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Die Bestseller-Autorin Eugenie Marlitt zeigt in dem historischen Roman Im Hause des Kommerzienrates von 1877 ihre gesamte Erzählkunst. Durch ihre virtuose Erzählweise erzeugt Eugenie Marlitt eine Spannung, die dazu verführt, das Buch in einer einzigen Sitzung durchzulesen. Daneben vermittelt Marlitt auf unterhaltsame Art ein anschauliches Bild einer Epoche und ihrer Denkweise. Die Handlung spielt auf dem Schloss des angesehenen Kommerzienrats Römer. Der Kommerzienrat hat als erfolgreicher Kaufmann großen Reichtum erworben. Seine gesamte Verwandtschaft lässt er auf seinem Anwesen wohnen. Zu den Bewohnern gehören die bildschöne junge Schwägerin Flora, die kränkliche Schwägerin Henriette, die strenge Tante Urach, und der bekannte Arzt Dr. Bruck, Floras Bräutigam. Die Ordnung des Hauses gerät durcheinander, als die dritte Schwägerin des Kommerzienrates Römer, Käthe, im Haus ankommt. Nun dreht sich alles nur noch um sie. Römer verwaltet als Vormund Käthes Erbschaft. Käthe und Flora geraten wegen ihrer unterschiedlichen Charaktere oft aneinander. Doch Geld macht attraktiv: Der Kommerzienrat Römer scheint Gefallen an der wohlhabenden Erbin Käthe zu finden. Da kommt es zu einem folgenschweren Vorfall. Der Roman Im Hause des Kommerzienrates von Eugenie Marlitt wurde 1975 in hochkarätiger Besetzung verfilmt. Beteiligt waren unter anderen: Karlheinz Böhm, Wolfgang Arps, Gisela Schneeberger, Judy Winter, Marianne Hoppe, und Theo Lingen.
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Seitenzahl: 526
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Die Dezembersonne huschte noch einmal scheu durch die große Schlossmühlenstube, dann nahm sie das letzte laue Strahlenfünkchen von den seltsamen Gegenständen, die auf dem tiefen Steinsims des Eckfensters ausgebreitet lagen, und verschwand in dem Schneewolkenbett, das sich träge, aber beharrlich am Himmel emporschob. Die seltsam gleißenden Gegenstände auf dem Fenstersims waren das Rüstzeug des Arztes, jene Sammlung von Instrumenten, die schon mit ihrem schneidig kalten Funkeln das Auge erschrecken und einen Schauer durch das Nervenleben des Menschen jagen. Ein mächtiges Bettgestell, an Kopf- und Fußende mit plumpen, bäurisch grellen Rosen- und Nelkensträußen bemalt und ausgefüllt mit Federbetten in bunten Überzügen, stand schräg in das Fensterlicht gerückt, und auf diesem Bett lag der Schlossmüller. Eben hatte ihn die rasche Hand des Arztes von einem Halsübel befreit, das ihn schon einige Male mit dem Erstickungstod bedroht – es war ein schwieriges, sehr gefährliches Unternehmen gewesen, aber der junge Mann, der jetzt sacht das Rollo niederließ und geräuschlos die Instrumente in das Etui packte, sah befriedigt aus – die Operation war gelungen.
Der Kranke, der noch kurz zuvor unter der anfänglichen Wirkung des Chloroforms gegen die Hand des Arztes getobt und ihn mit kreischender Stimme Räuber und Mörder gescholten hatte, lag jetzt still und erschöpft in den Kissen. Das Sprechen war ihm untersagt, ein offenbar überflüssiges Verbot, denn wohl selten trug ein Gesicht so unverkennbar das Gepräge der verdrossenen Wortkargheit, als dieser dicke, viereckige Kopf, der nur eine Schönheit aufzuweisen hatte, das ungelichtete, silberweiße Haar.
„Du bist zufrieden, Bruck?“, fragte leise ein Herr, zu dem Arzte in die Fensternische tretend. Er hatte bis dahin am Fußende des Betts gestanden und trug noch die Spuren der Aufregung und Spannung in seinen schönen Zügen.
Der Arzt nickte. „Alles gut bis jetzt – die robuste Natur des Kranken wird mich unterstützen“, sagte er ruhig mit einem zuversichtlichen Blicke auf den alten Mann. „Und nun verlasse ich mich auf die Pflege – ich muss fort. Der Patient hat vorläufig unter allen Umständen in der gegebenen Lage zu verbleiben. Es darf durchaus keine starke Blutung eintreten –“
„Dafür lasse mich sorgen!“, unterbrach ihn der Andere lebhaft. „Ich bleibe, solange eine so penible Aufsicht nötig ist. … Willst Du drüben in der Villa sagen, dass ich nicht zum Tee komme?“
Ein leichtes Rot stieg in die Wange des Arztes, und etwas wie Niedergeschlagenheit lag in seinem Ton, als er sagte: „Ich muss den Umweg durch den Park vermeiden und so rasch wie möglich die Stadt zu erreichen suchen –“
„Du hast Flora heute noch nicht gesehen, Doktor –“
„Glaubst Du, das wird mir so leicht? Ich –“, er unterbrach sich und presste die Lippen aufeinander, während er nach dem Etui griff, um es in die Tasche zu stecken. „Ich habe mehrere Schwerkranke“, sagte er gleich darauf sehr ruhig; „das kleine Mädchen des Kaufmanns Lenz wird heute Nacht noch sterben. Dem Kinde kann ich nicht helfen, aber die Eltern, die vollkommen erschöpft sind durch Angst und aufopfernde Pflege, zählen die Augenblicke, bis ich komme – die Mutter isst nur auf mein Zureden.“
Er trat an das Bett. Der Kranke hob die Lider und sah ihn vollkommen bewusst an; ja, in den stark hervorquellenden, von geröteten Rändern umgebenen Augen lag ein Schimmer von Dankbarkeit für die so plötzlich fühlbar gewordene unaussprechliche Erleichterung. Er wollte seinem Befreier die Hand reichen, aber dieser hielt sie auf der Bettdecke fest, indem er das Verbot bezüglich jeder hastigeren Bewegung erneute. „Der Kommerzienrat will hier bleiben, Herr Sommer; er wird dafür einstehen, dass meine Anordnungen streng befolgt werden“, setzte er hinzu.
Dem alten Manne schien das recht zu sein; den Blick auf den Kommerzienrat gerichtet, der die Versicherung mit einem freundlich lebhaften Kopfnicken bestätigte, schloss er die Augen wieder, als wolle er zu schlafen versuchen. Doktor Bruck aber nahm seinen Hut, reichte dem Kommerzienrat die Hand und verließ das Zimmer.
Hätte eine angstvoll besorgte Frau am Krankenbett gesessen, ihr wäre jedenfalls bei diesem Hinausgehen das Gefühl des Verlassenseins, der Verzagtheit gekommen, wie jene arme Mutter in der Stadt mit dem Erscheinen des Arztes so viel Mut schöpfte, um aus seiner Hand die wenigen zur Selbsterhaltung nötigen Bissen zu nehmen. Am Lager des Schlossmüllers waltete aber nicht solche zitternde Angst und unsägliche Liebe. Die alte Haushälterin, die beschäftigt war, das zur Operation gebrauchte Gerät zu entfernen, sah ziemlich gleichgültig darein; sie huschte wie eine Fledermaus an den Wänden hin, und die von der ärztlichen Hand verspritzten Wassertropfen auf der Tischplatte schienen sie mehr zu alterieren, als die Lebensgefahr, welche ihr Herr eben überstanden.
„Bitte, lassen Sie jetzt das gut sein, Jungfer Suse!“, sagte der Kommerzienrat in sehr höflichem Tone. „Das Reiben auf dem wackeligen Tische macht ein Nerven angreifendes Geräusch. Doktor Bruck wünscht in erster Linie Ruhe für den Papa.“
Jungfer Suse packte schleunigst Wischtuch und Kehrbesen zusammen und ging hinaus, um sich in ihrer blitzblanken Küche über die nassen Reste auf dem Esstisch zu beruhigen. Es war nun still geworden, so geräuschlos, wie es eben in der Schlossmühlenstube sein konnte. Durch den Fußboden lief unausgesetzt jenes leise, taktmäßige Schüttern, das von der Räderarbeit im Mühlenraume ausgeht; über das Wehr drüben stürzten die zerstäubenden Wasser in ewiger Wiederholung ihrer beschränkten Rauschmelodie, und dazwischen rucksten die Tauben und kamen plump gegen die Fensterscheiben geflattert aus den uralten, riesenhaft ausgebreiteten Kastanienwipfeln, in denen sie nisteten, und die von der Abendseite her einen Dämmerschein in die Schlossmühlenstube warfen. Jenes Lärmgemisch aber existierte nicht für den Kranken – es gehörte so unbewusst zu seinem Leben und Behagen, wie die Luft, wie der regelmäßige Taktschlag seines Herzens. –
Was war doch das für ein abstoßendes Greisengesicht, das der elegante Mann am Bett versprochenermaßen mit den Augen hütete! Nie war ihm das Ordinäre des Ausdrucks, nie der Zug von Härte und gemeiner Grobheit, der sich in tiefer Krümmung um die dicke, hängende Unterlippe zog, so widerwärtig aufgefallen wie in diesem Augenblicke, wo der Schlaf oder die Erschöpfung den Willen aufhob und den äußern Charakterstempel in die ursprünglichen Linien rückte. … Nun ja, der Alte hatte auch tief unten angefangen; er war bei Beginn seiner Laufbahn Müllerknecht gewesen; aber jetzt war er ein Mann, dem der Getreidehandel Unsummen in den Schoß geworfen – er war ein Träger der Geldmacht, der da auf dem bäuerisch altväterischen Bettgestell lag, und vielleicht auch ein wenig in Rücksicht auf diese imponierende Tatsache nannte ihn der Kommerzienrat respektvoll und zuvorkommend „Papa“; denn in Wirklichkeit knüpfte sie nicht ein Tropfen gemeinsamen Blutes aneinander. Der verstorbene Bankier Mangold, mit dessen ältester Tochter erster Ehe der Kommerzienrat vermählt gewesen, hatte als zweite Frau die Schlossmüllerstochter heimgeführt – das war das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen dem Kranken und seinem Pfleger.
Der Kommerzienrat erhob sich und trat leise vom Bett weg an eines der Fenster. Er war ein jugendlich rascher Mann, den das Stillsitzen und ängstliche Beobachten nervös machten; es widerstrebte ihm, fortgesetzt das unsympathische Antlitz und die geballten, knotigen, tief in die Bettdecke gewühlten Fäuste anzusehen, die einst die Peitsche über den Müllerpferden geschwungen hatten. Die letzte Kastanie vor dem Fenster, an welchem er stand, hatte längst die Blätter abgeworfen; jede Rundung, jedes Viereck, welches die kahlen, in einander geschlungenen Äste formten, wurde zum Rahmen kleiner Landschaftsbilder, eines lieblicher als das andere, wenn auch im Augenblicke der düstere Dezemberhimmel das Silberlicht der Teichspiegel dämpfte und mit seiner nassen Wolkenschleppe die duftige Veilchenbläue der fernen Berggipfel hässlich verwusch.
