Im Garten Numen - Erik R. Andara - E-Book

Im Garten Numen E-Book

Erik R. Andara

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Beschreibung

Als Simon Heymanns drogenkranke Tochter unter mysteriösen Umständen aus einer kirchlichen Therapieeinrichtung im Waldviertel verschwindet, weiß er sich nicht anders zu helfen, als selbst in das verlassene Dorf zu fahren, um dort nach ihr zu suchen. Dabei entdeckt er vergessen geglaubte Wege, die geradewegs in die Finsternis führen, und die mit seiner eigenen bewegten Vergangenheit in Verbindung stehen. Wege, von denen er gewünscht hätte, sie niemals wieder betreten zu müssen.

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»Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis.«

– 1. Buch Mose (Genesis) 1:3 –

SIMON KLOPFTE ERNEUT, glaubte aber nicht mehr daran, dass ihm geöffnet werden würde. Das abgenutzte Holz der Tür schluckte das Geräusch; augenblicklich war es dahinter wieder so mucksmäuschenstill, als hätten seine Knöchel sie niemals berührt. In der Ferne bellte ein Hund. Simon verspürte den jähen Wunsch, einfach aufzugeben und wieder nach Hause zu fahren, hatte aber keinen Schimmer, wie es danach weitergehen sollte. Verärgert drückte er zum wiederholten Male die Klinke hinab und rüttelte energisch daran – noch immer abgesperrt. Eine Fliege summte aufdringlich um seinen Kopf, während er überlegte, ob man ihn drinnen vielleicht einfach nicht hören konnte. Nirgends war ein Klingelknopf zu entdecken, und Simon fand es etwas verfrüht, mit der Faust gegen die Tür zu hämmern, auch wenn alles in ihm danach drängte; er war der Ansicht, dass das einen falschen ersten Eindruck hinterlassen könnte. Wider besseres Wissen wartete er einen weiteren Moment lang ab, ob er doch noch Antwort bekäme, lehnte dann seinen Koffer gegen die Wand und begab sich auf die Suche nach einem anderen Zugang zum Hof.

Er verließ den Schatten des Vordachs und wanderte die blendend weiße Fassade entlang, dabei folgte er mit den Fingern einem der dicken Risse im Verputz. Auf dem Dach des Bauernhofs loderten die rostbraunen Schindeln in der prallen Sonne. Als er wieder hinaus auf die Hauptstraße des Dorfes bog, beobachtete Simon den Bus, mit dem er eben erst angekommen war, wie dieser gerade auf der gegenüberliegenden Hügelkuppe hinter den Bäumen verschwand. Die reguläre Buslinie querte den entlegenen Teil des Waldviertels nur drei Mal täglich – und dann hielt der Fahrer die Haltestelle am Dorfplatz von Fugenschlag am Walde nur ein, wenn man ihm rechtzeitig Bescheid gab. Simons Glück war es gewesen, dass ihn die nette Dame am Bahnhofsschalter in Wien beim Ticketkauf rechtzeitig gewarnt hatte, sonst hätte er sicher den Ausstieg verpasst.

Direkt vor dem Hof verlief der zementierte Weg, der sich hier Hauptstraße schimpfte. Er war gerade so breit, dass sich darauf zwei Autos aneinander vorbeischummeln konnten, und der Straßenbelag bestand aus unzähligen Flicken, die hubbelig und in unterschiedlichen Grautönen einen kleinen Abhang hinauf führten. Das Dorf war wie ausgestorben, nur das aufgeregte Sirren von Insekten rahmte allumfassendes mittägliches Schweigen.

Als Simon die Straße betrat, begann im Wald ein Specht arrhythmisch zu klopfen, sofort setzte auch das gedämpfte Hundegebell wieder ein. Simon trottete weiter an der Hausmauer des Hofs entlang und inspizierte die Fenster. Nichts bewegte sich dahinter; jenseits der vergilbten Gardinenbordüren hing bloß teilnahmsloses Dämmerlicht.

»Sie sind der Gast, oder?«

Simon war gerade im Begriff gewesen, seine Nasenspitze an eine der staubigen Scheiben zu drücken und zu versuchen, an seinem eigenen Spiegelbild vorbei in die Dunkelheit des Gebäudes zu spitzeln, als die Stimme erklang. Ertappt fuhr er herum und entdeckte einen Mann, der die Hauptstraße herabkam. Simon hatte keine Ahnung, hinter welchem Eck er so jäh hervorgekommen sein könnte.

»Sie sind der Gast?«, wiederholte er. »Herr … Heumann?«

»Heymann«, besserte Simon ihn aus und musterte blinzelnd die gedrungene Erscheinung, die inzwischen an ihn herangetreten war – die Sonne im Rücken. Der Mann war nicht allzu groß, kaum größer als Simon, dafür sicher eineinhalb Mal so breit. Er trug eine abgeschmierte graue Latzhose und darunter kein Hemd. Auf seinen fleischigen Schultern und den wulstigen Strängen seiner Nackenmuskulatur leuchtete ein schlimmer Sonnenbrand. Simon konnte den süßlichen Schweißgeruch wahrnehmen, den der Mann verströmte. Er nahm es ihm nicht übel, nach der langen Fahrt im unklimatisierten Bus schwitze er selbst wie ein Schwein und roch – Deo hin oder her – sicher nicht viel besser als sein Gegenüber.

