Lovecrafts Schriften des Grauens 14: Hinaus durch die zweite Tür - Erik R. Andara - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 14: Hinaus durch die zweite Tür E-Book

Erik R. Andara

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Beschreibung

In einem heruntergekommenen Wohnwagen am nebligen Waldrand, beobachtet von fremdartigen Wesen, die Claus Patera seine Musen nennt, rekapituliert er die dunkelsten Kapitel seines Lebens. Er gesteht seinem besten Freund aus Studienzeiten, dass er mehr als nur seine Seele zum Tausch bieten musste, um zu dem Künstler zu werden, der er schon sein ganzes Leben lang sein wollte.Neben seiner Novelle, die sich als Paraphrase auf Alfred Kubins Die andere Seite versteht, enthält dieser Band jene ursprüngliche Kurzgeschichte, aus der später Hinaus durch die zweite Tür werden sollte.

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Seitenzahl: 140

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Erik R. AndaraHinaus durch die zweite Tür

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

Erik R. Andara

Hinaus durch die zweite Tür

Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.Infos unter: www.BLITZ-Verlag.de© 2021 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KleudgenTitelbild: Erik R. AndaraUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-924-9Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!

Hinaus durch die zweite Tür

Die Äste hingen so tief, dass Alfred um den Lack des Autodaches zu fürchten begann. Obwohl das Navigations­gerät seit mehreren Minuten hartnäckig behauptete, dass sie am Ziel angekommen seien, war kein Ende des knirschenden Waldwegs abzusehen.

„Ja, ich habe die richtigen Koordinaten eingegeben“, kam Luise Alfred zuvor. Dieser schnaubte verächtlich. Draußen hatte dichter Nebel die Welt gefressen und drückte sich nun so fest von allen Seiten gegen die Scheiben, als wolle er klarstellen, dass sein Hunger noch lange nicht gestillt war.

„Wer außer Claus würde wohl auf die beschissene Idee kommen, in dieser Einöde eine Ausstellung zu organisieren?“ Angewidert nippte Alfred vom warmen Dosenbier und beobachtete die schwarzen Baumgerippe, die an ihnen vorbeizogen. Der Wald war alt, und der November hatte bereits alles Laub von den Zweigen geholt. Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wären sie gar nicht erst gekommen. Aber Luise hatte einmal mehr gemeint, sein schlechtes Gewissen spielen zu müssen, indem sie ihn daran erinnerte, dass Claus immerhin sein ältester Freund war, und dass sie seit beinahe fünf Jahren nichts mehr voneinander gehört hatten – seitdem sie gemeinsam die Meisterklasse der Universität für Bildende Kunst in Wien abgeschlossen hatten, um genau zu sein.

„Ich glaube, da vorne ist es schon.“ Luise fuchtelte mit der Hand vor der Windschutzscheibe herum. Es dauerte ein bisschen, aber dann bemerkte Alfred es auch: Glimmende Pünktchen tanzten durch die trübe Suppe. Sah nach Feuerstellen aus. Alfred grunzte gereizt, schämte sich aber gleich darauf für sein abfälliges Verhalten. Luise hatte recht. Claus war sein ältester Freund. Und die angemessene Reaktion auf die Einladung, die vor knapp zwei Wochen mit der Post hereingeflattert war, hätte darin bestehen müssen, freudestrahlend hier anzutanzen und ihm zu gratulieren, dass es für ihn so blendend zu laufen schien. Dem protzig im Briefkopf abgedruckten Namen nach hatte Claus nämlich das große Los gezogen – Franz Gautsch führte eine der renommiertesten Kunstagenturen Europas.

„Pass doch auf“, fluchte Alfred. Einer der Äste kratzte quietschend über die Tür der Beifahrerseite. Luise entschuldigte sich mit einem beiläufigen Schulterzucken. Alfred wünschte, er wäre gefahren, dann wären sie sicher schneller hier gewesen – und damit auch schneller wieder zu Hause. Aber dann hätte er sich unterwegs keine drei Biere genehmigen können. Und die hatte es dringend gebraucht, um seine schlechte Laune darin zu ertränken. Er vergönnte Claus wirklich allen Erfolg der Welt, so war es ja nicht. Aber dass sein bester Freund aus Studienzeiten offensichtlich gerade dabei war, das internationale Parkett der Kunstwelt zu betreten, während Alfred es selbst nur zum Kurator eines kleinen Bezirksmuseums in Wiener Neustadt gebracht hatte, nagte an ihm. Dabei hatte immer er als das größte Talent ihres Jahrgangs gegolten, und Claus höchstens als Mittelmaß.

