9,99 €
Wie Sie den Wochenstart überstehen, auch wenn die Arbeit ruft Ständige Erreichbarkeit, Leistungsdruck, immer weniger Zeit und Einheitsbrei lassen uns die Lust an der Arbeit verlieren. Zähneknirschend begraben wir den Glauben an kreative Entfaltung, unsere Selbstwirksamkeit oder gar Ideelles. Denn "Raus aus dem Hamsterrad" oder "Du musst gar nichts", wie fröhlich propagiert wird, ist leichter gesagt als getan, nicht für jeden die Lösung und für viele klingt es sogar zynisch. Anja Niekerken beantwortet die Fragen, die wir alle uns im Job irgendwann stellen: - Ist es okay, wenn der Job schlicht und ergreifend dem Lebensunterhalt dient? - Was tun, wenn wir uns nach einem Wechsel sehnen, uns aber nicht einfach umorientieren können? - Wie damit umgehen, wenn der Traumjob zum Albtraum geworden ist? In diesem Buch liefert Anja Niekerken praktische Hilfe zur Selbsthilfe gegen Arbeitsübelkeit und ihre Folgen. Klar, alltagstauglich und mit beiden Beinen im Machbaren zeigt sie, wie wir unsere Arbeit neu denken können, was eine erfüllende Tätigkeit ausmacht und welche guten Seiten selbst der blödeste Job bietet.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 266
Anja Niekerken
Erste Hilfe bei Job-Frust
Knaur eBooks
Ein neuer Arbeitstag - und schon dreht es uns den Magen um. Ständige Erreichbarkeit, Leistungsdruck, immer weniger Zeit und Einheitsbrei lassen uns die Lust an der Arbeit verlieren. Zähneknirschend begraben wir den Glauben an kreative Entfaltung, unsere Selbstwirksamkeit oder gar Ideelles. Was aber können wir tun, wenn der Traumjob zum Albtraum geworden ist? Anja Niekerken liefert praktische Hilfe zur Selbsthilfe gegen Arbeitsübelkeit und zeigt, wie wir unsere Arbeit neu denken können, was einen erfüllenden Job ausmacht und welche guten Seiten selbst die blödeste Stelle bietet.
Vorwort
1 Gar nicht so übel! Was Arbeit alles kann
Berufung: Arbeitest du noch oder liebst du schon?
Zugehörigkeit: Dabei sein ist alles
Anerkennung: Schau mal, wie toll ich bin
Status: Schaffste was, dann haste was, dann biste was
Herausforderungen: Helden des Alltags
2 Das kann doch nicht alles sein: Was Arbeit für uns leisten soll
Resonanz: Ohne die anderen kein Ich
Selbstwirksamkeit: Ich wirke, also bin ich
Kreativität: Wie kreativ muss dein Job sein?
Identität: Wenn dein Ego Probleme mit deinem Job hat
Sinn: Darf’s ein bisschen mehr sein?
Persönlichkeit: Die Summe unserer Erfahrungen
Komplexität: Job-Frust trägt Zwiebellook
3 Glück: Von Erfolgssuchern und Misserfolgsvermeidern
Glücksjunkies: Warum Glück süchtig macht
Glück: Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen
Unglück: Traum trifft Alltag
Freiheit: Alles hat seinen Preis
Wirklichkeit: Was wir wahrnehmen, ist nicht die Realität
Fokus: Ich sehe was, was du nicht siehst
Shifting Baselines: Wir sind alle verwöhnte Gören
Gewohnheiten: Der härteste Klebstoff der Welt
Zeit: Das ewige Thema
Prioritäten: Wie verbringst du deine Zeit?
Chefs: Vom Trottel bis zum Arschloch ist alles dabei
Angst: Der unheimliche Chef
Hilflosigkeit: Das bringt doch alles nichts
Veränderung: Wer will, der kann. Oder nicht?
Chronotypen: Von früh bis spät
Stress: Die Dosis macht das Gift
Die andere Wahrheit: Reite deinen Stress
Selbstverantwortung: Den Job kann dir keiner abnehmen
4 Love it, change it or leave it
Glaubenssätze: Glück hat, wer an Glück glaubt
Engagement: Mit Anlauf raus aus der Schafherde!
Und Tschüss: Wenn die Party doof ist, dann geh!
Veränderung: Ein neues Spiel! Ein neues Glück!
Selbstverwirklichung: Vom Irren und Glauben
Auszeit: Schluss mit lustig!
Ursachenforschung: Warum arbeitest du eigentlich?
Eigenverantwortung: Nichts für Feiglinge
Beziehungsstatus: Es ist kompliziert
Erste Hilfe: Ganz einfach eine bessere Beziehung zum eigenen Job aufbauen
Erste Zutat: Interessiere dich für deinen Job
Zweite Zutat: Positive Dinge registrieren und wertschätzen
Dritte Zutat: Finde einen gemeinsamen Sinn
Vierte Zutat: Gute Beziehungen brauchen Freiraum
Fünfte Zutat: Humor hilft
Preisfrage: Warum stehst du jeden Morgen auf? Deine individuelle Antwort ist die Lösung
Nachwort: Heiter weiter
Literatur und Quellen
Wer auf den verschiedenen Social-Media-Plattformen im Internet unterwegs ist, der weiß es längst: Montag ist ein Scheißtag! Egal wie viele Trainer, Lebenskünstler, Speaker und Arbeitsliebhaber vehement dagegen anreden: Die Posts, die uns erklären, warum Montag der schlimmste Tag der Woche ist, bekommen die meisten Likes.
