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Die wahre Geschichte eines Pflegekindes auf einem Bergbauernhof Mitfühlend und Mut machend erzählt Spiegel-Bestseller-Autorin Hera Lind in ihrem Tatsachenroman »Im Namen der Barmherzigkeit« das Schicksal von Steffi, die Furchtbares durchgemacht hat. Aber zum Schweigen hat sie sich nicht bringen lassen. Im Namen der Barmherzigkeit nimmt die steirische Bauernfamilie Kellerknecht jedes Jahr ein Pflegekind auf. So kommt die knapp dreijährige Steffi in den Siebzigerjahren auf den abgelegenen Bauernhof. Zwischen den anderen Pflegekindern lernt sie schnell, dass sie für ihre kargen Mahlzeiten und das Etagenbett in der Dachkammer hart schuften muss, und zwar barfuß. Ab ihrem neunten Lebensjahr wird Steffi vom Bauern regelmäßig missbraucht. Mit fünfzehn ist sie schwanger und wird in ein Kloster abgeschoben, wo sich barmherzige Nonnen um ledige junge Mütter kümmern. Steffi will ihrem Kind eine bessere Kindheit bieten und macht sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter… Ein berührendes Schicksal über ein verdrängtes Kapitel unserer Geschichte Was Steffi zugestoßen ist, war auch kein Versehen: Bis in die 80er-Jahre hinein wurden Heimkinder systematisch bei verarmten Bauern untergebracht – nicht nur in Österreich. Bestseller-Autorin Hera Lind gibt in ihrem Tatsachenroman mit Steffi stellvertretend Tausenden Kindern eine Stimme.
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Seitenzahl: 565
Veröffentlichungsjahr: 2024
Hera Lind
Roman nach einer wahren Geschichte
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Ein einsam gelegener Bauernhof in der Steiermark wird 1970 zum neuen »Zuhause« der 2-jährigen Steffi: Das Wiener Jugendamt überlässt sie dem Bauern als Pflegekind. Von klein auf muss Steffi für ihre kargen Mahlzeiten schuften, ein eigenes Bett bekommt sie nicht, und auch keine Schuhe. Dafür sind die Strafen für kleinste Vergehen drakonisch. Ab ihrem neunten Lebensjahr wird Steffi regelmäßig missbraucht. Als sie schwanger wird, mobilisiert sie ihr letztes bisschen Widerstandskraft: Steffi läuft dem Bauern davon, flüchtet sich in ein Kloster. Jetzt, denkt sie, habe ihr Alptraum ein Ende. Doch niemand will ihr zuhören – und glauben schon gar nicht. Trotzdem gibt Steffi nicht auf …
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Wien, Hospital der Barmherzigen Schwestern
Zentrales Kinderheim Wien
Rennau in der Steiermark, Dorfkirche St. Josef
Ein einsamer Hof in der Steiermark
Ein einsamer Hof in der Steiermark
Graz
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau, Kellerknecht-Bauernhof
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Gemeindehaus bei der Kirche
Holzöd in der Rennau, Kellerknecht-Bauernhof
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau
Tschanigraben, kleinstes Dorf in der Steiermark
Holzöd in der Rennau
Holzöd in der Rennau, im Dorf
Holzöd in der Rennau
Graz, psychiatrische Klinik
Graz, Gerichtsgebäude
Graz, psychiatrische Klinik
Graz, in der Sparkasse
Wien Westbahnhof
Hollabrunn
Im Landbus von Hollabrunn nach Wien
Wien
Wien
Wien
Wien
Wien
Wien
Klosterneuburg bei Wien
Salzburg
Wien
Graz
Klosterneuburg bei Wien
Nachwort Hera Lind
Nachwort von Steffi
Nachwort von Karin Winkler
1. Juli 1972
Nebenan gibt’s erst mal Frühstück. Du brauchst gar nicht so zu hetzen.«
Die Hebamme vom Nachtdienst bereitete in der Schwesternküche frischen Filterkaffee für die Morgenbesprechung zu. Müde wischte sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte klirrend die Tassen auf den Tisch.
»Oh, ich wollte nicht unpünktlich sein.« Karin, die Neue, zog hastig ihre Jacke aus. Sie war angehende Ärztin im Praktikum. »Ich bin mit dem Fahrrad da.« Sie grinste entschuldigend.
»Macht nichts. In der Ruhe liegt die Kraft.« Die Hebamme machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, die röchelnd vor sich hin gurgelte. »Der Tagdienst wird frische Semmeln mitbringen.«
»Wunderbar!« Aufatmend ließ Karin Winkler ihre Umhängetasche gegen die Wand gleiten, wusch sich die Hände und sank auf einen Holzstuhl im Aufenthaltsraum. »Es ist so eine heimelige Atmosphäre bei euch hier in Wien! Ich bin sehr froh über die Praktikumsstelle!« Sie drehte sich ihre Haare zu einer lässigen Aufsteckfrisur und lehnte sich behaglich zurück.
Anneliese, die Nachthebamme, lächelte mütterlich und legte Karin die Hand auf die Schulter.