»Sind Sie Herr Swoboda?«, fragte Simon. Er hatte bislang zwar immer nur mit einer Frau Swoboda gesprochen, aber das hieß nicht, dass es den dazugehörigen Mann nicht gab. Der Fremde in der Latzhose hatte sich seinen ausgebeulten grünen Filzhut zum Schutz vor der Sonne weit in die Stirn geschoben. Simon erkannte von seinem Gesicht nicht viel mehr, als das kantige, von dunklen Stoppeln überwucherte Kinn, das unter dem Schatten der Krempe hervorragte.

»Nein, bin ich nicht, aber die Fini …«, der Mann legte eine kurze Pause ein und schien sich noch über etwas klar werden zu müssen. Als er weitersprach, klang er, als würde er einen auswendig gelernten Spruch vortragen: »Frau Swoboda schickt mich. Sie hat mich gebeten, sie tausend Mal zu entschuldigen. Es ist ihr etwas dazwischen gekommen. Wichtige familiäre Angelegenheiten. Sie können leider nicht bei ihr wohnen.«

Simon traute seinen Ohren kaum.

»Das geht nicht«, stammelte er und versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Es war doch schon alles vereinbart. Wo soll ich denn jetzt schlafen?«

Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte, die ganze Aktion war von vornherein verfahren gewesen. Aber was war schon einfach, wenn es um das Leben der eigenen Tochter ging? Sowohl die Polizei als auch Sabine hatten zwar wieder und wieder versucht, ihm auszureden, dass er hierherkäme, aber Simon hatte keine andere Lösung gesehen. Irgendetwas musste er schließlich unternehmen, sonst würde er über kurz oder lang sicher wahnsinnig werden – oder Schlimmeres.

»Was mache ich denn jetzt? Gibt es hier zumindest irgendwo einen Gasthof?« Die Frage kam ohne zu überlegen aus ihm geschossen, obwohl er es eigentlich besser wusste. Das private Zimmer bei Frau Swoboda zu organisieren, hatte ihn eine Menge Nerven und Zeit gekostet. Der hiesige Kaplan hatte sich nach ewigem Hin und Her schließlich seiner erbarmt und ihn an Frau Swoboda verwiesen; nirgendwo in der Umgebung war eine andere Unterkunft aufzutreiben gewesen. Das einzige, was ansonsten einem Hotel noch nahekam, war ein Bordell auf der anderen Seite der tschechischen Grenze, völlig ungeeignet für seine Zwecke, und viel zu gefährlich, wenn man seine Geschichte bedachte; außerdem viel zu teuer.

»Kommen Sie einfach mit«, antwortete der Dorfbewohner ungerührt. »Fini hat Ihnen ein Ersatzzimmer bei der Huberin besorgt, bevor sie weggefahren ist.«

Ohne weiter abzuwarten, was sein Gegenüber davon hielt, drehte sich der Mann einfach um und gab Simon den Wink, ihm zu folgen.

»Mein Koffer ist noch beim Hofeingang«, war alles, was diesem auf die Schnelle dazu einfiel.

»Na gut, aber beeilen Sie sich. Ich hab’ ja meine Zeit auch nicht gestohlen«, knurrte der Fremde mit dem Hut. Simon biss sich auf die Zunge, bevor ihm eine scharfe Erwiderung auf den unhöflichen Tonfall über die Lippen kommen konnte. Er war bemüht, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass er sich nicht mehr in der Stadt befand. Am Land herrschten andere Sitten, und er war nicht auf der Suche nach Streit. Er wollte lediglich seine Tochter finden – das war auch schon alles. Als er sich umwandte, um zum Hofeingang zurückzulaufen, stach ihm ein Glitzern in die Augen. Die Heckscheibe des Busses funkelte ein letztes Mal in der Sonne, dann war er endgültig hinter der schroffen Felswand verschwunden, die am gegenüberliegenden Hügelkamm den Ausgang des kleinen Tals markierte. Simon beeilte sich, zu seinem Koffer zu kommen. Das entfernte Hundegebell wollte indes überhaupt nicht mehr verstummen.

BEI FRAU HUBER handelte es sich um eine überaus blasse, verschreckt wirkende Frau, die Simon kein einziges Mal in die Augen sah, während sie sprach. Der Fremde in der Latzhose hatte ihn quer durch Fugenschlag geführt, irgendwann auf ein Haus am anderen Ende einer verwilderten Wiese gedeutet und ihm erklärt, dass er dort unterkommen könne. Dann hatte er sich grußlos wieder getrollt.