Und als wäre das noch nicht genug, flöten selbst die krankhaft gut gelaunten Morgenshow-Moderatoren spätestens ab fünf Uhr aus Radio und TV in den Orbit: »Es ist Montag! Zeit, sich schlecht zu fühlen!« Und wer sich morgens an der roten Ampel oder in der U-Bahn mal nach rechts und links umdreht, der weiß, dass mit der These »Beruf kommt von Berufung« irgendetwas nicht stimmen kann. Es sei denn, gefühlt 90 Prozent der Erwerbstätigen haben den falschen Beruf …
Und während wir vielleicht noch zweifeln, bekommen wir von Facebook, Instagram und über Google AdWords gezeigt, dass es nur an uns liegt, dass wir mit unserem Beruf nicht zufrieden sind. Zufriedene, glückliche und vor allem erfolgreiche Menschen erzählen uns, dass es praktisch nur an uns liegt, wenn wir mit unserem Job nicht überaus glücklich sind. Da ist etwas dran. Jeder ist schließlich seines Glückes Schmied. Und natürlich kann jeder Mensch seinen Job von heute auf morgen hinschmeißen und in einer Hippiekommune Makramee klöppeln. Wenn das alles nur so einfach wäre. Es gibt nämlich nicht an jeder Ecke Hippiekommunen, die lukrativ Makramee klöppeln.
Zu allem Überfluss kam dann Anfang 2020 auch noch Corona dazu und hat uns gezeigt, wer als »systemrelevant« gilt und wer nicht. Wer plötzlich nicht mehr zur Arbeit durfte oder konnte, sah sich auf einmal einer persönlichen Sinn- und Finanzkrise ausgesetzt, die niemand vorher in dieser Form für möglich gehalten hätte. Auch die nicht, die immer wieder predigten, dass man nur tun müsse, was man liebt, dann würde das Leben es schon richten …
Aber so einfach ist es eben nicht! Lösungen à la »Finde eine Arbeit, die du liebst, und du musst nicht einen Tag mehr arbeiten«, funktionieren eben nicht. Zumindest nicht so einfach. Schon das mit der Liebe ist ja so eine Sache. Mancher findet sie vielleicht gar nicht, und wenn sie dann gefunden ist, währt sie dann ewig?
Natürlich soll Arbeit erfüllend sein, keine Frage. Aber wie sinnvoll ist es tatsächlich, den Werbeillusionen der Beraterindustrie zu folgen und zu hoffen, dass es die eine Tätigkeit gibt, die uns nicht nur glücklich macht, sondern auch noch reich und berühmt? Gern werden Beispiele von unglaublich erfolgreichen Persönlichkeiten bemüht, die am besten anfangs erst mal so richtig fulminant gescheitert sind. Nur um zu zeigen: »Siehst du, lieber Durchschnittsverdiener, es geht eben doch.«
Aber machen wir uns nichts vor: Auch das ist Werbung. Genauso wie eine schillernde Kampagne, in der George Clooney Espresso trinkt oder Claudia Schiffer uns erzählt, dass sie ihre Schönheit ausschließlich dem Wassertrinken verdankt. Der Unterschied zu diesen Kampagnen? Dort haben wir die Werbung bereits mehr oder weniger entlarvt. Bei Aussagen über den Sinn und Unsinn unserer Arbeit fällt uns das hingegen wesentlich schwerer. Das bedeutet nicht, dass wir in unserer Arbeit keinen Sinn und keine Befriedigung finden. Mitnichten! Es bedeutet lediglich, dass wir wieder lernen müssen, Werbeaussagen und Traumbilder von der Realität und dem tatsächlich Machbaren zu unterscheiden. Denn natürlich kann unsere Arbeit uns eine Menge geben – aber nur, wenn wir sie nicht komplett mit Erwartungen überfrachten und aus ihr etwas machen, was sie nicht sein kann.
Aber was ist Arbeit denn tatsächlich? Und ist sie in ihrer Form überhaupt noch zeitgemäß? In einer Gesellschaft, in der jegliches Wissen nur einen Mausklick entfernt ist, wird es nicht einfacher, diese Frage zu beantworten. Im Gegenteil: Es wird schwerer. Denn auch das einen Mausklick entfernte Wissen stürzt ungefiltert auf uns ein. Was ist echt und was nicht? Was ist Wirklichkeit und was nicht? Was ist Wissenschaft, und was ist Philosophie? Was ist von Konzernen lanciert? Und was dient tatsächlich dem Wohl des Einzelnen? Woran können wir glauben? Wonach sollen wir streben? Und wollen wir das überhaupt? Ist das Glück des einen auch gleichzeitig das Glück des anderen?
In den Industrienationen sind wir inzwischen auf dem Weg von einer Wissens- in eine Sinnsuchergesellschaft. Zum einen, weil Wissen eben scheinbar unbegrenzt verfügbar ist. Zum anderen, weil wir es uns schlicht einfach leisten können. Das ist weder gut noch schlecht, es ist eben, wie es ist: Sinnsuche ist ein Luxusphänomen. Von den Menschen, die sich Gedanken um die nächste Mahlzeit machen müssen, kommen die wenigsten in die Verlegenheit, auf Sinnsuche zu gehen. Wer aber satt ist und eine sichere Behausung hat, der hat geistige Kapazitäten frei. Und damit kann die Suche starten. Und natürlich suchen wir nichts, was im Überfluss vorhanden ist oder sich sofort offenbart. Wir suchen das Seltene. Wir wollen das, was nicht jeder hat. Aber was passiert, wenn jeder es will und alle danach suchen? Ist es dann immer noch erstrebenswert? Und was wird dann aus den Heilsverkündern der Sinnsucherindustrie?