»Es geht uns im Kollegium nichts über ein gemeinsames Wiener Frühstück mit Marillenmarmelade und Honig.« Sie schenkte der Neuen Kaffee ein. »Es fällt nur aus, wenn eine Gebärende gerade in Presswehen liegt.«
»Was gerade nicht der Fall zu sein scheint. Wiener Frühstück klingt fantastisch.« Karin blies vorsichtig in ihre Kaffeetasse, die man hier in Wien liebevoll »Kaffeehäferl« nannte. »Wie war die Nacht?«
»Ruhig.« Anneliese setzte sich zu ihr. »Um fünf in der Früh ist allerdings die Frau Krippentrog eingeliefert worden.« Sie blies eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die einfach nicht unter dem weißen Häubchen bleiben wollte. »Ich schätze, das Baby wird in weniger als drei Stunden da sein.«
Die Tür flog auf, und Anneliese nahm freudig die Tüte mit frischen Semmeln entgegen, die die Kollegin von der Tagesschicht gerade hereinbrachte.
»Grüß dich, Conny. Komm erst mal an. Was kriegst?«
»Passt. Nächste Woche bist du dran mit Semmeln-Besorgen.«
Conny putzte sich die Nase und schnupperte an der Kaffeemaschine. »Ah, göttlich. Wie war die Nachtschicht?«
»Ich erzähle der Neuen gerade von Frau Krippentrog.« Anneliese zog bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch, bis sie fast unter ihrem Häubchen verschwanden.
»Oje.« Conny schälte sich aus ihrem Anorak und verdrehte die Augen. »Die schon wieder.«
»Was ist mit der?« Karin biss beherzt in eine knackfrische Semmel, die sie zuvor mit Marillenmarmelade bestrichen hatte. »Sind Komplikationen zu erwarten?«
Die beiden erfahrenen Hebammen wechselten einen vieldeutigen Blick.
»Komplikationen in dem Sinne nicht. Also, sie hat bereits Übung im Gebären. Das wird ihr Siebtes.«
Karin nahm noch einen Schluck Kaffee und sah die beiden fragend an. »Aber …?«
»Alle Geburten sind glattgegangen. Da musst du keine Bedenken haben, aber …« Anneliese griff in das Brotkörbchen, das Conny ihr reichte, und wählte nach einigem Zögern ein Nusskipferl. »Ist ja wurscht. Ich könnte es mir auch direkt auf die Hüfte klatschen, aber so schmeckt es besser. – Aber …«
»Was aber?« Karin hielt mit dem Kauen inne.
Anneliese biss beherzt in das Kipferl. »Die Frau ist ein grauenvolles, manipulatives, egozentrisches Scheusal.«
»Wir kennen sie schon seit Jahren. Sie ist unverschämt und dreist. Sie nutzt eine Geburt hier, um eine Woche bedient zu werden. Nimm es also nicht persönlich, wenn sie dich massiv beschimpft.«
Karin zog die Schultern hoch. »Wenn es weiter nichts ist …«
Alle drei Frauen kauten, es herrschte für einen Moment eine wohlige, kollegiale Stille. Nur das Zwitschern zweier zeternder Amseln aus dem Krankenhausgarten war zu hören.
Karin sah von einer zur anderen. Die Morgensonne schob sich gerade zwischen die zarten Birken, die vor dem Fenster leise mit den Blättern raschelten, als wollte sie nichts verpassen.
»Ist das alles? – Ich meine, viele Frauen sind nicht gerade gut gelaunt, wenn sie gebären. Und genießen es, mal eine Woche Ruhe zu haben. Erst recht, wenn sie schon Mann und Kinder zu Hause haben!«
»Das ist es nicht.« Conny tauchte ihr Kipferl in die Kaffeetasse. »Also nicht nur. Diese unmögliche Frau will nie mit dem Neugeborenen Kontakt haben.«
Karins Augenbrauen schossen nun auch in die Höhe. »Sie will ihr eigenes Baby nicht … stillen?«
»Noch nicht mal sehen.« Conny biss vom tropfenden Hörnchen ab und wischte sich das Kinn.
»Gibt’s doch nicht.« Karin schluckte. »Du meinst, sie nimmt es gar nicht mit nach Hause?«
»Genau. Sie hat immer schon im Vorfeld mit dem Jugendamt abgemacht, dass die Kinder direkt von der Fürsorge übernommen werden. Auch dieses Mal.«
»Das ist ja grauenvoll!« Karin starrte die Kolleginnen an. »Aber warum denn nur? Ich meine, warum kriegt sie überhaupt so viele Kinder?«
»Das ist eine interessante Frage.« Anneliese strich sich fingerdick Erdbeermarmelade auf ihr Brötchen. »Wo es schließlich schon lange die Pille gibt.«
»Vielleicht hat sie kein Geld für Verhütungsmittel?«
»Sie hat was von Delogierung gefaselt.«
»Sie ist obdachlos?« Karin schaute fragend von einer zur anderen.
»Wahrscheinlich mal wieder. Die ist echt ein Fall für sich. Sie posaunte heute im Gang herum, auf der Straße könne sie schließlich kein Baby versorgen.«
»Sie sagte übrigens nicht Baby, sondern Bratzn!«
»Das ist ja grauenvoll!« Karins braune Augen wurden groß. »Sie ist obdachlos und kriegt trotzdem Kinder? Möglicherweise von verschiedenen Vätern?«
»Davon kannst du ausgehen, meine Liebe.«
»Eine Praktikantin ist ihren Aussagen nachgegangen und hat im Meldeamt angerufen. Dort wurde diese Frau Krippentrog aber immer unter derselben Adresse in Wien geführt. – Gemeindebau.« Conny schraubte das Glas mit der Himbeermarmelade auf und roch daran. »Ich glaube, die hat einfach keine Lust darauf, Kinder großzuziehen. Kriegen ja, aber dann die Würmchen sich selbst überlassen.«
»Na bitte, da klingelt sie schon.« Annelieses Blick glitt auf die Notfalltafel, auf der es aus dem Einzelzimmer 16 rot blinkte.