Dort rechts, nachdem er die Räder der Schlossmühle gedreht, machte der Fluss eine starke Krümmung; ein kleines Medaillon der Äste seitwärts umschloss ein Stückchen seines funkelnden Streifens und zugleich ein Menschenwerk, dem er abermals dienen musste – ein mächtiger Bau in Würfelform, ein ungeschmückter Steinkoloss, über den die Fensterreihen wie einförmige Perlenschnüre hinliefen, stand es in hässlicher Nüchternheit am Ufer. Das war die Spinnerei des Kommerzienrates. Auch er war ein reicher Mann; er beschäftigte Hunderte von Arbeitern dort zwischen den kreisenden Spindeln, aber dieses sein Eigentum brachte ihn in eine gewissermaßen abhängige Beziehung zu dem Schlossmüller. Die Mühle, vor Jahrhunderten vom Landesherrn erbaut, war mit unglaublichen Privilegien ausgestattet worden, die, noch heute in Kraft, eine bedeutende Strecke des Flusses beherrschten und den Anwohnern das Leben sauer genug machten. Und auf diesen verbrieften Rechten stand der Schlossmüller mit seinen breiten Füßen und wies jedem die Zähne, der auch nur mit einer Fingerspitze daran zu rühren wagte. Anfangs nur Pächter, hatte er allmählich und unmerklich die Fangarme seines wachsenden Reichtums ausgestreckt, bis er nicht allein Besitzer der Mühle, sondern auch des Rittergutes selbst geworden war, zu welchem sie gehörte. Und das hatte er durchgesetzt kurz vor der Verheiratung seines einzigen Kindes mit dem angesehenen Bankier Mangold. Für ihn selbst hatten nur der ausgedehnte Waldbesitz und die Ländereien Wert gehabt; die dazu gehörige prächtige Villa inmitten eines stattlichen Parkes war ihm zu allen Zeiten ein Gräuel gewesen; nichtsdestoweniger hatte er bereitwillig „die kostbare Spielerei“, imstande erhalten, weil er ja seine Tochter als Herrin da schalten und walten sehen durfte, wo die ehemaligen hochmütigen Besitzer konsequent vergessen hatten, seinen Gruß zu erwidern. Jetzt war der Kommerzienrat Mieter der Villa; es lagen somit die ausgiebigsten Gründe vor, in gutem Einvernehmen mit dem Flussbeherrscher und Hauswirt zu verbleiben, und das geschah – der Kommerzienrat stand wie ein fügsamer Sohn zu dem mürrischen Alten.
Von der Turmuhr des Fabrikgebäudes schollen vier Schläge herüber, und hinter den hohen Scheiben des Komptoirs schlugen zugleich die Gasflammen auf; es wurde heute sehr früh dämmerig; jener feuchte Dampf, der Schnee bringt, füllte allmählich die Luft und machte den Essenrauch von der Stadt her träge über die Erde hinkriechen, während das Schieferdach der Spinnerei, jede Türstufe und jeder Kieselstein den schlüpfrigen Glanz intensiver Nässe annahmen. Die Tauben, die noch geduldig, dick und faul nebeneinander auf den Kastanien hockten, verließen plötzlich die triefenden Äste und flogen nach dem warmen, trockenen Schlage. Fröstelnd sah der Kommerzienrat in die Stube zurück. Fast kam sie ihm behaglich und anheimelnd vor, die den verwöhnten Mann sonst stets anwiderte mit ihrer von Speiseresten erfüllten Luft, mit ihren verräucherten Tapeten und den berüchtigten Neuruppiner Bilderbogen an den Wänden, aber eben legte Jungfer Suse draußen frisches Scheitholz in das Ofenfeuer; das altväterische Sofa mit den dicken, weichen Federkissen stand so warm und bequem an der Wand, und auf den blank geputzten Scheiben der Alkoventür blinkte das letzte Restchen des falben Tageslichtes – ah, hinter dieser Alkoventür stand der eiserne Geldspind – hatte er vorhin auch den Schlüssel abgezogen?
Kurz vor der Operation hatte der Schlossmüller sein Testament gemacht; die Gerichtspersonen und Zeugen waren dem Doktor Bruck und dem Kommerzienrat noch auf der Treppe begegnet. Wenn er auch äußerlich bei guter Fassung war, musste es doch im Innern des Patienten heftig gestürmt haben; jedenfalls war seine Hand beim Wegräumen der benötigten Dokumente unstet und hastig gewesen, denn ein Papier war auf dem Tische liegen geblieben. Er hatte übrigens im letzten Augenblicke vor der Entscheidung das Versehen noch bemerkt und den Kommerzienrat gebeten, das Schriftstück schleunigst im Schranke zu verschließen. Aus dem Alkoven führte noch eine zweite Tür nach dem Vorsaal, und es verkehrten viele fremde Leute in der Mühle; erschreckt trat der Kommerzienrat in das schmale Stübchen; er war unverzeihlich leichtsinnig gewesen – die Schranktür stand offen; wenn das der Alte gesehen hätte, der seinen Geldschrank wie ein Drache hütete! Es konnte wohl niemand das Zimmer betreten haben, sagte sich der Kommerzienrat zu seiner Beruhigung; selbst das leiseste Geräusch wäre ihm ja nicht entgangen, aber überzeugen musste er sich dennoch, ob noch alles in Ordnung.
Er schlug den eisernen Türflügel möglichst lautlos zurück – sie standen sichtlich unberührt, die Geldsäcke, das silberschwere Piedestal des ehemaligen Müllerknechtes, und neben den Stößen von Wertpapieren türmten sich in blinkenden Säulchen die Goldstücke aufeinander. Sein bewundernder Blick flog hastig über das Schriftstück, das er vorhin infolge leicht begreiflicher Spannung und Erregtheit allzu flüchtig in eines der musterhaft geordneten Fächer geworfen hatte – es war das Verzeichnis des Gesamtbesitztums. Welche imponierende Summen reihten sich da aneinander! Sorgsam schob er das Papier auf die anderen Dokumente; dabei aber geschah es, dass er eines der Goldröllchen umstieß – klirrend rollte eine Anzahl Napoleons d’or auf die Dielen nieder. Wie abscheulich das klang! Es war fremdes Geld, das er berührt hatte! Schrecken und eine an sich ungerechtfertigte Scham trieben ihm das Blut in das Gesicht;unverzüglich bückte er sich, um das Geld aufzulesen. In diesem Moment warf sich ein schwerer, massiger Körper von rückwärts über ihn her, und harte, grobe Finger würgten ihn am Halse.
„Halunke, Spitzbube! Ich bin noch nicht tot“, zischte der Schlossmüller mit seltsam erloschener Stimme. Ein momentanes Ringen erfolgte; der schlanke junge Mann musste alle seine Kraft und Elastizität aufbieten, um den Alten abzuschütteln, der wie ein Panther auf ihm hockte, ihm die Kehle so furchtbar zusammenschnürend, dass ein feuriger Funkenregen vor seinen Augen aufstiebte – ein angstvoller Griff seiner eigenen beiden Hände, dann ein gewaltsamer Ruck und Stoß, und er stand befreit auf seinen Füßen, während der Schlossmüller an die Wand taumelte.
„Sind Sie toll, Papa?“, keuchte er empört und atemlos.„Welche bodenlose Gemeinheit“, – er verstummte entsetzt; der Verband unter dem erbleichenden Gesicht des Kranken erschien plötzlich scharlachrot, und diese entsetzliche Farbe kroch sickernd, mit unglaublicher Schnelligkeit auch als breites Band über die weiße Bettjacke – da war die Blutung, die um jeden Preis verhindert werden sollte.
Der Kommerzienrat fühlte seine Zähne wie im Fieber zusammenschlagen. War er schuld an diesem Unglück? „Nein, nein“, sagte er sich erleichtert und umschlang den Kranken, um ihn fürs Erste nach dem Bett zu schaffen, aber der Alte stieß erbittert nach ihm und zeigte schweigend auf die verstreuten Goldstücke; sie mussten Stück um Stück aufgelesen und an Ort und Stelle zurückgelegt werden; die furchtbare Gefahr, in der er schwebte, ahnte er entweder nicht oder er vergaß sie über der Angst um sein Gold. Erst, nachdem der Kommerzienrat vor seinen Augen den Schrank verschlossen und den Schlüssel in seine Hand gedrückt hatte, wankte er in die Stube zurück und sank taumelnd auf sein Lager, und als endlich zwei Müllerburschen und Jungfer Suse auf das wiederholte Hilferufen des Kommerzienrates herbeistürzten, da lag der Schlossmüller bereits lang hingestreckt und stierte mit gläsernen Augen wie entgeistert auf seine Brust, die der unaufhaltsam entfließende Lebensstrom immer breiter mit Purpur bedeckte.
Die Burschen eilten nach der Stadt, um Doktor Bruck zu suchen, während die Haushälterin Wasser und Leinen herbeischleppte – vergebliche Mühe! Es half nichts, dass der Kommerzienrat angstvoll Tuch um Tuch auf die Wunde presste, um den Quell zu verstopfen; der ließ sich nicht wieder zurückleiten. Es blieb kein Zweifel: Die Schlagader war zerrissen. Wie war das gekommen? Trug die wahnsinnige innere und äußere Aufregung des alten Mannes allein die Schuld, oder – der Herzschlag stockte ihm – hatte er bei seiner verzweifelten Abwehr die Schnittwunde am Halse des Wütenden gepackt und tödlich erweitert? Für einen solchen Moment gab es kein Erinnern; wie kann einer wissen, ob er die Schulter oder den Hals eines heimtückischen Angreifers fasst, wenn ihm der Erstickungstod droht und das gewaltsam nach dem Gehirn gedrängte Blut Feuerräder vor seinen Augen kreisen lässt! Aber wozu auch eine so grässliche Möglichkeit aufstellen? Hatten nicht der Sprung aus dem Bett, die innere kochende Wut vollkommen genügt, das Unglück herbeizuführen, das ja der Arzt selbst schon von einer einzigen allzu heftigen Bewegung abhängig gemacht? Nein, nein, sein Gewissen war rein und unbelastet; er konnte sich nicht den geringsten Vorwurf machen, auch was die Grundursache dieses grauenhaften Vorfalles betraf. Er war an den Schrank getreten, einzig und allein aus Besorgnis für das Eigentum des alten Mannes; nicht einmal der Wunsch, diese Schätze zu besitzen, war ihm in jenem flüchtigen Moment gekommen – das wusste er genau. Was konnte er für die gemeinen Gesinnungen des erbärmlichen Kornwucherers, der bei jedem, auch dem anerkannt respektabelsten Manne, räuberische Gelüste voraussetzte? An die Stelle der Angst und des Entsetzens trat jetzt der Ingrimm. Das hatte er von seiner Liebenswürdigkeit, von jener Höflichkeit des Herzens, die seine Bekannten an ihm rühmten; sie hatte ihn wie schon so oft, hingerissen, Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die ihn in Unannehmlichkeiten verwickelten. Wäre er doch zu Hause geblieben, zu Hause in seinem köstlich behaglichen Salon, am Whisttisch in unverkümmerter Gemütsruhe seine Zigarre rauchend! Sein böser Dämon musste ihm zugeflüstert haben, die Rolle des aufopfernden Pflegers zu spielen; nun stand er inmitten der haarsträubendsten Situation, und seine vor Ekel und Grauen immer wieder zurückschreckenden Hände netzten sich mit dem Blute des Elenden, der ihn eben um ein Haar erwürgt hätte.