Mittlerweile ist auch unsere Arbeitswelt von der Sinnsuche durchdrungen. Wer Sinn in seiner Arbeit findet, ist glücklich. Oder etwa nicht? Dieses Phänomen ist aber gar nicht so neu. Seine Spuren reichen mindestens zurück bis zu Martin Luthers erster Bibelübersetzung aus dem Lateinischen. Wahrscheinlich sogar noch weiter. Aber dazu später mehr.
Heute wird die Sinnsuche mit Leistungsoptimierung verbunden. Klar, wer einen Sinn in seinem Tun sieht, der ist selbstverständlich wesentlich motivierter. Und deshalb entdecken immer mehr Unternehmen den Trend für sich: Wer Leistung will, muss Sinn bieten. Das ist gar nicht so zynisch gemeint, wie es im ersten Moment klingt. Denn wer will heute schon ohne Sinn und Verstand arbeiten?
Von außen betrachtet nimmt die Suche nach der Berufung zum Beruf bisweilen groteske Züge an. Es wird geatmet, sich verbogen und meditiert, um Ruhe vor den eigenen Zweifeln zu haben und um danach das neueste Motivationsmanifest durchzuarbeiten. Immer mit dem Ziel, den Sinn des eigenen Schaffens zu entdecken. Wer nur endlich sein »Warum« klären kann, der kann den richtigen Beruf finden und dem ist ewiges Glück beschieden. Und im besten Falle natürlich auch noch Geld, Ruhm und Prestige. Pragmatisches Zweifeln wäre vielleicht angebrachter. Zweifel an den Versprechungen der Sinnsucherindustrie.
Jim Carrey soll einmal gesagt haben, dass er sich wünsche, dass jeder reich und berühmt werden könnte, damit jeder sehen könnte, dass das eben nicht die Lösung ist. Ironisch, wie ausgerechnet dieser Jim Carrey auf der anderen Seite als leuchtendes Vorbild gilt für: »Wenn du tust, was du liebst« und so weiter … Aber das ist es doch, oder? Jim Carrey liebt seinen Job und ist deshalb so erfolgreich und doch wohl auch glücklich. Oder etwa nicht?
Wie so oft im Leben ist an beiden Sichtweisen etwas dran. Natürlich ist es erfüllend, einer Berufung zu folgen. Es kann allerdings auch genauso erfüllend sein, einfach einem Job nachzugehen und nach Feierabend seinem Herzen Raum zu geben. Das eine ist nicht besser als das andere. Aber wir lassen uns weismachen, es wäre so. Beides hat seine Berechtigung und ist erfüllend, solange wir nicht mit unserer Wahl hadern.
Mir persönlich gefällt eine Mischung aus beidem am besten! Warum nicht nach den Sternen greifen? Ein sinnvoller Job und ein erfüllender Feierabend – das ist die Mischung, aus der meine Träume sind. Allerdings ist mir dabei eines völlig klar: Auch der tollste, sinnvollste Job hat seine Schattenseiten. Genauso wie die Freizeit. Die Kunst ist es, die Sonnenseiten wertzuschätzen und der dunklen Seite nicht zu viel Raum zu geben.
Bevor wir überhaupt mit einer »Ersten Hilfe bei Job-Frust« starten können, brauchen wir Wissen. Denn unser Wissen verhindert auch, dass wir bei gesundheitlichen Problemen falsche Behandlungen vornehmen, also bei einem Schnupfen den linken Arm schienen oder bei einer Mittelohrentzündung Sitzbäder machen. Da es sich bei Job-Frust zunächst einmal um ein gedankliches Problem handelt, ist es meiner Ansicht nach mehr als sinnvoll, sich mit der eigenen Gedankenwelt zu befassen. Was denke ich überhaupt über meine Arbeit? Und welche unbewussten Mechanismen bereiten mir Unwohlsein, die mir so gar nicht klar sind? Wer auf diese Fragen Antworten hat, der hat schon seine eigenen Erste-Hilfe-Maßnahmen gefunden und kann sie nutzen. Denn Probleme, die im eigenen Kopf beginnen, kann jeder nur selbst dort anfangen zu lösen.
Bereit? Na, dann wollen wir mal loslegen! Stell dir vor, du sitzt an einem Strand. du hörst, wie die Wellen sanft und regelmäßig auf den Sand rollen. Ein warmer Wind streicht dir über das Gesicht, und du spürst, wie die Sonne deinen Rücken wärmt. Angenehm, nicht wahr? Klar. Das sind auch alles angenehme Worte: Sonne, Strand, Meer, Wärme. Worte, mit denen wir positive Vorstellungen verbinden. Niemand denkt bei diesen Worten an seinen ersten Sonnenbrand auf dem Rücken, der so schlimm war, dass die Haut Blasen geworfen hat und Nachtruhe auf dem Rücken unmöglich war. Und es denkt auch niemand daran, wie ätzend Salzwasser in der Nase brennt, wenn man es einatmet, oder wie es in den Augen schmerzt, wenn man dummerweise versucht hat, mit offenen Augen zu tauchen.