»Sie liegt Sonderklasse?!« Karin sprang auf. Dieses war ihr erster Einsatz.
»Nicht, dass sie dafür versichert wäre. Aber auf den Mehrbettzimmern will niemand sie haben.«
»Dann schau ich mir diese Dame jetzt mal an.«
Karin schob den Teller von sich, wusch sich erneut die Hände und nahm ihren noch frisch gebügelten Kittel vom Haken. »Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Keine Mutter kann sich dem Drang des Neugeborenen nach der Mutterbrust entziehen.« Sie schnappte sich das Stethoskop und hängte es sich um den Hals. »Das ist archaisch determiniert.«
»Das ist was?«, spöttelte Conny gutmütig hinter ihr her. »Ach Gott, ist die eifrig, die Neue!«
»Das hat die Natur so eingerichtet! Du wirst es schon sehen! Ich stimme sie um!«
»Na dann viel Glück!« Conny und Anneliese schoben ihre Teller von sich und zündeten sich ein Zigarettchen an.
»Guten Morgen Frau Krippentrog. Mein Name ist Karin Winkler, ich bin Ärztin im Praktikum.« Nach kurzem Anklopfen hatte die Neue beherzt das Erste-Klasse-Zimmer betreten. »Ich löse meine Kollegin vom Nachtdienst ab und werde Sie jetzt untersuchen.«
Sie prallte zurück, als sie den eiskalten, bohrenden Blick der stark übergewichtigen Frau wahrnahm. Ihre schlecht gefärbten, leicht möhrenblonden Haare hatte sie mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden. Auf dem Stuhl lagen ihre vermutlich selbst genähten, unmodischen, sackartigen Kleidungsstücke. Offensichtlich hatte die Frau es sich in dem hellen Einzelzimmer gemütlich gemacht: Auf dem Nachttisch türmten sich Zeitschriften, Pralinen und Puddingtöpfchen.
Energisch zog Karin der Frau die Decke vom Körper und begann, konzentriert mit ihren inzwischen warmen Fingern ihren Bauch abzutasten.
»Spüren Sie schon eine Wehentätigkeit?«
»Lass die Finger von mir!« Die Frau schlug nach der jungen Frau. »An einer Puppe kannst du üben, nicht an mir! Geh, schleich dich!«
»Ich bin Ärztin im Praktikum. Ich weiß, was ich tue.« Karin zog der Frau das Nachthemd wieder über den gewölbten Bauch, in dem deutlich sichtbar rege Bewegungen stattfanden.
»Du bist doch keine sechzehn Jahre alt, geh, herst!«
»Danke für das Kompliment, aber ich bin vierundzwanzig.« Karin unterdrückte ein Herzrasen. So etwas hatte sie noch nicht erlebt. »Sie müssen sich schon auf mich einlassen oder Ihr Kind alleine zu Hause bekommen.«
»Ich hab kein Zuhause, Sie Trampel. Deswegen bin ich ja hier!«
Karin, die zwei Schritte zurückgetreten war, stutzte und betrachtete diese Dame, die ihr siebtes Kind bekam und sich offenbar schon mehrfach eine Woche Rundumservice im Klinikum gegönnt hatte.
Die Patientin war wohl bis eben dabei gewesen, Kreuzworträtsel zu lösen. Doch jetzt war sie nicht mehr im Entspannungsmodus. Schließlich hatte sie den Notruf gedrückt.
»Es geht los, worauf warten Sie noch?« Die Frau im Bett stöhnte verhalten. »Rufen Sie die andere, die mich schon kennt!«
Das ließ Karin sich nicht zweimal sagen. Sie drückte wiederholt auf die Notfallklingel, und gleich darauf stürmten sowohl Anneliese als auch Conny mit wehenden Kitteln herbei. »Haben wir es dir nicht gesagt?«
Im Eilschritt wurde die schimpfende Frau in den Kreißsaal gefahren, die Türen wurden aufgerissen, eilig in Funkgeräte gesprochen.
»Pass doch auf, du Trampel!«, keifte die Patientin Karin an. In der Eile waren sie gegen einen Wandpfeiler gestoßen.
Karin wappnete sich innerlich. Kaum im Kreißsaal angekommen, setzten bei Frau Krippentrog die Presswehen ein. Sie stöhnte nur verhalten, wie eine Katze krümmte sie sich und stieß ähnliche Laute aus.
»Nun macht’s schon, nehmt’s das kalte Ding da weg!« Wütend riss die Frau an einem Instrument, das Conny ihr auf den Bauch hielt. »Neumodischer Schwachsinn, das braucht kein Mensch! Ich weiß selber, dass ich Wehen habe!«
Niemand von den dreien bemühte sich nun weiterhin um die Frau, jedenfalls wollte niemand ihre Hand halten. Alle drei standen unten an ihren Füßen. Die Hebammen griffen mit geübten Händen in den Leib der schreienden Frau.
Karin sah den Kopf des Neugeborenen herausgleiten. Pechschwarze, klebrige Haare kamen zum Vorschein.
