnte, und trotzdem scheinen sich die Leute darin so wohl zu fühlen wie ein Hering im Salzwasser."
Hans lachte. „Ihr denkt euch die Sache hier viel gefährlicher, als sie wirklich ist, wenn ich auch nicht leugnen will, dass sie es mit ihren ewigen Revolutionen manchmal ein wenig bunt treiben. Sie behelfen sich aber doch ganz leidlich ohne Fürsten und werden besonders nie durch zu riesenhafte Pensionen, die hier einen Staat erdrücken und aushungern können, behelligt. Wer dort am Ruder oder in einem Amte ist, drückt sich heraus, was er kann, und so schnell als möglich, und damit basta, und wer nach ihm kommt, mag eben dasselbe tun."
„Schöne Zustände", nickte der Vater, „und was für Betrügereien solcherart finden in Amerika statt!"
„Die Ansichten von Ehrlichkeit sind dort eben andere als bei uns", sagte der Sohn achselzuckend. „Ein reich gewordener Betrüger kann der Gefeierte der Gesellschaft werden, ein ruinierter wird verachtet, bis er es wieder zu etwas bringt."
„Das ist ja aber schaudererregend!" rief der Freiherr aus.
„Und eigentlich genauso wie bei uns", meinte Hans. „Ich bin fest überzeugt, dass es hier ebensoviel vornehmes Pack gibt wie woanders, die Gelegenheit wird hier den Einzelnen nur nicht so rasch geboten, ihre Lage zu verbessern, wie dort drüben. Menschennatur bleibt aber doch gewiss überall dieselbe."
„Das muss ich sagen", bemerkte der Vater, langsam vor sich hinnickend, „du hast saubere Ansichten mit aus deinem Amerika hier herüber und in unsere geordneten Verhältnisse gebracht. Die werden wir wahrscheinlich einer gründlichen Revision unterwerfen müssen, um der eigentlichen Contrebande auf die Spur zu kommen."
Franziska hatte kurz vorher das Zimmer verlassen, um die nötigen Anordnungen für die Einrichtung von Hans alter Stube zu treffen, damit diese wieder wohnlich gemacht wurde, jetzt kehrte sie zurück.
„Ja, mein Sohn", sagte auch die Mutter, „ich fürchte fast, dass Du aus unseren wirklich gesitteten Zuständen ein wenig herausgewachsen bist."
„Meinst du, Mama?"
„Es wird viel Mühe kosten, dich da wieder hineinzupassen."
„Aber, beste Mutter!" rief Hans. „Das freie, prächtige Leben das draußen, diese völlige Ungebundenheit hat doch auch wieder viel Angenehmes, und ich gestehe dir aufrichtig, mir graust es ordentlich vor diesen eben erwähnten und fast ein wenig zu sehr geordneten Zuständen. Hier in Deutschland hat jeder sein bestimmtes Gefach von unten an und an der ganzen Wand hinauf. Es ist wie ein großer Bücherschrank mit Abteilungen, und darin liegt er und knurrt jeden an, der ihm zu nahe kommt. Er muss auch dabei sein Bestimmtes auf einen bestimmten Tag gebracht bekommen, und verzehrt es allein, die reine Stallfütterung, und ich bin jetzt so an freie Weide gewöhnt."
„Welch entsetzlicher Vergleich!" rief die Mutter wirklich schaudernd aus.
Hans hatte sich im Zimmer umgesehen, es war fast, als ob er etwas suche.
„Was ich euch fragen wollte", sagte er dann. „Wie geht’s denn dem kleinen Käthchen, und wo ist sie? Sonst frühstückte sie doch immer mit. Sie ist doch nicht gestorben?" setzte er rasch und erschrocken hinzu.
„Nein", sagte die Mutter, aber die Frage schien ihr nicht angenehm. „Damals war Käthchen aber auch noch ein kleines Kind und gewissermaßen bei uns aufgewachsen."
„Gewissermaßen?" fragte Hans erstaunt. „Wir waren ja doch wie Geschwister, und Fränzchen und Käthchen erhielten ihren Unterricht gemeinsam."
„Allerdings", erwiderte Frau von Solberg, aber noch immer zurückhaltend. „Käthchen war auch ein liebes, gutes Kind, bis – einige Misshelligkeiten eintraten, die – die uns zwangen, uns von ihr zu trennen."