Wie bleiern träge Minute um Minute hinschlich! Jetzt war sich der Schlossmüller augenscheinlich bewusst, in welche Gefahr er sich gebracht hatte; er rührte sich nicht, und nur seine Augen richteten sich in angstvoller Spannung auf die Tür, wenn draußen auf dem Vorsaale Schritte erklangen; er hoffte auf Rettung durch den Arzt, während der Kommerzienrat schaudernd die Veränderung in seinem Gesichte verfolgte. So aschfarben malt nur die Hand des Todes.
Jungfer Suse hatte die Lampe hereingebracht; sie war wiederholt vor das Tor gelaufen, um nach Doktor Bruck auszuschauen, und nun stand sie zu Häupten des Betts und schüttelte sich stumm vor Entsetzen bei dem Anblicke, den das weiße Lampenlicht schreckhaft hervortreten ließ. Wenige Minuten darauf sanken die Augen des Schlossmüllers zu, und der Schlüssel, den er bis dahin krampfhaft festgehalten, fiel auf die Bettdecke; eine Ohnmacht trat ein. Unwillkürlich griff der Kommerzienrat nach dem Schlüssel, um ihn wegzulegen, aber in den Moment, wo er das verhängnisvolle Stückchen Eisen mit den Fingern berührte, kam ihm ein Gedanke, der ihn traf, wie ein unvermuteter Schlag: Welche Physiognomie erhielt wohl der unglückselige Vorfall in den Augen der Welt? Er kannte es nur zu gut, das zischelnde, flüsternde Weib, die Lästersucht; sie schlich ja auch durch seine Salons, und das starke Geschlecht am Spieltische amüsierte sich genau mit demselben Behagen bei ihren versteckten, boshaften Fingerzeigen, ihrem zweideutigen Lächeln, wie die Teetrinkenden Damen. Und wenn nur ein Einziger achselzuckend mit bedenklichem Augenzwinkern sagte: „Ei, was hatte denn auch der Kommerzienrat Römer im Geldschrank des Schlossmüllers zu suchen?“, so genügte das, um sein Blut sieden zu machen. Es blieb aber nicht bei diesem Einzigen; er hatte Feinde und Widersacher genug, wie alle, die das Glück bevorzugt; er wusste, dass man sich morgen in der Stadt erzählen werde, die Operation sei gelungen gewesen, aber die Aufregung darüber, dass der Pfleger heimlich über seinen Geldschrank gegangen, habe eine Verblutung des Patienten herbeigeführt. Und da war ein schmutziges Mal auf dem Namen des beneideten Römer, das selbst keine gerichtliche Untersuchung wegwaschen konnte; wo waren denn die entlastenden Zeugen? Etwa seine bisher anerkannte Ehrenhaftigkeit? Er lachte bitter in sich hinein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Niemand wusste besser als er, dass sich die Mitwelt in nichts rascher findet, als eine anerkannte Ehrenhaftigkeit für Schein zu halten, sobald der Schein gegen sie auftritt. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, dem Jungfer Susanne die Schläfe mit Essenzen wusch, und beobachtete ihn plötzlich mit verändertem Blicke; wenn dieser Mann da nicht selbst so viel Kraft wieder erlangte, um den Vorgang zu erzählen, dann wurde das Ereignis mit ihm begraben – über die Lippen des Anderen kam kein Wort.
Endlich schlugen draußen die Hofhunde an, und rasche Schritte kamen über das Steinpflaster und die Treppe herauf. Doktor Bruck blieb einen Moment wie versteinert in der Stubentüre stehen, dann legte er schweigend seinen Hut auf den Tisch und trat an das Bett. Welche atemlose Stille bei einem solchen Erscheinen! Sie breitet gleichsam die Schwingen aus, um feierlich den Ausspruch über Leben und Tod zu empfangen.
„Wenn er doch nur erst wieder zu sich käme, Herr Doktor!“, flüsterte endlich die Haushälterin beklommen.
„Das wird er schwerlich“, versetzte Doktor Bruck von seiner Untersuchung aufblickend – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. „Mäßigen Sie sich!“, gebot er ernst, als Jungfer Suse in ein Klagelied ausbrechen wollte.„Sagen Sie mir lieber, weshalb der Kranke das Bett verlassen hat!“ Er hatte die Lampe vom Tisch genommen und beleuchtete den Fußboden – die Dielen vor dem Bett waren mit Blut bespritzt.
„Das rührt von den vollgesogenen Tüchern her“, erklärte der Kommerzienrat mit blassem Gesicht, aber großer Bestimmtheit, während die Haushälterin heilig und teuer versicherte, dass der Schlossmüller bei ihrem Wiedereintreten noch genauso im Bett gelegen, wie es der Herr Doktor angeordnet habe.
Doktor Bruck schüttelte den Kopf. „Die Blutung ist nicht ohne alle äußere Veranlassung eingetreten; es muss eine heftige Erschütterung eingewirkt haben –“
„Dass ich nicht wüsste – ich versichere Dir, nein!“, sagte der Kommerzienrat, ziemlich fest dem ausdrucksvollen Blick des Arztes begegnend. „Übrigens, was soll dieser Inquisitorenblick? Ich sehe nicht ein, weshalb ich es Dir verheimlichen sollte, wenn der Kranke wirklich in einem Fieberanfall aus dem Bett gesprungen wäre.“ Er bliebe unbeirrt auf dem Wege, den er eingeschlagen. Fast wollte es ihm die Kehle zusammenschnüren bei seinen letzten Worten. Um den äußeren Ehren schein zu retten, gab er die wahre innere Ehre hin – er leugnete mit eherner Stirne, aber er war ja auch in Wirklichkeit ohne alle Schuld; er war der an Leben und Gesundheit Schwerbedrohte gewesen. Nicht ein einziges Motiv lag nahe, welches das Bekennen des wahren Sachverhaltes zur Gewissenspflicht gemacht hätte.
Der Arzt wandte sich schweigend von ihm ab. Unter seinen Bemühungen schlug zwar der Schlossmüller die Augen wieder auf, aber er stierte mit wirrem, erloschenem Blick ins Leere, und der Versuch, zu sprechen, erstarb in einem schwachen Gurgeln und Lallen.
Mehrere Stunden später verließ der Kommerzienrat Römer die Schlossmühle – es war alles vorüber. Über die Türen des Sterbezimmers und des Alkovens spannten sich bereits breite Papierstreifen. Der Kommerzienrat hatte sofort nach dem letzten Atemzuge des Schlossmüllers bei den Gerichten Anzeige gemacht und als vorsichtiger und gewissenhafter Mann vor seinen Augen versiegeln lassen.
Er schritt jetzt durch den Park nach Hause. Die Lichter der Mühle, die noch eine kleine Strecke weit einen schwachen Schein auf seinen Weg herausgeworfen, verschwanden hinter ihm; er wandelte nun allein mit sich selbst in tiefster Finsternis, und nicht der scharfe Windhauch, der ihn anblies, nicht die vereinzelten Schneeflocken, die wie flatterndes Nachtgevögel eisigkalt an seiner Wange niederstrichen, nein, seine aufgeregten Gedanken und die Erinnerung an den Anblick, den er stundenlang hatte ertragen müssen, sie waren es, die einen Schüttelfrost durch seine Glieder jagten. Auf demselben Wege, dessen Kieselgeröll jetzt misstönend unter seinen Füßen rasselte, war er heute Nachmittag gekommen, eben aufgestanden vom reich besetzten Mittagstisch, sorglos, seinen viel berufenen Glücksstern über sich wähnend – und nun, nach wenigen Stunden, wollte es fast scheinen, als trage er Mitschuld am Tode eines Menschen, er, der Kommerzienrat Römer, der um seiner empfindlichen Nerven willen nicht einmal ein Tier leiden sehen mochte! Bah, das war der Neid der Götter, der kein ungetrübtes Menschenlos duldet, der dem Glücklichen gern Steine auf die glatte Bahn wirft, und welcher jetzt auch bemüht war, ihm einen Nagel in das Gewissen zu drücken; der heitere Lebensgenuss sollte ihm vergällt werden – mitnichten! Ihn traf nur ein Vorwurf, der des Verschweigens, aber wem schadete er denn damit? Niemand, niemand auf Gottes weiter Erde! Basta – er war mit sich fertig. Eben bog er in die breite Lindenallee ein, welche direkt auf die Villa zulief. Ströme silberweißen Lichtes flossen durch Fenster und Glastüren des unteren Balkonzimmers. Von dort her griff das üppige Leben voll Genuss mit weißen, schwellenden Armen nach ihm und zog ihn an sich aus Nachtdunkel und innerer Bedrängnis. Er atmete befreit auf; er warf die schlimmen Eindrücke der letzten Stunden weit hinter sich und ließ sie gleichsam verfließen mit dem Rauschen des Mühlwassers, das in der Ferne allmählich erstarb.
In dem Salon dort, am Tee- und Whisttisch der verwitweten Frau Präsidentin Urach, hatte sich eine zahlreiche Abendgesellschaft eingefunden. Die sehr tief gehenden mächtigen Glasscheiben und das klar durchsichtige Bronzegeflecht des niedrigen Balkongeländers gestatteten einen vollkommenen Einblick in den Salon. Seine farbenglänzenden Wandgemälde, die faltenschweren Türbehänge von veilchenblauem Samt, der schwebende Kettenleuchter von Goldbronze, den die mit dem Silberlichte des Gases gefüllten Milchglaskugeln wie riesige Perlen umkreisten, ließen ihn feenhaft, aber auch herausfordernd wie eine Schaubühne aus dem intensiven Dunkel des Winterabends treten. … Ein Windstoß pfiff durch die Allee und schüttete ein Gemisch von Schneeflocken und dürren Lindenblättern wie toll über den Balkon her; die vornehme Ruhe hinter den Scheiben ließ sich nicht alterieren durch den groben Gesellen; nicht einmal das luftige Gewebe der Spitzengardinen bewegte sich – höchstens, dass der Feuerkern im Eckkamin unter seinem grimmigen Atem für einen Moment höher aufglühte.