»Ein Dammschnitt ist nicht erforderlich.« Anneliese packte sanft das Köpfchen und drehte es in Sekundenschnelle aus dem Leib der Frau.
»Wenigstens muss der Gynäkologe nicht hinzugezogen werden.«
»Es gibt keine Wunde zu vernähen.«
Die Oberschenkel von Frau Krippentrog erschlafften und fielen auseinander.
Anneliese verabschiedete sich mit einem Naserümpfen. »Ihr übernehmt? Dann bis morgen.«
Hand in Hand arbeiteten Karin und Conny, die Neue und die Erfahrene, und betteten das kleine schwarzhaarige, sich windende Menschlein auf einer vorgewärmten Waage in ein rosa Handtuch. Mit routinierten Griffen säuberten sie das verklebte Gesichtchen, das sich zu einem weinerlichen zerknautschten Etwas zusammenzog.
»Frau Krippentrog, es ist ein gesundes, wunderhübsches Mädchen!« Karin hielt das Baby behutsam in den Armen und wollte es der Mutter strahlend überreichen.
»Mir wurscht.« Die Patientin starrte zur Decke und verdrehte die Augen. »Wann kann ich zurück in mein Zimmer?«
Das Neugeborene in Karins Händen schrie los, als hätte es diese Zurückweisung verstanden. »Alles ist gut.« Karin hielt das winzige Mädchen kopfüber in die Luft und saugte mit einem Katheter die Mundhöhle aus. Es sollte ja kein Fruchtwasser in die Lunge gelangen. Conny versorgte die gleichgültig wirkende Frau mit schnellen, geübten Griffen.
Karin konnte es nicht fassen, dass diese Frau derart herzlos war. Es musste da doch einen weichen Kern in der harten Schale geben. So etwas hatte sie noch nie erlebt.
»Sie haben eine außergewöhnlich schöne Tochter bekommen!« Sie reinigte die Schenkel der Frau und legte dann die Decke über den erschlafften Körper. »Dem kleinen Mädchen sieht man die Mühen der Geburt nicht im Geringsten an. Ich lege sie jetzt auf Ihren Bauch.«
»Untersteh dich. Das ist ein Seitensprungkind mit einem Türken und kann mir gestohlen bleiben.«
»Bitte was?« Karin hielt im Wischen inne.
»Türkenbalg. Ich mag es nicht.«
»Aber die Kleine kann doch nichts dafür.« Entsetzt warf Karin die nassen Lappen in das Waschbecken zurück und desinfizierte sich die Hände. Conny drückte ihr das Baby, das inzwischen in einen rosa Strampler gekleidet war, kopfschüttelnd in die Arme. »Versuch du es. Viel Glück.«
»Frau Krippentrog …«
»Bist du taub? Ich mag es nicht sehen! Der Erzeuger hat sich eh schon verzupft. Schicksal, kann ich da nur sagen. Und jetzt will ich zurück auf mein Zimmer!«
Erschrocken wich Karin mit dem Baby im Arm zurück. Instinktiv steckte sie ihre Nase auf das inzwischen duftende Köpfchen und inhalierte den unverkennbaren Babyduft. Sogar bei der jungen angehenden Ärztin regten sich zärtliche Gefühle.
Conny war genauso empört. Stumm drückte sie Frau Krippentrog auf den Bauch, um die Nachgeburt zu lösen. Vielleicht drückte sie ein bisschen heftiger, als es nötig war. Die Frau krächzte und fluchte vor Schmerzen. Schließlich verließen die beiden schweigend mit dem Baby den Kreißsaal. Ein Pfleger schob die Krippentrog zurück in ihr Sonderklassezimmer, wo sie nach ein paar Minuten erschöpft einschlief. Selbst der Pfleger schüttelte den Kopf. »Wenn das mei Oide wär …« Murmelnd verließ er das Zimmer.
»Marillenmarmelade?«
»Ist alle.«
»Probier mal den Honig.«
Die beiden Hebammen und die junge Ärztin saßen wie gewohnt am frühen Morgen in der Schwesternküche beim Frühstück. Sie hatten sich längst angefreundet und arbeiteten routiniert und respektvoll zusammen.
»Wie geht es dem kleinen Mädchen, das immer noch keinen Namen hat?«
»Es liegt auf der Säuglingsstation.« Karin ließ den Honig aus der Flasche direkt auf ihre frische Semmel tropfen. »Ich füttere das arme Würmchen alle zwei Stunden mit der abgepumpten Milch der anderen Mütter, sie trinkt auch gut und schaut mich dabei mit ihren fast schwarzen Augen an.« Die junge Ärztin schluckte trocken. »So ein wunderhübsches Baby habe ich noch nie betreut. Und das kam aus dieser Hexe raus.«
»Apropos, wie geht es der bösen Prinzessin auf der Erbse?«
»Frau Krippentrog genießt die Betreuung der Erste-Klasse-Geburtenabteilung. Eine ganze Woche darf sie sich laut Krankenhausleitung nach der Geburt dort erholen.«
»Sie liegt also immer noch privilegiert?« Anneliese rührte sich kopfschüttelnd Zucker in den Kaffee.