Hans sah den Vater an, aber er bemerkte, dass dessen Brust ein Seufzer hob. Der Kammerherr schaute sehr ernst und, wie es ihm vorkam, niedergeschlagen vor sich hin. Es musste da etwas vorgefallen sein, was die Eltern nur ungern berührten, und war er auch entschlossen, das herauszubekommen, so mochte er doch nicht gleich jetzt, in der ersten Stunde ihres Beisammenseins, zu einer Erklärung drängen, die ihm nicht gern und freiwillig geboten wurde. Nur seine Gedanken weilten noch bei der kleinen Spielgefährtin.
„Wie alt war Käthchen noch damals, als ich fortging?" sagte er, halb dabei wie zu sich selbst redend. „Nicht wahr, so alt wie Fränzchen?"
„Allerdings, die Kinder waren nur drei Monate auseinander", nickte die Mutter.
„Und wie lange ist sie nachher noch bei euch geblieben?"
„Sie hat uns erst vor etwa acht Monaten verlassen."
„Lieber Gott", sagte Hans. „Da wird es ihr wohl recht schwer geworden sein, von hier zu gehen und ihr Brot unter fremden Leuten zu verdienen, armes Käthchen!"
„Lieber Hans", sagte die Mutter mit einem gewissen Selbstbewusstsein. „Derartige Leute haben nicht das feine Gefühl von Anhänglichkeit und Dankbarkeit, wie wir es oft – wenn wir nach uns selber schließen – empfinden. Außerdem hat Käthchen aber eine so ausgezeichnete Erziehung genossen und so viel gelernt, dass ihre Zukunft in jeder Hinsicht gesichert ist."
„Und wo hält sie sich jetzt auf?"
„Ich weiß es nicht, es war die Rede davon, dass sie mit einer russischen Familie, die einige Wochen hier verweilte, nach Italien als Gesellschafterin gegangen wäre – aber genug davon", brach die Mutter ab. „In der Freude und Überraschung des Wiedersehens haben wir bis jetzt ganz vergessen, dir das wichtigste Ereignis in unserer Familie mitzuteilen: Fränzchen ist Braut."
„Braut!" rief Hans, der im Nu alles andere darüber vergaß und überrascht die Schwester ansah. „Braut? Mit wem?"
„Mit einem Grafen Rauten", sagte die Mutter, nicht ohne etwas mütterlichen Stolz. „Er stammt aus einer sehr alten galizischen Familie und ist ein liebenswürdiger, sehr gebildeter Mann, auch selbst weit gereist. Er war lange Jahre in englischen Diensten drüben in Indien."
„In der Tat?" rief Hans. „Nun, mein herziges Fränzchen, meine besten Wünsche hast du, aber wo ist er jetzt?"
„Hier in Rhodenburg. Er wohnt natürlich im Hotel, kommt aber jeden morgen her. Du wirst ihn gewiss lieb gewinnen", sagte Franziska.
„Gewiss, mein braves Schwesterchen, wenn du ihm gut bist. Aber jetzt, Papa, möchte ich dich doch bitten, jemand aus dem Hause nach dem berühmten Goldenen Löwen zu schicken, um meine Sachen dort abzuholen. Meine Rechnung habe ich schon bezahlt und alles zusammengepackt, er braucht nur meinen Namen zu nennen."
„Wenn du dich nur wenigstens Müller oder Meier genannt hättest", seufzte die gnädige Frau. „Aber das Unglück ist jetzt einmal geschehen. Fränzchen, du bist wohl so gut und schickst augenblicklich den Portier hinüber, und kannst dann gleich deinem Bruder sein Zimmer zeigen, damit er sich erst wieder heimisch fühlt."
„Brav, Fränzchen", rief Hans, indem er aufsprang und den Arm der Schwester nahm. „Komm, Schatz, jetzt führst du mich wieder durch die alten Räume, du kannst gar nicht glauben, wie ich mich danach gesehnt habe, sie wieder einmal zu durchwandern. Oh, ich fühle mich in diesem Augenblick so glücklich!"
„Das ist sehr hübsch von dir, Hans", sagte Fränzchen, als sie mit ihm den Frühstückssalon verließ. „Aber eins tut trotzdem Not, und die Mutter hat vollkommen recht."
„In was, mein Herz?"
„Darin, Hans, dass wir dich tüchtig zustutzen müssen, ehe du für die hiesige Gesellschaft wieder zu gebrauchen bist."
