Im Jahre des Kometen - Herbert George Wells - E-Book

Im Jahre des Kometen E-Book

Herbert George Wells

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Beschreibung

William Leadford, ein Vertreter der britischen Arbeiterklasse und Unterschicht, sieht sich um sein Glück betrogen. Überall wittert er Verschwörungen und Unterdrückung. Er fühlt sich missbraucht und ausgebeutet durch seinen Vermieter, den Pfarrer, den reichen Nebenbuhler seiner Auserwählten – kurz: durch die Oberschicht. Als er das Liebepaar am Strand mit einer Waffe stellen will, greift auch noch die deutsche Kriegsmarine an. Und als würde es noch nicht der Katastrophen genug sein, sieht man am Himmel einen Kometen auf die Erde zurasen. Doch der Komet wird anders auf die Menschheit einwirken als erwartet. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 405

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H. G. Wells

Im Jahre des Kometen

Phantastischer Roman

H. G. Wells

Im Jahre des Kometen

Phantastischer Roman

(In the Days of the Comet)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected] 2. Auflage, ISBN 978-3-954189-32-8

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Pro­log – Der Mann im Turm

Ers­tes Buch – Der Ko­met

Ers­tes Ka­pi­tel – Staub im Schat­ten

Zwei­tes Ka­pi­tel – Net­tie

Drit­tes Ka­pi­tel – Der Re­vol­ver

Vier­tes Ka­pi­tel – Krieg

Fünf­tes Ka­pi­tel – Die Ver­fol­gung des Lie­bes­paa­res

Zwei­tes Buch – Die grü­nen Gase

Ers­tes Ka­pi­tel – Die Wand­lung

Zwei­tes Ka­pi­tel – Das Er­wa­chen

Drit­tes Ka­pi­tel – Der Ka­bi­netts­rat

Drit­tes Buch – Die neue Welt

Ers­tes Ka­pi­tel – Lie­be nach der Wand­lung

Zwei­tes Ka­pi­tel – Die letz­ten Tage mei­ner Mut­ter

Drit­tes Ka­pi­tel – Das Fest der Neu­ge­burt und der Neu­jahrs­tag

Epi­log – Das Fens­ter im Turm

Dan­ke

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Science Fic­ti­on & Fan­ta­sy bei Null Pa­pier

Auf zwei Pla­ne­ten

Der Herr der Welt

Der Brand der Che­ops­py­ra­mi­de

Die Macht der Drei

Be­fehl aus dem Dun­kel

Die Spur des Dschin­gis-Khan

Der ge­stoh­le­ne Ba­zil­lus

Der Krieg der Wel­ten

Der Un­sicht­ba­re

Die ers­ten Men­schen auf dem Mond

und wei­te­re …

Prolog – Der Mann im Turm

Ich sah einen grau­haa­ri­gen Mann, ein Bild kraft­vol­len Al­ters, an ei­nem Schreib­tisch sit­zen und schrei­ben.

Es schi­en, als sei er in ei­nem Turm­zim­mer, hoch oben, so daß man durch das große Fens­ter zu sei­ner Lin­ken nur Wei­ten sah: einen fer­nen Mee­res­ho­ri­zont, ein Ge­bir­ge und den un­be­stimm­ten Dunst und Schim­mer des Son­nen­un­ter­gangs, der auf eine mei­len­weit ent­fern­te Stadt deu­tet. Die gan­ze Ein­rich­tung des Zim­mers mach­te den Ein­druck der Ord­nung und Schön­heit und war mir durch ein un­nenn­ba­res Et­was, durch al­ler­hand klei­ne Nüan­cen neu und fremd. Sie ent­sprach kei­nem Stil, den ich hät­te be­zeich­nen kön­nen, und die ein­fa­che Klei­dung des al­ten Man­nes er­in­ner­te we­der an eine be­stimm­te Zeit noch an ein be­stimm­tes Land. Es moch­te, so dacht’ ich, etwa die glück­li­che Zu­kunft sein, oder Uto­pi­en, oder das Land der rei­nen Träu­me. Ein ir­ren­des Erin­ne­rungs-Son­nen­stäub­chen, Hen­ry Jo­nes’ Wort und Er­zäh­lung von der »großen, gu­ten Stadt«, blitz­te mir durchs Ge­hirn und flog da­von und ließ mich im Dun­keln …

Der Mann, den ich sah, schrieb mit ei­ner Art Füll­fe­der … ein mo­der­ner Zug, der je­den his­to­ri­schen Rück­blick ver­bot. Und so oft er in sei­ner leich­ten, flie­ßen­den Schrift einen Bo­gen be­en­de­te, leg­te er ihn zu ei­nem wach­sen­den Stoß auf ei­nem zier­li­chen klei­nen Tisch un­ter dem Fens­ter. Die letz­ten Bo­gen la­gen lose da und ver­deck­ten zum Teil an­de­re, die zu Hef­ten zu­sam­men­ge­faßt wa­ren.

Of­fen­bar war er sich mei­ner Ge­gen­wart nicht be­wußt, und ich stand und war­te­te, bis sei­ne Fe­der pau­sie­ren wür­de. Trotz sei­ner ho­hen Jah­re schrieb er mit fes­ter Hand …

Hoch über sei­nem Kopf ent­deck­te ich einen schräg ge­neig­ten Kon­kavspie­gel; eine Be­we­gung dar­in fes­sel­te un­wi­der­steh­lich mei­ne Auf­merk­sam­keit. Ich hob die Au­gen und sah, ver­zerrt und phan­tas­tisch, aber hell und in schö­nen Far­ben, das ver­grö­ßer­te, zu­rück­ge­strahl­te, flüch­ti­ge Bild ei­nes Palas­tes, ei­ner Ter­ras­se, der Per­spek­ti­ve ei­ner brei­ten Stra­ße mit vie­len Men­schen – – in­fol­ge der Krüm­mun­gen des Spie­gels gro­tesk, un­mög­lich aus­se­hen­den Men­schen – – die ab und zu gin­gen. Rasch dreh­te ich mei­nen Kopf, um durch das Fens­ter hin­ter mir deut­li­cher zu se­hen; aber es lag zu hoch, als daß ich die­se nä­her­lie­gen­de Sze­ne di­rekt hät­te über­bli­cken kön­nen, und nach ei­nem kur­z­en Zö­gern wand­te ich mich wie­der dem Zerr-Spie­gel zu.

Jetzt aber lehn­te sich der schrei­ben­de Mann im Stuhl zu­rück. Er leg­te die Fe­der weg und stieß den halb un­mu­ti­gen, halb von ei­ner ge­wis­sen Be­frie­di­gung über das, was er ge­schrie­ben hat­te, er­füll­ten Seuf­zer aus: »Ah! Ar­beit, Ar­beit! wie du mich froh machst und ver­zagt!«

»Was ist dies für ein Ort?«, frag­te ich, »und wer sind Sie?«

Er sah sich mit der ra­schen Be­we­gung des Er­stau­nens um.

»Was ist dies für ein Ort?«, wie­der­hol­te ich, »und wo bin ich?«

Ei­nen Au­gen­blick lang blick­te er mich un­ter ge­run­zel­ten Brau­en fest an; dann mil­der­te sich sein Aus­druck zu ei­nem Lä­cheln.

Er wies auf einen Stuhl ne­ben dem Tisch. »Ich schrei­be«, sag­te er.

»Über dies hier?«

»Über die Wand­lung.«

Ich setz­te mich. Es war ein sehr be­que­mer Stuhl, der ge­schickt un­ter dem Licht auf­ge­stellt war.

»Wenn Sie le­sen möch­ten – –« sag­te er.

Ich deu­te­te auf das Ma­nu­skript. »Die Er­klä­rung?«, frag­te ich.

»Die Er­klä­rung!«, ant­wor­te­te er.

Und wäh­rend er mich an­sah, zog er einen fri­schen Bo­gen zu sich her­an.

Ich blick­te von ihm auf sein Zim­mer und wie­der auf den klei­nen Tisch … Ein Heft, das eine deut­li­che »I« trug, fiel mir auf und ich nahm es zur Hand; da­bei lä­chel­te ich ihm in die freund­li­chen Au­gen. »Schön!«, sag­te ich, plötz­lich ohne je­des Un­be­ha­gen, und er nick­te und schrieb wei­ter. Und in ei­ner Stim­mung, die zwi­schen Ver­trau­en und Neu­gier schwank­te, be­gann ich zu le­sen.

Dies ist die Ge­schich­te, die je­ner glück­li­che, em­sig aus­se­hen­de alte Mann in dem hei­te­ren Raum ge­schrie­ben hat.

Erstes Buch – Der Komet

Erstes Kapitel – Staub im Schatten

I.

Ich habe mir vor­ge­nom­men, die Ge­schich­te der »großen Wand­lung« zu schrei­ben, so­weit sie mein ei­ge­nes Le­ben und das Le­ben ei­ni­ger eng mit mir ver­bun­de­ner Men­schen be­rührt hat, und zwar ur­sprüng­lich nur zu mei­nem ei­ge­nen Ver­gnü­gen.

