Die Zeit der Feuerernte - Erik R. Andara - E-Book

Die Zeit der Feuerernte E-Book

Erik R. Andara

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Beschreibung

Ein Kreuzzug führt in die Tiefe. Knochen lernen sprechen, Krankheiten grassieren, Familien zerbrechen und Reisen enden ebenso unvorhersehbar, wie sie begonnen haben.Dies ist die neue Ordnung einer zerrissenen Welt.

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Seitenzahl: 279

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Tobias Reckermann (Hrsg.)DIE ZEIT DER FEUERERNTE

In dieser Reihe bisher erschienen

01 Geisterstunden vor Halloween von Stefan Melneczuk

02 Drachen! Drachen! von Frank G. Gerigk & Petra Hartmann (Hrsg.) 

03 Schattenland von Stefan Melneczuk

04 Der Struwwelpeter-Code von Markus K. Korb05 Die weißen Hände von Mark Samuels06 Bio Punk‘d von Andreas Zwengel

07 Xenophobia von Markus K. Korb08 Nachtprotokolle von Anke Laufer09 Reiche Ernte von Matthias Bauer

10 Das Tor von Matthias Bauer

11 Fantastic Pulp 1 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

12 Wenn die Welt klein wird und bedrohlich von Felix Woitkowski (Hrsg.)

13 Geisterstunden von Stefan Melneczuk

14 Fantastic Pulp 2 von Michael Schmidt & Matthias Käther (Hrsg.)

15 Cosmogenesis von Jörg Kleudgen

16 Haschisch von Oscar A. H. Schmitz

17 Spuk des Alltags von Alexander M. Frey

18 Schattenschwarz von Torsten Scheib19 Der König von Mallorca von Michael Tillmann

20 Auf zum fröhlichen Weltuntergang von Peter Biro21 Die Zeit der Feuerernte von Tobias Reckermann (Hrsg.)

Tobias Reckermann (Hrsg.)

Die Zeit der Feuerernte

Novellen aus dem Weltenriss

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2022 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-326-1

Inhaltsverzeichnis

Im finsteren Tal
Der Kaschelott
Die Tränen der Welt
1
2
3
4
5
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7
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9
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11
12
13
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15
16
Deextinktion
Das neue Meer

Im finsteren Tal

von Tobias Reckermann

„Warum ist überhaupt etwas

und nicht vielmehr nichts?“

– Gottfried Wilhelm Leibniz

Den zweiten Tag stieg nun Rauch über der Schlucht auf. Hans beobachtete die Vorboten des Sonnenaufgangs und wie sich das Morgenrot mit dem Rauch paarte. Dunkelgraue Schleier tasteten über das Wildgras am Rand des Abgrunds. Unter seinen Händen fühlte sich die Erde warm an.

Hans stand auf, schritt aus und hielt dabei stets wenigstens einen Steinwurf Abstand zum Steilabhang, behielt linker Hand dessen Rand im Auge und suchte die Ebene mit Blicken nach dem Ende der Schlucht ab. Noch hing im Westen die Nacht am Himmel. Einzelne Sterne im tiefdunklen Blau flackerten noch einmal hell, bevor der Tag sie auslöschen konnte.

Die Sohlen seiner Stiefel erzeugten Tritt für Tritt morsches Knirschen im Untergrund und mehr als einmal an diesem Morgen sank Hans bis zu den Knöcheln in wurzeldurchwirktes Erdreich ein, sich jedes Mal darauf etwas weiter von der Schlucht entfernend.

Die Abdrücke, die seine Schritte hinterließen, schillerten wie die opalisierenden Panzer von Käfern in Blau- und Grüntönen. Leichter Regen setzte ein. Die Feuchtigkeit ließ den Rand der Schlucht in diesen trügerischen Farben aufleuchten und der Nebel schimmerte blass.

Die Überreste der Nacht waren bereits vertrieben, als Hans voraus eine Veränderung in der Graslandschaft wahrnahm. Eine Senke schloss dort an die Schlucht an, bildete den Anfang jenes gesuchten Zugangs zum Riss, der sich wie eine Rampe abwärts in den Nebel hineinstreckte. Binnen einer weiteren Stunde erreichte Hans den Rand der Senke. Dort hielt er inne. Wie eine Pforte zur Unterwelt lag das obere Ende des Zugangs zwischen Abbrüchen von Fels und durchwachsener Erde. Dunkelrote Banner an aufgepflanzten Piken markierten die Schwelle. Auch aus der Entfernung erkannte Hans in Gold gestochene Sakroglyphen auf blutfarbenen Stoffen. Dahinter waberten der schillernde Nebel und darüber Rauch wie Zeugen des Krieges, die er über Schlacht­felder hatte wandern sehen.

Ein Rumoren im Bauch erinnerte ihn an böse Stunden vor und nach dem Hauen und Stechen jener vergangenen Tage. Er setzte sich und nahm aus seinem Gepäck Brot und Fleisch, fing an zu essen, um seinen Leib zu besänftigen.