»Allerdings.« Conny stieß ein Schnauben aus. »Frechheit siegt, sag ich da nur.«
»Die anderen Mütter im Zimmer beschweren sich bei der Stationsleitung.« Karin schüttelte den Kopf. »Die Krippentrog hat die Dreistigkeit und regt sich lautstark auf, wenn die anderen Säuglinge zum Stillen gebracht werden und schreien. Also Einzelzimmer-Sonderklasse.«
»Herrschaftszeiten!« Anneliese ließ ihren Löffel fallen. »Wir dürfen eine Wöchnerin nicht auf die Straße setzen! Die weiß genau, was sie tut.«
»Unfassbar, wirklich.« Karin steckte den letzten Bissen ihrer Honigsemmel in den Mund und schaute auf die Uhr. »Die Mitarbeiterin des Standesamts kommt jeden Moment. Das Kind muss ja registriert werden und einen Namen bekommen. Ich schätze, die braucht moralische Unterstützung.«
Kaum war Karin auf dem Flur, als sie auch schon eine schmale junge Frau in Jeans und kurzärmliger blauer Bluse bemerkte, die zügig mit einem Klemmbrett in Richtung Sonderklasse eilte.
»Sind Sie die Dame vom Standesamt?«
»Ja?« Die sommersprossige Frau wirbelte herum, dass ihre rötlichen Locken sprühten.
»Winkler. Ärztin im Praktikum. Ich würde Sie gern begleiten.«
»Warum? Ich kann meinen Job alleine.«
»Sie haben so etwas noch nicht erlebt.«
Die Frau zog die Augenbrauen hoch. »Dann bin ich aber mal gespannt. – Susanne Pichler, übrigens. Nenn mich einfach Susanne.« Sie streckte die Hand aus, und Karin schüttelte sie.
»Karin. Mach dich auf was gefasst.«
Gemeinsam betraten die beiden jungen Frauen nach kurzem Anklopfen das Einzelzimmer, und der typische kalte verächtliche Blick der im Bett thronenden Frau Krippentrog traf sie wie ein Messer. Beide kamen sich vor wie zwei Schülerinnen, die wegen ungebührlichen Verhaltens zur Direktorin gerufen wurden. Susanne warf Karin einen erstaunten Blick zu.
»Grüß Gott, Frau Krippentrog.« Susanne streckte der Patientin die Hand hin, doch verächtlichen Blickes ignorierte diese die höfliche Geste. Sie fühlte sich sichtbar gestört in ihrer Kreuzworträtsel-Lektüre.
»Ich bin Beamtin beim Standesamt …« Weiter kam sie nicht.
»Ich bin schon verheiratet. Lassen Sie mich bloß in Frieden.«
»Deshalb bin ich nicht hier, Frau Krippentrog.« Susanne zog eine Grimasse. »Es geht um die Anmeldung Ihres Kindes, das Sie am 2. Juli entbunden haben. Wie soll Ihre Tochter denn heißen?«
»Mir wurscht.«
»Sie sind die leibliche Mutter, Sie sollten ihr einen Namen geben.« Susanne trommelte mit den Fingern auf dem Klemmbrett und zog die Augenbrauen bis unter den Haaransatz.
»Tun Sie es.«
Susanne warf Karin einen weiteren entsetzten Blick zu. Karin, die mit verschränkten Armen abwartend an der Wand stand, schüttelte unmerklich den Kopf und zog die Schultern hoch. Ich habe es dir gesagt!
Susanne räusperte sich und schob mit zwei Fingern ihre randlose Brille hoch.
»Sie hatten neun Monate Zeit, sich einen Vornamen für Ihre Tochter zu überlegen.«
»Hören Sie auf mit Ihrer Moralpredigt. Ich weiß selbst, wie lange ich mit diesem Balg im Bauch zu tun hatte. Habe ich schließlich siebenmal erlebt, den Schas. Ich bin wie eine Katze mit sieben Leben.« Die Frau lachte selbstgefällig. »Nur dass ich die Brut nicht ertränken kann.«
Susanne schnappte nach Luft.
»Frau Krippentrog … wir brauchen nur einen Vornamen, dann sind Sie mich schon wieder los.«
»Erfinden Sie einen.«
»Wie, ich?« Susanne wich einen Schritt zurück. »Ich sicher nicht.«
»Also die an der Wand, die sich zu schade ist, meine Luft zu atmen. Ich bin ihr zu minder.«
Karin fasste sich an den Hals. »Das habe ich nie gesagt, Frau Krippentrog. Aber Sie wirken auf mich schon erschreckend … kalt. Wie kann eine Mutter ihr Neugeborenes nicht sehen wollen. Und sich noch nicht mal die Mühe machen, einen Namen für die eigene Tochter auszusuchen.«
»Wissen Sie was, Ihre Belehrungen interessieren mich nicht.« Frau Krippentrog griff nach ihrer Klatschzeitung und tippte auf ein aufgeschlagenes Kreuzworträtsel.
»Weiblicher Vorname mit vier Buchstaben. Anfangsbuchstabe A.«
»Anna?«
»Naa, so heißt meine bissgurige Schwiegermutter, die kann i net ausstehen.«
Karin räusperte sich. Ihre Gehirnzellen arbeiteten.
»Sind die restlichen Kinder alle ehelich, nur dieses eine nicht?«
»Geht Sie nichts an. – Kann ich jetzt meine Ruhe haben?«
Die beiden jungen Frauen standen fassungslos am Bett der Hyäne.
Karin fasste sich als Erstes.