„Glaubst du wirklich?" lächelte Hans und sah sie von der Seite an.
„Es ist meine feste Überzeugung, Hans."
Eine andere Heimkehr.
An dem nämlichen Tage, Mittags um zwölf Uhr, stand beim alten Tischlermeister Handorf der Tisch in der großen Stube gedeckt. Es war ein Sonntag, die Frau und Tochter kamen eben aus der Kirche zurück, legten ihre Bücher und Tücher ab und setzten sich still und schweigend ans Fenster. Sie sahen beide bleich aus und hatten rotgeweinte Augen.
Der Vater, ein Greis mit silberweißen Haaren, ging mit langsamen, festen Schritten in der Stube auf und ab; er bot den beiden nicht einmal einen guten Tag, als sie das Zimmer betraten, und hörte auch wohl nicht ihren so leise geflüsterten Gruß. Er war in tiefen Gedanken, aber sie mussten peinlicher Art sein, denn er hielt die Lippen fest übereinander gepresst und das Auge stier und finster am Boden haftend, und doch dachte er auch noch an anderes, denn dann und wann flog sein Blick nach der alten Schwarzwälder Uhr hinüber, die in einem langen Gehäuse in der einen Ecke stand und einige Minuten noch vor zwölf Uhr zeigte.
Ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren stand am Tisch und sah scheu nach den Eltern hinüber, ein dicker, pausbäckiger Junge von etwa sechs Jahren, der Enkel der alten Leute und der Sohn einer verstorbenen Tochter, spielte in der Ecke mit ein paar schon zerbrochenen hölzernen Soldaten, wahrscheinlich Überbleibseln vom letzten Weihnachtstisch, und der war es auch, der das Schweigen zuerst brach: „Essen wir noch nicht bald, Großmutter?"
„Ja, recht bald, Max, warte nur noch ein klein wenig, bist du so hungrig, so will ich dir indes ein Stück Brot geben."
„Ne, ich will kein Brot", brummte Max. „Heute ist Sonntag, heute essen wir Fleisch."
„Um wie viel Uhr kommt der Zug?" fragte der Vater plötzlich mit heiserer Stimme und blieb vor der Uhr stehen, zu der er aufsah. Es war, als ob er seine Frau nicht anschauen konnte.
„Um elf Uhr sechsundvierzig Minuten steht es im Plan", antwortete sie leise. „Er muss schon da sein, wenn er sich nicht verspätet hat." Und sie holte dabei aus tiefer, voller Brust Atem, als ob sie die Last nicht ertragen konnte, die darauf lag.
Der Mann erwiderte nichts, sondern setzte seinen unterbrochenen Gang im Zimmer wieder fort, herüber und hinüber, und: „Großmutter, essen wir noch nicht bald?" fragt Max mit weinerlicher Stimme wieder. „Ich halt’s jetzt nicht mehr aus."
„Gleich, mein Kind, gleich", erwiderte die Frau. „Dein Onkel kommt ja heute wieder zu uns zurück, willst du denn nicht warten, dass du mit ihm essen kannst?"
„Aber ich bin hungrig, warum kommt er denn nicht früher?"
Draußen ging die Haustür und fiel wieder ins Schloss. Der Mann blieb nicht weit von der Uhr, die Arme jetzt auf der Brust gekreuzt, im Zimmer stehen. Er war ganz fahl im Gesicht geworden und die Augen hefteten sich stier auf die Tür. Die Mutter hatte die Hände fest und krampfhaft zusammengefaltet, und auch ihr Auge hing mit peinlicher Spannung an der Türklinke, während Margarete, die Tochter, ein junges Mädchen von vielleicht zwanzig Jahren, mit der rechten Hand angstvoll ihr Herz gefasst hielt und dabei nur nach dem Vater hinüberschaute.
Draußen durch das mit Steinplatten belegte Vorhaus kam ein schwerer, langsamer Schritt näher und näher – jetzt hielt er vor der Tür.
Die Mutter atmete schwer und rasch, aber keiner im Zimmer sprach ein Wort, wohl eine volle Minute lang, ja, wagte kaum ein Glied zu regen oder mit den Wimpern zu zucken.
Jetzt drückte sich die Klinke an der Stubentür langsam nieder, es klopfte niemand an. Die Tür öffnete sich Zoll nach Zoll, jetzt zeigte sich eine bleiche, in einen grobtuchenen, grauen Rock gekleidete Gestalt, die auf der Schwelle stand und den dunklen Blick aus den tiefliegenden Augenhöhlen über die Stube schweifen ließ.