Und der immer rascher daher schreitende Mann draußen überblickte mit einer Art von innerlich zitterndem Wonnegefühl die Gruppen der Versammelten – nicht dass blonde und dunkle Locken, weiche, schlanke Frauen- und Mädchengestalten sein Auge entzückt hätten, die Frühlingsgenien des Deckengemäldes streckten vielmehr ihre mit Anemonen und Maiblumen gefüllten Händchen über Matronenhäubchen, über gebleichte Scheitel und Glatzköpfe hin – aber welche Namen waren da vertreten! Offiziere von hohem Range, pensionierte Hofdamen und Herren vom Ministerium saßen an den Spieltischen, oder umsaßen, ihren steifen Rücken in den blauen Samt der Lehnstühle gedrückt, plaudernd den wärmenden Kamin. Auch der alte, hochmütige Medizinalrat von Bär war da. Beim Auswerfen der Karten zuckten Blitze von seinen kostbaren Brillantringen, lauter Geschenken fürstlicher Personen. Und alle diese Leute waren in seinem Hause, im Hause des Kommerzienrates Römer; der rubinfunkelnde Wein in den Gläsern war aus seinem Keller, und die frischen, duftenden Erdbeeren, welche die betressten Diener in großen Kristallschalen eben herumreichten, hatte er bezahlt. Die Frau Präsidentin Urach war die Großmama seiner verstorbenen Frau; sie machte mit unumschränkter Macht über seine Kasse die Honneurs im Hause des Witwers.
Der Kommerzienrat bog um die westliche Seite des Hauses. Hier waren nur zwei Fenster im Erdgeschoss beleuchtet; ziemlich nahe dem einen brannte eine Hängelampe und warf die helle Glut der roten Gardine so weit hinaus, dass der weiße Leib der steinernen Brunnennymphe drüben vor der Boscage in einem vollen Rosenlichte schwamm. Der Kommerzienrat schüttelte den Kopf; er trat in das Haus, ließ sich von einem herbeieilenden Diener den Überzieher abnehmen und öffnete die Tür des Zimmers, in dem sich die roten Vorhänge befanden. Der ganze Raum war rot; Tapeten, Möbelbezüge, selbst der Teppich, der sich über den Fußboden hinspannte, trug die satte, dunkle Purpurfarbe. Unter der Hängelampe stand ein Schreibtisch, ein Möbel von wunderlicher Form, in chinesischem Geschmacke schwarz lackiert, mit Goldgeäder und feinen Goldarabesken; es war ein Arbeitstisch im vollsten Sinne des Wortes; aufgeschlagene Bücher, Papierhefte und Zeitungen bedeckten seine breite Platte, auch ein dickes Manuskript mit quer darüber hingeworfenem Stift lag da, und daneben stand auf einem kleinen, runden Silberteller ein Kelchglas, zur Hälfte mit dunklem, schwerem Rotweine gefüllt. Das war ein Zimmer, wo keine Blume gedeiht, wo kein Vogel sein störendes Lied singen darf. In den vier Ecken, auf Säulenstücken von schwarzem Marmor, standen lebensgroße Büsten aus demselben Material, das die streng geschnittenen Köpfe noch herber und härter im Ausdruck erscheinen ließ, und die eine lange Wand nahmen Büchergestelle ein; sie harmonierten in Farbe und Ausschmückung mit dem Schreibtische und bargen eine ansehnliche Bibliothek in ihren Fächern, schön gebundene Bücher neuesten Datums, aber auch Folianten in Schweinsleder und ganze Stöße abgegriffener Broschüren. Fast schien es, als sei hier das tiefe, gleichmäßige Rot als Grundton nur gewählt, um den Ernst des Gedankens in der Gesamteinrichtung hervorzuheben.
Als der Kommerzienrat auf die Schwelle trat, blieb die Dame, die offenbar da auf- und abgegangen war, inmitten des Zimmers stehen. Man hätte meinen mögen, auch sie sei eben von draußen hereingekommen, direkt aus dem Schneegestöber mit überschneitem Gewande, so blendend weiß stand sie auf dem roten Teppich. Es ließ sich schwer bestimmen, ob die weichen Falten des langen Kaschmirkleides lediglich aus Bequemlichkeit so lässig um Hüften und Taille geschürzt waren, oder ob diesem außergewöhnlichen Arrangement ein sorgfältiges Toilettenstudium zugrunde liege – jedenfalls hob sich die Gestalt von dem dunkelpurpurnen Hintergrunde edel in jeder Linie und taubenhaft weiß ab wie eine Iphigenie. Die Dame war sehr schön, wenn auch nicht mehr in der ersten Jugend. Sie hatte ein feines Römerprofil und zart gefügte, jugendlich biegsame Glieder; nur das aschblonde Haar entbehrte der Fülle; es war kurz verschnitten und bauschte sich, von der Stirn zurückgestrichen, in kleinen durchsichtigen Locken um Kopf und Hals. Das war Flora Mangold, die Schwägerin des Kommerzienrats Römer, die Zwillingsschwester seiner verstorbenen Frau. Sie hatte die Arme leicht unter der Brust verschränkt und sah ihrem Schwager mit sichtlicher Spannung entgegen.
„Nun, Flora, Du bist nicht drüben?“, fragte er, mit dem Daumen die Richtung des Salons bezeichnend.
„Was denkst Du denn? Ich werde mich wohl in Großmamas Teeklatsch setzen, zwischen Strümpfe und Wickelschnüren für arme Kinder und Altweibergeschwätz“, versetzte sie herb und geärgert.
„Es sind auch Herren drüben, Flörchen –“
„Als ob die sich auf den Klatsch nicht noch besser verstünden, trotz Orden und Epauletten!“
Er lachte. „Du hast schlechte Laune, ma chère“, sagte er und ließ seine schlanke Gestalt in einen Lehnstuhl sinken.
Sie aber warf plötzlich mit einer heftig schüttelnden Bewegung den Kopf zurück und presste die festverschlungenen Hände gegen den Busen. „Moritz“, sagte sie wie atemlos, wie nach einem augenblicklichen Ringen mit sich selbst, „sage mir die Wahrheit – ist der Schlossmüller unter Brucks Messer gestorben?“
Er fuhr empor. „Welche Idee! Nun wahrhaftig, Euch Frauen ist doch nie ein Unglück schwarz genug –“
„Moritz, ich bitte mir’s aus“, unterbrach sie ihn mit einer stolzen Kopfbewegung.
„Nun ja, allen Respekt vor Deiner Begabung und Deinem ungewöhnlichem Verstande, aber machst Du es denn besser als die Anderen?“ Er durchmaß aufgeregt das Zimmer – diese ungeahnte Auffassung des Ereignisses traf ihn wie vernichtend. „Unter Brucks Messer gestorben!“, wiederholte er mit tief erregter Stimme. „Ich sage Dir, gegen zwei Uhr hat die Operation stattgefunden, und vor kaum zwei Stunden ist der Tod eingetreten. Übrigens fasse ich nicht, wie gerade Du den Mut findest, einen solchen Gedanken so kurz und bündig, fast möchte ich sagen, so mitleidslos auszusprechen.“
„Gerade ich!“, betonte sie. Bei diesen energischen Worten drückte sie den vorgestreckten Fuß sichtlich tiefer in den Teppich. Gerade ich, weil ich nichts Totgeschwiegenes in meiner Seele dulde – das solltest Du wissen. Ich bin zu stolz, zu wenig hingebend, um die dunkle Verschuldung eines anderen mitzuwissen und zu verhehlen – sei dieser Andere, wer er wolle! Glaube ja nicht, dass ich dabei nicht leide! Mir geht ein Schwert durchs Herz, aber Du hast das Wort ‚mitleidslos‘ gebraucht – verdächtiger konntest Du Dich nicht ausdrücken. Mitleid haben mit der Stümperei in der Wissenschaft, das ist absurd, geradezu unmöglich. Darüber aber bist Du doch, so gut wie ich, im Klaren, dass Brucks Ruf als Arzt bereits stark gelitten hat durch die gänzlich missratene Kur der Gräfin Wallendorf.“
„Ja, ja, die gute Frau hat ihrer Liebhaberei für Gänseleberpastete und Champagner um keinen Preis entsagt.“
„Das behauptet Bruck – die Verwandten haben es widerlegt.“ Sie presste die Handfläche an die Schläfen, als schmerze ihr der Kopf heftig. Weißt Du, Moritz, als die Nachricht von dem Unglück in der Mühle herübergebracht wurde, da bin ich wie sinnlos draußen im Freien auf- und abgestürmt. In allen Schichten der Bevölkerung war der alte Sommer gekannt, alle Welt interessierte sich für die Operation. Sei es denn, wie Du sagst, dass er nicht sofort unter Brucks Händen den Geist aufgegeben hat – die Sachverständigen werden mit Recht behaupten, er habe eben nur, vermöge seiner robusten Natur, einen verlängerten Kampf gekämpft. Willst Du als Laie das besser wissen? Leugne doch nur nicht, dass Du dieselbe Überzeugung hegest! Du solltest Dich nur sehen, wie blass Du bist vor innerer Bewegung.“
In diesem Augenblick Tat sich eine Seitentür auf, und die Präsidentin Urach erschien auf der Schwelle. Trotz ihrer siebzig Jahre konnte man wohl von ihr sagen: Sie kam schwebenden Schrittes näher; trotz ihrer siebzig Jahre war sie eine wunderlich jugendliche Großmama. Sie trug nicht einmal die wohltätig verhüllende Mantille des Alters; ein weißer, auf den Rücken geknüpfter Spitzenfichu legte sich knapp um Brust und Taille, und auf der perlgrauen Seidenschleppe bauschte ein reich garniertes Überkleid. Ihr ergrautes, aber noch von glänzenden Streifen der ehemaligen Goldfarbe durchzogenes Haar war in dicken Puffen um die Stirn gesteckt, und über dieser Haarkrone lag schleierartig weißer Blondentüll, dessen lange Enden den Hals und die untere Kinnpartie, diese unerbittlichen Verräter des vorgerückten Alters, zugleich verhüllten.