Während Frau Huber Simon über die knarzende Treppe in den ersten Stock führte, überlegte er, sie zu fragen, wie sein stiernackiger Führer eigentlich hieß, ließ es aber dann bleiben. Es spielte keine Rolle, wer er war. Wahrscheinlich hatte er Simon – den Städter mit seinem sorgfältig getrimmten Bart und den tätowierten Armen – für ebenso seltsam befunden, wie dieser wiederum den stämmigen, wortkargen Dorfbewohner.

»Da sind wir.« Das dünne Stimmchen von Frau Huber unterstrich ihr verhuschtes Auftreten nur umso mehr. Simon bemühte sich, der zartgliedrigen blonden Frau ein freundliches Lächeln zukommen zu lassen und trat dann durch die aufgehaltene Tür. Das Zimmer dahinter war klein und es roch, als wäre länger nicht gelüftet worden. Ein schlichtes Holzbett standen neben dem Fenster, außerdem ein alter Schrank und ein schmaler Schreibtisch inklusive Stuhl. Mehr hatte er sich auch nicht erwartet, er war schließlich nicht hier, um Urlaub zu machen.

Vor dem Fenster versperrte in einigen Metern Entfernung der Waldrand den Blick. In den Wipfeln der Bäume gleißte die Sonne, aber im Haus selbst war es schattig und angenehm kühl.

»26 Euro pro Tag haben Sie mit der Fini ausgemacht, stimmt das?«

»Mit wem?«, fragte Simon gedankenverloren, dann fiel es ihm wieder ein. »Ja, ja, 26 Euro pro Nacht hat Frau Swoboda fürs Zimmer verlangt. Vier Euro mehr, wenn ich Frühstück will.«

»Das können wir auch so machen, wenn es Ihnen recht ist. Was wollen Sie denn zum Frühstück, Herr …«

»Heymann, aber sagen Sie bitte Simon zu mir.«

»Gerne, Herr Simon. Was wollen Sie denn frühstücken?«

»Ich bin pflegeleicht, Frau Huber. Hauptsache, es gibt Kaffee! Ach so, und ich bin Vegetarier, also bitte keine Wurst für mich.«

»Ich stehe unter der Woche sehr früh auf, weil ich zur Arbeit muss. Aber ich lasse Ihnen Kaffee in der Maschine stehen, damit Sie gleich welchen haben, wenn Sie runterkommen. Ansonsten bedienen Sie sich einfach in der Küche, falls ich morgens schon weg bin. Butter, Marmelade und etwas Käse sollten immer da sein. Wenn Sie mir eine Liste schreiben, kann ich Ihnen gerne auch was aus dem Supermarkt in Zwettl mitbringen.«

»Das wäre nett. Ich habe gelesen, dass das Gasthaus im Ort einen kleinen Lebensmittelhandel betreibt?« Simon stellte den Koffer neben das Bett; die Matratze und das Bettzeug waren noch unbezogen.

»Ja, aber sie haben keine festen Öffnungszeiten, und das kleine Sortiment ist ziemlich teuer. Sagen Sie mir einfach, was Sie gerne möchten. Ich habe morgen wieder Dienst, dann kann ich es Ihnen mitbringen. Sie können es auch in den Kühlschrank tun, macht keine Umstände. Und heute können Sie hier zu Abend essen, wenn Sie wollen. Ich koche gerne für Sie mit.«

»Das würde ich natürlich bezahlen.«

Frau Huber nickte, Simon betrachtete die zierliche Frau; unter ihren Augen lagen tiefe, dunkle Ringe und ihr langes aschblondes Haar trug sie zu einem schlichten Zopf geflochten. Sie mochte einmal eine hübsche Frau gewesen sein, bevor ihr das Leben böse mitgespielt hatte. Zwar war das nur geraten, aber mit solchen Dingen kannte Simon sich aus. Er hatte selbst seinen Teil an Schicksalsschlägen einstecken müssen, die meisten davon hatte er sich allerdings auch redlich verdient; bei Frau Huber war er sich da nicht so sicher.

Ihr Alter war schwer zu schätzen, Simon hätte auf Anfang vierzig getippt. Allerdings wirkte ihre gebeugte Körperhaltung eher wie die einer Frau um die fünfzig – genauso wie die großgeblümte Arbeitsschürze nicht unbedingt dienlich war, um ihrem abgekämpften Erscheinungsbild entgegenzuwirken. Er nickte und nahm sich vor, im Umgang mit Frau Huber besonders vorsichtig und freundlich zu sein. Sie tat ihm leid, obwohl er sie eigentlich gar nicht kannte.

»Eine Dusche gibt es auch?«, fragte Simon und rang sich ein weiteres Lächeln ab.

»Sie kommen wegen des Bruchhofs, habe ich recht?« Die blassblauen Augen der kleinen Frau, die bis eben noch so abwesend gewirkt hatten, bohrten sich nun derart anklagend in ihn, als würde er höchstpersönlich Schuld an ihrer Lebensmisere tragen. Obwohl er nicht wüsste wofür, überkam Simon plötzlich der brennende Wunsch, sich bei der Frau zu entschuldigen.

»Katharina … meine Tochter, sie ist verschwunden«, antwortete er stattdessen.