Vor lan­ger Zeit schon, in mei­ner her­ben, un­glück­li­chen Ju­gend, reg­te sich in mir der Wunsch, ein Buch zu schrei­ben. Heim­lich zu krit­zeln und mich als Schrift­stel­ler zu träu­men, war ei­ner mei­ner Haupt­genüs­se, und voll Mi­t­emp­fin­dung und Neid las ich je­den Fet­zen über die Welt der Li­te­ra­tur und das Le­ben von Li­te­ra­ten, den ich nur er­wi­schen konn­te. Selbst in­mit­ten des ge­gen­wär­ti­gen Glücks ist es mir noch ein Ge­nuß, daß ich Muße und Ge­le­gen­heit fin­de, die­se al­ten, hoff­nungs­lo­sen Träu­me wie­der auf­zu­neh­men und teil­wei­se zu ver­wirk­li­chen. Aber das al­lein, glau­be ich, wür­de in ei­ner Welt, in der für einen al­ten Mann so vie­les zu tun ist, was ein leb­haf­tes und stets wach­sen­des In­ter­es­se bie­tet, noch nicht ge­nü­gen, mich an den Schreib­tisch zu trei­ben. Ich sehe, daß eine sol­che Zu­sam­men­fas­sung mei­ner Ver­gan­gen­heit, wie sie die­ser Be­richt mit sich brin­gen muß, not­wen­dig wird für mei­nen ei­ge­nen, si­che­ren, geis­ti­gen Zu­sam­men­hang. Der Gang der Jah­re bringt den Men­schen schließ­lich zum Rück­blick; mit Zwei­und­sieb­zig ist ei­nem die ei­ge­ne Ju­gend weit wich­ti­ger, als mit Vier­zig. Und ich habe den Kon­takt mit mei­ner Ju­gend ver­lo­ren. Das alte Le­ben scheint mir so ab­ge­schnit­ten vom neu­en, so fremd­ar­tig und un­ver­nünf­tig, daß ich bis­wei­len fin­de, es grenzt ans Un­glaub­li­che. Die Da­ten sind da­hin, die Orte, die Ge­bäu­de. Neu­lich, auf mei­nem Nach­mit­tags­spa­zier­gang übers Moor, da, wo ehe­dem die düs­te­ren Aus­läu­fer von Swa­thinglea sich nach Leet zu er­streck­ten, blieb ich wie er­starrt ste­hen und frag­te mich: Hab ich wirk­lich hier im Ge­strüpp, zwi­schen Ab­fall und Scher­ben ge­kau­ert und – mord­be­reit – mei­nen Re­vol­ver ge­la­den? War so et­was je in mei­nem Le­ben denk­bar? War eine der­ar­ti­ge Stim­mung, ein sol­cher Ge­dan­ke, ein sol­ches Vor­ha­ben je­mals mög­lich bei mir? Hat nicht viel­mehr ir­gend­ein wun­der­li­cher Nacht­mar aus dem Land der Träu­me eine falsche Erin­ne­rung in die Ge­schich­te mei­nes ent­schwun­de­nen Le­bens ge­schmug­gelt? Es müs­sen noch vie­le am Le­ben sein, die an sich die­sel­ben oder ähn­li­che Fra­gen stel­len. Und ich den­ke, auch die, die jetzt her­an­wach­sen, um in dem großen Un­ter­neh­men der Mensch­heit an un­se­re Stel­le zu tre­ten, wer­den manch ei­ner Er­zäh­lung wie der mei­nen be­dür­fen, um die alte Welt der Schat­ten, vor dem An­bruch un­se­res Ta­ges, auch nur zum kleins­ten Bruch­teil zu ver­ste­hen. Zu­fäl­lig ist mein Fall auch ziem­lich ty­pisch für die Wand­lung, die mich in­mit­ten ei­nes Wir­bels von Lei­den­schaft pack­te; und ein selt­sa­mes Ge­schick stell­te mich eine Zeit­lang ge­ra­de­zu in den An­gel­punkt der neu­en Ord­nung …

Mei­ne Erin­ne­rung führt mich durch den Zeit­raum von fünf­zig Jah­ren zu­rück in ein klei­nes, schlecht er­leuch­te­tes Zim­mer mit ei­nem Schie­be­fens­ter, das auf den ge­stirn­ten Him­mel blickt, und im sel­ben Au­gen­blick kehrt mir auch der cha­rak­te­ris­ti­sche Ge­ruch je­nes Zim­mers wie­der – der durch­drin­gen­de Ge­ruch ei­ner schlecht ge­putz­ten Lam­pe, in der bil­li­ges Pe­tro­le­um brennt. Die Be­leuch­tung durch Elek­tri­zi­tät war da­mals schon seit fünf­zehn Jah­ren be­kannt; aber der grö­ße­re Teil der Welt be­nütz­te noch im­mer sol­che Lam­pen. Die­se gan­ze ers­te Sze­ne spielt sich, we­nigs­tens für mich, in die­ser Ge­ruchs­be­glei­tung ab. Das war die abend­li­che At­mo­sphä­re des Zim­mers. Bei Tag hat­te es ein fei­ne­res Aro­ma, et­was Sti­cki­ges, eine be­son­de­re Art lei­ser, pri­ckeln­der Schär­fe, die sich mir – wes­halb, weiß ich nicht – mit dem Be­griff Staub ver­bin­det.

Man ge­stat­te mir, die­ses Zim­mer im ein­zel­nen zu be­schrei­ben. Es hat­te viel­leicht acht zu sie­ben Fuß Flä­chen­in­halt; die Höhe über­traf die­se Di­men­sio­nen um ein Be­trächt­li­ches. Die De­cke war aus Gips, stel­len­wei­se ge­sprun­gen und aus­ge­baucht, grau vom Lam­pen­ruß und an ei­ner Stel­le von ei­ner Grup­pe gel­ber und oliv­grü­ner Fle­cken ge­färbt, die von durch­ge­si­cker­ter Feuch­tig­keit stamm­ten. Die Wän­de wa­ren mit ei­ner trüb-brau­nen Ta­pe­te be­deckt, auf der sich in schrä­gen Rei­hen in Form ei­ner krau­sen Strau­ßen­fe­der oder ei­ner Akan­thus­blü­te ein ro­tes Mus­ter wie­der­hol­te, das an den we­ni­ger ver­bli­che­nen Stel­len von ei­ner Art schmut­zi­ger Far­ben­pracht war. Die­se Ta­pe­te wies meh­re­re große, gips­ran­di­ge Wun­den auf, die von Par­loads ver­geb­li­chen Ver­su­chen her­rühr­ten, Nä­gel in die Wand zu schla­gen, um Bil­der dar­an auf­zu­hän­gen. Ein Na­gel hat­te die Rit­ze zwi­schen zwei Back­stei­nen ge­trof­fen und saß; und an ihm hin­gen, von zer­ris­se­nen und zu­sam­men­ge­kno­te­ten Ja­lou­sie­schnü­ren ein biß­chen un­si­cher ge­hal­ten, Par­loads Bü­cher­b­or­te: mit ei­nem kleb­ri­gen blau­en Lack an­ge­stri­che­ne und mit ei­ner Fran­se aus aus­ge­schla­ge­nem ame­ri­ka­ni­schem, mit Reiß­stif­ten be­fes­tig­ten Tuch ver­zier­te Bret­ter. Dar­un­ter stand ein klei­ner Tisch, der sich ge­gen je­des plötz­lich dar­un­ter­ge­scho­be­ne Knie mit der Ge­häs­sig­keit ei­nes Maul­tie­res be­nahm; auf ihm lag eine De­cke, de­ren schwarz und ro­tes Mus­ter durch die Un­fäl­le von Par­loads mit­teil­sa­mem Tin­ten­faß et­was we­ni­ger mo­no­ton er­schi­en; und auf ihr wie­der­um, als Leit­mo­tiv des Gan­zen, stand und stank die Lam­pe. Die­se Lam­pe, muß man wis­sen, be­stand aus ei­ner weiß­li­chen, durch­sich­ti­gen Sub­stanz, die we­der Por­zel­lan noch Glas war; sie hat­te eine Glo­cke aus der­sel­ben Sub­stanz, eine Glo­cke, die die Au­gen des Le­sers in kei­ner Wei­se schütz­te und wun­der­voll ge­eig­net war, rück­sichts­los die Tat­sa­che her­vor­zu­he­ben, daß nach dem Fül­len der Lam­pe Staub und Pe­tro­le­um mit sorg­lo­ses­ter Frei­ge­big­keit auf ihr her­um­ge­schmiert wor­den wa­ren.

Die un­ebe­nen Die­len­bret­ter des Zim­mers wa­ren mit zer­kratz­tem, scho­ko­la­de­far­be­nem Lack über­zo­gen, auf dem in Staub und Schat­ten un­deut­lich eine klei­ne In­sel zer­schlis­se­nen Tep­pichs er­blüh­te.

Fer­ner war da ein sehr klei­nes Ka­min aus Guß­ei­sen, in ei­nem Stück, le­der­gelb an­ge­stri­chen und ein noch klei­ne­res guß­ei­ser­nes Miß­ge­bil­de von Ofen­vor­set­zer, das den gan­zen Feu­er­stein se­hen ließ. Kein Feu­er brann­te dar­in; nur ein paar Fet­zen zer­ris­se­nen Pa­piers und der zer­bro­che­ne Kopf ei­ner Mais­kol­ben­pfei­fe wa­ren hin­ter dem Git­ter zu se­hen; in der Ecke stand, wie bei­sei­te ge­wor­fen, ein en­ger ecki­ger, la­ckier­ter Koh­len­kas­ten mit schad­haf­tem Griff. In je­nen Ta­gen war es Sit­te, je­des Zim­mer von ei­ner ge­son­der­ten Feu­er­stel­le aus zu hei­zen, die mehr Schmutz als Wär­me spen­de­te; und von dem klapp­ri­gen Schie­be­fens­ter, dem klei­nen Ka­min und der schlecht sit­zen­den Tür er­war­te­te man, sie wür­den auch ohne wei­te­re An­lei­tung die Ven­ti­la­ti­on des Zim­mers un­ter­ein­an­der or­ga­ni­sie­ren.

Par­loads Roll­bett auf der einen Sei­te des Zim­mers barg sei­ne grau­en La­ken un­ter ei­ner al­ten Fli­cken­de­cke, und un­ter ihm stan­den sei­ne Kis­ten und al­ler­hand sons­ti­ges Zu­be­hör; die bei­den Fens­te­r­e­cken wa­ren von ei­ner al­ten Eta­ge­re und ei­nem Wasch­stän­der ver­sperrt, auf dem die ein­fa­chen Toi­let­ten­re­qui­si­ten aus­ge­brei­tet la­gen.

Die­ser von Drechs­ler­ar­beit star­ren­de Wasch­tisch aus Tan­nen­holz war von ir­gend je­mand ge­macht, der ver­sucht hat­te, durch fes­seln­de De­ko­ra­tio­nen von Ku­geln und Knol­len, die über Ge­fü­ge und Bei­ne ge­sät wa­ren, die Auf­merk­sam­keit von der gro­ben Dürf­tig­keit der Ar­beit ab­zu­len­ken. Da­rauf war das Werk of­fen­bar ei­nem Men­schen von un­end­li­cher Muße über­ge­ben wor­den, der mit ei­nem Topf Ocker, Fir­nis und ein paar bieg­sa­men Käm­men aus­ge­rüs­tet war. Die­ser hat­te den Ge­gen­stand zu­nächst an­ge­stri­chen, ihn dann, so den­ke ich mir, mit Fir­nis über­schmiert und sich schließ­lich mit den Käm­men dar­an ge­macht, den Fir­nis zu ei­ner ge­spens­ti­schen Nach­ah­mung ir­gend­ei­nes brau­nen Hol­zes um­zu­strei­chen und zu käm­men. Der also ent­stan­de­ne Wasch­tisch hat­te of­fen­bar eine lan­ge Lauf­bahn rück­sichts­lo­sen Ge­brau­ches hin­ter sich; er war be­schnit­zelt, ge­tre­ten, zer­split­tert, ge­k­nufft, ver­sengt, ge­häm­mert, aus­ge­dörrt und über­schwemmt wor­den, er hat­te alle mög­li­chen Aben­teu­er er­lebt, nur in Brand ge­steckt und ge­scheu­ert hat­te man ihn noch nie; und schließ­lich war er in dies hohe Asyl, in Par­loads Man­sar­de, ge­ra­ten, um den ein­fa­chen An­for­de­run­gen, die Par­loads per­sön­li­che Rein­lich­keit stell­te, ge­recht zu wer­den. Man sah in der Haupt­sa­che eine Schüs­sel, einen Krug, einen Ei­mer aus Blech, fer­ner ein Stück gel­ber Sei­fe auf ei­nem Schäl­chen, eine Zahn­bürs­te, einen rat­ten­schwän­zi­gen Ra­sier­pin­sel, ein Dril­lich­hand­tuch und noch ein paar ne­ben­säch­li­che Ge­gen­stän­de dar­auf. In je­nen Ta­gen be­sa­ßen nur sehr wohl­ha­ben­de Leu­te mehr als eine sol­che Aus­rüs­tung, und es ist an­zu­mer­ken, daß je­der Trop­fen Was­ser, den Par­load ver­brauch­te, von ei­nem un­glück­li­chen Dienst­mäd­chen ge­tra­gen wer­den muß­te – Par­load nann­te sie die »Skla­vin« – und zwar vom Keller­ge­schoß bis oben ins Haus und um­ge­kehrt. Schon be­gin­nen wir zu ver­ges­sen, eine wie mo­der­ne Er­fin­dung die kör­per­li­che Rein­lich­keit ist. Es ist eine Tat­sa­che, daß Par­load in sei­nem gan­zen Le­ben nie­mals schwim­men ge­gan­gen war und daß er seit sei­ner Kind­heit kein Voll­bad mehr ge­nom­men hat­te. Das tat zu der Zeit, von der ich er­zäh­le, un­ter Fünf­zig nicht Ei­ner.