»Steffi!«
»Passt. Nennen Sie das Balg meinetwegen Steffi. – Aber meinen Nachnamen kriegt sie nicht. Krippentrog, das ist ja schließlich der Name meines Mannes, und der hat mit dem Gfrast nichts zu tun. Der weiß auch nichts davon.«
Ja, bei ihrem Umfang konnten die beiden jungen Frauen nachvollziehen, dass das funktioniert hatte.
»Dann brauchen wir Ihren Mädchennamen, Frau Krippentrog.« Karin räusperte sich, und um Susannes Mundwinkel zuckte es. Wenigstens dieser scheußliche Name blieb dem armen kleinen Wurm erspart.
»Dreier. – Und jetzt raus hier, alle beide!«
»Du würdest sie am liebsten selbst adoptieren, was?«
Anneliese lächelte Karin an, die seit geraumer Zeit im Säuglingszimmer auf und ab ging und die kleine Steffi schuckelnd herumtrug. »Du hast seit zwei Stunden frei!«
Karin vergrub ihre Nase in Steffis schwarzen dichten Locken. »Ich will ihr einfach ganz viel Nähe geben, das ist unheimlich wichtig für so ein Würmchen. Aber adoptieren kann ich die kleine Steffi natürlich nicht.«
»Weiß ich doch. War ein Scherz.« Anneliese faltete mit routinierten Handbewegungen Windeln und stapelte sie in ein Fach an der Wand. »Ich habe gehört, du willst noch Psychologie studieren?«
»Ja, ich habe sieben Jahre auf einen Studienplatz gewartet und erst mal die Ausbildung zur Allgemeinärztin gemacht.« Karin schuckelte das maunzende Baby, das sie dicht an sich gepresst hatte. »Aber letztlich will ich Psychiaterin werden. Ich will verlorenen Seelen helfen, weißt du, deren Schmerz man auf den ersten Blick nicht sieht.«
»Das passt zu dir, Karin.« Anneliese warf der Kollegin einen warmen Blick zu. »Wenn ich mal einen Seelenklempner brauche, komm ich zu dir.«
Karin lächelte. »Jetzt habe ich endlich einen Studienplatz …« Sie hielt inne. »Da kann ich doch nicht …, ich meine, ich habe überhaupt keinen Mann, sie geben es mir ja gar nicht. Ich habe sogar schon mit meiner Mutter gesprochen.«
»Karin. Es war wirklich ein Scherz. Du solltest dich mit dem Gedanken gar nicht belasten.«
Anneliese stapelte den Haufen frisch gefalteter Windeln in einem Hängeschrank an der Wand und knallte die Tür zu, dass die Kleine zusammenzuckte. »Wir dürfen in unserem Beruf nicht das Private mit dem Professionellen vermischen.«
»Ich weiß.« Karin straffte sich und legte die Kleine entschlossen in ihr Bettchen.
»Dann geh ich jetzt lernen.« Sie strich der Kleinen noch einmal über das Köpfchen und schnappte sich ihre Tasche vom Haken.
Anneliese sah ihr lächelnd nach. Schade, dass diese patente junge Frau bald schon wieder ging.
Zwei Jahre später, Juli 1974
Und wer ist dieses kleine patente Persönchen?«
Der weißhaarige Kinderarzt wendete sich der Zweijährigen zu, die in einem Laufstall saß und mit dem Kopf rhythmisch an die Stäbe schlug. Ihre Nase lief, und sie kaute dem Hasen ein Ohr ab.
»Sie heißt Steffi.« Die stämmige Oberschwester zog automatisch ein Taschentuch aus ihrer Schürzentasche und wischte dem dunkelhaarigen Lockenkopf damit barsch über das Gesicht.
»Die Überstellung erfolgte am fünften Tag nach ihrer Geburt. Die Mutter wollte sie nicht, berichtete nur, dass das Kind von einem Türken stamme.«
»Aha.« Der Kinderarzt begutachtete die Kleine, indem er ihr mit einer Taschenlampe in die Ohren leuchtete. »Mach mal den Mund auf, Steffi.«
Steffi stellte sich auf ihre Beinchen und streckte die Arme nach dem Mann im weißen Kittel aus.
»Will mit!«
»Aha, du willst also mit mir gehen, was?«
»Mit!« Die Kleine richtete ihre großen dunklen Augen auf den Arzt. Sie hatte erstaunlich lange, dichte Wimpern.
»Hat sie genügend Sozialkontakte?« Der Arzt machte sich Notizen. »Bekommt sie Besuch?«
»Nein. Es war noch nie jemand hier.« Die Oberschwester hob das zarte, langbeinige Kind aus dem Laufgitter und setzte es auf den Tisch.
»Schildern Sie mal den Werdegang?«
»Sie lag ein Jahr lang unter anderen vierzig Säuglingen in einem Saal des Zentralen Kinderheims Wien. Leider haben wir auch viel zu wenig Personal.« Die Schwester hielt die zappelige kleine Steffi fest am Arm und hinderte sie daran, vom Tisch zu stürzen. »Unausgebildete Helferinnen, die nur des Geldes wegen Dienst verrichten, wurden angelernt, die Kinder alle vier Stunden zu wickeln und zu füttern. Einmal die Woche werden die Kleinen gewogen, um die Gewichtszunahme zu dokumentieren. Steffi ist aber pflegeleicht. Sie lächelt, wenn man sie in den Arm nimmt.«
Wie um das zu dokumentieren, kniff sie Steffi in die Wange. »Nun lach doch mal.«
»Will mit!« Steffi entblößte eine Reihe blitzblanker weißer Milchzähnchen. »Mitgehen!«
»Hat sich schon jemand darum bemüht, sie zu adoptieren?« Der Arzt stellte Steffi auf, legte ein Maßband an den Kopf des Mädchens und zog es bis zu ihren Füßen. »Sie ist außergewöhnlich groß. Sie bewegt sich an der oberen Perzentile in Bezug auf Körpergröße und Gewicht. Sie ist absolut so weit.«
»Will mit, Steffi will mit!« Das kleine Mädchen trampelte mit den Füßchen.