Das träge Spiel der Nebelschwaden erzeugte indes ein Gefühl von Unwirklichkeit und Traum, indem sich alle Festigkeit des Tages auflösen wollte. Als Hans sich darin fallen spürte, wandte er den Blick von der Schlucht ab und suchte westwärts nach etwas, woran er sich halten konnte. Bereits aus dem Augenwinkel musste dort eine Bewegung auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Rücken einer Herde Schafe, die sich entlang der Senke wälzte, fingen Sonnenlicht ein und glänzten hell wie goldenes Tuch.

Hans erhob sich und hielt Ausschau nach dem Schäfer der Herde. An ihr liefen drei Hunde entlang und der Hirte ließ sich als einzelne aus der großen Zahl aufragende Gestalt ausmachen. Es wurde Hans bei dem Anblick nach Tagen allein im Grasland und nahe der Schlucht leichter ums Herz.

Der Grund der Senke war ganz niedergetrampeltes Gras und tote Flecken Erde, Überreste von Feuerstellen, aufgeschüttete Erde über Latrinengruben, all das Anzeichen für eine große Anzahl Menschen, eine Kriegsschar von tausenden, die hier gelagert haben musste und deren Spuren er auf seiner Wanderung gefolgt war. Als Hans sich der Herde näherte, erkannte er die Hunde als eine langbeinige Art mit langen Schnauzen und zottigem Fell, nahe genug am wölfischen Urbild, um die Schafe mit Schrecken zu regieren. Sie beäugten ihn misstrauisch und einer von ihnen beeilte sich, ihm den Weg abzuschneiden, doch der Schäfer pfiff ihn zurück und der Hund kümmerte sich wieder nur um die schwarzgesichtigen Tiere.

Der Schäfer bewegte sich durch die Herde auf Hans zu, hielt an deren Rand, den Blick starr auf ihn gerichtet, inne. Hans wurde sich bewusst, welchen Eindruck er auf ihn machen musste. Ein großer Kerl im Harnisch, mit einer Partisane zur Hand, ein Streitkolben, Langmesser und Helm am breiten Gürtel, graubärtig und kahlköpfig. Auf Rufweite würde er die blasse Narbe und die Vertiefung sehen, die die linke Hälfte seines Gesichts verunstalteten, die Hinterlassenschaft eines Kriegsbeils, das seine Braue geritzt, das Auge verfehlt und sich dafür in die Wange gegraben hatte, als Hans noch jung gewesen war.

Der Anblick ließ Menschen in seiner Nähe zwischen Abscheu und Ehrfurcht schwanken. Solche Zeugnisse von Gewalt veranlassten sie zur Vorsicht.

Das Gesicht des Schäfers lag in tiefen Falten, war ledrig von seinem Tagwerk in allen Wettern. Der Mann sah darum älter aus als er wohl war, fast wie ein Greis im weißen Haar, das jedoch auch nur von Sonne und Wind ausgebleicht sein mochte. Er hob die Hand und sie beide begegneten sich auf Augenhöhe.

Nach einer einsilbigen Begrüßung ließen sich beide inmitten der Herde nieder. Dem Schäfer war der Anblick des alten Kämpen gleichgültig. Noch zwei Monde zuvor würde er ihn erschreckt haben, doch seither hatte er weit grimmigere Männer als diesen gesehen. Ihm schien es das Beste, dem hier mit Offenheit zu begegnen. „Du bist etwas zu spät“ sagte er über einem Schluck Wasser und geteiltem Brot. „Wenn du dich dem Heerbann anschließen wolltest.“

„Du hast ihn also gesehen?“

„Diesen, ja, und viele kleinere Kriegshaufen und Scharen von Pilgern, die vor ihnen hier angekommen und in die Schlucht gestiegen sind.“

„Ich wusste nicht, dass es so viele sind“, meinte Hans.

„Mehr als einer wie ich Schafe hüten kann.“

Hans betrachtete die Hände des Schäfers, die das Brot brachen. Feiner blaugrüner Schimmer saß unter den Nägeln.

Er fragte: „Bist du oft auf diesem Land?“

„Alle ein oder zwei Monde. Von dem großen Lager habe ich mich ferngehalten, aber einer kleinen Gruppe Pilger habe ich ein paar meiner Tiere verkauft. Die sprachen davon, auf dem Weg ins Paradies zu sein. Ihre Augen haben dabei geleuchtet, aber zu hell, wenn du weißt, was ich meine.“

Hans nickte. „Das habe ich mehr als einmal gesehen, vor langer Zeit.“

„Ich glaube, sie werden da unten schon etwas finden, aber das Paradies? Danach sieht es von hier aus betrachtet nicht aus.“

In den Städten im Norden, von wo Hans gekommen war, nannten sie es die Hölle.

„Das Heer, das hier zuletzt durchgekommen ist – sie haben die Banner dort aufgestellt?“

Der Schäfer bestätigte das. „Ja.“

„Sie sind hier, um die Teufel aus dem Abgrund zu erschlagen, wie es die Hohepriester des Aimos’, Güdjans und Tolstoks allen Gefolgsleuten der Archonten befohlen haben.“

„Dann bist du auch deswegen hier?“

„Vielleicht bin ich das.“ Hans fasste sich unwillkürlich an die Brust, wo unter Kettenzeug, dem gehärteten Leder seines Panzers und dem wattierten Unterkleid sein wundes Herz schlug. „Mein Bruder Arno ist bei dem Heer. Ich bin seinetwegen gekommen.“ Hans ließ sich den Wasserschlauch reichen. „Was glaubst du, kann dort unten brennen, das so viel Rauch erzeugt?“

Der Schäfer dachte über die Frage nach, antwortete erst, nachdem Hans ihm den Schlauch zurückgegeben und er selbst daraus getrunken hatte. „Sie haben irgend­etwas gefunden, das sie anzünden konnten. Die einen oder die anderen.“

Hans stimmte dem insgeheim zu. Seiner Erfahrung nach fanden sie immer etwas, das sich im Glauben entzünden ließ. Feuer und Flamme, dachte er, die ­Werkzeuge der Gerechten.