Eine Kom­mo­de mit zwei großen und zwei klei­nen Schieb­la­den – eben­falls son­der­bar ge­fa­sert und ge­streift – ent­hielt Par­loads Klei­der­re­ser­ve; höl­zer­ne Pflö­cke an der Tür tru­gen sei­ne bei­den Hüte und ver­voll­stän­dig­ten das In­ven­tar ei­nes »Schlaf- und Wohn­zim­mers«, wie ich es vor der Wand­lung kann­te. Aber ich ver­gaß – noch ein Stuhl war vor­han­den, ein Stuhl mit ei­nem Pols­ter­kis­sen, das für die Lö­cher in dem ge­floch­te­nen Sitz nur un­zu­läng­lich um Ent­schul­di­gung bat. Ich ver­gaß ihn im Mo­ment, weil ich bei der Ge­le­gen­heit, mit der ich die­se Ge­schich­te am bes­ten be­gin­ne, auf eben die­sem Stuhl saß.

Ich habe Par­loads Zim­mer so ge­nau be­schrie­ben, weil es zum Ver­ständ­nis der Ton­art bei­tra­gen wird, in der mei­ne ers­ten Ka­pi­tel ge­schrie­ben sind; aber man darf nicht etwa den­ken, die­se son­der­ba­re Aus­stat­tung oder der Lam­pen­ge­ruch wä­ren mir da­mals be­son­ders auf­ge­fal­len. Ich nahm all die­se schmut­zi­ge Un­ge­müt­lich­keit hin, als sei sie die na­tür­lichs­te und pas­sends­te Um­rah­mung des Da­seins, die man sich nur vor­stel­len konn­te. Es war die Welt, wie ich sie kann­te. Mein geis­ti­ges Ich war da­mals ganz von erns­te­ren und wich­ti­ge­ren Din­gen in An­spruch ge­nom­men, und jetzt erst fal­len mir die­se Ein­zel­hei­ten der Um­ge­bung als be­mer­kens­wert, als be­zeich­nend, ja ge­ra­de­zu als die äu­ße­ren, sicht­ba­ren Kund­ge­bun­gen der Un­ord­nung un­se­res in­ne­ren We­sens in je­ner al­ten Welt auf.

II.

Par­load stand am of­fe­nen Fens­ter, das Opern­glas in der Hand, und such­te den neu­en Ko­me­ten, fand ihn, wur­de un­si­cher und ver­lor ihn wie­der.

Ich hielt den Ko­me­ten da­mals ein­fach für Blöd­sinn, weil ich von an­dern Din­gen re­den woll­te. Aber Par­load war ganz von ihm er­füllt. Mir war der Kopf heiß, ich fie­ber­te vor Är­ger und Er­bit­te­rung, ich woll­te ihm mein Herz öff­nen – woll­te mir end­lich das Herz durch ir­gend­ei­ne ro­man­ti­sche Dar­stel­lung mei­ner Küm­mer­nis­se er­leich­tern – und ich ach­te­te kaum auf das, was er mir sag­te. Es war das ers­te­mal, daß ich von die­sem neu­en Fleck un­ter den zahl­lo­sen Fle­cken am Him­mel hör­te, und ich frag­te we­nig dar­nach, ob ich je wie­der von dem Ding hö­ren wür­de.

Wir wa­ren zwei jun­ge Leu­te ziem­lich des­sel­ben Al­ters. Par­load war zwei­und­zwan­zig, acht Mo­na­te äl­ter als ich. Er war – ich glau­be sein ei­gent­li­cher Ti­tel war »Ur­kun­den­schrei­ber« – bei ei­nem klei­nen An­walt in Over­cast­le, wäh­rend ich Drit­ter im Bu­re­aust­ab von Ra­w­d­ons Ton­gru­be in Clay­ton war. Zu­erst wa­ren wir ein­an­der im »Par­la­ment« des Ver­eins christ­li­cher jun­ger Män­ner zu Swa­thinglea be­geg­net; wir hat­ten ent­deckt, daß wir zu den­sel­ben Stun­den Kur­se der Fort­bil­dungs­schu­le in Over­cast­le be­such­ten, er für Na­tur­wis­sen­schaf­ten, ich für Ste­no­gra­phie; wir hat­ten uns da­her ge­wöhnt, zu­sam­men nach Hau­se zu ge­hen. So ent­stand un­se­re Freund­schaft. (Swa­thinglea, Clay­ton und Over­cast­le wa­ren zu­sam­men­hän­gen­de Städ­te in dem großen In­dus­trie­ge­biet der »Mid­lands«) Wir hat­ten ein­an­der un­se­re ge­hei­men re­li­gi­ösen Zwei­fel mit­ge­teilt, wir hat­ten uns un­ser ge­mein­sa­mes In­ter­es­se für den So­zia­lis­mus an­ver­traut; er war zwei­mal Sonn­tags bei mei­ner Mut­ter zum Nachtes­sen ge­we­sen, und ich hat­te frei­en Zu­tritt in sei­ne Woh­nung. Par­load war da­mals ein großer, flachs­haa­ri­ger, lin­ki­scher jun­ger Mann mit un­ver­hält­nis­mä­ßig stark ent­wi­ckel­tem Na­cken und Hand­ge­lenk und un­ge­heu­rer Be­geis­te­rung fä­hig. Jede Wo­che wid­me­te er zwei Aben­de den Kur­sen der wis­sen­schaft­li­chen Fort­bil­dungs­schu­le in Over­cast­le. Sein Lieb­lings­ge­gen­stand war die Phy­sio­gra­phie, und durch die­se ge­hei­me Brücke zu sei­nem Geis­tes­le­ben war es den Wun­dern des Wel­ten­rau­mes ge­lun­gen, von sei­ner See­le Be­sitz zu er­grei­fen. Er hat­te sich ein al­tes Opern­glas von sei­nem On­kel an­ge­eig­net, der jen­seits des Moors zu Leet eine Farm be­saß, dazu hat­te er sich eine bil­li­ge Pa­pier-Pla­ni­sphä­re und einen astro­no­mi­schen Al­ma­nach ge­kauft, und eine Zeit­lang wa­ren Tag und Mond­schein für ihn nur lee­re Un­ter­bre­chun­gen der ihn al­lein be­frie­di­gen­den Be­schäf­ti­gung – des Stern­gu­ckens. Die Tie­fen hat­ten ihn ge­packt, die Un­be­grenzt­hei­ten und ge­heim­nis­vol­len Mög­lich­kei­ten, die un­er­leuch­tet in je­nem un­er­mes­se­nen Ab­grund schwe­ben moch­ten. Mit un­end­li­cher Mühe und an der Hand ei­nes sehr klar ge­schrie­be­nen Ar­ti­kels in ei­ner klei­nen Mo­nats­schrift, die nach al­len un­ter dem glei­chen Bann Ste­hen­den an­gel­te, war es ihm schließ­lich ge­lun­gen, sein Opern­glas auf den neu­en Be­su­cher ein­zu­stel­len, der aus dem äu­ße­ren Raum in un­se­re Sphä­re ein­trat. In ei­ner Art Ver­zückung starr­te er auf je­nen klei­nen zit­tern­den Licht­fleck un­ter den glän­zen­den Na­del­spit­zen – starr­te und starr­te. Mei­ne Küm­mer­nis­se muß­ten war­ten.

»Wun­der­voll!«, seufz­te er; und dann, als ge­nü­ge ihm die­ser ers­te Aus­bruch nicht, noch­mals: »Wun­der­voll!«

Er wand­te sich zu mir. »Möch­test du nicht se­hen?«

Ich muß­te se­hen, und dann muß­te ich hö­ren: Die­ser kaum sicht­ba­re Ein­dring­ling soll­te bald zu ei­nem der größ­ten Ko­me­ten wer­den, den die­se Welt je­mals ge­se­hen hat­te; sein Lauf muß­te ihn der Erde auf eine Ent­fer­nung von höchs­tens so und so viel zwan­zig Mil­lio­nen Mei­len nahe brin­gen – ein rei­ner Kat­zen­sprung, wie Par­load zu fin­den schi­en; das Spek­tro­skop son­dier­te schon sei­ne che­mi­schen Ge­heim­nis­se und ver­wirr­te die For­scher durch eine nie da­ge­we­se­ne Li­nie in Grün. Schon jetzt, wäh­rend er – in ganz un­ge­wöhn­li­cher Rich­tung – einen son­nen­wärts ge­wand­ten Schweif ent­roll­te, den er als­bald wie­der auf­roll­te, wur­de er pho­to­gra­phiert. Wäh­rend die­ser Er­öff­nung dach­te ich die gan­ze Zeit über in ei­ner Art Un­ter­strö­mung erst an Net­tie Stuart und den Brief, den ich eben von ihr er­hal­ten hat­te, und dann an das ab­scheu­li­che Ge­sicht des al­ten Ra­w­don, wie ich es die­sen Nach­mit­tag ge­se­hen hat­te. Bald ent­warf ich Ant­wor­ten an Net­tie und bald ver­spä­te­te Er­wi­de­run­gen an mei­nen Bro­therrn und dann wie­der flamm­te »Net­tie« auf im Hin­ter­grun­de mei­ner Ge­dan­ken …