»Steh still, Steffi, nicht herumhampeln. Tu schön, was der Onkel Doktor sagt.«
»Groß wird sie werden, und hübsch!« Der Arzt ließ Steffi mit seinem Stethoskop spielen. »So ein Kind lässt doch Herzen schmelzen …?«
»Die Mutter hat sie aber nicht zur Adoption freigegeben.« Die Oberschwester nahm Steffi das Stethoskop ab und legte es auf einen Tisch an der Wand. »Wir können sie höchstens in eine Pflegefamilie vermitteln.«
Der Doktor zog sich einen Stuhl heran. »Schicken Sie bitte meinen Bericht an die Fürsorge. Ich bin absolut dafür, dass das Kind möglichst bald in eine Familie kommt. Das hier ist doch auf Dauer kein Zustand für sie. – Oder ist sie verhaltensauffällig?« Er setzte sich das kleine Mädchen auf den Schoß, das schon die ganze Zeit mit beiden Händen auf seine Beine schlug: »Will mit!«
»Sie ist natürlich einsam, sie müsste längst Sozialkontakte knüpfen.« Die Schwester riss Steffi energisch an sich und stellte sie wieder auf die Beine. »Geh, sei nicht lästig, Steffi!«
»Also, ich möchte, dass Steffis Akt auf dem Stapel ›Pflegekind‹ obenauf liegt, und wenn ich das nächste Mal komme, will ich die Kleine hier nicht mehr vorfinden.«
Der alte Kinderarzt tätschelte Steffi den Kopf. »Bald wirst du eine Familie finden, Kleine. Das wäre doch gelacht, wenn dich keiner wollte. Ich wünsche dir viel Glück.«
Oktober 1975
Liebe Brüder und Schwestern im Herrn …« Der gut genährte Pfarrer auf der Kanzel breitete die Arme aus, sodass er in seiner hellgrünen Tunika aussah wie ein dicker Schmetterling, der sich zum Abflug vorbereitet. »Nun habe ich von der großen Sünde der Abtreibung gesprochen, und wir alle wissen, welch schwarze Schafe hier unter uns sind. Gott sieht alles! Abtreibung ist Mord.
Denn wie heißt es schon in den Zehn Geboten? DU SOLLST NICHT TÖTEN!« Seine mächtige Stimme dröhnte durch das Kirchenschiff, dass sie von den Wänden widerhallte, und der Prediger genoss sichtlich sein eigenes Echo.
Die Gemeinde verhielt sich mucksmäuschenstill. Die betroffenen, ernsten Blicke der Gläubigen waren auf den kalten Fußboden gerichtet. Man hörte nur das Knarren im Gebälk der alten hölzernen Bänke, und vorne in den Reihen für Kinder verhaltenes Gekicher. Draußen zerrte der Herbstwind heftig an den Zweigen und ließ die bunten Blätter zu Boden segeln. Männer mit Gamsbarthüten schluckten trocken und sehnten sich in das nahe gelegene Wirtshaus, Frauen pressten gequält die Hände auf ihre zu engen Dirndl-Korsagen und dachten an ihren Sonntagsbraten zu Hause. Kinder, in Trachten gestopft, die sie nicht schmutzig machen durften, langweilten sich zu Tode und fingen an, sich gegenseitig in die Rippen zu stoßen. Die Messdiener auf ihren hölzernen Bänken verkrampften ihre gefalteten Hände ineinander und versuchten, vor Hunger nicht ohnmächtig zu werden, denn sie hatten vor der heiligen Kommunion noch nicht gefrühstückt. Ein paar alte Mütterchen ließen den Rosenkranz durch ihre verknöcherten Finger gleiten, ein alter Mann fingerte verstohlen seinen Flachmann aus der Tasche, ließ ihn aber unter den scharfen Blicken seiner Frau sogleich wieder darin verschwinden. Der Organist oben an der Orgel probierte schon heimlich seine Register aus und dehnte den schmerzenden Rücken. Wie lange dauerte denn diese Predigt noch?
»Aber es gibt auch gute Christen unter uns.« Der Priester faltete die Hände und ließ seinen Blick über die treuen und ergebenen Kirchgänger schweifen, die fast ausnahmslos in Loden und Tracht vor ihm saßen. »Gute Menschen, die wissen, was Gott von ihnen will. Menschen, die barmherzig sind. Die nach den Geboten Gottes leben.«
Immer noch herrschte beklommenes Schweigen. Irgendwo knurrte laut vernehmlich ein Magen.
»Denn Gott sieht alles, und Nächstenliebe ist Barmherzigkeit.«
Ein dicker Junge im zu engen Wams hickste in die Stille hinein, woraufhin die ganze Kinderschar zu kichern anfing.
»Und das ist NICHT zum Lachen!«, donnerte der Pfarrer von seiner Kanzel herunter.