Sie nickte wissend, als hätte sie so etwas bereits geahnt. Kurz schien es, als wollte sie noch mehr dazu sagen, aber der Moment verflog genau so schnell, wie er gekommen war; dann schluckte Frau Huber tonlos und ihr Blick wanderte wieder zu Boden.

»Die Dusche ist den Flur hinab, zweite Tür links. Eine Tür weiter ist das Klo«, flüsterte sie. »Wenn Sie noch Fragen zum Zimmer haben, ich bin in der Küche und bereite das Abendessen vor. Ich hoffe, Sie mögen gebackenen Karfiol mit Preiselbeermarmelade.« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und verließ den Raum. Simon glaubte, sie leise seufzen zu hören, als sie vorsichtig die Tür hinter sich schloss. Er war sich beinahe sicher, dass sie etwas wusste, das mit Katharina zu tun hatte, entschied aber, dass momentan nicht der richtige Zeitpunkt war, um nachzuhaken. Vielleicht später, beim Abendessen.

Gedankenverloren betrachtete er das Bett, er hatte vergessen, Frau Huber wegen der Überzüge zu fragen; außerdem fiel ihm jetzt erst auf, wie klein der Bettrahmen war. Müde stapfte er zu seinem Koffer, hob ihn auf die Matratze und öffnete ihn. Ein faltiges T-Shirt fiel ihm entgegen, als der Deckel aufklappte, und auch das übrige Gewand war verrutscht und völlig verknittert. Simon seufzte und setzte sich auf die nackte Matratze, er hatte das mit dem Kofferpacken nie wirklich beherrscht; früher hatte das seine Ex-Frau Monika immer übernommen. Als Katharina noch klein gewesen war, hatte sie immer ganz ungeduldig daneben gestanden, wenn für den Urlaub gepackt wurde, und jenen Moment abgewartet, wenn endlich alles verstaut wäre und Simon seinen Pflichten als Mann im Haushalt nachkommen durfte, indem er den hoffnungslos überfüllten Koffer schloss. Die heißgeliebte Aufgabe ihrer Tochter war es gewesen, sich auf den Deckel zu setzen, während er unter großem gemeinsamem Gelächter die Riegel einrasten ließ.

Während er zwischen den T-Shirts nach dem Handy-Ladekabel wühlte, spürte Simon deutlich, wie müde er war. Unzusammenhängend dachte er darüber nach, dass er wohl Frau Huber bitten müsste, ihm ein Bügeleisen zu leihen. Außerdem fiel ihm jetzt erst auf, dass sie ihn gar nicht danach gefragt hatte, wie lange er zu bleiben plante. Wobei er darauf auch gar keine Antwort hätte geben können. Es dauert so lange wie es dauert, hatte er schon zu Sabine gesagt und sie gebeten, den Chef bei Laune zu halten, falls er nach seinem offiziellen Urlaubsende in drei Wochen wirklich noch nicht zurück sein sollte. Andererseits wäre es ihm auch egal, wenn ihn der junge Brauneis kündigen würde. So toll war sein Job als IT-Techniker bei der Spedition Brauneis&Söhne nun auch wieder nicht. Sabine, die über seine Vergangenheit Bescheid wusste, dachte naturgemäß etwas anders darüber. Sie hatte ihn wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass er Gefahr liefe, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Auch wenn Simon das nicht ganz so sah – er wusste selbst gut genug, was ging und was nicht; bei jedem seiner Rückfälle hatte er es schon von weitem kommen gesehen, nur eben einfach nichts dagegen unternommen. Außerdem war er seit über sechzehn Jahren den Großteil der Zeit clean gewesen; beinahe so lange wie Katharina lebte. Und JA, sie lebte noch! Er weigerte sich, etwas anderes zu denken.

Als er das Ladekabel endlich in der Hand hielt, schob er den Koffer zur Seite, streifte die Schuhe von den Füßen und legt sich aufs Bett. Simon stellte fest, dass es tatsächlich zu kurz für ihn war – seine Füße baumelten über die Kante. War das etwa ein Kinderbett? Er rutschte ein Stück weit nach oben, bis er eine komfortablere Position gefunden hatte, schnappte sich dann das unbezogene Kissen und schob es sich unter den Kopf; angenehm kühl schmiegte es sich an seinen Nacken. Simon holte das Handy aus seiner Hosentasche und kontrollierte den Empfang: dürftige drei Balken, aber immerhin hatte er ein Netz. Und vorhin am Dorfplatz war die Anzeige noch voll gewesen, er hatte sogar drei WiFi-Netze entdeckt; alle drei zwar verschlüsselt, aber zumindest befand er sich nicht völlig jenseits der Zivilisation.

Simon löste die Bildschirmsperre, es waren keine neuen Nachrichten eingegangen. Dann öffnete er die Unterhaltung mit Sabine und tippte: Bin jetzt angekommen, nicht ganz so komfortabel, wie ich es gewohnt bin. Er richtete die Kameralinse des Handys auf seine Beine, die immer noch über das Bett hinausstanden, und schickte Sabine ein Foto davon. Das schwache Netz sorgte dafür, dass es ewig dauerte, bis das Bild endlich hochgeladen war. Aber Sabine kam noch im selben Augenblick online, in dem die Bestätigung über den geglückten Versand aufleuchtete.