„Hast du gesehen, wie der Stern vom Himmel gestürzt ist? Vielleicht ist er es ja, der brennt.“

Der Schäfer schüttelte den Kopf. „Es ist kein Stern vom Himmel gefallen. Das behaupten die Priester zwar, aber der Wanderstern des Sommers ist nur verblasst, wie sie es alle tun. Die Erde hat hier schon seit Menschengedenken Dämpfe ausgestoßen und dann hat sich der Riss geöffnet. So ist das gewesen. Er ist größer und größer geworden, hat sich zu dieser Schlucht ausgeweitet und dann kamen die Menschen, um ihn anzustaunen.“

Eine Lüge also. Hans war davon nicht überrascht. Immer stellten sie die Dinge größer dar, als sie waren, mischten Ehre hinein, wo keine Ehre existierte, und nannten sie Werke der Archonten.

„Das Blöken deiner Schafe lässt mich ganz dumm im Kopf werden“, sagte er. „Ich werde jetzt aufbrechen.“ Kurz überlegte er und erinnerte sich an alte Zeiten, in denen er, wenn nötig mit Gewalt, sein ungeschriebenes Recht als Lanzknecht auf freie Verpflegung bei Bauern, Schankleuten und Viehtreibern eingefordert, oder die Vorräte der Besiegten geplündert hatte. Vielen war Schlimmeres zugestoßen, als gerade ihm zu begegnen. „Ich habe nicht viel und werde dort unten kaum etwas brauchen. Aber wenn du etwas entbehren kannst ...“

Sie tauschten Fleisch und Käse gegen ein paar mit Aimos’ Siegel geprägte Stücke Zinn, die der Schäfer in einem kleinen Beutel an einer Schnur um seinen Hals verschwinden ließ. „Man sagt, die Hölle sei entweder heiß oder eiskalt. Da drüben, am Rand der Senke, ist ein Wasserloch. Das Heer hat es bis auf den letzten Tropfen geleert, aber es füllt sich bereits wieder.“

Der Mann gab ihm zum Abschied die Hand, um ihren Handel zu beschließen. Der Schäfer entschied, dass sie letztlich im selben Alter sein mussten, und fragte sich, wie es wohl wäre, wären ihre Leben vertauscht. Sich einfach abwenden zu können, war ein größerer Segen als alles, was jenem in der Schlucht widerfahren mochte.

Das Stechen in seiner Brust erinnerte ihn an die innere Pein. Hans ließ die Herde hinter sich zurück, so als wären sie und der Schäfer und seine Hunde die Welt, von der er sich abkehrte. Er spürte ihre Blicke in seinem Rücken und den Sog, den die Schlucht auf ihn ausübte, stärker als den Halt, den ihm die Begegnung mit dem Mann für kurze Zeit gegeben hatte.

Die Banner überragten ihn um ein Dreifaches. Die Siegel der Archonten schienen aus dieser Höhe auf ihn als ihren Diener herabzublicken, das strahlende Auge von Aimos, das flammende Schwert Güdjans und die von Schlangen umwundene Lanze Tolstoks, unter denen Hans Ungläubige in fernen Ländern erschlagen hatte. Sie brannten noch immer in ihm, doch ihr Feuer erreichte nicht länger sein Herz.

Auf der Schwelle zwischen den Piken setzte Hans sich den Helm auf und rückte ihn zurecht, bis der Druck von Wangenklappen und Naseneisen erträglich wurde. Er fasste die Partisane mit beiden Händen und dehnte die Brust unter dem Harnisch noch einmal mit der frischen Luft des Morgens. Dann trat er hinüber.

Der Abhang war von dem Marsch der Heere festgetreten und von dem Regen am Morgen nur leicht aufgeweicht worden. Die Stiefel fanden darauf Halt, doch Hans bewegte sich mit Vorsicht hinab, suchte mit jedem Schritt festen Stand, während die Steilabbrüche aus Fels und Erde höher und höher zu beiden Seiten aufragten. Der Schimmer der unwirklichen Farben nahm dabei zu. Als er in den Nebel eintrat, fühlte er sich kühl an, trug nur einen leichten Hauch von Verbranntem mit sich.

Gespannte Erwartung ließ Hans schneller atmen. Die Steilhänge traten zu den Seiten zurück und verschwanden im Nebel. Um ihn herum war nun blaugrünes Licht. Ein Geschmack auf der Zunge ließ ihn an versengtes Kupfer oder Bronze denken. Seine Gedanken scharten sich enger um ihn. Was mochte in dieser Esse geschmiedet werden?