Niemand da drinnen regte sich, kein Willkommen nach jahrelanger Trennung ward ihm entgegen gerufen. Die zusammengefalteten Hände der Mutter lösten sich allerdings und hoben sich langsam empor, aber sie richtete sich nicht auf, hätte es auch nicht vermocht, denn wie eine Zentnerlast von Blei lag es ihr auf den zitternden Gliedern.
Das kleine Mädchen hatte den rechten Zeigefinger zwischen die Lippen genommen und blickte scheu und halb abgewendet nach dem 'Fremden' hinüber, und Margarete saß regungslos auf ihrem Stuhl, während ihr die vollen Tränen langsam an ihren Wangen niedertropften.
Wie aus Stein gehauen aber stand der Vater, keine Muskel seines Körpers regten sich oder zuckte nur, nicht die Wimper seines stieren Auges, das er fest und eisern auf den Sohn geheftet hielt. Er sprach nicht, aber er erwartete auch keine Anrede. Er war da, das schien alles, was er in dem Augenblick fühlte, und für das, was ihm jetzt die Seele zermarterte, hatte er keine Worte. Ebenso schweigend stand der Sohn auf der Schwelle, was in dem Blick lag, den er jetzt über die Gruppe sandte und abwechselnd von einem zum anderen gleiten ließ, wer hätte es ergründen können? Scham? Scheu? Schmerz? Zerknirschung oder Trotz? – Aber lange hielt er das nicht aus; der Hut entfiel seiner Hand, und an den kleinen Geschwistern vorbei, die ihm scheu auswichen, eilte er auf die Mutter zu, sank neben ihrem Stuhl auf die Knie nieder, umschlang sie mit seinen Armen, und den Kopf an ihre Seite legend, hielt er sie, ohne ein einziges Wort zu sagen, krampfhaft umfasst.
„Mein Sohn, mein armes, verlorenes Kind", sagte die Mutter mit zitternder, kaum hörbarer Stimme, legte ihren rechten Arm über sein Haupt und weinte leise vor sich hin. Max, dem alles unheimlich wurde, und der den fremden Mann gar nicht kannte oder begriff, dass das sein Onkel sein sollte, drängte sich furchtsam zu der Margarete und hielt sie, die Augen immer auf den Knieenden geheftet, fest am Kleide gepackt.
„Aus dem Z u c h t h a u s !" sagte da endlich der alte Tischlermeister mit hohler, dumpfer Stimme. „Bist du endlich von deiner Wanderschaft zurück? Die hat lange gedauert und du musst viel in der Welt gesehen haben."
Der Sohn antwortete nicht, nur fester umschlang er die Mutter, deren Arm er auf sich ruhen fühlte. Es war, als ob er bei ihr Schutz suchen wollte gegen den Vater und dessen Vorwürfe.
Der Tischlermeister mochte es auch so verstehen; langsam, den Blick noch immer auf den Sohn geheftet, nickte er vor sich hin und sagte dann düster: „Ja, versteck' dich, Karl, versteck' dich, weiter bleibt dir auch von jetzt an nichts übrig. Versteck' dich vor der Welt, vor dir selber, nur vor deinem Gewissen bist du es nicht imstande. Oh, mein Gott, oh du allmächtiger Gott!" Und der alte, starke Mann konnte den Anblick nicht länger ertragen, er sank auf den nächsten Stuhl, schlug beide Hände vors Gesicht und konvulsivisch fast arbeitete seine Brust gegen das erdrückende Gefühl an, das ihn zu ersticken drohte.
Da richtete sich der Sohn langsam in die Höhe, sein Gesicht war mit Tränen überströmt und totenbleich; er strich sich langsam die Haare aus der Stirn, und sein glanzloser Blick suchte des Vaters ineinander gesunkene Gestalt. Endlich sagte er mit leiser, heiserer Stimme, indem sein Auge langsam im Kreise der Seinen umherglitt:
„Also haltet auch i h r mich alle für schuldig – für fähig, ein solches Verbrechen zu begehen?"