Wenn du mir gesagt hättest, wie luxuriös du zu wohnen planst, wäre ich auf jeden Fall mitgekommen, schrieb sie zurück. Und sofort darauf: Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du herausfindest, was geschehen ist. Und denk daran: Du kannst mich jederzeit anrufen! Egal zu welcher Uhrzeit! Tag und Nacht!

Simon schloss die Unterhaltung mit Sabine und öffnete den Chat mit Monika. Herrgott noch einmal, bist du so blöd oder stellst du dich nur so? Warum willst du es nicht verstehen? Wach endlich auf! Sie ist wie wir! So wie du und ich! Weißt du nicht mehr, wie es am Anfang gewesen ist? Wir waren überzeugt davon, dass wir klüger und stärker als alle anderen wären. Herr und Frau »Sieh uns nur an wie geil wir nicht sind«. Wir haben gedacht, dass die Welt uns etwas schuldig wäre. Aber einen Scheiß haben wir gewusst! Du musst sie gehen lassen, Simon! Sie kommt von selbst zurück, wenn sie irgendetwas braucht. Und das wird schneller geschehen, als du glaubst. Warte es nur ab! Wir können nichts mehr für sie tun! Sie ist auf sich alleine gestellt!, lautete die letzte Nachricht, die er vor zwei Tagen von Monika, seiner Ex-Frau, bekommen hatte. Heute Morgen hatte er ihr geschrieben, dass er jetzt nach Fugenschlag unterwegs sei und sie auf dem Laufenden halten würde. Die Empfangsbestätigung zeigte an, dass die Nachricht zwar gelesen worden war, Antwort darauf hatte er allerdings keine bekommen.

Ich bin jetzt da und lasse es dich wissen, sobald ich etwas herausfinde, tippte er und wartete ein Weilchen, ob Monika sich einloggen würde – aber Fehlanzeige. Simon schloss WhatsApp und kehrte zum Hauptbildschirm zurück. Die Akkuanzeige war noch zur Hälfte gefüllt, was eigentlich genug sein sollte, um den Rest des Tages über die Runden zu kommen. Aber bei dem schlechten Empfang hier konnte es durchaus passieren, dass sich das Handy ständig neu ins Netz einzuwählen versuchte, und das fraß Unmengen an Strom. Er sollte also lieber auf Nummer sicher gehen und das Handy noch einmal ans Ladegerät anschließen, bevor er sich dann gleich auf eine erste Erkundungstour durchs Dorf machen wollte.

Simon plante, bei der Kirche vorbeizuschauen; den Kirchturm hatte er vom Dorfplatz aus bereits zwischen den Bäumen des Waldes aufragen gesehen; er schien nicht allzu weit weg zu sein. Nichts ist hier allzu weit weg, dachte er und ließ auf der Suche nach einer Steckdose den Blick durch den Raum schweifen, ohne sich dabei vom Bett zu erheben. Simon fühlte sich wie erschlagen, die lange Fahrt im aufgeheizten Bus hatte ihm das letzte bisschen Energie aus dem Körper gesogen; er hatte vergangene Nacht aber vor Aufregung auch nicht geschlafen. Aus dem Erdgeschoß erklang das Klappern von Geschirr, Frau Huber war offenbar bereits in der Küche zugange. Simon fiel ein, dass er sie noch um einen Schlüssel bitten musste, wenn er später das Haus verließ.

Unter der Fensterbank wurde er fündig: Die Steckdose war nicht einmal eine Armlänge von ihm entfernt. Aber genauso gut hätte es sich dabei um die Distanz von hier zur grell strahlenden Sonne handeln können, die jenseits der unbewegt leuchtenden Baumwipfel inmitten eines wasserblauen Himmels flirrte. Und dahinter? Was lag dahinter? Ein wild um sich schlagender Feuerball in der Schwärze des Alls! Simon fühlte sich plötzlich wie eine Ameise, die der Lupe nicht zu entfliehen vermochte, mit der man sie zu verbrennen drohte. Besser, er bliebe hier, im Schatten des Hauses, wo man ihn nicht sehen konnte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu und seine Gedanken gelangten auf die Rutschbahn – abwärts in eine Finsternis, die ihm Sorgen bereitete. Sein Arm schien ihm viel zu schwer, um ihn noch zu bewegen. Gleich, betete er sich mehrmals vor, gleich.