Sie kam nicht allein. Neben ihr schlüpfte ein wunderliches Wesen herein, eine im Wachstum sehr unterdrückte Gestalt, nicht gerade unproportioniert in den Gliedern, aber doch auffallend klein und erschreckend mager, und auf diesem dürftigen Körper saß der stark entwickelte Kopf einer jungen Dame von vielleicht vierundzwanzig Jahren. Die drei im Zimmer anwesenden Frauenköpfe trugen ein und denselben Familienzug – man erkannte sofort die enge Beziehung zwischen der Großmutter und den Enkelinnen; nur bei der Jüngsten erschien das edle, ebenmäßige Profil zu sehr in die Länge gezogen; auch trat das Kinn breiter und energischer hervor. Sie hatte einen kränklichen Teint und seltsam bläuliche Lippen. Durch ihr blondes Haar schlangen sich feuerfarbene Samtbänder – sie war überhaupt in eleganter Gesellschaftstoilette; nur hing origineller Weise da, wo andere Damen ein Margarethentäschchen tragen, ein ovales Weidenkörbchen, weich gefüttert mit blauen Atlaskisschen, zwischen denen ein Kanarienvogel saß.
„Nein, Henriette!“, rief Flora ungeduldig und heftig, als das Vögelchen sofort sein Nest verließ und wie ein Pfeil über ihren Kopf hinflog, „das leide ich absolut nicht. Deine Menagerie lässt Du draußen!“
„Ich bitte Dich, Flora – Hans hat weder Elefantenfüße noch Hörner am Kopfe; er tut Dir nichts“, sagte die kleine Dame gleichmütig. „Komm, Hänschen, komm!“, lockte sie das Tierchen, das droben an der Decke kreiste; es kam sogleich pflichtschuldigst herunter und setzte sich auf ihre ausgestreckten Zeigefinger.
Flora wandte sich achselzuckend ab. „Ich begreife Dich und die Anderen drüben wahrhaftig nicht, Großmama“, sagte sie scharf. „Wie mögt Ihr nur Henriettens Kindereien und Narrheiten dulden? Sie wird Euch nächstens auch ihre sämtlichen Tauben- und Dohlennester in den Salon schleppen.“
„Ei ja – warum denn nicht, Flora?“, lachte die Kleine und zeigte eine Reihe feiner, scharfer Zähnchen. „Die guten Leute müssen sich ja auch gefallen lassen, dass Du wo möglich mit der Feder hinter dem Ohr einhergehst und stets alle Taschen voll Stubengelehrtheit mitbringst –“
„Henriette!“, unterbrach sie die Präsidentin streng verweisend. Es war eine wahrhaft fürstliche Hoheit in jeder ihrer Bewegungen; auch in der graziösen Art, wie sie dem Kommerzienrat ihre schlanke Hand begrüßend hinreichte, lag bei sehr viel Güte und Freundlichkeit dennoch eine nicht zu verkennende Herablassung.
„Wir haben drüben erfahren, dass Du endlich zurückgekommen bist, lieber Moritz; sollen wir noch länger warten?“, fragte sie mit ihrer schönen, immer noch weichen Frauenstimme.
Noch vor zehn Minuten hatte er mit dem festen Vorsatz, schleunigst in den Frack zu schlüpfen, das Haus betreten – jetzt sagte er zögernd und unsicher: „Teuerste Großmama, ich möchte Sie bitten, mich für heute zu entschuldigen – der Vorfall in der Mühle –“
„Nun ja, der Vorfall ist traurig genug, aber weshalb sollen auch wir darunter leiden? … Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich Dich vor meinen Freunden entschuldigen soll.“
„Sie werden doch nicht so schwer von Begriffen sein, die guten Freunde, um nicht zu verstehen, dass Käthes Großpapa gestorben ist?“, warf Henriette über die Schulter herüber ein – sie stand vor einem Bücherbrett und las, wie es schien, eifrig die Vignetten.
„Henriette, ich verbitte mir ernstlich Deine naseweisen Bemerkungen“, sagte die Präsidentin. „Du magst meinetwegen Deinen feuerfarbenen Haarschmuck ein wenig moderieren; denn Käthe ist Deine Stiefschwester, mir und Moritz aber liegt diese Verwandtschaft so weltenfern, dass wir für uns dem Trauerfall offiziell keinerlei Bedeutung zugestehen können, so sehr ich ihn auch beklage. Ich möchte überhaupt nicht, dass die Sache an die große Glocke geschlagen würde – Brucks wegen – je weniger über den Vorfall gesprochen wird, desto besser.“
„Mein Gott, seid Ihr denn alle so ungerecht gegen den Doktor?“, rief der Kommerzienrat in ausbrechender Verzweiflung. „Ihm ist auch nicht der allergeringste Vorwurf zu machen; er hat seine ganze Kunst, sein ganzes Wissen aufgeboten –“
„Lieber Moritz, darüber musst Du meinen alten Freund, den Medizinalrat von Bär, hören!“, unterbrach ihn die Präsidentin und klopfte ihn leicht auf die Schulter. Sie winkte bedeutungsvoll mit den Augen nach Flora, die an ihren Schreibtisch getreten war.
„O, geniere Dich nur nicht, Großmama! Glaubst Du denn, ich sei so blind und dumm, um mir nicht selbst zu sagen, wie Bär urteilt?“, rief das schöne Mädchen bitter. Ihre Lippen zuckten wie im Krampf. „Übrigens hat Bruck bereits sich selbst gerichtet, er hat nicht gewagt, mir heute Abend noch unter die Augen zu treten.“
Henriette hatte bis dahin mit dem Rücken gegen die Anderen gestanden. Jetzt wandte sie sich um; eine hohe Röte schoss in ihr fahles Gesicht und erlosch ebenso rasch wieder. Das Mädchen hatte ein wunderschönes, tiefes Auge, ein Auge voll leidenschaftlicher Empfindung. Diese großen flimmernden Sterne richteten sich mit einem Gemisch von scheuem Schrecken und jäh aufglühendem Hass auf das Gesicht der Schwester.
„Nun, diesen Verdacht wird er widerlegen – er kommt noch, Flora“, sagte der Kommerzienrat sichtlich erleichtert. „Er wird Dir selbst sagen, dass er den Tag über wie gehetzt gewesen ist. Du weißt ja, dass er mehrere Schwerkranke in der Stadt hat, darunter das arme, kleine Mädchen des Kaufmanns Lenz, das heute Nacht noch sterben wird.“
Die junge Dame stieß ein leises, bitteres Lachen aus. „Wird es sterben? Wirklich, Moritz? … Nun sieh, Bär war auch hier bei mir, ehe er zu Großmama ging; er sprach auch von dem Kinde, das er gestern gesehen hatte, und meinte, der Fall sei leicht – er fürchte nur, Bruck sei auf falscher Fährte. Bär ist eine Autorität –“
„Ja, eine Autorität voll zitternden Neides“, sagte Henriette mit vibrierender Stimme. Sie war rasch hinzugetreten und legte ihre Hand auf den Arm ihres Schwagers. „Gib es auf, Moritz, Flora zu bekehren! Du siehst doch, sie will ihren Bräutigam schuldig finden.“
„Ich will? … Boshaftes Geschöpf! Ich gäbe sofort mein halbes Vermögen hin, wenn ich noch so denken könnte, wie zu Anfang meiner Brautschaft, so stolz, so zuversichtlich zu Bruck aufsehend“, rief Flora leidenschaftlich. „Aber seit dem Tode der Gräfin Wallendorf trage ich stillschweigend die fortgesetzte Qual der Zweifel, des Misstrauens mit mir herum – heute zweifle ich nicht mehr, denn ich bin überzeugt. Jene Schwäche des Weibes kenne ich freilich nicht, das nur liebt, ohne zu fragen: Ist der Geliebte der Hingebung auch würdig? … Ich bin ehrgeizig, glühend ehrgeizig, das können alle wissen. Ohne diese Triebfeder würde ich auch mit dem großen Haufen der Schwachen und Indolenten meines Geschlechts auf der breiten Heerstraße der Alltäglichkeit ziehen. – Gott soll mich behüten! Wie andere strebende und denkende Frauen es möglich machen, ruhig und gleichmütig mit einem unbedeutenden Mann durchs Leben zu gehen, ist mir stets unfasslich gewesen – ich würde zeitlebens erröten unter den Blicken der Menschen.“
„O – so verschämt würdest Du sein? Sieh, sieh! – Allerdings, dazu gehört auch mehr Mut, als vor einem kecken Auditorium von Studenten über Ästhetik und dergleichen zu lesen“, rief Henriette, jetzt in der Tat mit einem boshaften Lächeln.
Flora ließ einen Blick voll Verachtung über die kleine Schwester hinstreifen. „Solch eine kleine Viper lässt man ruhig zischen. Was weißt Du von einem Ideal?“, sagte sie achselzuckend. „Aber recht hast Du, wenn Du glaubst, mein Platz sei weit eher auf dem Katheder, als an der Seite eines Mannes, der sich als Stümper in seiner Wissenschaft dokumentiert – eine solche Fessel ertrage ich nicht.“
„Kind, das ist Deine Sache“, erklärte die Präsidentin gelassen, während der Kommerzienrat in namenloser Bestürzung zurückfuhr. „Du wirst Dich erinnern, dass Dich niemand gezwungen, noch überredet hat, Deinen Kopf in diese Fessel zu stecken.“
„Das weiß ich sehr genau, Großmama; ich weiß auch, dass Du es weit lieber gesehen hättest, wenn ich die Frau des an Geld und Körper bankrotten Kammerherrn von Stetten geworden wäre. Ich gebe Dir ebenso gern zu, dass ich mich nie von irgendeinem Menschen beeinflussen oder gar leiten lasse, weil ich am besten wissen muss, was mir frommt.“
„Das wird Dir auch stets unbenommen sein“, versetzte die Großmama mit vornehmer Kälte. „Nur eines gebe ich Dir zu bedenken: Du wirst eine entschiedene Gegnerin an mir haben, wenn die Sache auf einen Eclat hinausläuft. Darin kennst Du mich hoffentlich. Ich ertrage weit eher inneren Unfrieden, als einen Familienskandal nach außen. Ich lebe mit Euch zusammen und habe gern die Repräsentation dieses Hauses übernommen; dafür verlange ich aber auch die unbedingteste Rücksicht für meine Stellung und meinen Namen. Ich will nicht, dass man in der Gesellschaft über uns flüstert und zischelt.“
Der Kommerzienrat wandte sich rasch ab. Er trat an das eine unverhüllte Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Der Wind, der sich allmählich zum Sturme steigerte, fauchte rüttelnd an den Scheiben hin, und in dem feurig roten Streifen, den die Lampe des anderen Fensters stet und unbeirrt über die windgeschüttelten Büsche warf, fuhren die blutig gefärbten Schneeflocken im rasenden Wirbel durcheinander, wie die marternden Gedanken in seinem Kopfe. Er hatte vorhin mit sich gekämpft, ob er nicht Flora wenigstens den Vorfall wahrheitsgetreu mitteilen solle – jetzt wusste er, dass gerade ihr gegenüber kein Laut über seine Lippen kommen durfte, wenn er nicht wollte, dass die Präsidentin um des „Zischelns und Flüsterns in der Gesellschaft“, willen sich von ihm lossagte; er musste sich eingestehen, dass das ehrgeizige schöne Mädchen sofort sein Geständnis in die Welt hinausschreien würde, weniger aus Liebe, als um den Schein von sich zu wenden, dass sie sich hinsichtlich der Wahl ihres Herzens oder eigentlich ihres Verstandes geirrt habe.