„Schau, da ist Herkules.“ Der Wagen rollte auf eine Lichtung, vielleicht dreißig Meter im Durchmesser. Schwer zu schätzen bei der schwierigen Sicht, auch wenn der Nebel sich hinter den Baumreihen zusehends auflockerte. Mehrere Menschengrüppchen hatten sich um metallene Feuerkörbe versammelt, aus denen hohe Flammen schlugen. Champagnerflöten schwenkend und in formeller Abendkleidung, wirkten die Anwesenden seltsam deplatziert. Es mochten vielleicht zwanzig oder dreißig Gäste sein, zwischen denen emsig schwarz­livrierte Kellner mit erhobenen Tabletts hin und her eilten.

„Dort. Siehst du ihn? Das ist er doch, oder?“

„Wer?“, fragte Alfred und riss sich von dem anachronistischen Anblick los, dessen Sinnhaftigkeit sein beduselter Kopf noch nicht so recht erfassen wollte. Er folgte Luises Fingerzeig und entdeckte dann, wen sie meinte.

„Verdammte Scheiße, DER hat mir gerade noch gefehlt.“

„Alfred!“, wies ihn Luise mit jenem schrillen Unterton zurecht, der ihm üblicherweise mitteilen sollte, dass er an die Grenzen ihrer Geduld stieß. Alfred konnte es ihr nicht einmal verübeln. Er mochte sich heute ja nicht einmal selbst sonderlich leiden.

Luise lenkte den Wagen zu dem kleinen Platz am Waldrand, an dem auch die übrigen Gäste ihre Fahrzeuge abgestellt hatten. Alfred beobachtete unterdessen den Mann, der an der gegenüberliegenden Seite der Lichtung auf dem Dach eines heruntergekommenen Wohnwagens herumturnte. Jemand hatte in großen grünen Lettern „Perle“ auf die Seite der zerschrammten Karosserie gekrakelt. Der rothaarige Mann obenauf hatte einige Kilos zu viel um die Hüften und zu wenige Haare auf dem Kopf. Aber die Art und Weise, wie er selbstgefällig zu den Umstehenden predigte, ließ keinen Zweifel daran: Es handelte sich tatsächlich um Herkules Bell – oder auch einfach „den Amerikaner“, wie Claus und Alfred ihn immer genannt hatten, wenn sie sich zwischen den Vorlesungen über ihn lustig machten. Luise stellte den Motor ab und stieg aus.

„Vergiss deine Jacke nicht!“, verkündete sie noch, bevor sie die Tür hinter sich zuschlug. Aus der Heftigkeit, mit der sie das tat, ließ sich unschwer erraten, dass sie von ­Alfreds Laune die Schnauze ziemlich voll hatte. Alfred stürzte den letzten Rest des schal gewordenen Biers in sich hinein, zerdrückte die Dose und stieg dann ebenfalls aus. Feuchtkühle Luft und der gedämpfte Sermon des Amerikaners schlugen über ihm zusammen und erstickten augenblicklich das angenehm warme Gefühl, in das ihn der Alkoholdunst während der Fahrt gewiegelt hatte. Alfred fröstelte. Achtlos warf er die zerquetschte Dose auf die Fußmatte, schnappte sich seine Jacke vom Rücksitz und stapfte dann lustlos Luise hinterher.