Net­tie Stuart war die Toch­ter des Ober­gärt­ners bei der Wit­we des rei­chen Herrn Ver­ral. Sie und ich hat­ten Küs­se ge­tauscht und wa­ren ein Lie­bes­paar ge­wor­den, noch eh wir un­ser acht­zehn­tes Jahr vollen­det hat­ten. Mei­ne und ihre Mut­ter wa­ren Cou­si­nen und alte Schul­freun­din­nen, und ob­gleich mei­ne Mut­ter durch ein Ei­sen­bah­n­un­glück vor­zei­tig zur Wit­we ge­wor­den war und Zim­mer ver­mie­ten muß­te (der Pfar­rer von Clay­ton wohn­te bei ihr), was sie im öf­fent­li­chen An­se­hen weit un­ter Frau Stuart stell­te, so hielt doch die freund­li­che Ge­wohn­heit ge­le­gent­li­cher Be­su­che im Land­haus des Gärt­ners zu Checks­hill To­wers die Be­zie­hun­gen der Freun­din­nen auf­recht. Meist be­glei­te­te ich mei­ne Mut­ter. Und ich ent­sin­ne mich, wie Net­tie und ich, in der Däm­me­rung ei­nes hel­len Ju­lia­bends, ei­nes je­ner lan­gen, gol­de­nen Aben­de, die nicht so sehr der Nacht wei­chen als viel­mehr aus Rit­ter­lich­keit schließ­lich den Mond und ein ge­wähl­tes Ge­fol­ge von Ster­nen ein­las­sen, ne­ben dem Gold­fisch­teich, wo die von Buchs ein­ge­faß­ten Wege zu­sam­men­sto­ßen, un­ser ers­tes scheu­es Ge­ständ­nis tausch­ten. Ich ent­sin­ne mich noch – und im­mer wird in mir et­was er­be­ben bei die­ser Erin­ne­rung – der zit­tern­den Er­re­gung je­nes Aben­teu­ers. Net­tie war weiß ge­klei­det, ihr Haar floß in Wel­len wei­chen Dun­kels über ih­ren tie­fen, leuch­ten­den Au­gen nie­der, um ih­ren zart ge­form­ten Hals lief ein klei­nes Hals­band von Per­len mit ei­ner klei­nen Gold­mün­ze, die auf ih­rer Brust ruh­te. Drei Jah­re mei­nes Le­bens – ja, ich glau­be fast ihr und mein gan­zes Le­ben lang – hät­te ich von da ab für sie ster­ben kön­nen!

Man muß ver­ste­hen – und mit je­dem Jahr wird es schwe­rer zu ver­ste­hen – wie voll­stän­dig an­ders da­mals die Welt war als jetzt. Es war eine fins­te­re Welt, voll von Un­heil, Krank­hei­ten und Schmer­zen, die zu ver­hü­ten ge­we­sen wä­ren, voll von Här­ten und tö­rich­ten, un­ge­woll­ten Grau­sam­kei­ten. Und doch, viel­leicht ge­ra­de in­fol­ge des all­ge­mei­nen Dun­kels, gab es Au­gen­bli­cke ei­ner sel­te­nen und flüch­ti­gen Schön­heit, wie sie, mei­ner Er­fah­rung nach, heu­te nicht mehr mög­lich zu sein schei­nen. Die große Um­wäl­zung ist her­ein­ge­bro­chen auf im­mer­dar, Glück und Schön­heit ist un­se­re At­mo­sphä­re, es ist Frie­de auf Er­den und den Men­schen ein Wohl­ge­fal­len … Nie­mand wür­de auch nur zu träu­men wa­gen, er könn­te zum Leid frü­he­rer Zei­ten zu­rück­keh­ren – und doch ward je­nes Elend durch­drun­gen, ward der graue Vor­hang da und dort durch­blitzt von Freu­den voll ei­ner In­ten­si­tät, von Emp­fin­dun­gen voll ei­ner Le­ben­dig­keit, wie sie mir heu­te völ­lig aus dem Le­ben ent­schwun­den schei­nen. Ich möch­te wohl wis­sen, – hat die Wand­lung das Le­ben sei­ner Ex­tre­me be­raubt, oder ist es viel­leicht nur, daß mich die Ju­gend ver­las­sen hat – selbst die Kraft der mitt­le­ren Jah­re ver­läßt mich schon! –, daß sie ihre Verzweif­lun­gen, ihre Ent­zückun­gen mit sich ge­nom­men und mir nur die Kri­tik und viel­leicht Sym­pa­thie und Erin­ne­rung ge­las­sen hat?

Ich weiß es nicht. Man müß­te jetz­t jung sein und zu­gleich da­mals jung ge­we­sen sein, um die­se un­mög­li­che Fra­ge zu ent­schei­den.

Vi­el­leicht hät­te ein küh­ler Beo­b­ach­ter in den al­ten Ta­gen we­nig Schön­heit in un­se­rer klei­nen Ge­mein­schaft ge­fun­den. Ich habe, wäh­rend ich ar­bei­te, hier im Schreib­tisch un­se­re zwei Pho­to­gra­phien zur Hand; sie zei­gen mir einen lin­ki­schen jun­gen Men­schen in schlecht sit­zen­den, fer­tig ge­kauf­ten Klei­dern; und Net­tie – – ja, Net­tie ist eben­falls schlecht an­ge­zo­gen und ihre Hal­tung ist mehr als nur ein biß­chen steif. Ich aber sehe sie durch das Bild hin­durch: ihre le­bens­vol­le Fri­sche und et­was von dem ge­heim­nis­vol­len Reiz, den sie auf mich aus­üb­te, kom­men mir wie­der in Erin­ne­rung. Ihr wah­res Ge­sicht tri­um­phiert über den Pho­to­gra­phen – sonst hät­te ich dies Bild längst weg­ge­wor­fen.

Das We­sen der Schön­heit läßt sich nicht in Wor­te fas­sen. Ich woll­te, ich be­herrsch­te die Schwes­ter­kunst und ver­möch­te hier am Ran­de et­was zu zeich­nen, was sich der Schil­de­rung durch Wor­te ent­zieht. In ih­ren Au­gen lag ein ge­wis­ser Ernst. Ein Et­was, eine kaum merk­li­che Ei­gen­art, lag um ihre Ober­lip­pe, so daß ihr Mund sich rei­zend schloß und süß zum Lä­cheln öff­ne­te. Ach, je­nes erns­te, süße Lä­cheln!

Nach­dem wir uns ge­küßt und be­schlos­sen hat­ten, un­se­ren El­tern noch eine Wei­le nichts von der un­wi­der­ruf­li­chen Wahl, die wir ge­trof­fen hat­ten, zu sa­gen, kam der Au­gen­blick, da wir, scheu und vor Zeu­gen, Ab­schied neh­men muß­ten. Mei­ne Mut­ter und ich wan­der­ten durch den mond­be­glänz­ten Wald – das Farn­dickicht ra­schel­te vom auf­ge­scheuch­ten Wild – zum Bahn­hof von Checks­hill und dann nach un­se­rer ärm­li­chen Kel­ler­woh­nung in Clay­ton zu­rück, und fast ein Jahr lang sah ich, au­ßer in mei­nen Ge­dan­ken, nichts mehr von Net­tie. Aber bei un­se­rer nächs­ten Be­geg­nung wur­de ab­ge­macht, wir woll­ten uns schrei­ben, und dies ta­ten wir auch – in aller­größ­ter Heim­lich­keit – denn Net­tie woll­te nicht, daß ir­gend je­mand bei ihr zu Hau­se, nicht ein­mal ihre ein­zi­ge Schwes­ter, von ih­rer Lie­be er­fuhr. So muß­te ich denn mei­ne kost­ba­ren Do­ku­men­te ver­sie­gelt und un­ter der Adres­se ei­ner ver­trau­ten Schul­freun­din von ihr, die nahe bei Lon­don wohn­te, schi­cken … Noch heu­te könn­te ich jene Adres­se auf­schrei­ben, ob­gleich Haus und Stra­ße und Vo­r­ort so spur­los ver­schwun­den sind, daß kei­ner mehr sie zu fin­den ver­möch­te.

Mit un­se­rer Kor­re­spon­denz be­gann un­se­re Ent­frem­dung; denn zum ers­ten­mal ka­men wir in an­de­re als sinn­li­che Berüh­rung, such­te un­ser Geist nach Aus­druck.

Nun muß man wis­sen, daß die Welt des Den­kens da­mals im selt­sams­ten Zu­stand war; sie er­stick­te fast an ver­al­te­ten, un­taug­li­chen For­meln; sie wand sich wie ein La­by­rinth in ne­ben­säch­li­chen Scha­blo­nen und Kom­pro­mis­sen, Un­ter­schla­gun­gen, Kon­ven­tio­nen und Aus­flüch­ten. Nied­ri­ge Um­schrei­bun­gen be­su­del­ten auf je­der­manns Lip­pen die Wahr­heit. Ich war von mei­ner Mut­ter in ei­nem wun­der­li­chen, alt­mo­di­schen Glau­ben an ge­wis­se re­li­gi­öse For­meln, ge­wis­se An­stands­re­geln, ge­wis­se Be­grif­fe so­zia­ler und po­li­ti­scher Ord­nung er­zo­gen, die zur Wirk­lich­keit und den Be­dürf­nis­sen des da­ma­li­gen All­tags­le­bens nicht mehr in Be­zie­hung stan­den als rei­ne Wä­sche, die man mit La­ven­del in einen Schrank ein­schließt. Ihre Re­li­gi­on roch auch tat­säch­lich nach La­ven­del. Sonn­tags tat sie alle Din­ge der Wirk­lich­keit, die Klei­der, so­gar den Haus­rat des All­tags von sich ab, barg ihre Hän­de, die vol­ler Beu­len und manch­mal vom Scheu­ern auf­ge­ris­sen wa­ren, in schwar­zen, sorg­sam ge­flick­ten Hand­schu­hen, leg­te ihr al­tes, schwarz­sei­de­nes Kleid an, setz­te ih­ren Hut auf und führ­te mich, der ich eben­falls un­na­tür­lich sau­ber und nett aus­sah, in die Kir­che. Dort san­gen wir und senk­ten das Haupt, hör­ten me­lo­di­sche Ge­be­te an und stimm­ten in me­lo­di­sche Ant­wor­ten ein, und stan­den er­quickt und er­leich­tert, mit ei­nem Ge­mein­de-Seuf­zer, auf, wenn die Lob­prei­sung mit ih­rem An­fang: »Gott der Va­ter, Gott der Sohn«, die kur­ze zah­me Pre­digt ab­schloß. In die­ser Re­li­gi­on mei­ner Mut­ter gab es eine Höl­le, eine rot­haa­ri­ge Höl­le voll krau­ser Flam­men, die der­einst sehr furcht­bar ge­we­sen sein muß­te; es gab einen Teu­fel, der zu­gleich ex of­fi­cio des eng­li­schen Kö­nigs Feind war. Die ar­gen Lüs­te des Flei­sches wur­den schwer ver­ket­zert. Man er­war­te­te von uns, wir soll­ten glau­ben, der grö­ße­re Teil un­se­rer un­glück­li­chen Welt wer­de für all sei­ne Wir­ren und Un­ru­hen all­hier bü­ßen, in­dem er der­einst die aus­er­le­sens­ten Qua­len zu er­dul­den habe – in alle Ewig­keit, Amen. Aber frei­lich sa­hen die­se krau­sen Flam­men recht lus­tig aus. Das Gan­ze war längst vor mei­ner Zeit zu ei­ner sanf­ten Un­wirk­lich­keit aus­ge­reift und ver­blaßt. Wenn es mir in mei­ner Kind­heit noch großen Schre­cken ein­flö­ßte, so habe ich das ver­ges­sen; es war lan­ge nicht so furcht­bar wie die Ge­schich­te vom Rie­sen, der von der Boh­nen­ran­ke er­schla­gen wur­de … Und jetzt sehe ich es al­les nur noch als Rah­men für mei­ner ar­men Mut­ter ab­ge­ar­bei­te­tes, runz­li­ges Ge­sicht, sehe es fast mit Lie­be, als einen Teil ih­rer selbst. Und Mr. Gab­bi­tas, un­ser klei­ner, rund­li­cher Mie­ter, selt­sam ver­än­dert durch sei­ne Amt­stracht, schi­en ihr, wenn er mann­haft die Stim­me er­hob, um jene alt­vä­te­rischen Ge­be­te zu sin­gen, noch ein ganz be­son­de­res und in­ti­me­res In­ter­es­se an Gott ein­zu­flö­ßen. Sie strahl­te ihre ei­ge­ne zit­tern­de Mil­de auf ihn über und ver­tei­dig­te ihn ge­gen alle An­grif­fe rän­ke­süch­ti­ger Theo­lo­gen. Sie war in Wahr­heit – wenn ich das da­mals hät­te se­hen kön­nen – die werk­tä­ti­ge Er­fül­lung al­les des­sen, was sie mich gern ge­lehrt hät­te.