Währenddessen stand Henriette, das kleine, missgestaltete Mädchen, mit Augen voll Grimm und Spott vor der Großmutter. „Also nur in Rücksicht auf das Gerede der Leute wünschest Du, dass sich meine Schwester tadellos aus der Affäre ziehe? Damit kommt sie ja sehr wohlfeil weg. Du sprichst sie ohne Bedenken frei, wenn sie nur dem Treubruche ein seidenes Mäntelchen umzuhängen versteht. Übrigens brauchst Du wegen des Eclat wirklich nicht so entsetzlich penible zu sein, Großmama – man muss im Salon leben, wie wir, um zu wissen, dass die Gesellschaft es mit so manchen vornehmen Sündern hält, wie mit dem alten Meißner Porzellan: je öfter gekittet, desto begehrter!“
„Ich werde Dich wohl ersuchen müssen, den Rest des Abends auf Deinem Zimmer zu verbringen, Henriette“, zürnte die Präsidentin jetzt ernstlich. „Mit dieser verbitterten Stimmung kann ich Dir die Rückkehr in den Salon nicht gestatten.“
„Wie Du befiehlst, Großmama! Gelt, Hans, wir gehen mit tausend Freuden“, sagte sie lächelnd und drückte die Wangen auf das Gefieder des Vögelchens, das noch auf ihrer Rechten saß. „Du kannst auch die alten Hofdamen nicht leiden, und die große medizinische Autorität, den Herrn von Bär, zwickst Du regelmäßig in den Finger, wenn er Dich mit Zucker kirren will, braver Bursche … Gute Nacht, Großmama – gute Nacht, Moritz!“ Sie hemmte noch einmal ihre hastigen Schritte und wandte sich zurück. „Die Charaktervolle dort“, sagte sie mit schneidender Ironie, „wird hoffentlich den Weg innehalten, den ihr der selige Papa unerbittlich vorgeschrieben haben würde – mit ihrer Renommage bezüglich des eigenen Willens hat sie sich zu seinen Lebzeiten niemals hervorwagen dürfen. Er würde ihr nie gestattet haben, einem Ehrenmanne das gegebene Wort zu brechen.“
Mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe ging sie hinaus, aber schon auf der Schwelle stürzten ihr die heißen Tränen, die bereits in ihren letzten Worten mitgeklungen hatten, unaufhaltsam über die Wangen.
„Gott sei Dank, dass sie geht!“, rief Flora. Man braucht wirklich das höchste Maß von Selbstbeherrschung, um nicht ihr gegenüber die Geduld zu verlieren.“
„Ich vergesse nie, dass sie eine Kranke ist“, bemerkte die Präsidentin trocken zurechtweisend.
„Und in einer Art hatte sie doch auch Recht, Flora“, wagte der Kommerzienrat einzuwerfen.
„Denke darüber, wie Du willst, Moritz!“, entgegnete die junge Dame kalt. „Ich habe Dich nur dringend zu bitten, mir durch Deine Einmischung die inneren Kämpfe nicht zu erschweren. Wie bereits gesagt, bin ich gewohnt, mit mir und Anderen allein fertig zu werden, und so will ich’s auch in diesem Falle gehalten wissen. Übrigens dürft Ihr ruhig sein – Du und die Großmama – es widerstrebt mir selbst, hart und gewaltsam vorzugehen; ich habe eine geräuschlose Verbündete, und das ist – die Zeit.“
Sie nahm das Kelchglas vom Schreibtische und netzte die fast weiß gewordenen Lippen mit einigen Tropfen Rotweins, während die Präsidentin, ohne ein Wort weiter zu verlieren, sich anschickte, in den Salon zurückzukehren.
„Apropos, Moritz!“, rief sie, die Hand auf das Türschloss legend. „Was wird nun mit Käthe geschehen?“
„Darüber müssen wir das Testament entscheiden lassen“, versetzte er, wie befreit aufatmend. „Ich bin völlig ahnungslos, wie der Schlossmüller verfügt hat. Käthe ist seine einzige Erbin; ob er sie aber auch als solche bestätigt, das fragt sich; er ist ihr ja immer gram gewesen, weil ihre Geburt seiner Tochter das Leben gekostet hat. … Auf jeden Fall wird sie für einige Zeit hierher kommen müssen.“
„Gib Dir keine Mühe – die kommt nicht; die hängt noch heute so fest an den Rockfalten ihrer alten, unausstehlichen Gouvernante, wie zu Papas Lebzeiten“, sagte Flora. „Man muss nur ihre Briefe an Dich lesen.“
„Nun, vielleicht ist’s auch besser, sie bleibt, wo sie ist“, meinte die Präsidentin fast lebhaft. „Aufrichtig gestanden, ich verspüre nicht viel Lust, sie unter meine Flügel zu nehmen und vielleicht stündlich an ihr herumzumäkeln – das gibt viel stillen Ärger. … Ich habe mich nie recht für sie erwärmen können, nicht etwa, weil sie das Kind der ‚Anderen‘ war – darüber habe ich stets gestanden, aber sie kroch mir zu viel drüben in der Mühle herum, hatte stets die Zöpfe und Kleider voll Mehlstaub und war ein recht eigenwilliges kleines Ding.“
„Ja, so ein rechter Querkopf aus dem Volke, und doch – Papas Liebling“, warf Flora mit bitterem Lächeln hin.“
„Scheinbar, Kind, weil sie seine Jüngste war“, sagte die Präsidentin, die grundsätzlich nie den Gedanken aufkommen ließ, dass eines ihrer Angehörigen je zurückgesetzt werden könne; „er hat Euch ebenso lieb gehabt. Nun, Moritz, wirst Du mitkommen?“
Er bejahte hastig. Beide entfernten sich, Flora aber schellte ihrer Kammerjungfer. „Ich will mich in mein Schlafzimmer zurückziehen und dort arbeiten – trage das Schreibzeug und diese Papiere hinüber!“, befahl sie. „Selbstverständlich bin ich für niemand mehr zu sprechen.“
Der feurig rote Streifen draußen erlosch; das weiße Licht des Salons aber schimmerte bis weit über Mitternacht in die dunkle, sturmgepeitschte Allee hinein. … Der Kommerzienrat saß am Spieltische. Alle Anwesenden hatten bei seinem Eintreten einen liebenswürdigen Gruß, ein vertrauliches Händeschütteln für ihn gehabt, und das hatte sein beklommenes Herz durchwärmt und umschmeichelt wie Sonnenschein. Inmitten dieser Gesichter, mit der Vornehmheit des Adels oder dem Beamtenhochmut in den Zügen, fand er seine Handlungsweise so vollkommen gerechtfertigt, dass er die quälenden Skrupel der letzten Stunden fast nicht mehr begriff. Weshalb sich einem schiefen Urteil aussetzen, wenn man sich bewusst ist, nicht einmal in Gedanken gesündigt zu haben? Und um welche Gemeinheit handelte es sich! All’ den allerliebsten Skandalgeschichtchen, die auch jetzt von Mund zu Mund schlüpften, hing man mit feinem, verständnisinnigem Lächeln „das seidene Mäntelchen“, um – es waren ja insgesamt noble Passionen und Verirrungen, die man geißelte, bei dem Verdacht eines gemeinen Attentates auf den Geldschrank des Schlossmüllers aber ließe sicher alle diese Leute den ohnehin in ihren Kreis Eingeschmuggelten gnadenlos fallen. … Allerdings durfte er sich jetzt nicht mehr damit trösten, dass sein Verschweigen niemand schade; es drohte scheidend zwischen zwei Menschen zu treten, die bereits durch den Verlobungsring aneinander gekettet waren – bah, Flora war ein exzentrisches Wesen! Bei der nächsten Auszeichnung, die Bruck zu Teil wurde – und die konnte bei seinen Verdiensten, seinem Wissen nicht ausbleiben –, besann sie sich eines Bessern. … Er schlürfte ein Glas köstlicher Bowle, und das spülte die letzten Skrupel gründlich weg.
Der Schlossmüller hatte in der Tat seine Enkelin, Katharina Mangold, testamentarisch zu seiner Universalerbin ernannt und den bereits von ihrem verstorbenen Vater für sie bestellten Vormund auch seinerseits bestätigt. – Dieser Vormund war der Kommerzienrat Römer. Bei der Eröffnung des Testamentes war diesem doch sehr wunderlich zumute gewesen, und er hatte den Kopf geschüttelt über die Widersprüche, die ungeahnt in der Menschenseele nebeneinander liegen. Der alte Mann, der ihn in dem jähen Wahne, er wolle ihn seines Goldes berauben, nahezu erwürgt, hatte ihn kaum eine Stunde zuvor bezüglich der Verwaltung des Vermögens mit beinahe unumschränkter Vollmacht betraut. Er hatte verfügt, dass, falls die beabsichtigte Operation seinen Tod nach sich ziehe, sofort sein gesamter Besitz an Liegenschaften, mit Ausnahme der Schlossmühle, verkauft werde. In Betreff dieser Ausnahme hatte er bemerkt, die Mühle habe ihn zum reichen Manne gemacht, und seine Enkelin, selbst wenn sie „so stolz und hochnäsig, wie ihre Stiefschwestern“, geworden sei, brauche sich nicht zu schämen, sie ihrem künftigen Ehemanne mitzubringen. Das Rittergut sollte zerschlagen, die Waldungen, Ländereien und die Wirtschaftsgebäude inmitten der weiten Gras- und Gemüsegärten je einzeln an den Meistbietenden veräußert werden; bezüglich der Villa und des dazu gehörigen Parkes solle jedoch der Kommerzienrat Römer, sofern er darauf reflektiere, die Vorhand haben, und sei ihm der Besitz mit fünftausend Talern unter dem Taxwert zuzuweisen. Diese fünftausend Taler habe er nicht allein als Entschädigung für seine vormundschaftliche Mühewaltung, sondern auch als ein Zeichen der „Erkenntlichkeit“, des Testators anzusehen, da er sich niemals hochmütig, wie „die Anderen in der Villa“, sondern weit eher wie ein anhänglicher naher Verwandter bezeigt habe. Ferner sollte aufgrund des Testamentes das Gesamtvermögen in Staatsobligationen und anderen soliden Papieren angelegt und die Wahl derselben dem Ermessen des Vormundes, als eines tüchtigen und umsichtigen Geschäftsmannes, überlassen sein.