Bereits die ersten Schritte führten ihn in die Fremde. Es fiel ihm auf, wie hoch die spätherbstlichen Baum­gerippe waren. Die ausladenden Äste reichten weit über den Waldrand hinaus und bildeten eine offene Kuppel, jenseits welcher nichts existierte außer dem eisgrauen Dunst, aus dem die Welt bereits am anderen Ende der Zeit bestanden haben mochte. Alfred erinnerte sich daran, dass Claus schon zu Studienzeiten von vergangenen Kulturen besessen gewesen war. Ständig hatte er von der Weltreise gesprochen, die er unternehmen würde, wenn er erst einmal den Abschluss in der Tasche hätte. Er wollte nicht eher wieder nach Hause zurückkehren, bevor er nicht zumindest eines der Geheimnisse gelüftet hatte, welche die Kunstgeschichte parat hielt. So hatte jedenfalls der romantische Plan gelautet. Es wunderte Alfred also überhaupt nicht, dass Claus für seine erste große Inszenierung ausgerechnet diese ursprüngliche Kulisse gewählt hatte.

Das Gras, das trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit hoch und üppig auf der Wiese stand, war vom Niederschlag der letzten Tage so nass, dass Alfred bei jedem Schritt spürte, wie sich seine Hosenbeine vollsogen, bis sie ihm unangenehm und schwer von den Knien schlackerten. Alfred blickte sich um. Außer ihm schien sich keiner der übrigen Anwesenden an der herrschenden Witterung zu stören. Obwohl so mancher der Damen die Feuchtigkeit bereits über die Säume des Abendkleids bis hoch zu den Hüften gekrochen sein musste, waren alle angeregt ins Gespräch vertieft. Alfred konnte keine missmutigen Gesichter entdecken. Über der Lichtung lag ein helles Stimmenwirrwarr, das sich mit dem gelegentlichen Klingeln der Gläser und der dumpfen Litanei des Amerikaners zu einer kribbelnden Geräuschkulisse verband, die Alfred unangenehm in den Ohren kitzelte. Plötzlich war da irgendetwas im Nebel. Etwas Riesiges kauerte jenseits der Bäume und beobachtete sie. Alfred stolperte und landete bäuchlings im nassen Gras. Die Welt drehte sich in atemberaubender Geschwindigkeit. Er hatte das kurze, aber intensive Gefühl, zu ertrinken. Dann wurde er am Kragen gepackt und auf die Knie gezerrt.

„Jetzt reiß dich endlich zusammen, verdammt noch einmal! Was ist denn heute bloß in dich gefahren? Du benimmst dich ja wie ein Kind.“

Alfreds Blick streifte über einen niedrigen Wall, der aus dem hohen Gras blitzte. Er war aus rötlichen Steinen errichtet, nur drei Reihen hoch, und reichte ihm kaum bis zu den Waden. Obwohl die benutzten Steine uralt und verwittert aussahen, wirkte der Wall selbst frisch angelegt. Ob er Teil der heutigen Veranstaltung war, ließ sich nicht erkennen.

„Jetzt steh endlich auf, die anderen schauen schon!“ Alfred musterte Luise verdattert, vermied es aber tunlichst, zu den Bäumen hinüberzuschielen. Der Gedanke an die Schemen, die er während seines Falls auszumachen geglaubt hatte, ließ ihm die Nackenhaare zu Berge stehen. Luise hakte sich energisch bei ihm unter und hievte ihn zurück auf die Beine.

„Ist ja schon gut. Ich stehe ja schon wieder“, verkündete Alfred. Die Kälte biss ihm ins Genick und trieb ihm den letzten Rest seines Bierrausches aus dem Leib. Luise schüttelte ungläubig den Kopf.

„Komm“, lenkte sie ein, als sie bemerkte, dass Alfred zu zittern begann. „Wir gehen zu einer der Feuerstellen.“ Dann ließ sie seinen Arm los und stapfte wieder davon, in Richtung der anderen Gäste. Alfred folgte ihr wie ein begossener Pudel.