Als er gedämpften Hufschlag hörte, blieb er zuerst stehen, bewegte sich dann langsamer und mit noch größerer Vorsicht weiter. Er war vielleicht fünfundzwanzig oder dreißig Schritte tief vorgedrungen, als der Nebel etwas lichter wurde und sich vor ihm, nur einen Pfeilschuss entfernt, ein Schemen daraus abzuzeichnen begann. Ein ­Reiter, dachte er. Das Pferd etwas zur Seite gewandt, nun auf der Stelle stehend. Ein mageres Tier und die Gestalt darauf in ein weites Tuch gehüllt, den Kopf in seine Richtung gedreht. Heraufschauend, zu mir oder zum Ausgang aus der Schlucht.

Für einen Augenblick regten sich weder Hans noch der Reiter. Das Pferd schien so unbeweglich wie ein Steinmal. Als Hans die Stille brach und auf den Reiter zutrat, blähte es nicht einmal die Nüstern. Auf fünf Schritte herangekommen und den schweren Spieß halb gesenkt vor sich haltend, sah Hans, dass die Hufe mit blauer Erde überkrustet und wie mit dem Boden verschmolzen waren. Ein Schwarm Fliegen stob von dem Reiter auf und schillerte Grün im fahlen Licht. Ihr Surren erfüllte die Luft und Hans’ Schädel.

Der Reiter hob die Arme, sodass sich sein Gewand vor der Brust öffnete. Daraus quoll eine wimmelnde Masse, ergoss sich dann in einer weiteren Schar, und auch aus dem sich jetzt aufsperrenden Mund des Mannes kamen Fliegen. Das Surren trug Worte in sich, eine Litanei, die Hans wiedererkannte. Die Augen fehlten in dem grün und blau verwitterten Gesicht, das sich auf unruhigen Knochen kräuselte. Worte wie ein Sandsturm. Jetzt löste das Pferd einen Huf aus dem Erdreich. Die ganze Erscheinung kam auf Hans zu, der ohne nachzudenken den Spieß senkte und das breite Blatt bis zu den Seitenklingen in den Hals des Tiers stieß. Das Pferd schob sich trotzdem weiter gegen ihn. Hans zog die Waffe zurück, mit der sich Fetzen von Fell und Fleisch aus dem Körper lösten, und wich zur Seite aus – rechtzeitig, denn der Reiter grub die Hacken in die Flanken des Pferds und es setzte zu einem Sprung an, der es geradewegs in ihn hinein hätte führen müssen. Entsetzt schaute Hans dem Phantom hinterher, das sich in großen Sätzen den Hang aufwärts bewegte, die Schöße des Gewands des Reiters dabei flatternd wie Rabenflügel. Fliegen stoben dahinter her. Alles wurde von Nebel verschluckt, bis auf den Gestank von Aas und verbranntem Horn und Metall.

Die Litanei hallte in seinen Ohren wider. Es war die Begrüßung der Toten in der Unterwelt. Hans wischte sich hastig das Gesicht ab, in dem Gefühl, von Fliegen beschmutzt worden zu sein, die sich an Leichen labten.

Keuchend und spuckend in dem Versuch, den bösen Geschmack aus dem Mund zu bekommen, schaute Hans sich nach allen Seiten um. Er spürte Blicke auf sich ruhen, doch sah nur Leere im Nebel. Der Hufschlag war zwar verklungen, aber als er sich weiter abwärts bewegte, schaute er immer wieder über die Schulter zurück. Der Wächter der Unterwelt auf dem Weg hinauf. Er selbst aber musste tiefer hinein. Es war nicht seine Aufgabe, umzukehren und dem Reiter nachzujagen.

Hans glaubte jetzt, an dem Wesen etwas wiedererkannt zu haben, und das bestürzte ihn umso mehr. Das Gewand hatte ausgesehen wie das eines Hohepriesters und da waren Symbole gewesen, dunkel, in Falten halb verborgen, aber doch unverkennbare Sakroglyphen eines der Allmächtigen. Und die Schulteraufschläge und die schweren Ringe an den Händen und der Reif um die Stirn. Aimos’ Hohepriester.

Bald hatte Hans den Nebel durchdrungen und sah die Schlucht sich vor ihm zum Tal ausweiten. Die zurücktretenden Hänge fassten eine von Rauch überlagerte Ebene ein, deren Länge sich weit voraus in Schemen verlor. Noch führte der Weg tiefer hinab. Wo weiter unten grünlicher Fels den Absatz der Rampe bildete, mochte die Schlucht von Norden nach Süden bereits hunderte Schritte messen, und sie weitete sich von da an noch mehr, bis die Hänge im Osten ganz außer Sicht gerieten.

Der Platz wurde von langen Reihen von Kreuzen gesäumt, an denen menschliche Leiber hingen. Der Anblick weckte Erinnerungen an die Säuberungen von Kasta und Teresh, an denen Hans teilgenommen hatte. Häretiker beider Städte im fernen Nordwesten jenseits der Grenzen Aschuls, deren Lehren die Archonten – oder zumindest deren Priester – erzürnt und einen Heiligen Krieg ausgelöst hatten.