Was hat das nun alles mit dem Thema »Arbeit« zu tun? Theoretisch könnten wir über Arbeit genauso positiv denken wie über den Urlaub. Die Frage ist nur, welche Assoziationen wir zuerst im Kopf haben. Ist es die erfüllende Aufgabe, der wir nachgehen? Sind es die Flow-Erlebnisse, die uns Zeit und Raum um uns herum vergessen lassen? Das nette Gespräch mit dem Kollegen auf dem Flur? Nette Menschen, die wir ohne die Arbeit gar nicht kennenlernen würden? Warum denken wir nicht so?
Gehen wir zunächst ein Stück in der Geschichte zurück: zu Martin Luther. Luthers Vermächtnis war nicht nur eine reformierte Kirche. Ihm haben wir auch eine der ersten Bibelübersetzungen zu verdanken. So weit, so gut. Was hat das jetzt mit unserer Arbeit zu tun? Sehr viel, denn Luther hat dem Begriff »Beruf« in der deutschen Sprache die Bedeutung gegeben, die dieser noch heute für uns hat. Seine These: Beruf kommt von Berufung. Und vor allem: Es gibt einen Beruf. Das war Ende des Mittelalters überhaupt nicht selbstverständlich. Leibeigenschaft war vollkommen normal, in vielen Ländern sogar Sklaverei. Und außer bei den geistlich Berufenen gab es die Idee der Selbstverwirklichung und davon, einer inneren Stimme zu folgen, nicht.
Margot Käßmann schreibt als Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017 dazu in der Einleitung des in diesem Zusammenhang entstandenen Themenheftes: »Martin Luthers These aber, dass der Beruf in der Welt die Berufung des Menschen ist, war zu seiner Zeit eine Befreiung. Bis dahin galt allein das zölibatäre Leben im Kloster als gutes Leben vor Gott. Der Reformator macht deutlich: Jeder Mensch hat eine Gabe, damit eine Begabung. Diese einzubringen für das Gemeinwohl meint verantwortlich leben vor Gott. Dabei ist die Magd, die den Besen schwingt, nicht weniger wert als der Fürst, der das Land regiert.«1
Ist das nun gut oder eher nicht? Zu Luthers Zeit hatte die Idee der Gleichstellung aller Menschen vor Gott durchaus etwas Beflügelndes. Aber gilt das heute noch? Außerdem gibt es nicht mehr so viele Menschen, die die Kirche als vordenkende Instanz wahrnehmen, geschweige denn akzeptieren.
»Freiheit braucht Bewusstsein. Bewusstsein ist immer der erste Schritt.«
Ob gut oder schlecht, das ist in unserem Zusammenhang zunächst auch nicht die Frage. Wichtig ist, dass uns klar wird, woher die Idee stammt, dass Beruf eigentlich von Berufung kommt, und warum sie in unseren Köpfen so fest verankert ist. Wir sind so sozialisiert. Und von unserer Sozialisation können wir uns nur bedingt frei machen. Erst dann, wenn wir uns unserer Sozialisation bewusst werden. Freiheit braucht Bewusstsein. Bewusstsein ist immer der erste Schritt.
Beruf oder Berufung? Oder beides zugleich? Woher kommt eigentlich die Trennung? Warum sprechen wir von einer Work-Life-Balance? Ist das Leben an sich überhaupt teilbar?
Um uns den Antworten auf diese Fragen anzunähern, hilft es, in der Geschichte ein ganzes Stück zurückzureisen. Wie wäre es mit rund 20000 Jahren? In der Dordogne in Frankreich liegt die berühmte Höhle von Lascaux, die auch als »Sixtinische Kapelle der Steinzeit« bekannt ist. In verschiedenen Höhlengewölben sind verschiedene Tier- und Jagdszenen mit bemerkenswerter Kunstfertigkeit abgebildet. Pferde, Stiere, Hirsche und diverse Fabelwesen schmücken die Wände und die Decken. Erst 1940 entdeckt, gibt die Höhle den Forschern bis heute Rätsel auf. Waren die damaligen Höhlenbewohner schon »Schöner Wohnen«-Enthusiasten? Oder ging es ihnen ganz konkret um eine Gebrauchsanweisung zur Jagd? Die Deutungen der Experten reichen von religiösen Darstellungen bis hin zu einer steinzeitlichen Deutung des Kosmos.2
Inhaltliche Bedeutung hin oder her, die eigentliche Frage hier lautet: Handelte es sich dabei um Arbeit oder um Freizeitgestaltung? Waren die Menschen zu diesem frühen Zeitpunkt der Zivilisation überhaupt in der Lage, eine solche Unterscheidung zu treffen? Gehen wir doch davon aus, dass Freizeitgestaltung ein Luxusgut ist und eben genau dieses Luxusgut in einer Zeit, in der der Mensch nicht wirklich in Saus und Braus lebte, theoretisch nicht existieren dürfte. Aber vielleicht war es ja Arbeit. Wenn es sich tatsächlich um jagdliche Anweisungen handelt, dann sind die Höhlenmalereien von Lascaux nichts anderes als die ersten Arbeitsanweisungen der Welt.