Zu den Feuerkörben war es nicht weit. Unterwegs pflückte Alfred eine der Champagnerflöten vom freundlich dargebotenen Tablett. Luise ließ ihm einen giftigen Seitenblick zukommen, blieb aber nicht stehen. Alfred war klar, dass er es heute noch übertreiben würde. Er legte es ja auch geradezu darauf an. Er und Luise stritten nicht oft. Es gab normalerweise überhaupt keinen Anlass dafür. In den acht Jahren, die sie schon ein Paar waren, hatten sie bereitwillig gelernt, gegenseitig ihre Grenzen zu respektieren. Aber Alfred reizte es heute, sich ganz bewusst darüber hinwegzusetzen. Es war, als würde er einem Verkehrsunfall beiwohnen, gegen den er nichts unternehmen konnte – oder wollte. Eiserne Stacheln in der Schläfengegend trieben ihn dazu an, Streit zu suchen und so hoffentlich den Frust loszuwerden, der ihn schon seit Tagen peinigte. Das Bier hatte vorübergehend geholfen. Aber während er patschnass und schlotternd an den nobel gekleideten Gästen vorbeistolperte, gedankenverloren vom Champagner nippte, und sich vorkam wie die Hauptfigur eines schlechten Witzes, brodelte kalter Zorn in ihm. Eigentlich konnte er ­Champagner nicht ausstehen.

Luise musste dann ausgerechnet bei jenem Feuerkorb stehen bleiben, neben dem ein großer, rotgesichtiger Mann im sündteuer wirkenden Frack sich gerade mit einer wunderschönen Dunkelhaarigen im ausladenden opalgrünen Ballkleid unterhielt. Alfred platzte endgültig der Kragen. Bei dem Mann handelte es sich um Gautsch, daran gab es keinen Zweifel. Mit seiner fassähnlichen Figur, dem feisten Gesicht und den üppigen grauen Koteletten hätte Alfred ihn überall erkannt. Und auch die Brünette war ihm aus dem Gesellschaftsteil der Zeitungen geläufig; Prinzessin von Irgendwas – von was genau fiel ihm gerade nicht ein.

Luise stellte sich neben Gautsch, drehte sich um und bedeutete Alfred, sich zu beeilen und ebenfalls ans wärmende Feuer zu treten. Alfred packte sie am Oberarm und zerrte sie grob von der Feuerstelle weg.

„Hier nicht“, zischte er feindselig. Von all den Feuerkörben musste sie sich partout jenen aussuchen, an dem er sich in seinem Aufzug und seiner Verfassung zum größtmöglichen Idioten machen würde.

„Du tust mir weh.“ In Luises Stimme hatte sich die Kälte der Nebelausläufer geschlichen, die sich aus dem Waldrand schlängelten und lauernd im hohen Gras versteckten.

„Weißt du wer das ist?“, schnaubte Alfred und deutete mit einer knappen Kopfbewegung zu Gautsch, der von der Auseinandersetzung, die sich keine vier Schritte neben ihm abspielte, Gott sei Dank noch nichts ­mitbekommen zu haben schien. Die Prinzessin von Irgendwas lachte laut auf, Gautsch prustete dröhnend und erinnerte ­Alfred an ein Walross, das während einer Zirkusvorstellung um Fischköpfe bettelte. Das Gezeter des Amerikaners schwang nervös durch den Hintergrund.

„Du tust mir weh“, wiederholte Luise ruhig, ihre Augen glänzten gläsern. Alfred konnte nicht einschätzen, ob das Funkeln von Tränen oder Zorn herrührte – wahrscheinlich von beidem. Er ließ sie los; vor allem, weil er weiteres Aufsehen vermeiden wollte.

„Weißt du, wer das ist?“ Irritiert stellte Alfred fest, dass sich ihr Gespräch im Kreis bewegte. Dabei wollte er ihr nur sagen, dass er sich für das schämte, was aus ihm geworden war; aus ihm, dem man immer eine glänzende Zukunft als Künstler prophezeit hatte. Wo sollte er die Schuld für sein Versagen suchen, wenn nicht bei sich selbst … und natürlich auch bei Luise. Vor allem bei Luise! Was war die Kunst für sie jemals anderes gewesen als etwas, das man bewunderte, in Museen, in Galerien. Ja, auch in Menschen – aber er hatte seine eigene Kunst verloren, während Luise immer nur in sehr bescheidenem Ausmaß über eigene Kunst verfügt hatte. Ihr war das Schaffen von Kunst scheinbar niemals wichtig gewesen. Ihr hatte es irgendwann einfach gereicht, sich damit zu umgeben. Und dann hatte sie ihn auf den Job im Bezirksmuseum gestoßen. Endstation. Jetzt wollte sie, dass er sich in feuchter Kleidung und zitternd wie ein junger Hund ausgerechnet neben den großen Kunstmäzen in der maßgeschneiderten Abendgarderobe stellte und so tat, als ob ihn das alles nichts anginge. Was, wenn das Gespräch darauf käme, wer er war und was er tat? Was sollte er darauf antworten? „Ich war mit Claus an der Universität! Ich war der Beste unseres Jahrgangs!“ Und dann? Was dann? Verdammt sei Luise! Und verdammt sei auch Claus!