Doch als Hans den Absatz erreichte und die je zwei überkreuzten und in den steinigen Boden gerammten Pfähle aus gebündelten Zeltstangen und Piken und die daran gefesselten Männer genauer betrachten konnte, erkannte er an ihnen die Farben der Tempel, heilige ­Glyphen auf Kleidung, wie sie in Aschul getragen wurde. Diese Männer waren Gefolgsleute der Allmächtigen.

Es mochten an die sechzig sein. In sich verhärtendem Grimm durchschritt Hans die Reihen und suchte unter den Männern nach solchen, die er kennen mochte, und nach einem bestimmten. Die Gesichter der Lanzknechte waren verklärt zum Himmel gerichtet, doch ihre Augen waren getrübt. Nicht milchig weiß, sondern in den schillernden Blau- und Grüntönen der Schlucht. Was sie nun sahen, befand sich in ihrem Inneren. Dort, wo die wahren Schrecken lauern. Und die Glieder derer, die noch Kräfte besaßen, bewegten sich an ihren Fesseln. Hände, Füße, Knie, Ellbogen und Hüften zuckten. Die Köpfe wanden sich auf den Hälsen.

Die Pfähle hatten die Farbtöne der Felsen und der Erde angenommen. Flechten langten hinauf nach blanken Füßen und verbanden sich mit deren Fleisch. Der Riss greift schon nach ihnen, dachte Hans, und beeilte sich, weiterzukommen. Keiner von diesen. Du bist nicht ­ihretwegen hier. Nicht, um denen zu helfen, die sich selbst ­verloren haben.

Der Heerbann musste hier gelagert haben, eine Weile zumindest, um die Marterungen zu vollziehen, und Hans fand entsprechende Spuren. Wo Blut vergossen worden war, schien es Teil der Erde geworden zu sein und zeichnete sich als dunklere Tönung des Untergrunds ab. Über den Ort hinaus war alles weglose Ödnis. Kein Wald und keine Felder, nur von schimmernden Flechten überwucherte Aufhäufungen von Felsen waren zu sehen.

Die Ausmaße des Tals nagten an seinem Verstand. Ohne rechte Orientierung, ziellos angesichts der Weite und der Unzahl möglicher, vielleicht aber trügerischer Pfade, hielt Hans sich zuerst an den Rand des Kreuzigungsplatzes, suchte nach Norden und Süden hin etwas, das ihm eine Richtung vorgeben würde. Als er nichts fand, außer schroffen Erhebungen, Senken und engen Spalten, die das Land wie mit Klingen geschlagenen Wunden zerfurchten, war es das Stöhnen der Sterbenden Männer hinter seinem Rücken, das ihn schließlich vorwärts zwang. Nach Osten – insofern das, was draußen gegolten hatte, auch hier gelten konnte.

Hier herunter findet das Licht der Sonne keinen ­geraden Weg, dachte Hans. Der Nebel zwingt es, sich zu winden. Wie kann Aimos’ strahlendes Auge da hindurchsehen?

Schritt um Schritt wie in einen immer verwirrenderen Traum hineinsetzend, verging Hans das Gespür für Zeit und die Einteilung seiner Kräfte. Einmal zurück­schauend, ließ sich weder der Ort der Kreuzigungen, noch der Ausgang aus der Schlucht mehr ausmachen. Zu tief war er schon in das Gewirr der Felsen und Scheinpfade darüber und dazwischen verstrickt.

Nun begannen sich die Eindrücke von seiner Umgebung zu verändern. Barrieren aus aufgehäuftem Geröll erweckten den Anschein von Mauerwerk, das tief in der Erde wurzelte. Die Scheinpfade dazwischen waren in klammem Grün dunkel gepflastert und einmal fand Hans sich unvermittelt am oberen Absatz einer ausgewaschenen Treppe, die in bodenloses Dunkel führte. Nein, nicht noch tiefer hinab. Hans schauderte bei dem unvermittelten Gedanken, eine neue, noch weiter unten gelegene Schlucht wie die erste zu betreten, in der sich alles, was er bisher gesehen hatte, wiederholen mochte. Ein noch tieferes Tal, in das kein Licht mehr fiele – in dem mein Geist ohne die Stütze eines Körpers sich auflösen müsste. Wie viele Höllen kann ein einziger Ort in sich bergen?

Er machte kehrt und wählte einen Aufgang, der ihn auf eine der Mauerkronen führte. In der Ferne ragten Gebilde empor, die er für Gebäude hielt. Überwuchert, oder aus der Erde gewachsen. Lange Bauten wie halb versunkene Hallen. Türme, deren obere Geschosse eingebrochen den wandernden Schwaden aus Rauch Einlass ins Innere gewährten. Oder stieg der Rauch aus ihnen auf? Ein Flickwerk von Höfen und Straßen und inmitten dieser geschleifte Festungen und was die Anlagen eines Hafens sein mochten, der an kein Meer und an keinen See oder Fluss grenzte, sondern an ein ausgehöhltes Becken, in dem steinerne Schiffsrümpfe wie verendete Tiere lagen. Und Rauch – Rauch über allem.

Längst atmete er diese von Ruß geschwängerte Luft. Längst auch waren die Steilhänge des Tals ganz außer Sicht. Längst bin ich eines der Phantome geworden.

Die Stadt – anders ließ es sich nicht benennen – wirkte ausgestorben. Das Werk von Menschenhänden lag am Ende seiner Ära menschenleer und verwüstet unter ­tiefhängenden Wolken, die fast die höchsten Bauwerke berührten.