Natürlich ist uns klar, dass unsere Vorfahren als Jäger und Sammler gearbeitet haben. Allerdings eben »nur« für ihr Überleben. Jagdgesellschaften formierten sich. Frauen sammelten, was Wald und Steppe hergaben, und verarbeiteten Tierfelle zu Kleidung. Alles Arbeiten war aus der Notwendigkeit heraus geboren. Was aber, wenn die Malereien von Lascaux nicht aus einer Notwendigkeit heraus geboren wurden? Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass bereits damals die Menschen auf der Suche nach einem höheren Sinn waren.
Im türkischen Şanlıurfa steht ein weiteres beeindruckendes Zeugnis menschlicher Schaffenskunst, welches die Frage nach dem »Warum« aufwirft. Göbekli Tepe gilt als ältester Tempel der Welt. Irgendwelche Marketing-Spaßvögel haben dem Monument die Bezeichnung »türkisches Stonehenge« gegeben. Ob passend oder nicht, sei einmal dahingestellt. Joachim Bauer – Neurobiologe, Mediziner und Bestsellerautor – und der Grabungsleiter Klaus Schmidt sind sich einig: Göbekli Tepe ist womöglich das erste Dokument beziehungsweise Monument menschlicher Arbeit in dem Sinne, wie wir Arbeit heute verstehen.3 Im Vergleich zur Höhle von Lascaux bedurfte es in Göbekli Tepe vermutlich etwa 10000 Jahre später einer gemeinsamen, koordinierten Anstrengung von mindestens 100 bis 200 Menschen – und das über einen längeren Zeitraum. Aus dieser Perspektive heraus wird schnell klar: Das hat sicherlich nicht immer Spaß gemacht. Also muss es Arbeit sein.
Die Entstehung des Monuments fällt in einen für das Thema »Arbeit« besonderen Zeitraum, den wir heute als neolithische Revolution bezeichnen. In diesem Zeitraum entwickelte sich der Mensch vom umherziehenden Jäger und Sammler zum sesshaften Bauern. Gesellschaftlich ein dramatischer Wandel, denn alles ändert sich nun für jeden. Ackerbau setzt Sesshaftigkeit voraus und damit auch eine größere Gemeinschaft und Arbeitsteilung. Es macht keinen Sinn mehr, wenn jeder Einzelne für alle Notwendigkeiten des Ackerbaus selbst sorgen muss. Also hielt auch die Arbeitsteilung Einzug und damit die ersten Berufe. Ob zu diesem Zeitpunkt der Beruf schon von Berufung abgeleitet war, wie wir es im heutigen Sinne verstehen, sei einmal dahingestellt. Wir können auf jeden Fall davon ausgehen, dass die Notwendigkeit immer noch eine der größten Triebfedern war. Das Erstaunliche: Schon lange vorher hatten die Menschen das Bedürfnis, über die reine Notwendigkeit hinaus tätig zu werden, indem sie schon als Jäger und Sammler Monumente wie Göbekli Tepe schufen. Sinnsuche und Selbstverwirklichung scheinen Grundbedürfnisse des Menschen zu sein. Dazu aber später mehr.
Zunächst können wir davon ausgehen, dass der Mensch zu dieser Zeit nicht grundsätzlich zwischen Beruf und Berufung im lutherischen Sinne trennte. Das ist eine ziemlich neue Entwicklung und hat wohl mit Luthers bereits beschriebener Berufungsidee zu tun. Darüber hinaus gab es so etwas wie freie Berufswahl über lange Phasen der Menschheitsgeschichte auch gar nicht. Leibeigenschaft und Zünfte bestimmten im Mittelalter, wer was zu tun und zu lassen hatte. Berufe wurden vererbt. Dass ein Müllerssohn Zimmermann wurde, war nicht vorgesehen. Was aber wiederum nicht bedeutet, dass die Arbeit nicht sinnstiftend war. Wussten Müller, Zimmermann und Bäcker doch noch genau um den Sinn ihrer Arbeit für die Gesellschaft. Sie konnten ihn ja gewissermaßen beobachten.
Schon beim Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung der Arbeit fällt auf, dass es gar nicht so einfach ist, eine klare Trennlinie zwischen beglückender, sinnstiftender Arbeit und der notwendigen, die Existenz und den Lebensstandard sichernden Arbeit zu ziehen. Und nicht nur das: Das passende Vokabular zu nutzen, ohne ständig Verwirrung zu stiften, fällt auch nicht so leicht. Denn erstaunlicherweise ist das Wort »Arbeit« positiv besetzt. Das Verb »arbeiten« jedoch nicht. Und obwohl wir Deutschen den Ruf haben, sehr genau und präzise zu sein, sind wir in unserem Sprachgebrauch zuweilen recht schwammig. Job, Arbeit, Beruf, Berufsbild … Okay, wir haben alle ungefähr im Kopf, was damit gemeint sein dürfte, aber genau das lässt unglaublich viel Spielraum für Interpretation und Stolperfallen.
Häufig wird unter dem Begriff »Job« die Tätigkeit verstanden, die dazu dient, den Lebensunterhalt zu sichern und damit die Grundbedürfnisse zu befriedigen: Essen, Kleidung und Wohnraum. Redewendungen wie »Das ist dein Job« deuten darauf hin, dass es sich um die wesentlichen Tätigkeiten einer Arbeit handelt. Studenten jobben, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Und der Teilzeitjob bessert das Familieneinkommen auf. Wenn es darum geht, die angenehmen Aufgaben einer Arbeit auszuführen, wird die Bezeichnung »Job« eher selten genutzt. Allerdings nutzen wir die Bezeichnung auch, um die schönen Aspekte zu beschreiben, wenn wir von einem »coolen Job« sprechen.