Keiner antwortete, der Mutter Blick hing angstvoll an seinen Zügen. Da schritt Margarete, seine Schwester, leise auf ihn zu, sie sah ihm fest ins Auge, und als sie dicht bei ihm stand, lehnte sie ihren Kopf an seine Brust und sagte schüchtern: „Ich habe es nie getan, Karl, ich war damals noch jung, wie mir aber in jener schweren Zeit die Kinder auf der Straße nachschrieen und mich verspotteten, mein Bruder hätte einen Menschen totgeschlagen und käme ins Zuchthaus, da habe ich still für mich geweint, aber geglaubt habe ich's doch nicht, auch wenn ich noch ein Kind war."
„Gretchen", sagte ihr Bruder, schlang seinen Arm um sie und drückte sie an sich. „Mein liebes, liebes Gretchen, und bist du's denn wirklich? Wie hoch aufgeschossen in der langen Zeit!" setzte er scheu hinzu.
Der Vater hob den Kopf, aber jetzt hielt sich die Mutter auch nicht länger.
„Nein!" rief sie. „Wo ich jetzt sein treues, ehrliches Gesicht wiedersehe, wo ich es selber aus seinem Munde höre, dass er unschuldig ist, jetzt, jetzt glaub ich's ihm, mag die Welt über ihn urteilen, wie sie will, die eigene Mutter kann ihn nicht verdammen!"
Und von ihrem Sitz emporfahrend, warf sie sich an die Brust des Sohnes und umschlang ihn mit ihren Armen.
„Meine gute, gute Mutter!"
„Es war eine furchtbare Zeit", flüsterte die Frau, ohne aber ihre Stellung zu verändern oder den Kopf zu heben. „Als wir die erste Kunde hörten und hier von der Polizei ein Leumundszeugnis über dich verlangt wurde. Damals hielt dich hier freilich kein Mensch für schuldig, selbst nicht die Polizei, aber dann, als Berichte über Berichte kamen, das Verhör von den Geschworenen mit all den Zeugenaussagen gegen dich hier sogar in den Zeitungen gedruckt wurde, so dass es alle Menschen lesen konnten, oh, mein allmächtiger Gott! Was habe ich da gelitten, was ausgestanden, und nicht einmal aus dem Fenster wagte ich zu sehen, aus Furcht, dass ich dem Auge eines anderen Menschen begegnen könnte. Und dann kam das Urteil – sechs Jahre Zuchthaus..." Sie konnte nicht weiter, sondern drückte nur ihr Antlitz fest, fest an des Sohnes Brust, als ob sie dort das ganze ausgestandene Elend bergen wolle.
„Und doch unschuldig, Mutter!" sagte Karl ruhig und resigniert.
„Und wagt du das n o c h zu behaupten?" fuhr da der Vater empor, und es war fast, als ob er mit den rauen Worten selbst in ihm aufsteigende Zweifel bekämpfen und niederdrücken wolle. „Wagst du das zu behaupten, Junge, wo nicht die Richter hinter verschlossenen Türen, sondern Männer unseres Standes, Bürger und Handwerker, brave, unbescholtene Leute, die kein Interesse für oder gegen dich haben konnten, wo die Geschworenen dich selbst nach allen Zeugenaussagen und Beweisen für schuldig der furchtbaren Tat befunden haben?"
„Ja, Vater", sagte Karl und sah dem Vater ruhig und fest ins Auge. „So wahr da droben Gottes Himmel über uns ist, so wahr ich hoffe, dass er dich und die Mutter noch lange Jahre gesund erhält, so wahr sage ich dir, ich bin an der schrecklichen Tat, für die ich büßen musste, so unschuldig wie du oder Margaret."
„Oh, mein Sohn, mein Sohn!" klagte die Mutter.
Der alte Tischler schaute ihn betroffen an. Das klang allerdings nicht wie das freche Leugnen eines Schuldigen, und es war sein Sohn, sein eigen Fleisch und Blut. Aber ließ es sich denken, dass alle jene furchtbaren Beweise, die, jeden Menschen überzeugend, aufgebracht worden, nur eben so viele Lügen und Täuschungen gewesen wären? Ließ es sich denken, dass die Gerichte einen Menschen für sechs Jahre in das Zuchthaus sperren und damit für ewig ehrlos machen würden, wenn auch nur der Schatten einer Möglichkeit vorgelegen hätte, dass er unschuldig sein könnte? Nein, wieder schüttelte er finster mit dem Kopfe und sah brütend vor sich nieder – es war nicht möglich.