Simon gähnte, seine Augen brannten, aber er schaffte es nicht einmal mehr, sie zu reiben. Sein eingetrübter Blick fiel auf etwas, das in die Unterseite der Fensterbank geritzt worden war. Er versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu blinzeln, um erkennen zu können, was dort geschrieben stand. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihm; jemand hatte »Madelaine + Christoph 4ever« ins Holz geschnitzt, die groben Lettern wirkten nachgedunkelt und alt. Über Simon schwappte die Erkenntnis hinweg, dass er tatsächlich in einem ehemaligen Kinderzimmer untergekommen war. Aber wo war das Kind? Erwachsen geworden? Fortgezogen? … gestorben? Mit seinem letzten klaren Gedanken nahm er sich vor, Frau Huber danach zu fragen, aber irgendetwas riet ihm, dabei vorsichtig vorzugehen; wenn jemand wusste, wie schwer einen der Verlust eines Kindes treffen konnte, dann wohl er. Er hatte Katharina ja nicht jetzt erst verloren, das Gefühl des Verlusts war viel, viel älter, saß viel, viel tiefer als das. Seine Ex-Frau hatte sie ihm weggenommen, und er hatte es einfach zugelassen – hatte es nach gerichtlicher Verfügung zulassen müssen, auch wenn das keine Entschuldigung für irgendetwas war. Wahrscheinlich war es damals auch einfach das Beste für alle Beteiligten gewesen, aber nun konnte er endlich etwas dagegen unternehmen. Er würde sie finden, und wenn es das Letzte sein sollte, was er tat!

Irgendwo klopfte immer noch ein Specht, aber von dem Hund war nichts mehr zu hören. Über der Absicht, sein Handy aufzuladen, schlief Simon schließlich ein.

DAS KLIRREN VON Glas riss ihn aus dem Schlaf. Er zitterte am ganzen Leib, zumindest dachte er das anfangs. Es dauerte einige Augenblicke, bevor er feststellen konnte, dass es gar nicht er selbst war, der zitterte, sondern dass offenbar das gesamte Haus bebte. Panisch sprang er vom Bett hoch, aber noch im selben Moment, als er auf die Beine kam, stoppte das Beben so abrupt, als hätte es nie existiert. Verwirrt starrte Simon in die Finsternis und hatte zuerst nicht die leiseste Ahnung, wo genau er sich befand und ob die Erde wirklich gerade noch vibriert hatte. Nichts davon war geblieben; unter seinen Füßen lag bloß stabiler Boden, und der einzige Anhaltspunkt, der sich ihm in der surrenden Schwärze des fremden Raumes bot, war ein träge blinkendes rotes Lichtlein, keinen Meter vor ihm entfernt – sein Handy. Simon beugte sich hinab, um es an sich zu nehmen, und wischte mit einem Finger übers Display, das auch prompt zu geisterhaftem Leuchten erwachte. Das Handy befand sich bereits im Akkusparmodus, und der Bildschirm war gedimmt, um keine Energie zu verschwenden; trotzdem reichte der schwache blassbläuliche Schimmer aus, um in Simon wieder die Erinnerung an seinen Aufenthaltsort zu wecken: Er war in Fugenschlag, und es war halb zwei Uhr nachts. Er hatte demnach mehr als zwölf Stunden geschlafen.

Während seine Finger weiter über das Display wanderten – offenbar waren zwei Textnachrichten eingegangen, während er geschlafen hatte –, versuchte er sich daran zu erinnern, wo sich in diesem Zimmer der Lichtschalter befand; nicht, dass er darauf geachtet hätte, als er hier eintraf. Sein Mund war trocken, und er fühlte sich benommen. Simon entdeckte, dass Monika endlich geantwortet hatte, außerdem hatte ihm Sabine geschrieben. Die nervös blinkende Akkuanzeige stand bei sechs Prozent, das Handy würde sich jeden Augenblick ausschalten. Simon fluchte leise in sich hinein und blickte auf. Das spärliche Licht des Bildschirms reichte kaum aus, um seine nächste Umgebung zu erkennen. Irgendwo in diesem verdammten Zimmer musste doch ein Lichtschalter sein!

Langsam begann er, in Richtung Tür zu wandern, dabei fiel ihm auf, wie ruhig es überall war. Sollte das Beben wirklich stattgefunden haben, dann hatte es außer ihm anscheinend niemand registriert; nicht einmal der ewig kläffende Dorfköter schien sich darum zu scheren. Simon tendierte mittlerweile eher zu der Ansicht, dass er es nur geträumt haben könnte.

Nach und nach schälte sich das hellbraune Holz der Türtäfelung aus der Dunkelheit, während er sich vorsichtig vorwärts schob und dabei argwöhnisch den flackernden Akkustand im Auge behielt. Dieser zeigte mittlerweile nur noch vier Prozent – jeden Moment würde nun das Display erlöschen und ihn der lückenlosen Finsternis überlassen, die außerhalb der äußerst eingeschränkten Leuchtkorona des Telefons nur darauf zu warten schien, neuerlich über ihn herzufallen. Simon, der sich normalerweise nicht unbedingt als ängstlichen Menschen bezeichnen würde, fand diese Vorstellung alles andere als angenehm. Er war die Stadt gewohnt, die mit ihren ewig anmutenden Lichtern die Nacht endgültig aus ihren Straßen und Gassen vertrieben hatte. Ein äußerst trügerischer Sieg, wie er nun feststellen musste, nachdem er deren zementversiegelten Grund hinter sich gelassen hatte. Außerhalb der Stadtgrenzen regierte die Nacht in all ihrer schwarzen Majestät nämlich nach wie vor absolut.