Erstaunlicherweise ist die Bezeichnung »Beruf« in der gesprochenen Sprache inzwischen in den Hintergrund gerückt. Zum einen sicherlich dem wachsenden Anteil von Anglizismen in unserem Sprachgebrauch geschuldet, vielleicht aber auch, weil das Wort immer noch im lutherischen Sinne verdächtig nach Berufung klingt und wir damit häufig nicht mehr so viel anfangen können. Auf Partys fragt niemand: »Und? Welchen Beruf hast du?« Da geht es eher in die Richtung: »Und? Was machst du so?«
Was die sprachliche Klarheit betrifft, haben es angloamerikanische Psychologen etwas leichter. Sie unterscheiden zwischen Job, Career und Calling. Der Job zahlt die Miete und den Lebensunterhalt. Die »Career« ist die Karriere. Hier schwingt bereits eine Idee von Selbstverwirklichung im Sinne von Statuserwerb mit. »Calling« schließlich ist das, was wir unter Berufung verstehen, frei von der Belastung durch den Job. Das Spannende an dieser Unterscheidung ist, dass alle drei Begriffe beziehungsweise Kategorien problemlos nebeneinander existieren können. Und nicht nur das, sie können sich auch vereinen. Sie müssen es aber nicht. Es ist in diesem Denkmodell durchaus möglich, Karriere zu machen und nach Status und mehr Selbstbewusstsein durch berufliche Stellung zu streben, ohne einer höheren Berufung zu folgen. Das mag im ersten Moment verwerflich klingen, ist es aber zunächst einmal nicht. Wir haben nur das ungute Gefühl, dass eine Karriere ohne Berufung, ohne ein höheres »Warum«, böse Folgen haben könnte. So ganz unberechtigt ist diese Sorge am Ende auch nicht. Allerdings führt Karriere um der Karriere willen nicht gleichzeitig zu verantwortungslosem Handeln. Und es befeuert es auch nicht! Es wird nur in den Medien oft so dargestellt. Karriere kann im eigenen Erleben auch Spaß machen. Kleiner Exkurs: Das Wort Karriere stammt übrigens aus der Reiterei. Die Carrière bezeichnet einen Sprung, den das Pferd mit seinem Reiter ausführt, wenn Pferd und Reiter ein sehr hohes Niveau erreicht haben. Daher auch die Redewendung »Karrieresprung«.
Es ist also keineswegs abwegig, tagsüber Karriere zu machen und nach Feierabend seiner Berufung nachzugehen. Und es ist auch nicht verwerflich. Für eine Führungskraft, die mit so einer Aufteilung gut zurechtkommt, wird es schwierig, den eigenen Mitarbeitern ein »Warum« für den täglichen Job mit auf den Weg zu geben. Trifft sie auf einen Mitarbeiter, für den das »Warum« wichtiger ist als die Karriere, dann sind Konflikte vorprogrammiert. Was unsere innersten Antriebe sind, das kann man leider nicht verallgemeinern. Denn Antriebe gibt es so viele wie Sand am Meer, und alle haben ihre individuelle Berechtigung. So ist es auch völlig legitim, dass es Menschen gibt, denen Status und gesellschaftliche Stellung völlig egal sind. Sie folgen ihrer Berufung. Und dieser Drang ist bei ihnen so stark, dass auch Entbehrungen sie nicht schrecken. Die minimalen Grundbedürfnisse der Existenzsicherung müssen gedeckt sein, aber alles Weitere wird dem »Calling«, der Berufung untergeordnet.
Das ist ja alles schön und gut, aber wie kriege ich nun heraus, was ich will? Vielleicht will ich gerne meiner Berufung folgen. Aber mit der Berufung ist das so eine Sache. Sie zeigt sich nicht mal so eben.
Zum Einstieg in die Selbstanalyse sollte man sich die Frage »Was will ich« in den folgenden drei verschiedenen Ausprägungen stellen:
WAS will ich?
Was WILL ich?
Was will ICH?
Was also willst du? Was brauchst du? Was bist du? Job, Career oder Calling? Gar nicht so einfach zu beantworten. Es geht schließlich um die Frage, warum wir mit unserer Arbeit so auf Kriegsfuß stehen. Aber vielleicht lassen wir die Frage, auch wenn es nicht um sie geht, ein wenig mitschwingen. Schließlich sind wir ja doch auf irgendeine Art und Weise immer auf Sinnsuche. Zumindest, was unsere Arbeit betrifft.
Die Frage »Wer bin ich?« kommt einem bei dem Titel dieses Buches vielleicht nicht als Erstes in den Sinn. Aber sie ist durchaus legitim. Warum? Ganz einfach. Denk einmal ganz kurz an die letzte Gelegenheit, bei der du jemanden kennengelernt hast. Nachdem die Namensfrage geklärt war, was kam dann so ziemlich als Nächstes? Abgesehen vom nächsten Getränkewunsch. In der Regel wollen wir von unserem Gegenüber wissen, was sie oder er tagsüber so treibt. Im Sinne von: »Und? Was machst du so?« Warum? Wir sind doch nicht unser Beruf oder unser Job. Oder etwa doch? Wir identifizieren uns zumindest ein Stück weit über unsere Arbeit, unseren Job, unseren Beruf.