„Ich habe", sagte da der Sohn leise und schmerzlich, „bis jetzt recht hart über die Richter gedacht, dass sie meinen heißen Beteuerungen nicht glauben wollten und mich wie einen gemeinen Verbrecher verdammen, ich kann es jetzt nicht mehr, wo selbst der eigene Vater seinen Blick von mir abwendet; das ist hart, recht hart."
Der Mann kämpfte noch eine Weile mit sich, endlich sagte er, aber mit leidenschaftlich bewegter Stimme: „Gott ist mein Zeuge, wie ich gekämpft und gerungen habe gegen alle Beweise, wie ich nicht glauben konnte und wollte, dass mein eigener Sohn, den ich, wie ich fest glaubte, zu einem braven und rechtlichen Menschen erzogen, ein gemeiner Verbrecher, ein Mörder habe werden können; aber die Geschworenen, brave, unbescholtene Männer aus dem Volke, haben sich selber davon überzeugt und ihr Urteil gesprochen, und nur dein jugendliches Alter, wie es in der Zeitung stand, und dein früherer unbescholtener Wandel hat die Richter dahin vermocht, dich nicht die ganze Strenge der Gesetze fühlen zu lassen. Du bist damals zu sechs Jahren Zuchthaus nicht b e s t r a f t, sondern b e g n a d i g t worden, und du wärst unschuldig?"
„Und trotzdem, Vater, bin ich unschuldig verurteilt worden!" sagte Karl mit voller Ruhe, während sich die Mutter jetzt wieder aufgerichtet hatte und ihn mit peinlicher Spannung anschaute. „Weißt du, was ich zu meiner Verteidigung gesagt habe?"
„Hundert und hundert Mal habe ich's durch und wieder und wieder gelesen", rief der Vater rasch und heftig. „Aber hast du die Geschworenen damit überzeugen können? Hat dir auch nur einer die Gründe gelten lassen?"
„Doch, Vater", sagte Karl. „Drei von ihnen räumten wenigstens die Möglichkeit ein...."
„Erklärten aber selber, dass es unwahrscheinlich sei. Die Uhr wolltest du von dem Juden gekauft, deinen eigenen Stock aber, womit das Verbrechen verübt worden, an einen Fremden, der nie aufgefunden werden konnte, und den kein Reisender an der ganzen Straße weiter gesehen hat, verkauft haben."
„Ja, Vater."
„Und in dem Hause, wo der Jude zurückblieb, hatte er noch seine Uhr und bot sie den Leuten selbst zum Handel an."
„Ich weiß es", sagte Karl. „Die Zeugen haben es ausgesagt, aber haben diese Leute nicht oft mehr Uhren bei sich, um Handel damit zu treiben?"
„Und das Geld, das du bei dir hattest?"
„Es war ehrlich verdient, Vater, und nicht der fünfzigste Teil von dem, was der Jude bei sich gehabt haben sollte."
„Man behauptet, du hättest es im Walde versteckt."
„Und würde ich dann die Uhr behalten haben?"
„Das war das einzige, was dein Verteidiger für dich geltend machte. Oh, wie oft und wieder und wieder habe ich dessen Worte gerade gelesen, bis ich sie auswendig kannte und selbst im Traum hersagte, aber es war kein Beweis. In der Aufregung nach einer solchen Tat konntest du so wenig an die Uhr gedacht haben wie an den Stock, den du bei der Leiche liegen ließest."
„Ich! Vater?" sagte Karl mit einem unbeschreiblich wehen Ton.
„Der Mörder", flüsterte der Vater scheu.
„So sag uns jetzt, Karl", bat da die Mutter mit tränender Stimme, „so wahr und ehrlich, als ob du unter dem furchtbarsten Eide vor deinem einstigen Richter stündest, wie es war. Nimm uns die Angst und den Schmerz von der Seele, und der Vater wird dann auch deinen Worten glauben."
Karl atmete hoch auf, aber seine Kräfte ermatteten, er sah sich nach einem Stuhl um, auf den er mehr sank als dass er dort Ruhe suchte, und sagte endlich nach kurzer Pause:
„Ich habe alles schon vor Gericht ebenso treu und wahr geschildert, Mutter, aber ihr sollt es noch einmal hören, steht es doch auch noch so scharf und lebendig vor mir, als ob erst gestern all' das Furchtbare geschehen wäre, und doch sind sieben lange Jahre darüber hingegangen. Du erinnerst dich Vater, aus dem Verhör, dass ich mit dem Juden in einer ziemlich schlechten Dorfschenke übernachtete, dort in Schlesien gibt es noch weite, öde Strecken, und der Verkehr ist, besonders bei schlechtem Wetter, kein großer auf den Straßen. Dass der Unglückliche viel Geld bei sich hatte, konnte ich natürlich nicht wissen, und was hätte ich mich auch darum gekümmert? Wir zehrten den Abend zusammen, es war ein komischer Kauz, der den Kopf voller Schnurren hatte, und da ich auch aus meinem Handwerksleben erzählte, blieben wir bei ein paar Gläsern Bier bis spät in die Nacht hinein munter.