„Natürlich weiß ich, wer das ist“, antwortete Luise nach einer Ewigkeit, in der sie ihn abschätzend gemustert hatte. Tränen perlten inzwischen aus ihren Augenwinkeln. Sie unternahm keinen Versuch, sie wegzuwischen. Wahrscheinlich, um ihr Make-up nicht zu zerstören. Sie schnappte sich ebenfalls eine der Champagnerflöten vom Tablett eines vorbeihuschenden Kellners, zeigte Alfred den Mittelfinger und drehte sich dann wortlos wieder zurück zum Feuerkorb, als sei nichts geschehen. Gautsch zog die Brünette an seinen grobschlächtigen Körper. Die Prinzessin von Irgendwas ließ sich das nur zu gerne gefallen und gackerte wie ein hysterisches Huhn. Alfred wandte sich ab und stapfte zwei Feuerkörbe weiter. Luise würde sich schon wieder einkriegen. Und wenn nicht … naja, sie hatte die Autoschlüssel. Irgendwann müsste sie also so oder so wieder mit ihm sprechen, spätestens, wenn es dunkel wurde. Wenn dieses Fiasko seinem Ende entgegenstrebte und die Zeit gekommen wäre, wieder aufzubrechen. ­Alfred betete, dass das schnell passieren möge, rechnete aber damit, dass Luise ihn aus Rache zappeln lassen würde.

Er stellte sich nahe an die Flammen und genoss eine Zeit lang gedankenverloren die Wärme, die ihm ­entgegenschlug. Alfred vermied es, nachzugrübeln, wie die Situation so schnell hatte kippen können. Stattdessen versank er in Gedanken darüber, warum er seit geraumer Zeit nichts mehr zu Papier oder auf die Leinwand gebracht hatte. Als er noch an der Universität gewesen war, hatte er oft vollmundig behauptet, er müsse sterben, wenn er länger als zwei Tage keinen Bleistift oder Pinsel halten dürfte. Mittlerweile war es über ein halbes Jahr her, seit er an der Staffelei gestanden hatte – und noch lebte er. Alfred kam nicht umhin zu denken, dass es wahrscheinlich sogar gut so war. Denn wer seine letzten Arbeiten zu Gesicht bekommen hätte, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er einmal als vielversprechendes Talent gehandelt worden war. Er fühlte sich leer. Und genau so präsentierte sich derzeit auch sein Werk: ausdruckslos und nichtssagend. Nicht einmal ein winziger Anflug von Genialität. Immer wieder gab er auch Luise die Schuld dafür. Süße, untalentierte Luise, die er vielleicht einmal geliebt haben mochte. Vor einer Zillion Jahren, als es noch durchaus möglich schien, dass man ihn später einmal als einen der wichtigsten Künstler des ausgehenden 21. Jahrhunderts bezeichnen würde.

Wie auf Kommando trug ihm der Wind Luises helles Lachen zu. Alfred riskierte einen kurzen Blick zu dem Feuerkorb, an dem er sie zurückgelassen hatte. Gautsch schien sie mittlerweile ins Gespräch mit einbezogen zu haben. Seine brünette Gesprächspartnerin gestikulierte wild mit den Händen. Alfred konnte nicht ­erkennen, was genau sie damit bezweckte. Gautsch vollführte gleich darauf einen tiefen Kratzfuß; mimte anscheinend den großen, brummigen Zirkusbär für die anwesenden Damen. Die umstehenden Gäste applaudierten. Luise wirkte glücklicher, als Alfred sie seit Monaten erlebt hatte. Er wandte seinen Blick wieder ab und nippte am ­Champagner. Das Glas war beinahe leer, und der süße Sprudel prickelte ihm ungewohnt in den Gliedern. Zumindest fror er nicht mehr.