So er­scheint es mir jetzt; aber es ist et­was Uner­bitt­li­ches, Har­tes um die ernst­haf­te In­ten­si­tät der Ju­gend; und wenn ich an­fäng­lich all die­se Din­ge, die feu­ri­ge Höl­le und Got­tes Ra­che für jede Un­ter­las­sungs­sün­de, so ernst ge­nom­men hat­te, als sei­en das ge­nau so fest­ste­hen­de Tat­sa­chen wie Blad­dens Ei­sen­wer­ke und Ra­w­d­ons Ton­gru­ben, so schlug ich sie mir doch bald mit glei­cher Ernst­haf­tig­keit aus dem Sinn.

Mr. Gab­bi­tas näm­lich nahm bis­wei­len, wie man sag­te, »No­tiz« von mir; er hat­te mich ver­an­laßt, wei­ter­zu­stu­die­ren, als ich die Schu­le ver­ließ, und mit den bes­ten Ab­sich­ten hat­te er mir, um dem Gift der Zeit von vorn­her­ein ent­ge­gen­zu­ar­bei­ten, Bur­bles »Wi­der­leg­te Skep­sis« ge­lie­hen und mich auf die Stifts­bi­blio­thek in Clay­ton auf­merk­sam ge­macht.

Der aus­ge­zeich­ne­te Bur­ble war ein schwe­rer Schlag für mich. Aus sei­ner Wi­der­le­gung der Skep­sis schi­en klar her­vor­zu­ge­hen, daß die Din­ge für die dok­tri­näre Or­tho­do­xie und das gan­ze ab­ge­blaß­te und kei­nes­wegs grau­en­vol­le Jen­seits, das ich bis­her eben­so hin­ge­nom­men hat­te, wie ich die Son­ne hin­nahm, äu­ßerst schlecht stan­den; und um mir die­se Idee noch fes­ter ein­zu­pau­ken, war das ers­te Buch, das ich mir von der Biblio­thek hol­te, eine ame­ri­ka­ni­sche Aus­ga­be der ge­sam­mel­ten Wer­ke Shel­leys, sei­ne leicht­be­schwing­te Pro­sa und sei­ne äthe­ri­sche Poe­sie. Bald war ich für den schrei­ends­ten Un­glau­ben reif. Gleich dar­auf mach­te ich im Ve­rein jun­ger Män­ner Par­loads Be­kannt­schaft, der mir un­ter dem Sie­gel der schwär­zes­ten Ver­schwie­gen­heit mit­teil­te, daß er »durch und durch So­zia­list« sei. Er lieh mir meh­re­re Num­mern ei­ner Zeit­schrift, die den Lärm-Ti­tel »Die Trom­pe­te« trug, und die eben auf ei­nem Kreuz­zug ge­gen die über­lie­fer­te Re­li­gi­on be­grif­fen war. Die Ju­gend­jah­re je­des nur ei­ni­ger­ma­ßen in­tel­li­gen­ten jun­gen Man­nes sind der An­ste­ckung durch phi­lo­so­phi­sche Zwei­fel, durch Ge­ring­schät­zung und neue Ide­en aus­ge­setzt und wer­den es ge­sun­der­wei­se im­mer sein, und ich muß ge­ste­hen, das Fie­ber die­ser Pha­se pack­te mich hef­tig. Ich spre­che von Zwei­fel, aber es war we­ni­ger Zwei­fel – was et­was Kom­pli­zier­tes ist – als viel­mehr ein auf­ge­reg­tes, nach­drück­li­ches Ver­nei­nen. »Das soll­te ich ge­glaubt ha­ben!« Und da­bei war ich – nicht zu ver­ges­sen – eben am An­fang mei­ner Lie­bes­brie­fe an Net­tie!

Wir le­ben heu­te, seit sich die »große Wand­lung« in fast al­len Din­gen voll­zo­gen hat, in ei­ner Zeit, in der je­der Mensch zu ei­ner Art in­tel­lek­tu­el­ler Mil­de er­zo­gen wird, ei­ner Mil­de, die un­se­re Kraft in nichts be­ein­träch­tigt; und es wird uns schwer, die halb er­stick­te, blind­lings kämp­fen­de Art und Wei­se zu ver­ste­hen, in der sich das Den­ken mei­ner Ge­ne­ra­ti­on von jun­gen Män­nern voll­zog. Über ge­wis­se Fra­gen über­haupt nur nach­zu­den­ken, war ein Akt der Auf­leh­nung, der einen so­fort ins Schwan­ken ver­setz­te zwi­schen Heim­lich­keit und Trotz. Man be­ginnt heut­zu­ta­ge Shel­ley – all sei­ner Sang­bar­keit zum Trotz – lär­mend und schlecht zu fin­den, weil sei­ne Ge­gen­par­tei ver­schwun­den ist, nicht mehr exis­tiert; und doch hat es eine Zeit ge­ge­ben, in der neue Ge­dan­ken zu die­sem Klim­bim zer­schmet­ter­ten Gla­ses grei­fen muß­ten. Es wird nach­ge­ra­de et­was schwie­rig, sich die­se gä­ren­de Geis­tes­ver­fas­sung vor­zu­stel­len, die Nei­gung, los­zu­brül­len, der be­ste­hen­den Au­to­ri­tät ein »Bäh!« ins Ge­sicht zu schrei­en, die an­hal­ten­de Note der Her­aus­for­de­rung auf­recht­zu­er­hal­ten, wie wir un­ge­schlif­fe­ne Bur­schen sie da­mals an­schlu­gen. Ich fing an, mit Gier eine Lek­tü­re zu ver­schlin­gen wie Car­ly­le, Brow­ning und Hei­ne sie zur Ver­blüf­fung der Nach­welt hin­ter­las­sen ha­ben – und nicht nur sie zu le­sen, son­dern sie zu be­wun­dern und nach­zuah­men. Mei­ne Brie­fe an Net­tie schwenk­ten nach ein oder zwei auf­rich­tig ge­mein­ten Aus­brü­chen glü­hen­der Zärt­lich­keit in schwüls­ti­gen und auf­rei­zen­den Wen­dun­gen zur Theo­lo­gie, So­zio­lo­gie und zum Kos­mos ab. Ohne Zwei­fel mach­ten sie ihr viel zu schaf­fen.

Noch im­mer hege ich die leb­haf­tes­te Sym­pa­thie und et­was, was dem Neid ganz merk­wür­dig gleich sieht, für mei­ne ent­schwun­de­ne Ju­gend; den­noch wür­de es mir schwer fal­len, mich ge­gen ir­gend­wen zu ver­tei­di­gen, der mich als einen al­ber­nen, po­sie­ren­den, sen­ti­men­ta­len, mei­ner ver­blaß­ten Pho­to­gra­phie au­ßer­or­dent­lich ähn­li­chen Töl­pel glatt ver­ur­tei­len woll­te. Und wenn ich mich ge­nau­er auf die Art und den Ton der müh­se­li­gen Ver­su­che, mei­ner Liebs­ten be­deu­ten­de Din­ge zu schrei­ben, be­sin­nen soll, so muß ich ge­ste­hen – ich zit­te­re … Trotz­dem woll­te ich, sie wä­ren nicht alle ver­nich­tet.

Ihre Brie­fe an mich wa­ren ein­fach ge­nug, in ei­ner rund­li­chen, un­aus­ge­schrie­be­nen Schrift und schlech­tem Stil ge­schrie­ben. Die ers­ten zwei oder drei ver­rie­ten ein scheu­es Ver­gnü­gen am Ge­brauch des Wor­tes »Liebs­ter«, und ich ent­sin­ne mich, daß ich erst in Ver­le­gen­heit ge­riet, dann aber ent­zückt war, weil sie un­ter mei­nen Na­men ein iri­sches Dia­lekt­wort ge­schrie­ben hat­te, das »Lieb­ling« be­deu­te­te. Als dann frei­lich die in mir herr­schen­de Gä­rung zum Aus­druck zu kom­men be­gann, lau­te­ten ihre Ant­wor­ten we­ni­ger be­glückt.