Neben dem Türrahmen entdeckte Simon endlich, wonach er gesucht hatte: das weiße Plastikquadrat eines Lichtschalters, dessen Anblick ihm im ersten Moment beinahe ein Stoßseufzen entlockte. Er schalt sich selbst einen Jammerlappen und beeilte sich, zur Tür zu kommen. Er würde Licht machen, sein Handy an der Steckdose anschließen und nachschauen, was Monika geschrieben hatte, dann auf die Toilette und danach wieder zu Bett gehen. Er bezweifelte zwar, dass er heute Nacht noch allzu viel Schlaf finden würde, wollte aber zu dieser Stunde nicht mehr durch das fremde Haus geistern. Bald würde sowieso die Sonne über den Horizont gekrochen kommen, dann würde er in die Küche hinuntergehen, und wer weiß, vielleicht ergab sich dann ja sogar die Möglichkeit eines Gesprächs mit Frau Huber. Ihm fielen genug Dinge ein, die er sie gerne gefragt hätte; angefangen beim Bruchhof, den sie selbst ins Gespräch gebracht hatte. Simon hatte das starke Gefühl, dass sie einiges zu diesem Thema beizutragen hatte. Er konnte den Morgen kaum noch erwarten, auch weil er schön langsam spürte, wie hungrig er war.

Beim Gedanken an das Frühstück, das ihm versprochen worden war, gab sein Magen ein lautes Grummeln von sich. Ein befremdliches Geräusch in der anhaltenden Stille des Hauses, die nur gelegentlich vom Knacken des Gebälks gestört wurde. Als Simon gerade nach dem Lichtschalter greifen wollte, bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Instinktiv drehte er das Handydisplay in die Richtung, aus der sie zu kommen schien. Der matte Schimmer erfasst etwas am Fenster: etwas Kleines, Rundes – ein Gesicht! Fassungslos stierte er mehrere Herzschläge lang in die schattenbelegten Augen eines Mädchens, das durch die Fensterscheibe zu ihm hereinstarrte, dann erst besann er sich eines Besseren und griff nach dem Lichtschalter.

Die Deckenbeleuchtung flutete augenblicklich den Raum. Simon musste die Augen zusammenkneifen, weil ihn der jähe Lichteinfall schmerzte. Er fluchte laut und begann dann Richtung Fenster zu torkeln, während er wild blinzelnd zu erkennen versuchte, was da draußen vor sich ging. Als es ihm schließlich gelang, seine Lider zumindest einen Spaltbreit offenzuhalten, sah er sich bloß seinem Spiegelbild gegenüber. Er erschrak vor dem eigenen wütenden Gesichtsausdruck, mit dem er versuchte, jenseits der reflektierenden Fläche des Fensters etwas auszumachen. Erst, als er sich der Scheibe mit der Nasenspitze auf wenige Zentimeter genähert hatte, gelang ihm der Blick durch seinen Schatten hindurch auf die Dach-schräge, die direkt unter dem Fenster lag – die leere Dachschräge, um genau zu sein. Alles, was sich ihm draußen offenbarte, waren nämlich alte, verwitterte Tonschindeln.

Zuerst also das Beben und gleich darauf das Kindergesicht – Simon waren Sinnestäuschungen und Halluzinationen alles andere als fremd, während seiner langjährigen Karriere als Drogensüchtiger hatte er unzählige Erfahrungen damit sammeln müssen; und auch wenn er diese Phase seines Lebens bereits über ein Jahrzehnt hinter sich wähnte, hatte er nicht vergessen, wie sich ein böser Trip anfühlte. Der Anblick der verlassenen Schindeln löste einen Anflug desselben rastlosen Zitterns, desselben schweißtreibenden Gefühls des Ausgeliefertseins in ihm aus, das ihn bis heute regelmäßig in seinen Albträumen besuchte. Er riss sich von der Finsternis hinter der Scheibe los und kehrte zurück in den sicheren Schein der Zimmerbeleuchtung – eigentlich nicht mehr als ein trüber Schimmer, nun, nachdem sich seine Augen daran gewöhnt hatten, aber verglichen mit der Schwärze, die ihn jenseits der Dachkante und hinter seinen Träumen belauerte, wirkte es geradezu grell.

Simon wandte sich wieder dem Handy zu und versuchte, das eben Erlebte von sich zu schieben. Eigentlich war da ja auch überhaupt nichts gewesen, außer seinen überspannten Nerven; und wer könnte ihm das schon verübeln! Ganz im Gegenteil sogar. Nach dem seelischen Martyrium, das er in den letzten Wochen hatte erdulden müssen, war es geradezu selbstverständlich, dass er jetzt Nerven zeigte. Hätte er das nicht getan, wäre es wohl eher besorgniserregend gewesen. Seine Tochter war verschwunden, und niemand wusste wohin! Schlimmer: Es schien sogar jedem außer ihm egal zu sein!