Es macht einen Unterschied, ob ich beim ersten Kennenlernen sage, dass ich Fremdsprachensekretärin, Grafikerin oder Krisenmanagerin in der Finanzdienstleistung bin. Übrigens alles Berufe, die ich selbst gelernt oder ausgeübt habe. Daher kann ich aus eigener Erfahrung berichten, dass auf jede dieser Berufsbezeichnungen eine vollkommen andere Reaktion folgt.
Wir werden anhand des Berufes, den wir ausüben, einer ersten Bewertung unterzogen. Ob wir wollen oder nicht. Es wird geschätzt, zu welcher Gruppe wir so ungefähr gehören: Bildungsbürgertum, vielleicht sogar schon etwas darüber, Mittelschicht oder eher darunter. Sozialpädagogen und Künstler haben nach meiner Lebenserfahrung weiterhin eine andere politische Meinung als Banker und Versicherungsfachwirte.
Wenn du noch Zweifel hast, dass es so ist, dann mach dir doch bei der nächsten Party den Spaß und antworte auf die Frage »Und, was machst du so?« mit deinen bevorzugten Freizeitaktivitäten oder damit, welches Buch du gerade liest. Das wird garantiert sehr unterhaltsam werden.
Es ist selbstverständlich nicht nur die berufliche Gruppe, zu der wir durch unser tägliches Tun gehören. Unsere Arbeit leistet noch wesentlich mehr. Sie stellt durch ihre monetäre Komponente auch sicher, dass wir zum Beispiel zur Liga der Gartenliebhaber, Surfer oder Harleyfahrer gehören können. Und sie gibt uns täglich das Gefühl, zum größeren Ganzen unserer Firma und auch gesellschaftlich dazuzugehören. Okay, zugegebenermaßen vielleicht mehr oder weniger stark.
Damit ist klar: Zugehörigkeit hat viele Facetten. Das ist nun nicht weiter neu. Die Frage ist doch vielmehr: Warum ist uns Zugehörigkeit so wichtig, obwohl uns das im ersten Moment nicht unbedingt offensichtlich erscheint? Wir sind doch eigentlich eher Individualisten. Oder etwa nicht? Nein, sind wir nicht. Wir haben 98,7 Prozent unserer Gene mit Schimpansen gemeinsam, wie eine Studie von Forschern des Max-Planck-Instituts ergab.4 So unangenehm das schon manchen erscheinen mag, es ist noch schlimmer: Unsere Gene machen aus uns Herdentiere. Und was braucht ein Herdentier mehr als alles andere auf dieser Welt? Genau: Seine Herde oder Zugehörigkeit. Und selbst wenn wir es noch so sehr wollten: Wir können keine einsamen Helden sein, denn unser Unterbewusstsein und unser Hormonhaushalt sind nicht auf »Einzelgänger«, sondern auf »Horde« gepolt.
Verantwortlich für unseren Drang nach Zugehörigkeit ist das Hormon Oxytocin, auch Kuschelhormon genannt. Während der Geburt werden Mutter und Kind mit Oxytocin geflutet. So sorgt das Hormon dafür, dass Mutter und Kind sofort nach der Geburt ein übermäßig starkes Gefühl der Verbundenheit spüren. Vor allem bei der Mutter. Sehr schlau von der Natur eingefädelt, denn so ist dafür gesorgt, dass die Mutter alles für den hilflosen Säugling tun wird. Schreit das hungrige Baby, ist bei Mama wieder Oxytocin am Start. Auch ein Grund, warum viele Frauen das Stillen als besondere Verbundenheit mit ihrem Kind empfinden. Oxytocin hat aber auch noch eine Reihe anderer Wirkungen, die direkt oder indirekt auf unsere sozialen Bindungen wirken und unser Sozialleben maßgeblich beeinflussen. Es festigt soziale Bindungen, fördert Vertrauen und den Abbau von Aggressionen und erhöht sogar die Bereitschaft, Fehler von Mitgliedern der eigenen sozialen Gruppe zu verzeihen. Wir brauchen soziale Gruppen wie der Fisch das Wasser. Und ob wir es nun mögen oder nicht: Unser Arbeitsplatz stellt eine sehr stabile soziale Gruppe dar. Diese ist zwar anstrengend, weil wir sie nicht so ohne Weiteres verlassen können und wollen, aber genau aus diesem Grund bietet sie ein hohes Maß an Verlässlichkeit.
Um noch einmal auf das Oxytocin zurückzukommen: Das Hormon ist der Gegenspieler des Stresshormons Cortisol und damit an Stressabbau beziehungsweise -vermeidungsreaktionen maßgeblich beteiligt. Mit anderen Worten: Arbeit verursacht nicht nur Stress. Sie kann ihn sogar reduzieren! Klar, denn sie kann sozialen Stress vermindern.