Die Stadt schien menschenleer zu sein, doch aus einer der Turmruinen verfolgte der Blick aus einem Augenpaar den Weg des Kämpen über die Mauern. Mit angehaltenem Atem und schnell schlagendem Herzen, unruhigen Händen auf dem Sims eines Fensterdurchbruchs schwankte der Beobachter zwischen Furcht und Freude. Solange schon war kein neues Gesicht mehr aufgetaucht und waren die grinsenden Totenköpfe, die sich in den Kellergruben der Häuser stapelten, durch Schießscharten spähten und zuweilen ohne erkennbare Ursache ins Rollen gerieten und über Fels holperten, die einzigen Gesellen gewesen. Und die können kaum als gute Gesellschaft zählen. Wenn Haug sich nicht irrte, war der dort unten, mit dem schweren Spieß, ein Mensch, und es wurde Zeit, sich auf das Menschsein zu besinnen.

Er sollte jenen dort davor warnen, weiterzugehen. Nicht dorthin, wo er Menschen finden wird. Es ist besser, bei den Toten zu verweilen. Aber ich ... Haug trug zusammen, was er besaß und fragte sich dabei, ob er selbst schon zu ihnen zählte, oder noch zu jenen. Die Gesellen sind ­unruhig, sie tanzen geradezu, rollen im Ringelreihen umher. Nicht auch sie! Erschrocken beobachtete Haug das Tollen der Schädel und floh schließlich vor ihrem Gepolter hinunter und auf die Straße. Unter dem Arm trug er Schriften, Kiele und Tusche und stolperte beinahe über seine eigenen Füße. Haug, du Dummkopf, halte dich am Leben fest und verliere nicht noch das bisschen ­Verstand, das dir geblieben ist!

Hans stand am Rand eines gepflasterten Forums, das an zwei Seiten von Arkaden eingefasst wurde. An der Stirnseite kauerten die Überreste eines Portikus’ und dahinter massives Mauerwerk, das den Sockel eines einstmals auf ihm ruhenden Tempels bilden mochte. Obenauf lagen Trümmer, aus denen noch einzelne Säulen ragten.

Das Forum selbst maß wenigstens dreihundert Schritt im Durchmesser und Hans konnte den Blick nicht von dem abwenden, was er darauf sah. Dort lagen hunderte und aberhunderte Skelette verstreut. Er glaubte beinahe, ihren Kampf noch in der Luft geistern zu hören. Doch war es ein Kampf? Sich nach ungemessener Zeit aus der Starre lösend, ging er zwischen den Toten entlang und suchte nach Anzeichen dafür, doch es gab hier keine Waffen, bis auf vereinzelte Piken, hier und dort ein Schwert. Wenige hatten Rüstungen getragen, so diese nicht fortgebracht worden waren. Verwitterung ließ die Knochen wie Stein von blassem Grün und fahlem Blau anmuten. Warum lagen so viele der Toten in Kreisen beieinander? Und was hatte sie niedergestreckt? Er fand an ihnen keine Wunden, sah keine eingeschlagenen Schädel, zerbrochenen Arme, Beine oder Rippen. Gruppen und Einzelne schienen ihm ein Muster zu bilden, das sich seinem Verstand entzog. Vielleicht von oben betrachtet – mit den Augen allmächtiger Wesenheiten?

Allgegenwart in und über allem ... Hatten die Allmächtigen hierbei zugeschaut?

Wenn sein Bruder hier lag, würde er ihn niemals erkannt haben. Die Wut, die sich in ihm anhäufte ließ Hans zittern und die Zähne zusammenbeißen, bis ihm Schweiß ausbrach.

Er spürte einen verrückten Drang in sich, herumzuspringen und zu tanzen, um der Anspannung in seinen Gliedern einen Weg zu öffnen. Wo waren Aimos und Güdjan und Tolstok? Wo die Hohepriester und die geheiligten Waffen zur Unterwerfung der Teufel? Hans schleuderte die Fäuste in die Luft und stieß einen Schrei aus, der die Ungerechten auf ihren Bergthronen erschüttern sollte.

Sein Schrei hallte vielfach von den Arkaden wieder. Einmal stampfte Hans mit dem Fuß auf, und zertrat dabei ohne Absicht einen Totenkopf, dessen Splitter in alle Richtungen stoben.

Ein anderes Geräusch ließ ihn herumfahren. Sofort hob Hans die Partisane auf, ließ ihr Blatt in die Richtung schwenken. Dort, wo er hergekommen war, bewegte sich etwas am Rand des Forums, halb von Mauerwerk verborgen. Eine Kreatur. Sie kauerte, reckte den missgestalteten Kopf nach vorn. Der Körper war tief gebeugt, die Arme nahe am Rumpf. Das Schimmern der Schlucht hatte die Kreatur fest im Griff – oder es hat sie hervorgebracht. Ein Teufel, dachte Hans und ging unwillkürlich rückwärts, immer wieder mit den Hacken an Gebeine stoßend. Geordneter Rückzug, zwang er sich. Den Spieß immer vorn, nur kurz über die Schulter schauen, der Bedrohung niemals den Rücken zuwenden.