Die junge Erbin lebte seit sechs Jahren entfernt von der Heimat. Ihr sterbender Vaters hatte sie der Gouvernante, einem Fräulein Lukas, übergeben, welche die Erziehung des Kindes seit dessen erstem Lebensjahre in den Händen gehabt und in der Tat Mutterstelle an ihm vertreten hatte. Bankier Mangold hatte sehr wohl gewusst, dass er seinen Liebling, der sich stets scheu von den weit älteren Stiefschwestern ferngehalten, dieses Schutzes nicht berauben dürfe, und deshalb verfügt, dass Katharina mit nach Dresden gehen solle, wo die Erzieherin nach langjährigem Brautstand mit einem Arzte gerade um jene Zeit ihren eigenen Hausstand begründete. … Das junge Mädchen hatte in ihren Briefen an den Vormund nie den Wunsch ausgesprochen, die Heimat wiederzusehen; ebenso wenig war es ihrem Großvater, dem Schlossmüller, eingefallen, sie je zurückzufordern; er war damals vollkommen mit ihrer Übersiedlung nach Dresden einverstanden gewesen, weil ihr Anblick den Gram um das einzige Wesen, das er geliebt, um seine Tochter, stets erneute. Nun, nach seinem Tode, hatte der Vormund ihre Rückkehr auf einige Zeit gefordert; er hatte ihr zugleich mitgeteilt, dass er sie selbst mit Eintritt der wärmeren Jahreszeit, Ende April, abholen wolle, weil – was er selbstverständlich verschwieg – die Präsidentin Urach sich entschieden gegen eine etwaige Begleitung der ehemaligen Gouvernante verwahrte. Die Mündel war mit allem einverstanden gewesen, und hatte ihn nur auf seine Frage, ob sie bei Ausführung der testamentarischen Bestimmungen irgendeinen persönlichen Wunsch habe, dringend gebeten, bei Verpachten der Schlossmühle die große Eckstube nebst Alkoven zu reservieren und beide Räume genau zu belassen, wie sie zu des Großvaters Lebzeiten eingerichtet gewesen seien. Das war geschehen. – –
Es war im Monat März, da kam eine junge Dame von der Stadt her. Sie ging auf der Chaussee, die mit den letzten vereinzelten Ausläufern der Straße, hübschen, kleinen Landhäusern, zu beiden Seiten besetzt war, und bog in den breiten Fahrweg ein, der nach der Schlossmühle führte. Noch war das Schmelzwasser des letzten Schneefalles nicht ganz versickert; es stand in den breiten Furchen, welche die Räder der Mühlenwagen gewühlt hatten, und in den tief eingedrückten Spuren der vielen Sohlen, die hier verkehrten; aber die schlanken Füße des jungen Mädchens steckten in festen Lederstiefelchen, und das schwarze Seidenkleid war so hoch aufgeschürzt, dass der elegant bordierte Saum mit dem triefenden Geröll nicht in Berührung kam. Es war durchaus keine Elfe oder Sylphide, das Menschenkind, das so kräftig und sicher daher geschritten kam, weit eher eine Gestalt, wie man sich ein schönes Schweizermädchen denkt, dem die kräuterwürzige Alpenmilch und der reine Atem der Bergluft das Blut mischen und Adern und Sehnen vor Gesundheit strotzen machen. Eine anliegende, mit Pelz besetzte schwarze Samtjacke bezeichnete die kräftigen, aber schön geschwungenen Linien der Taille und des Busens, und auf dem lichtbraunen Haare saß, ein wenig schief gerückt, eine Mütze von Marderfell. Das Gesicht war weit entfernt, proportioniert oder gar klassisch regelmäßig zu sein – das gebogene Näschen war zu kurz im Verhältnis zur Wölbung und Breite der Stirn, der Mund zu groß, das runde Kinn mit dem Grübchen ein wenig zu kräftig vorgeschoben, der Bogen der Brauen nicht bestimmt genug, aber diese Mängel wurden aufgewogen durch die reine, von den breiten Schläfen ausgehende Ovallinie und die unvergleichliche Jugendfrische und Blüte der Gesichtsfarbe.
Die junge Dame trat in das offene Hoftor der Schlossmühle. Eine Schar Hühner, die, einer Spur verstreuter Getreidekörner nachgehend, eben auf den Fahrweg hinausspazieren wollte, stob gackernd vor ihr auseinander, und die Hofhunde fuhren mit wütendem Gebell aus ihrem trägen Halbschlummer empor. Wie floss das neue Frühlingssonnenlicht goldglänzend über die Mauern des alten, prächtigen Hauses, deren gewaltige Quader vor alten Zeiten unter den Augen des fürstlichen Erbauers aufeinander getürmt worden waren! Vorgestern erst war die letzte dicke Eiszacke klingend von dem aufgesperrten Löwenrachen der blechernen Dachrinne gefallen, und heute zitterte und flimmerte die Luft über dem sonnenerhitzten Schiefer des Daches. Aus den dicken, braunen Knospen der Kastanien quoll das Harz und ließ sie glitzern, als seien sie mit Diamantenstaub bestreut; ein paar Töpfe mit halb verkümmerten Stubenpflanzen standen, zum ersten Male wieder in die laue freie Luft gerückt, vor dem einen Fenster der Knappenstube, und auf dem hölzernen, ausgetretenen Freitreppchen, das von dieser Stube direkt in den Hof führte, saß ein weiß bestäubter Müller und schnitt sich tüchtige Brocken von Brot und Käse.
„Mohr! Wächter!“, rief die junge Dame mit schmeichelnder Stimme über den Hof hinüber. Die Hunde gebärdeten sich wie toll und rissen winselnd an der Kette.
„Was wünschen Sie?“, fragte der Müller, sich schwerfällig erhebend.
Sie lachte leise in sich hinein. „Ich wünsche gar nichts, Franz, als Ihnen und Suse guten Tag zu sagen.“
Im Nu flogen Brot, Käse und Messer hinter das Treppengeländer. Der Mann war nicht groß. Er war kleiner als das junge Mädchen – er sah sprachlos in das blühende Gesicht, das er zum letzten Male gesehen, wie es, noch nicht einmal in der Höhe seiner breiten Schultern, auf einem schmächtigen Kindskörper gesessen; sie hatte „das Müllermäuschen“, geheißen und war ihm in der Mühle und auf dem Kornboden, in der Tat quecksilbern wie eine Maus, auf Schritt und Tritt nachgehuscht – und jetzt war sie die Herrin hier, und er, der ehemalige Obermüller, ihr Pächter. „Kurios“, sagte er, in unbeholfener Verlegenheit den Kopf schüttelnd, „die Grübchen in den Backen und die Augen sind’s noch, aber, aber das unmenschliche Wachstum!“ Er ließ seine Augen scheu und ungläubig messend an der hohen Gestalt emporgleiten. „Na ja, da hat eben der Trieb von der Sommer’s-Großmutter her dahinter gesteckt; die war auch so wie Milch und Blut und – „wollt ihr wohl still sein, ihr Racker!“, unterbrach er sich scheltend und drohte mit der Faust nach den unaufhörlich bellenden Hunden. „Die Schlingel kennen Sie wirklich noch, gnädiges Fräulein –“
„Besser als Sie; das ‚unmenschliche Wachstum‘ hat sie nicht irregemacht“, versetzte sie, zu den Hunden tretend und die hoch an ihr aufspringenden Tiere streichelnd. „Sie titulieren mich ja wunderlich, Franz. Ich bin nicht avanciert in Dresden, das kann ich Ihnen versichern.“
„Aber die Fräuleins drüben in der Villa lassen sich ja auch so benennen“, sagte er mit steifem Nacken und starrköpfig.
„Ah so!“
„Und Sie sind doch zehnmal mehr. So jung und schon so reich, so unmenschlich reich! Die Mühle da, die schönste weit und breit – sapperment, das will was heißen! Herrje – nur ein Mädchen, und kaum achtzehn Jahre alt, und das Kommando über eine solche Mühle!“
Sie lachte. „Das steht mir allerdings zu, und ich will Ihnen das Leben schon sauer machen, alter Franz. … Wo steckt denn Suse?“
„Die hat Stubenarrest, hat’s wieder einmal in der rechten Seite, das arme, alte Frauenzimmer. Die Hausmittel wollen nicht mehr recht verfangen. Doktor Bruck ist eben bei ihr.“
Die junge Dame reichte ihm die Hand und trat sofort in das Haus. Die schwere Bohlentür fiel rasselnd, mit gellendem Geklingel hinter ihr zu, und der Lärm hallte von allen vier Wänden des weiten Flurs zurück. … Unter den Füßen der Eingetretenen schütterte der Boden sehr stark. Das Tosen und Stampfen des Mahlwerkes dröhnte dumpf durch die kleine, klaffende Tür im gewölbten Steinbogen, und der Duft des frisch zermalmten Kornes füllte kräftig durchdringend die Luft. In tiefen Zügen sog ihn das junge Mädchen ein – eine ganze Flut von Erinnerungen überwältigte sie; sie wurde blass vor innerer Bewegung und blieb mit gefalteten Händen einen Augenblick stehen. Ja, sie war um alles gern in der alten Mühle „herumgekrochen“, wie die Präsidentin von ihr sagte, und der Papa hatte ihr oft genug den Mehlstaub von Zöpfen und Kleidern geklopft – er hatte sie lächelnd „sein weißes Müllermäuschen“, genannt. Der finstere Mann, ihr Großvater, der meist von dort oben, über das Treppengeländer hinweg, mürrisch, mit herrisch polternder Stimme seine Befehle herabgerufen, er hatte sie nie geliebt. Sie war fast immer vor seinem feindseligen Blicke in Susens blanke Küche oder zu Franz geflüchtet, und doch dachte sie mit bitterer Wehmut seiner und wünschte, er möge wieder da herabsteigen mit den wuchtigen Tritten, unter denen die Treppenstufen geächzt; vielleicht fürchtete sie sich nicht mehr vor dem Gesichte, das, wie sie nun wusste, hauptsächlich Geldstolz und Protzentum so abstoßend gemacht hatten; vielleicht wäre er jetzt auch milder und zugänglicher, weil sie der Großmutter ähnlich geworden.
Sie fand die Tür der Eckstube droben verschlossen, aber aus dem schmalen Gange, der das Hintergebäude mit dem Vorderhause verband, scholl Susens weinerlich klagende Stimme. Ach ja, dort war die Schlafkammer der alten Jungfer, das dunkle Stübchen mit den runden, in Blei gefassten Fensterscheiben und der Aussicht auf das graue Schindeldach eines Holzschuppens und das niemals trocknende Pflaster des Seitenhöfchens. Sie schüttelte unwillig den Kopf und betrat den Gang.