Ich will nicht mit un­se­rer Ge­schich­te er­mü­den: wie wir uns auf al­ber­ne, ju­gend­li­che Art zank­ten und wie ich am nächs­ten Sonn­tag un­ein­ge­la­den nach Checks­hill ging und die Sa­che nur schlim­mer mach­te, wie ich dann einen Brief schrieb, den sie »süß« fand und al­les da­mit wie­der gut­mach­te. Auch von all den spä­te­ren Schwan­kun­gen des Miß­ver­ste­hens will ich nicht er­zäh­len. Stets war ich der Sün­der und schließ­li­che Bü­ßer, bis zu je­nem letz­ten Kum­mer, der hier an­fing; da­zwi­schen­hin­ein er­leb­ten wir ein paar Mo­na­te in­nigs­ter Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit, und ich lieb­te sie zärt­lich. Das Un­glück bei der gan­zen Ge­schich­te war das: so­bald ich im Dun­keln und al­lein war, dach­te ich ganz in­ten­siv an sie, an ihre Au­gen, an ihre Küs­se, an ihre gan­ze süße, hold­se­li­ge Ge­gen­wart; wenn ich mich aber hin­setz­te, um zu schrei­ben, dach­te ich an Shel­ley und Burns und mich sel­ber und al­ler­lei der­ar­ti­ge nicht her­ge­hö­ri­ge Din­ge. Wenn man ver­liebt ist, und da­bei in solch gä­ren­der Ver­fas­sung, so ist es schwe­rer, den Lie­ben­den zu spie­len, als wenn man gar nicht liebt. Und Net­tie, das weiß ich, lieb­te nicht mich, son­dern die sü­ßen Ge­heim­nis­se … Nicht mei­ne Stim­me soll­te ihre Träu­me zur Lei­den­schaft er­we­cken! … So blieb in un­sern Brie­fen ein Miß­klang. Dann schrieb sie mir plötz­lich einen, in dem sie ihre Zwei­fel aus­sprach, ob sie je einen Men­schen lieb ha­ben kön­ne, der So­zia­list sei und nichts von der Kir­che wis­sen woll­te. Kurz dar­auf kam ein zwei­ter Brief, mit ganz un­er­war­tet neu­en Wen­dun­gen. Sie glau­be, wir paß­ten nicht zu­ein­an­der, un­ser Ge­schmack und un­se­re Ide­en sei­en zu ver­schie­den, sie habe schon lang dar­an ge­dacht, mir mein Wort zu­rück­zu­ge­ben. Kurz … wenn ich es auch erst nicht ganz be­griff – ich war ver­ab­schie­det. Ihr Brief hat­te mich er­reicht, eben als ich nach der kei­nes­wegs höf­li­chen Wei­ge­rung des al­ten Ra­w­don, mein Ge­halt auf­zu­bes­sern, nach Hau­se ge­kom­men war. Ich war also an je­nem Abend, von dem ich hier schrei­be, in ei­nem Zu­stand fie­bri­scher Er­re­gung, weil ich mich mit zwei neu­en und er­staun­li­chen, zwei fast über­wäl­ti­gen­den Tat­sa­chen ver­traut ma­chen muß­te: näm­lich, daß ich we­der für Net­tie noch für Ra­w­don un­ent­behr­lich war.

Und da­bei von Ko­me­ten re­den!

Was war zu tun?

Ich hat­te mich so dar­an ge­wöhnt, Net­tie als mein un­ver­brüch­li­ches Ei­gen­tum an­zu­se­hen – die gan­ze Tra­di­ti­on »treu­er Lie­be« wies mich dar­auf hin – daß es mich aufs tiefs­te ver­letz­te, als sie plötz­lich, nach­dem wir Küs­se ge­tauscht und uns Lie­bes­wor­te zu­ge­flüs­tert hat­ten und ein­an­der in den klei­nen, küh­nen Ver­trau­lich­kei­ten der Ju­gend so nah ge­kom­men wa­ren, von Tren­nung sprach. Und auch Ra­w­don fand mich nicht un­ent­behr­lich! Ich fühl­te mich plötz­lich vom gan­zen Wel­tall so zu­rück­ge­sto­ßen und mit Ver­nich­tung be­droht, daß ich mich auf ir­gend­ei­ne po­si­ti­ve und nach­drück­li­che Wei­se be­haup­ten muß­te. We­der in der Re­li­gi­on, die man mich ge­lehrt, noch in der Re­li­gi­ons­lo­sig­keit, die ich selbst mir er­wor­ben hat­te, gab es Bal­sam für ver­wun­de­te Ei­gen­lie­be.

Soll­te ich die Stel­lung bei Ra­w­don so­fort auf­ste­cken und auf ir­gend­wel­che au­ßer­ge­wöhn­li­che, ra­sche Wei­se der be­nach­bar­ten Ton­gru­be sei­nes Kon­kur­ren­ten Fro­bis­her zum Auf­schwung ver­hel­fen?

Der ers­te Teil des Pro­gramms war ja leicht aus­führ­bar. Man ging ein­fach zu Ra­w­don und sag­te ihm: »Sie wer­den noch von mir hö­ren!« Aber wenn Fro­bis­her mich im Stich ließ? Doch das war Ne­ben­sa­che. Viel wich­ti­ger war die An­ge­le­gen­heit mit Net­tie. Ich fühl­te schon, wie mir der Kopf förm­lich schwirr­te von rhe­to­ri­schen Frag­men­ten, die mir in dem Brief, den ich ihr schrei­ben woll­te, von Nut­zen sein konn­ten. Hohn, Iro­nie, Zärt­lich­keit … was soll­te ich wäh­len? …

»Ver­dammt!«, sag­te Par­load plötz­lich.

»Was?«, frag­te ich.

»Sie feu­ern in Blad­dens Ei­sen­hüt­te und der Rauch steigt ge­ra­de vor mein Stück Him­mel!«

Die Un­ter­bre­chung kam just, als ich so weit war, mei­ne Ge­dan­ken auf ihn los­zu­las­sen.

»Par­load!«, sag­te ich, »höchst wahr­schein­lich werd’ ich fort müs­sen. Ra­w­don will mir kei­ne Zu­la­ge ge­ben, und, da ich sie ein­mal ver­langt habe, fin­de ich, daß ich zu den al­ten Be­din­gun­gen nicht mehr blei­ben kann. Du ver­stehst. Also werd’ ich wohl weg müs­sen aus Clay­ton … für im­mer.«

III.

Par­load leg­te das Opern­glas weg und sah mich an.

»Schlech­te Zeit zum Wech­seln jetzt!«, sag­te er nach ei­ner klei­nen Pau­se.

Ra­w­don hat­te das­sel­be ge­sagt, nur in we­ni­ger lie­bens­wür­di­gem Ton.

Aber Par­load ge­gen­über war ich im­mer ge­neigt, die he­ro­i­sche Sai­te an­zu­schla­gen.

»Ich bin die­ser ein­tö­ni­gen Skla­ven­ar­beit für an­de­re müde!«, sag­te ich.

»Man kann eben­so­gut an­ders­wo sei­nen Kör­per ver­hun­gern las­sen, wie hier sei­ne See­le!«

»Da bin ich nicht ganz dei­ner Mei­nung«, be­gann Par­load lang­sam …

Und da­mit er­öff­ne­ten wir eine un­se­rer end­lo­sen Un­ter­hal­tun­gen, ei­nes je­ner lan­gen, ziel­lo­sen, in­ten­siv ver­all­ge­mei­nern­den und weit­schwei­fig per­sön­li­chen Ge­sprä­che, wie sie den Her­zen jun­ger Men­schen bis zum Ende der Welt teu­er sein wer­den. Das je­den­falls hat die Wand­lung nicht be­sei­tigt.

Es wäre eine un­glaub­li­che Ge­dächt­nis­leis­tung, wenn ich mich noch je­nes gan­zen la­by­rin­thi­schen Wort­ne­bels ent­sin­nen könn­te; ich er­in­ne­re mich auch tat­säch­lich kaum ei­nes Wor­tes, ob­gleich die äu­ße­ren Um­stän­de und die uns um­ge­ben­de At­mo­sphä­re als schar­fes, kla­res Bild vor mei­nem Geis­te ste­hen. Ich po­sier­te, nach mei­ner Ge­wohn­heit, und be­nahm mich ohne Zwei­fel sehr tö­richt, als ge­kränk­ter und lei­den­der Ego­ist; Par­load da­ge­gen spiel­te die Rol­le des mit un­er­meß­li­chen Wel­ten­räu­men be­schäf­tig­ten Phi­lo­so­phen.

Wir gin­gen hin­aus in die war­me Som­mer­nacht und spra­chen uns nur um so frei­er aus. Aber ei­nes Wor­tes von mir ent­sin­ne ich mich noch.

»Mit­un­ter möch­te ich«, sag­te ich mit ei­ner Ges­te gen Him­mel, »dein Ko­met oder ir­gend sonst was stie­ße wirk­lich auf die­se Welt und feg­te uns alle weg, uns und al­les, Streiks, Krie­ge, Aufruhr, Lie­be, Ei­fer­sucht und das gan­ze Elend des Le­bens.«

»Ah!«, sag­te Par­load; und der Ge­dan­ke schi­en ihn zu be­schäf­ti­gen.

»Das wür­de den Jam­mer des Le­bens nur noch ver­meh­ren«, sag­te er un­ver­mit­telt, als ich gleich dar­auf von an­de­ren Din­gen zu spre­chen be­gann.

»Was?«

»Der Zu­sam­men­stoß mit ei­nem Ko­me­ten wür­de die Din­ge nur zu­rück­brin­gen. Was vom Le­ben üb­rig blie­be, wür­de nur noch wüs­ter, als es jetzt ist.«

»Aber wes­halb soll­te über­haup­t et­was üb­rig blei­ben?«, sag­te ich …

Das war so un­ser Stil; und mitt­ler­wei­le gin­gen wir die enge Stra­ße vor sei­ner Woh­nung und dann die Stu­fen und Gas­sen hin­auf nach Clay­ton und zur großen Land­stra­ße.

Aber mei­ne Erin­ne­run­gen füh­ren mich so le­ben­dig zu je­nen Ta­gen vor der Wand­lung zu­rück, daß ich ver­ges­se, daß heu­te all die­se Orte bis zur Un­kennt­lich­keit ver­än­dert sind. Die enge Stra­ße, die Stu­fen, der Aus­blick von Clay­ton Crest, ja, die gan­ze Welt, in der ich ge­bo­ren und er­zo­gen und ge­formt ward – all das ist aus Raum und Zeit und fast auch aus der Vor­stel­lung all de­rer ver­schwun­den, die um eine Ge­ne­ra­ti­on jün­ger sind als ich. Der Le­ser ver­mag nicht, wie ich, den dun­keln, schma­len ver­las­se­nen Weg zwi­schen den häß­li­chen Häu­sern zu se­hen, den dun­keln, ver­las­se­nen Weg, den an der Ecke eine trü­be Gas­la­ter­ne be­leuch­te­te; er fühlt nicht un­ter sei­nen Soh­len das har­te, klein­ge­stein­te Pflas­ter, er be­merkt nicht da und dort die matt er­leuch­te­ten Fens­ter, noch die Schat­ten der da­hin­ter ein­ge­sperr­ten Men­schen auf den häß­li­chen, oft ge­flick­ten, krumm­ge­zo­ge­nen Gar­di­nen. Noch auch ver­mag er im Geist an dem Wirts­haus vor­über­zu­ge­hen mit sei­nem hel­le­ren Gas­licht und sei­nen son­der­ba­ren, un­durch­sich­ti­gen Fens­tern, noch die ver­dor­be­ne Luft und eben­so ver­dor­be­ne Spra­che zu wit­tern, die der Tür ent­ström­ten oder die ver­schrumpf­te scheue Ge­stalt – ir­gend­ein zer­lump­tes Gas­sen­kind – zu er­bli­cken, die die Stu­fen her­ab und an uns vor­bei­schleicht.