Der Teufel starrte ihn indes an, verfolgte seine Schritte. Hans hoffte, dass er die Waffe in seinen Händen fürchtete. All die Wut von eben war wie fortgeblasen.

Dieses Pendeln des Kopfs, wie ein Hund, der Witterung aufnimmt. Aber die Kreatur bewegte sich zweibeinig.

Mit Erleichterung sah Hans den Abstand sich vergrößern. Der Teufel machte keine Anstalten, sich auf ihn zuzubewegen, doch er schien ihm auf dem Sprung zu sein. Er fürchtet meine Waffe.

Hans hatte das Forum zu zwei Dritteln überquert, als er sich der möglichen Gefahr in seinem Rücken bewusst wurde. Der Portikus. Wenn der Teufel ein Jäger war, jagte er vielleicht nicht allein. Er wandte den Blick von der Kreatur und suchte die Ruine des Portikus’ nach weiteren ab. Nichts. Er musste dorthin.

Kurzentschlossen, in der Hoffnung, dass der Abstand ausreichte, lief Hans los, sprang über Gebeine und gelangte nach weiteren hundert Schritten am Portikus an. Als er zurückschaute, war die Kreatur verschwunden. Bei Güdjans flammendem Schwert! Jetzt konnte alles geschehen.

Die Ruine machte das Vorwärtskommen schwierig. Herabgestürzte Steine versperrten den Weg und Hans musste über sie hinweg und um sie herum. Zeit lastete auf seinen Schritten. Er erreichte Stufen, die auf den Sockel des Bauwerks führten, und nahm sie paarweise im Sprung. Oben lag der Schutt wie zu Grabhügeln aufgehäuft. Hans floh jetzt. Kein Gedanke mehr an geordneten Rückzug, nur noch ein Fortkommen. Fort und weiter nach Osten.

Er hatte den Sockel halb überquert, als ihm die Schritte stockten. Es war wirklich ein Tempel – oder vielmehr einmal ein Tempel gewesen. Das Zentrum war ein Rund, das unter freiem Himmel gelegen haben musste, denn hier lagen keine Trümmer. Nur ein Altarstein und ­steinerne Kessel und Stelen. Die Anlage war Hans allzu vertraut. Die Kessel für Feuer, der Altar zur Opferung für die Archonten. Die Stelen mit den Sakroglyphen. Dort Tolstoks Siegel und dort das von Güdjan – eine weitere Stele auf halber Höhe zerstört.

Der freie Blick aus dem Zentrum in den Himmel, damit die Archonten nach ihren Opfergaben greifen können – nicht dass das je wirklich geschähe. Und den Allmächtigen wurden – außer auf Schlachtfeldern – keine Menschen­opfer dargebracht. Auf diesem Altarstein aber lagen Totenköpfe und Schulterblätter im Kreis angeordnet.

Da war noch etwas anderes.

Welchen Sinn hatte Flucht letztlich, wenn man weder wusste, wovor man floh, noch wohin einen die Flucht führte? Hans besaß zwei innere Stimmen. Eine, die ihm zu fliehen riet, aber aus dem Tal hinaus und nicht tiefer hinein. Diese Stimme war von vornherein dagegen eingetreten, überhaupt herzukommen – auch nach allem, was geschehen war und welch gute Gründe es für die Suche nach Arno auch geben mochte. Die andere Stimme war für sein Hiersein verantwortlich und diese befahl ihm in diesem Augenblick, nicht zu fliehen. Geh hin und schau dir an, was dort auf dem Altar steht.

Sollte ihn doch der Teufel holen! Hans trat auf den Altarstein zu, der ihm bis zur Brust reichte. Er war wie beinahe alles im Tal von blaugrüner Farbe. Nicht farbenfroh im Sinn eines aufkeimenden Frühlings unter blauem Himmel – gewiss nicht – sondern wechselhaft wie die See. Feuchter Tang an der Küste und schwarzblaue Tiefen, darüber der trügerische Glanz der Wasser­oberfläche. Zugleich Lebendiges und Verwesendes. Unergründlichkeit, die sich den Anschein von Perlen verleiht.

Auf eine fast krankhafte, verzauberte Weise fühlte Hans sich von dem Stein angezogen. Wie eine Krippe, die das Vieh zum Schlachter lockt. Die leeren Höhlen, in denen einst gleichermaßen verzauberte Augen gesessen haben mochten, sagten nichts über das Schicksal der Toten aus. Nur, dass sie dem Tod begegnet sind. Die Schulterblätter wiesen Pfeilspitzen gleich in die Kreismitte. Dort kristallisierte alles Blau und Grün der Oberflächen in einem Objekt. Es schien, als ließe es zugleich in sich hineinsehen und den Blick an seiner Haut abgleiten. Aller Augenschein trügt. Der Versuch, den Gegenstand mit dem Blick zu erfassen, schlug fehl. Ein Ei? Ein Schädel? Eine Blume? Ein geschliffener Edelstein?

Hans vergaß alles um sich herum. Er bemerkte nicht einmal, dass Haug nur wenige Schritte entfernt hinter seinem Rücken aus dem Sichtschatten einer Säule hervortrat. Haug vermied es, den Gegenstand auf dem Altar anzusehen. Schließlich kannte er die Gefahr, oder glaubte zumindest, von der Wirkung auf die richtige Ursache geschlossen zu haben. Das Artefakt, wie er es nannte, war ein Quell der Macht.