Er öffnete die Mitteilungen. Alles klar bei Dir?, hatte Sabine geschrieben. Ja, bin nur eingeschlafen, antwortete er. Es blieben nur noch drei Prozent Akkuladung, meldete ihm das rot flackernde Icon, das Handy würde sich jetzt jeden Augenblick ausschalten. Er ignorierte das Blinken und öffnete die zweite eingegangene Nachricht: jene von Monika.

Ich wünschte, du würdest mich endlich in Frieden lassen. Ich wünschte, ich hätte dich niemals getroffen.

Von einem Augenblick auf den nächsten erlosch der Bildschirm und ließ Simon alleine in der knisternden Stille des fremden Zimmers zurück.

ALS SIMON NACH unten kam, hatte Frau Huber das Haus bereits verlassen. Neben dem übervollen Aschenbecher am Küchentisch fand er einen kleinen Schlüsselbund und eine kurze Notiz. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Bedienen Sie sich ruhig im Kühlschrank, und in der Maschine finden Sie warmgehaltenen Kaffee. Ich werde so gegen halb sieben wieder zuhause sein, hatte Frau Huber ihm in schnörkeliger Handschrift als Nachricht hinterlassen; außerdem ihre Telefonnummer für Notfälle, wie sie meinte. Er könne ihr aber auch eine Einkaufsliste als Nachricht schicken, ansonsten nehme sie ihm einfach mehrere vegetarische Lebensmittel für das Frühstück mit. Falls er bei ihr abendessen wolle, solle er ihr bitte ebenfalls kurz Bescheid geben, aber damit rechnen, dass es spät werde.

Simon war etwas enttäuscht, weil er gehofft hatte, dass er seiner Gastgeberin noch ein paar Informationen über das Dorf abringen könnte; hatte aber eigentlich bereits vorhin, als er nach dem Aufwachen auf die Uhr geblickt hatte, damit gerechnet, dass sie nicht mehr zuhause wäre. Es war bereits nach zehn. Er war kurz vor Sonnenaufgang allen Erwartungen zum Trotz wieder eingeschlafen.

Auf einem der Küchensessel fand er eine Stapel säuberlich gefalteter Bettwäsche, die nach Weichspüler duftete – inklusive angeklebtem Zettelchen, das seinen Namen trug –, und auf der Anrichte begrüßte ihn mit orangeglühendem Auge die Filterkaffeemaschine. Die Glaskanne war noch beinahe zur Hälfte gefüllt und daneben stand eine bunte Tasse, die Frau Huber offenbar eigens für ihn vorbereitet hatte.

Simon goss sich die Tasse zu drei Viertel voll und stapfte damit zum Kühlschrank, um nachzusehen, ob Milch da wäre. Auf dem Weg dorthin stach ihm ein gerahmtes Foto an der Wand ins Auge. Es zeigte Frau Huber im Kreise einer kleinen Familie. Neben ihr waren ein stämmiger Mann in Jeans und dunkelbraunem Tweed-Sakko und ein kleines blondes Mädchen mit langem Zopf im fröhlich geblümten Sommerkleid abgelichtet. Er hätte Frau Huber zuerst fast nicht erkannt, sie wirkte so überaus glücklich auf dem Bild. Er fragte sich, was passiert war; wobei er durchaus ahnte, in welcher Richtung die Antwort darauf zu suchen wäre. Das Haus wirkte oberflächlich zwar sauber und gepflegt, gleichzeitig aber auch kalt und leer. Es fehlten die Spuren von Unordnung, die ein erfüllter Alltag normalerweise mit sich brachte. Bei Simon zuhause sah es ganz ähnlich aus, nur dass er nicht so gewissenhaft putzte wie Frau Huber und dass bei ihm der Geruch nach kaltem Zigarettenrauch fehlte, weil er sich das Rauchen in einem Anfall von Dickköpfigkeit – und entgegen aller damaligen Ratschläge seiner Therapeutin – zur gleichen Zeit abgewöhnt hatte wie den intravenösen Drogenkonsum und auch sonst alle anderen Suchtmittel. Falls die glückliche Familie von dem Foto hier wirklich einmal gelebt haben sollte, dann war das schon lange her. Außerdem waren ihm im Vorraum nur Frauenschuhe und Frauenjacken aufgefallen. Während Simon die Kühlschranktür öffnete, überlegte er, welches Schicksal Frau Huber wohl heimgesucht haben mochte, kam aber schnell zu der Ansicht, dass ihn das nicht das Geringste anginge.

Im Kühlschrank fand er einen Teller, an dem ein neonrosa Post-it mit seinem Namen klebte. Frau Huber hatte ihm Frühstück vorbereitet, bestehend aus Käsescheiben, aufgeschnittenen Tomaten und zwei Batzen Aufstrich in verschiedenen Rottönen, die ganz nach Liptauer aussahen; daneben lagen zwei Semmeln. Ein zweites, neongrünes Post-it am Eierfach verkündete, dass er gerne zugreifen dürfe – falls Vegetarier überhaupt Eier essen. Töpfe stehen neben der Spüle