Eine heiße, dumpfe, mit Rauch erfüllte Krankenluft schlug ihr beim Öffnen der Tür entgegen, und dort in dem hässlichen Zwielicht, welches das erblindete, fahlgrüne Fensterglas verbreitete, stand ein Mann, mit dem Rücken ihr zugewandt. Er war sehr groß – er überragte sie offenbar um ein Bedeutendes – und breit von Schultern. Jedenfalls war er im Begriff, zu gehen, denn er hielt Hut und Stock in der Hand… Ah, das war also Doktor Bruck, von welchem Schwager Moritz vor acht Monaten, bei Gelegenheit der Verlobungsanzeige geschrieben hatte, dass er ihre schöne Schwester Flora schon als Gymnasiast heimlich geliebt, selbstverständlich aber damals nicht gewagt habe, zu dem geistreichen, hochgefeierten Mädchen emporzusehen, und nun sei er doch am schwer erkämpften und errungenen Ziel – das war er also. Sie hatte seitdem die Verlobung eigentlich wieder vergessen, und auch während ihrer Herreise war ihr nicht ein einziges Mal eingefallen, dass sie ja ein Glied der Familie mehr vorfinden würde.
Hatte das Seidenkleid der jungen Dame gerauscht – die angelehnte Tür hatte sich vollkommen geräuschlos in ihren Angeln gedreht – oder wehte ein reinerer Luftstrom mit ihr herein, die in der Tat so frühlingsfrisch auf die Schwelle trat, als gehe der Veilchenhauch, den man bereits in den letzten Märztagen zu spüren meint, von ihr aus – der Arzt drehte sich rasch um.
„Doktor Bruck? Ich bin Käthe Mangold“, sagte sie, sich kurz und flüchtig vorstellend; dabei ging sie rasch an ihm vorüber und streckte Suse, die, in Bettkissen gepackt, zusammengekrümmt auf einem Lehnstuhle hockte, beide Hände entgegen.
Die Alte starrte sie mit blöden Augen an.
„Ich komme da herein, wie vom Himmel geschneit, nicht wahr, Suse? Aber gerade zur rechten Zeit, wie ich sehe“, sagte sie und strich der Kranken die unordentlich um die Stirn hängenden greisen Haare unter die Nachthaube. „Wie kommt es, dass ich Dich hier finde, in dieser elenden Hinterstube? Der Ofen raucht, und bei aller Glut, die er ausströmt, sitzen die Moderspuren an den Wänden. Hat man Dir nicht gesagt, dass Du in der Eckstube wohnen und im Alkoven schlafen sollst?“
„Ja wohl, das hat der Herr Kommerzienrat gesagt, aber es müsste doch da bei mir rappeln“, sie tippte mit dem Zeigefinger auf die Stirn, „wenn ich mich mutterseelenallein in die gute Eckstube setzen wollte, wie eine Gnädige, oder gar wie die selige Schlossmüllern selber.“
Die junge Dame verbiss ein schalkhaftes Lächeln. „Aber, Suse, hattest Du nicht auch beim Großpapa das Recht, Dich in der Wohnstube aufzuhalten? Im Fenster stand Dein Spinnrad – ich habe Dir’s oft genug in Unordnung gebracht – und auf der Kommode Dein Nähkästchen… Ist ein Zimmerwechsel zulässig, Herr Doktor?“, wandte sie sich ohne Weiteres an den Arzt.
„Dringend nötig sogar, aber ich bin bisher auf einen entschiedenen Widerstand der Kranken gestoßen“, versetzte er achselzuckend. Er hatte eine sonore und doch sanfte Stimme, die in diesem Augenblicke jenen moderierten Klang nicht verkennen ließ, den man dem Leiden gegenüber so leicht annimmt.
„Nun, dann wollen wir aber auch keinen Augenblick verlieren“, sagte Käthe. Sie nahm das Pelzbarett ab, legte es auf Susens Bett und zog die Handschuhe aus.
„Nicht um die Welt bringen Sie mich ’nüber“, protestierte die Haushälterin. „Fräulein Käthchen, tun Sie mir das nicht an!“, bat sie weinerlich. „Die Stube ist mein Augapfel; ich putze und blinke alle Tage drin auf, seit mir der Herr Kommerzienrat gesagt hat, dass Sie kommen wollten. Erst vorgestern habe ich neue Vorhänge drin aufstecken lassen.“
„Nun gut, so bleibe! Ich hatte mir vorgenommen, wie in meiner Kindheit, nachmittags den Kaffee in der Mühle zu trinken. Wenn Du aber so eigensinnig bist, dann komme ich gar nicht; darauf kannst Du Dich verlassen. Ich bleibe ohnehin nur vier Wochen in M. – und dann magst Du Deine ‚aufgeblinkte‘ Stube mit den geschonten Gardinen präsentieren, wem Du Lust hast.“
Das half. In Gesicht und Haltung des jungen Mädchens lag so viel strafender Ernst, so viel Entschiedenheit, dass man sofort sah, sie habe nicht zum ersten Mal mit einer widerspenstigen Kranken zu tun.
Suse zog aufseufzend den Stubenschlüssel unter ihrem Kopfkissen hervor und reichte ihn der jungen Dame hin, die nun auch rasch ihre Samtjacke abstreifte. „Die Eckstube ist jedenfalls nicht geheizt“, sagte sie und griff nach dem Holzkorbe, der neben dem Ofen stand.
„Nein, das können Sie unmöglich“, sagte Doktor Bruck mit einem Blick auf ihren eleganten Anzug. Er legte rasch Hut und Stock auf den Tisch.
„Es wäre sehr beschämend für mich, wenn ich das nicht könnte“, versetzte sie ernsthaft, aber mit tief erröteten Wangen – sie hatte seinen zweifelhaften Blick wohl bemerkt.
Sie ging hinaus, und wenige Minuten darauf prasselte ein tüchtiges Feuer im Ofen, während Doktor Bruck die Fenster der Eckstube öffnete, um den lauen Märzodem erst noch einmal durch den mit dumpfer Scheuerluft erfüllten Raum strömen zu lassen.
Käthe trat ein. „Ich bitte, sich zu überzeugen, dass ich salonfähig geblieben bin, Herr Doktor“, sagte sie, nicht ohne einen Anflug von Spott ihm ihre schlanken, rosigen Hände mit dem tadellos weißen Leinwandstreifen am Armgelenk hinstreckend.
Ein ausdrucksvolles Lächeln ging über sein ernstes Gesicht, aber er schwieg und war bemüht, das südliche Eckfenster wieder zu schließen, durch welches der Zugwind die Eingetretene so derb anblies, dass das braune Lockengeringel von ihrer Stirn wegwehte. Auch der Vorhang blähte sich auf und flog in die Stube herein; Käthe griff mit flinken Händen zu und suchte den steifen Faltenwurf wieder zu ordnen.
„Die gute Suse – wenn sie nur wüsste, welchen Streich sie mir spielt mit diesen Gardinen!“, sagte sie halb lächelnd, halb verdrießlich. „Ich muss das Zeug nun wohl oder übel hängen lassen, denn sie hat es sicher vom Vormund für mich erpresst. Gemusterte Mullgardinen vor solchen Fensterbögen, in der schönsten mittelalterlichen Wohnstube, die sich denken lässt! … Ich hatte mir vorgenommen, sie wieder einzurichten, wie sie vor drei Jahrhunderten gewesen sein mag – mit runden, bleigefassten Glasscheiben, mit Klappsitzen von Eichenholz, hier zu beiden Seiten der Fensternischen in die Wand eingefügt und mit Polstern belegt, und dort auf die massive Haustür, von der die Stufen herabführen, sollten neue Metallbeschläge kommen. Die alten hat jedenfalls erst der Großpapa abreißen lassen; man sieht deutlich, wo sie gesessen haben. Und nun denken Sie sich die alte Suse mit ihrem Spinnrad in dem einen Fenster! … Ich hatte mir das wirklich sehr hübsch und anheimelnd ausgedacht – nun werde ich’s bei ihr nicht durchsetzen.“
„Aber ich begreife nicht – sind Sie denn nicht die Herrin?“
„O, die kann ich niemals herauskehren, wenn es dergleichen Wünsche gilt – ich kenne mich schon“, versetzte sie fast kleinlaut. „Darin bin ich entsetzlich feig.“ Der Kontrast zwischen diesem aufrichtigen Bekenntnis und der äußeren gebietenden Erscheinung der jungen Dame war so groß, dass es in der Tat eines scharfen Blickes in ihre rehbraunen Augen bedurfte, um sich zu überzeugen, dass sie vollkommen wahr spreche. Sie hatte ein nicht sehr großes, aber schön geschnittenes klares Auge mit einem kühlen Blick; er harmonierte mit der unbefangenen Sicherheit ihres ganzen Wesens. Wie ruhig und praktisch traf sie die Anstalten zur Aufnahme der Kranken! Das Sofa wurde als Bett eingerichtet, der plumpe mit Leder bezogene Lehnstuhl des Schlossmüllers aus der Fensterecke tiefer in das Zimmer gerückt, damit kein Zuglüftchen die Patientin streife; sie holte einen kleinen Tisch aus dem Alkoven und die weiß gescheuerte Fußbank unter dem hochbeinigen Kanapee hervor – das geschah so unbefangen und selbstverständlich, als sei sie nie von der Mühle fortgewesen. Sie war aber auch so vertieft in ihre augenblickliche Aufgabe, dass man meinen konnte, sie habe die Anwesenheit des Mannes dort im südlichen Eckfenster ganz vergessen. Nur als sie die obere Schublade der Kommode aufzog und ein weißes Tuch mit rot eingewirkter Kante herausnahm, um es über das Tischchen vor dem Lehnstuhle zu breiten, wandte sie das Gesicht nach ihm und sagte: „Es ist etwas Schönes um diese altbürgerliche Ordnung – alles steht und liegt am altgewohntem Orte. So ist es gewesen, ehe ich geboren wurde, und während meiner sechsjährigen Abwesenheit sind die Einrichtungsgesetze unverrückt geblieben – man ist sofort wieder heimisch.“ Sie zeigte auf den Spiegel über der Kommode. „Da hinter dem Rahmen guckt die Ecke des Hauskalenders, in den der Großpapa seine Notizen schrieb, und darüber steckt noch die Rute mit dem verblichenen Bande, die schon der Schrecken meiner Mutter gewesen ist.“
„Auch der Ihrige?“
„Nein, mich kleines Ding beachtete der Großpapa nicht genug, um sich mit meiner Besserung zu befassen.“ Sie sagte das durchaus nicht bitter; eher mit einer Art lächelnder Resignation. Dabei wischte sie den leichten Staubanhauch, der sich während Suses Kranksein abgelagert hatte, von den Möbeln und schloss auch die anderen Fenster. „Hier auf dem Steinsims müssen notwendig Blumen stehen; ihr Duft soll meine arme Suse erquicken. Ich werde Schwager Moritz um einige Hyazinthen- und Veilchentöpfe aus dem Wintergarten bitten –“
„Da werden Sie sich an die Frau Präsidentin Urach wenden müssen; sie hat einzig und allein über den Wintergarten zu verfügen; er gehört zu ihrer Wohnung.“