Wir ka­men durch eine län­ge­re Stra­ße, durch die ras­selnd und Rauch und Feu­er spei­end eine plum­pe Dampf­tram­bahn fuhr, wäh­rend man wei­ter ab­wärts den schmie­ri­gen Glanz der Schau­fens­ter und die Pech­fa­ckeln der Hau­sie­rer­kar­ren sah, de­ren Feu­er die Nacht durch­lo­der­te. Ein wir­res Men­schen­ge­schie­be dräng­te sich durch jene Stra­ße, und von ei­nem lee­ren Bau­platz zwi­schen den Häu­sern her hör­ten wir die Stim­me ei­nes Wan­der­pre­di­gers. Der Le­ser kann all das nicht se­hen, wie ich, und kann sich auch – es sei denn, er ken­ne die Bil­der, die der große Ma­ler Hyde der Welt hin­ter­las­sen hat – die Wir­kung des großen Gerüsts nicht vor­stel­len, an dem wir vor­über ka­men, das, un­ten von ei­ner blei­chen Gas­lam­pe er­leuch­tet ge­gen den blas­sen Him­mel em­por­ra­gend, mit ei­nem plötz­li­chen, schar­fen Rand ab­schnitt.

Die­se Gerüs­te! Sie wa­ren das bun­tes­te in je­ner gan­zen ver­schwun­de­nen Welt. Auf ih­nen ver­ei­nig­ten sich in im­mer neu­en Schich­ten von Leim und Pa­pier all die ro­hen Un­ter­neh­mun­gen je­ner Zeit zu ei­ner Dis­so­nanz grel­ler Far­ben: Pil­len­ver­käu­fer und Pre­di­ger, Thea­ter und Wohl­tä­tig­keits­an­stal­ten, Wun­der­sei­fen und er­staun­li­che Kon­ser­ven, Schreib­ma­schi­nen und Näh­ma­schi­nen ver­ban­den sich zu ei­ner Art sicht­bar ge­wor­de­nen Ge­schreis. Und da­hin­ter kam eine schmut­zi­ge Aschen­gas­se, eine Gas­se ohne Be­leuch­tung, in de­ren zahl­lo­sen Pfüt­zen sich da und dort ein Stern des Him­mels spie­gel­te. Acht­los patsch­ten wir im Ei­fer des Ge­sprächs hin­durch.

Dann wei­ter durch die Gar­ten­par­zel­len – eine Kohl­wild­nis. Vor­über an ver­kom­men aus­se­hen­den Schup­pen und ei­ner ge­spens­ti­schen, ver­las­se­nen Fa­brik bis zur Land­stra­ße. Die Land­stra­ße führ­te in ei­ner Kur­ve an ein paar Häu­sern und ei­ner Bier­knei­pe vor­bei bis zu ei­ner Stel­le, von wo aus man das gan­ze Tal über­sah, in dem über­füllt und zu­sam­men­wach­send vier In­dus­trie­städ­te la­gen.

Ich will nicht leug­nen, daß mit dem Zwie­licht ein Zau­ber geis­ter­haf­ter Grö­ße über die gan­ze Ge­gend kam und bis zum Ta­ges­grau­en auf ihr brü­te­te. Die furcht­ba­re Ge­mein­heit ih­rer Ein­zel­hei­ten ward ver­schlei­ert. Die Hüt­ten mit ih­ren Be­woh­nern, das star­ren­de Ge­wim­mel der Schorn­stei­ne, die häß­li­chen Fle­cken wi­der­wil­li­ger Ve­ge­ta­ti­on zwi­schen den not­dürf­ti­gen Zäu­nen aus Faß­dau­ben und Draht, die rost­far­be­nen Nar­ben, die die Hü­gel drü­ben um­rahm­ten, wo man das Ei­sen­erz aus­hob, und die un­frucht­ba­ren Schla­cken­ber­ge bei den Blasö­fen wa­ren ver­schlei­ert; der Dampf und der bro­deln­de Rauch und Staub aus Gie­ße­rei, Lehm­gru­ben und Hochö­fen wa­ren von der Nacht ver­wan­delt, in ihr auf­ge­gan­gen. Die staub­ge­schwän­ger­te At­mo­sphä­re, tags­über ein grau­er Alp­druck, wur­de mit Son­nen­un­ter­gang zu ei­nem Mys­te­ri­um tiefer, leuch­ten­der Far­ben: blau und pur­purn, dun­kel­rot und grell­rot, selt­sam hel­le, klar­grü­ne und gel­be Strei­fen über dem dun­keln Him­mel. Je­der der Hochofen-Par­ven­üs krön­te sich, wenn die Kö­ni­gin, die Son­ne, fort war, mit Flam­men; zit­tern­de Glut be­gann die dun­keln Aschen­hau­fen zu be­le­ben, jede Ton­gru­be brüs­te­te sich re­bel­lisch mit ei­nem vul­ka­ni­schen Licht­kranz. Die Herr­schaft des Tags zer­split­ter­te zu tau­send klei­nen Ein­zel­staa­ten bren­nen­der Koh­le. Die klei­ne­ren Stra­ßen im Tal be­steck­ten sich mit matt­gel­ben Gas­la­ter­nen, die sich an al­len Haupt­plät­zen und Kreuz­punk­ten mit der grün­li­chen Bläs­se der Glüh­st­rümp­fe und dem grel­len kal­ten Glanz der elek­tri­schen Bo­gen misch­ten. Ver­schlun­ge­ne Bahn­ge­lei­se ho­ben hel­le Si­gnal-Häu­schen über ihre Schnitt­punk­te, und in recht­e­cki­gen Kon­stel­la­tio­nen sah man rote und grü­ne Si­gnals­ter­ne fun­keln. Die Züge wur­den zu feu­er­fau­chen­den, schwar­zen Glie­der­schlan­gen.

Und hoch über all dem hat­te Par­load ein Reich ent­deckt, ein Reich, un­greif­bar und fast ver­ges­sen, we­der von Son­ne noch Hochofen be­herrscht – das All der Ster­ne.

Dies war die Sze­ne­rie manch ei­nes Ge­sprächs, das wir mit­ein­an­der ge­führt hat­ten. Und wenn wir am Tag über die Höhe wan­der­ten und nach Wes­ten blick­ten, so la­gen vor uns Acker­land und Parks und große Her­ren­häu­ser, in der Fer­ne der Turm ei­ner Ka­the­dra­le; da­zwi­schen, wenn ein Re­gen im An­zug war, hin­gen die Käm­me fer­ner Ber­ge klar in der Luft. Jen­seits des Ge­sichts­fel­des, weit hin­ten, lag Checks­hill; im­mer fühl­te ich es dort, und im Dun­kel noch mehr als bei Tag: Checks­hill und Net­tie.

Uns bei­den jun­gen Bur­schen, die wir den Aschen­pfad ne­ben der aus­ge­fah­re­nen Stra­ße da­hin­wan­der­ten und un­se­re Küm­mer­nis­se er­ör­ter­ten, uns schi­en es, als sei die­ser Hü­gel­rücken ein all­um­fas­sen­der Aus­blick auf die gan­ze große Welt.

Dort auf der einen Sei­te, in wim­meln­dem Dun­kel, um die scheuß­li­chen Fa­bri­ken und Werk­stät­ten her­um, schar­ten sich die Ar­bei­ter, schlecht ge­klei­det, schlecht er­nährt, schlecht un­ter­rich­tet, schlecht ver­sorgt, über­vor­teilt bei je­der Ge­le­gen­heit, nicht ein­mal ih­res un­ge­nü­gen­den Le­bens­un­ter­halts von ei­nem Tag zum an­dern ge­wiß, und zwi­schen ih­ren elen­den Heim­stät­ten schwol­len die Ka­pel­len und Kir­chen und Knei­pen gleich Mist­ge­wäch­sen in­mit­ten ei­ner all­ge­mei­nen Fäul­nis; und drü­ben, in Raum, Frei­heit und Wür­de, kaum der we­ni­gen Hüt­ten ach­tend, die so über­völ­kert und ma­le­risch wa­ren, und in de­nen die Ar­bei­ter ver­ka­men, leb­ten die Grund­be­sit­zer und Her­ren, de­nen Ton­gru­be, Gie­ße­rei, Farm und Mine ge­hör­ten. Weit in der Fer­ne, un­ver­mit­telt und schön, aus ei­nem klei­nen Ge­wirr al­ter Buch­lä­den, Pfarr­häu­ser und Gast­hö­fe und al­lem sons­ti­gen Zu­be­hör ei­ner ver­fal­len­den Han­dels­stadt her­aus reck­te die Ka­the­dra­le von Low­che­s­ter einen schlich­ten, aber wir­kungs­vol­len Turm in un­be­stimm­te, ver­schwim­men­de Him­mel em­por. So er­schie­nen uns in un­sern ers­ten Ju­gend­ein­drücken die Um­ris­se der gan­zen Welt.

Wie jun­ge Men­schen pfle­gen, sa­hen wir al­les ganz naiv. Zor­nig und zu­ver­sicht­lich er­dach­ten wir uns Lö­sun­gen der be­ste­hen­den Zu­stän­de, und wer sie kri­ti­sier­te, war ein Par­t­ei­ge­nos­se der Räu­ber. Es war ja auch eine ganz of­fen­ba­re Räu­be­rei, fan­den wir: dort, in den großen Häu­sern, lau­er­te der Grund­be­sit­zer und Ka­pi­ta­list mit sei­nem Schur­ken von An­walt und sei­nem Be­trü­ger von Pfaf­fen, und wir an­dern alle wa­ren Op­fer ih­rer aus­ge­klü­gel­ten Ge­mein­hei­ten. Ohne Zwei­fel zwin­ker­ten und ki­cher­ten sie sich zu, über ih­ren aus­er­le­se­nen Wei­nen, in­mit­ten ih­rer blen­den­den, scham­los an­ge­zo­ge­nen Da­men, und dach­ten sich aus, wie sie die Ar­men noch mehr schin­den könn­ten! Und auf der an­de­ren Sei­te, in­mit­ten von Schmutz, von Bru­ta­li­tät, von Un­wis­sen­heit und Be­trun­ken­heit, dul­de­ten die Mas­sen ih­rer schuld­lo­sen Op­fer, die Ar­bei­ter. Und wir hat­ten all das fast auf den ers­ten Blick durch­schaut; es brauch­te nur noch mit der nö­ti­gen Be­red­sam­keit und Ein­dring­lich­keit be­haup­tet zu wer­den, um das Ant­litz der gan­zen Welt zu wan­deln. Der Ar­bei­ter wür­de sich er­he­ben – in Ge­stalt ei­ner Ar­bei­ter­par­tei und mit jun­gen Leu­ten wie Par­load und mir an der Spit­ze – wür­de sich sein Recht er­zwin­gen, und dann – –?

Dann wur­de den Räu­bern die Höl­le heiß ge­macht und al­les lös­te sich auf in Wohl­ge­fal­len.