Würde der Krieger erste Anzeichen zeigen, so müsste Haug ihn nach den Regeln der Barmherzigkeit töten. Doch womit? Mit einem Schreibkiel oder Tintenkrug etwa? Er durfte es nicht soweit kommen lassen. Doch wenn er den Mann aus seiner Verzauberung aufschreckte ... wird er mich töten!

Da fiel Haug etwas ein. Eine andere Möglichkeit ... Er schaute sich auf dem Boden um und fand, was er brauchte. Behutsam legte er Schriften und Schreibwerkzeug nieder und hob einen Ziegel auf. Ein schweres Ding – gerade schwer genug und doch so leicht, dass er ihn heben konnte. Der Helm, dachte er noch. Der macht es schwieriger.

Hans nahm nichts anderes wahr, als die sich immer ankündigende Offenbarung und ihre gleichzeitige Verhüllung. Doch eine der vielen Möglichkeiten zeichnete sich immer schärfer ab. Es ist vielleicht eine Pforte.

Der Ziegel traf den Krieger mit solcher Wucht an der Schläfe, dass der Helm davon eingedellt wurde, und der Mann – wie vom Schlag getroffen – zu Boden stürzte. Bei Tolstoks Schlangenspeer! Haug fürchtete, den Krieger getötet zu haben, beugte sich über ihn und holte erst wieder Luft, als er den Atem des Mannes spürte. Aber so ein Schlag kann alles Mögliche anrichten.

Erstaunlich menschliche Augen, dachte Hans, in einem Gesicht, das wie Herbstlaub aussieht. Der Gedanke, sich zu bewegen, kam spät. Dann stellte er fest, dass er sich nicht rühren konnte. Das Gesicht und der Körper – die ganze Kreatur – zog sich von ihm zurück. Der Teufel hat mich geholt. Aber der Teufel hatte offenbar Angst vor ihm und war auch kein Teufel. Das Gesicht ist das eines Menschen. Der Körper indes nahm eine Haltung ein, die ihn wie ein Tier erscheinen ließ. Der Kopf so weit vor der Brust und der Oberkörper gebeugt, die Arme an die Seiten gepresst – wie eine Ratte, die auf zwei Beinen steht. Ein weites Gewand, das bis zum Boden reichte und wie der ganze Mann blau und grün schimmerte. Aber die Augen. Die Augen waren klar und blickten ihn unverstellt an. Kein grüner Glanz in diesen und kein fanatisches Feuer.

Hans war an Händen und Füßen mit seinem eigenen Seil gefesselt. Ängstlich blieb der andere auf Abstand und redete auf ihn ein. Nur verstand Hans kein Wort davon. Was für eine Sprache ist das?

Haug wechselte zwischen Nekhani und Matak hin und her, bis ihm aufging, dass der Mann ihn wohl kaum verstehen konnte, wenn er nicht die in Aschul übliche Zunge sprach. Du hast zu lange nur in Schriften gedacht, Narr.

Der Krieger kam ihm zuvor: „Mach mich los! Wer oder was du auch sein magst.“

Haug versuchte es mit gutem Zureden und setzte dafür das beste Lächeln auf, das ihm gelingen wollte.

Eine grässliche Fratze, die sich da öffnete – Hans wich entsetzt davor und vor dem Anblick grün verfärbter Zähne und einer blassblauen Zunge zurück.

„Nur zu deinem Besten, lieber Mann, nur damit es dir nicht wie allen anderen ergeht. Ich werde gleich die Fesseln lösen, wenn du versprichst, nicht länger böse zu sein, ja? Alles ist gut – für den Augenblick. Sehr großer Gefahr bist du dank mir entronnen, daran denk bitte, wenn ich das Seil löse.“

Die Augen vermochten immerhin, Hans zu beruhigen, mehr als die beschwichtigenden Gesten, und die Worte waren nun selbst durch seine dröhnenden Kopfschmerzen hindurch klar zu verstehen.

Er wartete still ab, bis er die Hände frei bewegen konnte, dann packte er Haug am Hals und drückte zu. Die Zunge und ein Krächzen quollen aus dem Mund. Hans sah sich nach seinen Waffen um und fand sie einige Schritte entfernt. Er stieß den mit den Armen rudernden Teufel von sich und hob den Streitkolben auf, reckte ihn drohend übers Haupt.

Haug war am Boden, hielt nach Atem ringend schützend die Hände vor sich und die Geste erschien Hans so jammervoll, dass er die Waffe sinken ließ.

Sie befanden sich ein Stück von dem Altar entfernt, so weit wie Haug ihn hatte schleppen können. Hans spürte den Drang, zu dem Heiligtum zu schauen, doch das Gefühl drohender Selbstvergessenheit, dem er gerade noch entkommen war, hielt ihn davon ab.

„Was ist hier geschehen?“, fragte Hans den armseligen Teufel zu seinen Füßen.

Haug blickte vorsichtig zwischen seinen Fingern hindurch und rief: „Ich habe dich gerettet! Du darfst nicht dort hineinsehen!“

„Was mit denen auf dem Forum geschehen ist, will ich wissen.“