Laut einer 2011 erschienenen Gemeinschaftsstudie von Universitäten aus Freiburg, Singapur und Jerusalem beeinflusst das Oxytocin-System unsere sozialen Interaktionen in Stresssituationen.5 In der Untersuchung wurden männliche Probanden unter Stress gesetzt. Die Probanden sollten die Situation entweder allein oder mithilfe ihrer Partnerin lösen. Das Ergebnis gab den Forschern Anlass zu der These, dass Oxytocin-Systeme soziales Verhalten beeinflussen und so Stress abbauen. Was in Form der berühmt-berüchtigten Bedürfnispyramide nach Abraham Maslow durch diverse Führungskräfteschulungen geistert, wird durch aktuelle Studien untermauert. Dank der heutigen Forschung wissen wir nun auch so einigermaßen, warum »Zugehörigkeit« einer unserer Motivatoren ist: Aufgrund von Oxytocin. Und unser Gehirn findet Oxytocin unheimlich schick. Denn wenn wir uns verbunden fühlen, dann kommen in der Regel auch die Freunde von Oxytocin zur Party im Hirn: Serotonin, Dopamin und Endorphine.
Wir wollen dazugehören. Was passiert, wenn wir nicht dazugehören beziehungsweise ausgegrenzt werden, ist hinlänglich bekannt: Wir werden krank. Mobbing und seine Folgen verdeutlichen im negativen Sinn, wie wichtig Zugehörigkeit für Menschen ist. Der Mobbing-Report von 2002 zeigt deutlich, was passiert, wenn Menschen die Zugehörigkeit entzogen wird. Eine schriftliche Befragung zum Thema Mobbing ergab, dass unter den Auswirkungen Demotivation (71,9 Prozent), Leistungs- und Denkblockaden (57 Prozent), vermehrtes Fehleraufkommen (33,5 Prozent) sind. Und die Folgen sind noch viel weitreichender. Ausgrenzung macht krank. So zeigt der Report, dass bei einer telefonischen Befragung 43,9 Prozent angaben, in Folge des Mobbings mit Krankheiten gekämpft zu haben.6
Aber Mobbing ist nur die Spitze des Eisberges. Was passiert, wenn wir unseren Job, unsere Arbeit ganz verlieren? Diese Angst ist so mächtig und so erschreckend, dass wir bereit sind, so einiges zu ertragen. Mit anderen Worten: Unsere Arbeit bewahrt uns vor sozialem Abstieg. Sie hält uns in unserer Gruppe.
Ein Erlebnis, welches ich Trainingsteilnehmern in diesem Zusammenhang immer wieder erzähle, hat mich besonders bewegt. Dachte ich doch, so etwas gäbe es nur im Film. Als ich noch ganz frisch in der beruflichen Weiterbildung unterwegs war, telefonierte ich mehrfach mit einem Vertriebsgeschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens. Wir verabredeten uns für ein erstes Kennenlernen in einem Café bei mir in der Nähe, da er zu diesem Zeitpunkt in der Gegend war. Es war ein sehr angenehmes Gespräch, und wir verblieben so, dass ich ihm per E-Mail eine Zusammenfassung unseres Treffens schicken würde und dass wir dann im nächsten Jahr eine gemeinsame Trainingsreihe aufsetzen würden. Am gleichen Abend habe ich noch alles fertig gemacht und abgeschickt. Am folgenden Tag rief mich die Assistentin der Geschäftsführung an und teilte mir mit, dass mein Gesprächspartner seit zwei Monaten nicht mehr für das Unternehmen tätig sei …
Ich war total perplex, hatte ich doch am Tag zuvor noch mit ihm gesprochen, und überhaupt nichts deutete darauf hin, dass er nicht der wäre, für den ich ihn hielt. Ich kann bis heute immer noch nicht ganz glauben, was damals tatsächlich passiert ist. Ich war live und in Farbe in einem dieser Hollywoodstreifen, in denen Anwälte oder Banker seit Wochen keinen Job mehr haben, aber jeden Morgen geschniegelt und gebügelt das Haus verlassen, um abends rechtzeitig zum Abendessen wieder nach Hause zu kommen. Alles aus Angst vor dem Gesichtsverlust. Alles aus Angst, nicht mehr dazuzugehören … Jetzt wirst du vielleicht denken: Aber ich würde nicht so reagieren. Tatsächlich ist es gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir so komische Dinge tun, wenn wir uns ausgeschlossen fühlen oder Angst haben, nicht mehr dazuzugehören.
Im Oktober 2003 veröffentlichten Naomi I. Eisenberger und Matthew D. Lieberman, beides Experten für soziale Neurowissenschaften, gemeinsam mit dem Sozialpsychologen Kipling D. Williams ihre Studie »Does rejection hurt?« im renommierten Science Magazin.7 Die Wissenschaftler untersuchten, was im Gehirn abläuft, wenn Menschen sich ausgeschlossen fühlen. Hierfür entwickelten sie in ihrer Studie ein virtuelles Ballspiel für drei Strichmännchen. Ein Strichmännchen wurde vom Probanden gesteuert, während zwei Strichmännchen computergesteuert waren. Während des gesamten Spielverlaufs lagen die Probanden im Magnetresonanztomografen (fMRT). Die Versuchspersonen gingen übrigens davon aus, über ein Netzwerk mit echten Personen zu spielen. Anfangs erschien das Spiel völlig normal. Die Strichmännchen warfen sich untereinander fröhlich den Ball zu, und der Proband war vollkommen in das Spiel integriert. Irgendwann änderte sich allerdings das Spiel, und die Versuchsperson bekam den Ball eine ganze Weile überhaupt nicht mehr zugespielt. Sie wurde aus dem Spiel ausgeschlossen und konnte nur noch zusehen.