Am nächsten Morgen wollte ich früh aufbrechen, ich war auf dem Heimweg", setzte er mit bewegter Stimme hinzu, „und hoffte, euch bald, recht bald wieder begrüßen zu können, deshalb eilte ich so. Mir lag nur daran, schnell die nächste Eisenbahn zu erreichen.
Der Jude, der sich Moses nannte, erklärte aber, wenn er auch nicht gerade in so großer Eile selber sei, wolle er mich doch noch ein Stück bis zum nächsten Dorf begleiten, wo er wieder Geschäfte habe, und durch den Wald, der vor uns lag, ginge es sich besser in Gesellschaft. Er musste dort in der Gegend bekannt sein. Nach zwei Stunden scharfen Marschierens erreichten wir das Dorf, gingen aber ziemlich hindurch bis zum letzten großen Hause, wo Moses vor der Hand bleiben wollte. Unterwegs hatte er mir aber noch richtig seine Uhr aufgeschwatzt. Ich hatte außerdem keine, und der Preis, den er dafür forderte, war billig genug. Bei Kasse war ich außerdem, denn ich hatte fleißig gearbeitet und knapp gelebt, und wir wurden endlich handelseinig. Ich konnte nicht ahnen, wie gefährlich der Kauf für mich werden sollte.
Ich wanderte jetzt allein weiter. Es ging sich nicht besonders auf dem schlechten Weg, und ich überlegte mir schon, wie ich in dem nächsten größeren Dorfe Mittag machen und eine Stunde ausruhen wollte. Ich musste hier wieder durch eine Strecke Wald, der teils aus Birken, Kiefern und Erlen bestand, nur vereinzelt standen ein paar Eichen dazwischen. Leute hatte ich bis jetzt sehr wenige auf der Straße getroffen – ein paar Juden mit einem Karren und zwei kleinen, mageren Pferden war mir begegnet, und ein Reiter hatte mich überholt, war aber scharf vorbeigeritten. Ich musste auch zu viel auf den Weg achten, um einzelnen Schlammlöchern auszuweichen, als dass ich richtig auf ihn geachtet hätte. Jetzt begegnete mir ein anderer Fußgänger, der aber plötzlich wie aus dem Wald herauskam, was mir jedoch auch nicht auffiel, denn ich war schon selbst ein paar Mal über den Graben und in die Büsche hineingesprungen, um dort vielleicht etwas trocknere oder doch härtere Bahn zu finden. Er mochte in meinem Alter sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter, und ging fast wie ein Städter gekleidet. Der Weg schien ihm aber gar nicht zu passen, kurz vorher, ehe ich an ihn herankam, war er in einem Schlammloch stecken geblieben, und als ich ihm Guten Tag bot, rief er:
„Ach, Kamerad, ihr könntet mir einen großen Gefallen tun! Ihr habt da einen prächtigen Stock, verkauft mir den, ich komme in dem verdammten Weg ohne Stock fast gar nicht von der Stelle!“
Der Stock war ein richtiger, aber sehr hübsch gewundener Knotenstock, den ich mir im letzten Städtchen selbst erst gekauft und dafür einen Taler und zehn Groschen bezahlt hatte. Er war nur eigentlich etwas zu schwer zum Marschieren, mit einer dicken, eisernen Zwinge unten dran. Ich meinte auch, ich würde den Stock wohl selbst nötig haben, um fortzukommen, er aber bot mir einen so hohen Preis – etwa die Hälfte von dem, was ich dem alten Juden für die Uhr gegeben – dass ich mich endlich überreden ließ. Ich dachte mir: Im nächsten Dorf kannst du immer einen Stock kriegen, und wenn du einen aus der Hecke ziehen musst. Damit schieden wir, ich ging meinen Weg voraus und er zurück, und da die Straße dort viele Biegungen machte, verloren wir einander bald aus den Augen.