Wenn mir mein Ge­dächt­nis nicht einen schlim­men Streich spielt, so tat das dem Ka­te­chis­mus des Den­kens und Han­delns, den Par­load und ich für das En­d­er­geb­nis mensch­li­cher Weis­heit hiel­ten, durch­aus kei­nen Ab­bruch. Wir glaub­ten dar­an voll Glut, und voll Glut wie­sen wir jede noch so na­he­lie­gen­de Mil­de­rung sei­ner Här­te zu­rück. Manch­mal wa­ren wir bei un­se­ren großen Ge­sprä­chen voll über­eil­ter Hoff­nun­gen auf einen na­hen Tri­umph un­se­rer Leh­re, noch häu­fi­ger war un­se­re Stim­mung ein hei­ßer Groll ge­gen die Ver­wor­fen­heit und Bor­niert­heit, die eine so ein­fa­che Neu­ge­stal­tung der Wel­t­ord­nung auf­hiel­ten. Dann wur­den wir bös­ar­tig und dach­ten an Bar­ri­ka­den und ähn­li­che Ge­walt­ta­ten. Ich weiß, in je­ner Nacht, von der ich hier er­zäh­le, war ich sehr er­bit­tert, und das ein­zi­ge Ge­sicht der Hy­dra des Ka­pi­ta­lis­mus und Mo­no­po­lis­mus, das ich ei­ni­ger­ma­ßen deut­lich zu er­ken­nen ver­moch­te, lä­chel­te ge­nau so, wie der alte Ra­w­don ge­lä­chelt hat­te, als er sich wei­ger­te, mir mehr als lum­pi­ge zwan­zig Schil­ling in der Wo­che zu ge­ben. Ich hat­te das drin­gen­de Be­dürf­nis, mei­ne Selb­st­ach­tung durch einen Ra­che­akt an ihm zu wah­ren, und ich fühl­te, – könn­te dies da­durch ge­sche­hen, daß ich die Hy­dra er­schlug, so konn­te ich ihre Lei­che auch gleich Net­tie vor die Füße wer­fen und mei­ne zwei­te Fra­ge er­le­di­gen. »Was sagst du jetz­t, Net­tie!«

Je­den­falls kommt dies dem Stim­mungs­ge­halt mei­ner da­ma­li­gen Denk­wei­se so ziem­lich nah; und der Le­ser kann sich vor­stel­len, wie ich an je­nem Abend wü­te­te und ges­ti­ku­lier­te. Man stel­le sich vor – zwei klei­ne schwar­ze Ge­stal­ten, von we­nig an­zie­hen­den Um­ris­sen, mit­ten in je­ner trost­lo­sen Nacht des flam­men­den In­dus­tria­lis­mus, wäh­rend mei­ne schwa­che Stim­me mit ei­nem Stich ins Pa­the­ti­sche pro­tes­tier­te … an­klag­te …

Man wird die­se Phan­tas­te­rei­en mei­ner Ju­gend als ärm­li­ches, al­ber­nes, ge­mach­tes Zeug an­se­hen; be­son­ders wenn man zur jün­ge­ren Ge­ne­ra­ti­on ge­hört, die nach der Wand­lung ge­bo­ren ist. Heut­zu­ta­ge denkt alle Welt klar, mit Über­le­gung, denkt durch­sich­ti­ge Ge­wiß­hei­ten; und man ver­mag sich nicht mehr vor­zu­stel­len, wie je ein an­de­res Den­ken mög­lich war. Es sei mir da­her ein Wink ge­stat­tet, wie man sich etwa in den frü­he­ren Zu­stand ver­set­zen kann. Zu­nächst muß man sich durch un­ver­nünf­ti­ges Es­sen und Trin­ken un­ge­sund und durch Ver­nach­läs­si­gung je­der Lei­bes­übung un­ge­lenk ma­chen; dann muß man dar­auf aus­ge­hen, sich recht viel pla­gen zu las­sen, recht vie­le Sor­gen zu ha­ben, und muß vier oder fünf Tage lang, je­den Tag lan­ge Stun­den hin­durch, recht schwer an ir­gend et­was ar­bei­ten, was zu klein­lich ist, um in­ter­essant, zu kom­pli­ziert, um me­cha­nisch zu sein und was über­haupt von nicht dem ge­rings­ten per­sön­li­chen In­ter­es­se ist. Da­rauf­hin ver­fü­ge man sich all­so­gleich in ein Zim­mer, das nicht ven­ti­liert und voll ver­brauch­ter Luft ist, und ma­che sich dar­an, ir­gend­ein recht ver­wi­ckel­tes Pro­blem durch­zu­den­ken. In ganz kur­z­er Zeit wird man in ei­nem Zu­stand in­tel­lek­tu­el­len Wirr­warrs, wird är­ger­lich und un­ge­dul­dig sein, wird nach dem Hand­greif­lichs­ten schnap­pen und bald aufs Ge­ra­te­wohl Fol­ge­run­gen zie­hen und ver­wer­fen. Man ver­su­che ein­mal, un­ter sol­chen Be­din­gun­gen Schach zu spie­len … man wird schlecht spie­len und die Ge­duld ver­lie­ren. Man ver­su­che, ir­gend et­was zu un­ter­neh­men, was In­tel­li­genz oder Tem­pe­ra­ment er­for­dert … es wird nicht ge­hen.

So krank, so ver­fie­bert war vor der Wand­lung die gan­ze Welt; ge­quält, über­bür­det, ver­wirrt von Pro­ble­men, die sich nicht ein­fach auf­stel­len lie­ßen, die stän­dig wech­sel­ten und der Lö­sung spot­te­ten – eine At­mo­sphä­re, so dumpf und ver­dor­ben, daß kein Atem­ho­len mehr mög­lich war. Ein kla­res Den­ken gab es über­haupt nicht mehr in der Welt. Nir­gends et­was an­de­res als hal­be Wahr­hei­ten, über­eil­te Voraus­set­zun­gen, Hal­lu­zi­na­tio­nen und Auf­re­gung. Nichts …

Ich weiß, dies scheint so un­glaub­lich, daß schon man­che der Jün­ge­ren an der Grö­ße der Wand­lung zu zwei­feln be­gin­nen, die un­se­re Welt durch­ge­macht hat; aber man lese – man lese die Zei­tun­gen aus je­nen Ta­gen. Je­des Zeit­al­ter er­scheint, wenn es in die Ver­gan­gen­heit zu­rück­weicht, un­se­rem Geist ge­mil­dert und ver­edelt. Es ist die Auf­ga­be de­rer, die gleich mir Ge­schich­ten aus je­ner Zeit zu er­zäh­len ha­ben, durch stren­gen Geis­tes­rea­lis­mus ein Ge­gen­mit­tel ge­gen je­nen falschen Schim­mer zu schaf­fen.

IV.

Im­mer war ich der Haupt­red­ner, wenn Par­load und ich zu­sam­men wa­ren.

Ich glau­be, ich kann fast völ­lig un­par­tei­isch auf mich zu­rück­bli­cken; al­les ist so ver­wan­delt, daß ich tat­säch­lich jetzt ein an­de­res We­sen bin, und kaum noch et­was mit je­nem prah­le­ri­schen, tö­rich­ten Bur­schen ge­mein habe, des­sen Küm­mer­nis­se ich hier be­rich­te. Ich sehe ihn vor mir … vul­gär, thea­tra­lisch, egois­tisch, un­auf­rich­tig, und ich emp­fin­de wirk­lich kei­ne Lie­be für ihn, au­ßer je­ner in­stink­ti­ven ma­te­ri­el­len Sym­pa­thie, die die Frucht un­un­ter­bro­che­ner In­ti­mi­tät ist. Weil er ich war, bin ich viel­leicht im­stan­de, ver­ste­hend über Din­ge zu schrei­ben, die ihn die Sym­pa­thie fast al­ler Le­ser kos­ten wer­den; aber wes­halb soll­te ich sein We­sen be­män­teln oder ver­tei­di­gen?

Im­mer, wie ge­sagt, führ­te ich das Wort, und ich wäre maß­los er­staunt ge­we­sen, wenn mir je­mand ge­sagt hät­te, in die­sen wort­rei­chen Zu­sam­men­künf­ten sei die stär­ke­re In­tel­li­genz nicht die mei­ne ge­we­sen. Par­load war ein ru­hi­ger jun­ger Mensch, steif und zu­rück­hal­tend in al­len Din­gen, wäh­rend ich die für jun­ge Leu­te und De­mo­kra­ti­en un­schätz­ba­re Gabe wort­rei­chen Aus­drucks be­saß. Par­load hielt ich im ge­hei­men für ein biß­chen lang­wei­lig; er po­sier­te, so glaub­te ich, als in­ter­essan­ter Schwei­ger und war von dem ver­wand­ten Be­griff der »Ge­lehr­ten-Zu­rück­hal­tung« be­ses­sen. Ich merk­te nicht, daß, wäh­rend mei­ne Hän­de haupt­säch­lich zum Ges­ti­ku­lie­ren und Fe­der­füh­ren taug­ten, Par­loads Hän­de al­les mög­li­che zu­we­ge brach­ten. Ich dach­te also auch nicht dar­an, daß von die­sen Fin­gern aus Fi­bern zu ir­gend et­was in sei­nem Ge­hirn lau­fen muß­ten. Ob­gleich ich fort­wäh­rend mit mei­ner Ste­no­gra­phie, mei­ner Li­te­ra­tur, mit mei­ner Unent­behr­lich­keit in Ra­w­d­ons Ge­schäft prahl­te, hob Par­load nie­mals die Ke­gel­schnit­te und Dif­fe­ren­zi­al­glei­chun­gen her­vor, die er in der Fort­bil­dungs­schu­le »büf­fel­te«. Par­load ist heu­te ein be­rühm­ter Mann, eine große Er­schei­nung in ei­ner großen Zeit, sein Werk über sich schnei­den­de Strah­lun­gen hat den in­tel­lek­tu­el­len Ho­ri­zont der Mensch­heit für alle Zei­ten er­wei­tert; und ich, der ich bes­ten­falls ein in­tel­lek­tu­el­ler Holz­ha­cker, ein Trä­ger des le­ben­di­gen Was­sers bin, ich kann lä­cheln – so wie er lä­cheln kann – bei dem Ge­dan­ken, wie ich ihn im Dun­kel je­ner frü­he­ren Tage be­gön­ner­te, wie ich po­sier­te und schwatz­te.

In je­ner Nacht war ich maß­los schrill und be­redt. Ra­w­don war na­tür­lich die Ach­se, um die ich mich dreh­te, Ra­w­don und der Ra­w­d­on­sche Typ des Ar­beit­ge­bers, und die Un­ge­rech­tig­keit der »Lohns­kla­ve­rei«, und all die un­mit­tel­ba­ren Be­din­gun­gen je­ner in­dus­tri­el­len Sack­gas­se, in die un­ser Le­ben ge­schleu­dert zu sein schi­en. Aber hin und wie­der dach­te ich an an­de­re Din­ge. Net­tie war im­mer im Hin­ter­grund mei­ner Ge­dan­ken und sah mich mit rät­sel­haf­ten Au­gen an. Es ge­hör­te zu mei­ner Pose Par­load ge­gen­über, daß ich ir­gend­wo au­ßer­halb der Sphä­re un­se­res Ver­kehrs eine ro­man­ti­sche Lie­bes­af­fä­re hat­te; und die­ser Ton gab vie­len der un­sin­ni­gen Din­ge, die ich zu sei­nem Er­stau­nen vor­brach­te, einen By­ron­schen An­klang.