Er steckte mahnend den Zeigefinger in die Luft und fuchtelte damit auf die Gemeinde ein. »Es steht alles in der Bibel. Es ist alles vorherbestimmt. Die Saat, die aufgeht, und die Saat, die verdirbt.« Er hielt inne und ließ das Echo seiner Stimme nachvibrieren.
Die Gemeindemitglieder senkten schuldbewusst ihre Köpfe.
»So lasset uns alle die christliche Familie Kellerknecht zum Vorbild nehmen.«
Hunderte Köpfe schnellten herum auf die kinderreiche Familie, die in Loden und Dirndln in der vorletzten Bank saß, die Mädchen mit aufgesteckten Zöpfen, die Buben mit korrekt kurz geschorenen Haaren.
»Jedes Mal, wenn der Herr in seiner Güte ihnen ein Kind schenkt, nehmen sie ein Kind aus dem Kinderheim dazu. SIE sind das Vorbild aus der Bibel, von dem die Rede ist! Ihre kleine Brigitte ist jetzt drei, und sie haben eine kleine Steffi dazugenommen. DAS ist Gott unserem Herrn wohlgetan.«
Die Leute in der Kirche hätten fast geklatscht. Aber das war ungehörig, also nickten und murmelten sie Zustimmung.
»SIE vermehren Gottes Gabe durch ihre christliche Nächstenliebe! SIE opfern sich und erbarmen sich jedes Jahr von Neuem wieder eines mutterlosen kleinen Geschöpfes! Sie betreiben nur einen kleinen Bauernhof, sie säen, sie ernten, sie vertrauen auf Gott, und er ernährt sie doch. So lasset uns beten für die Familie Kellerknecht und ihre drei Kinder und ihre drei Pflegekinder, die Gottes Gaben zu schätzen wissen, fleißig arbeiten und sich nicht selbstgefällig zurücklehnen und warten, dass ihnen die gebratenen Tauben in den Mund fliegen, oder gar die Gabe zurückweisen und sich aus dem Leib reißen lassen, die Gott ihnen zu schenken gewillt war! Und so ende ich mit einem Zitat unseres Herrn Jesus Christus, der für unsere Sünden am Kreuz gestorben ist:
Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan. AMEN. Lasset uns beten.«
Die Köpfe wendeten sich wieder nach vorn, und ächzend sank eine ganze Gemeinde auf die Knie.
»Geh schon, Hans, ich möchte mich beim Pfarrer für die schöne Predigt bedanken!«
Frau Kellerknecht richtete sich die praktische Kurzhaarfrisur und schlang ihr Schultertuch dichter um ihren molligen Körper. »So eine schöne Messe!«
Sie genoss sichtlich das ehrfürchtige Grüßen der anderen Gemeindemitglieder, die nun in Scharen aus der Kirche strömten. Die meisten Männer in ihren Lodenjoppen und Krachledernen steuerten das nahe gelegene Wirtshaus an. Kinder tummelten sich am Kirchenplatz, bewarfen einander mit Kastanien und mit Laub, endlich befreit von der neunzigminütigen, für sie unverständlichen Zeremonie. Die Blechbläser packten ihre Instrumente ein, der Organist schloss die Orgel ab, der Mesner zählte die Münzen.
Hans Kellerknecht hob seinen mit prächtigem Gamsbart geschmückten Hut, als der Bürgermeister auf dem Weg zum Wirtshaus an ihnen vorbeikam.
»Griaß di, Bürgermeister.«
»Griaß di, Hans. Da hat der Pfarrer euch heute hochleben lassen.«
»Wir nehmen ja schon unser drittes Pflegekind! Steffi heißt’s. A ganz a fesche, sagt meine Frau. Ganz dunkle Haare hat’s. Und dunkle Augen.«
»Vergelt’s Gott.«
Frau Kellerknecht schnappte sich ihren sechsjährigen Andi am Handgelenk, der laut schreiend herumtobte. »Wie oft habe ich euch gesagt, dass ihr das Sonntagsgewand nicht schmutzig machen dürft?«
Sie schüttelte den Jungen und wischte ihm energisch Blätter und Dreck vom Janker.
Der Kleine schaute seine Mutter schuldbewusst an und hatte sich auch schon eine Ohrfeige eingefangen. Niemand der vielen Umstehenden beachtete diese Erziehungsmethode, die völlig normal war. Auch das Kind hielt sich nur kurz mit Tränen in den Augen die brennende Wange.
»Und jetzt lauf und trommele deine Geschwister zusammen. Putzt euch ab. Der Pfarrer soll keinen schlechten Eindruck von uns bekommen! Was sollen die Leute denken!« Sie spuckte in ein Taschentuch und wischte dem Buben über das Gesicht.
In wenigen Sekunden standen die Kellerknecht-Kinder, Hanni, Matti, Andi und Brigitte, wie die Orgelpfeifen vor ihren stolzen Eltern. Der Geistliche wehte in seinem hellgrünen Ornat herbei und tätschelte ihnen der Reihe nach über den Kopf. »Na, seid’s brav?!« Er beugte sich zu der Jüngsten herunter, der dreijährigen Brigitte im Dirndl, und schüttelte ihr das Händchen. »Und du bekommst jetzt ein Schwesterchen? Da kannst du dich aber freuen!«
Das kleine Mädchen presste die Lippen aufeinander, knickste aber artig, nachdem ihre Mutter sie an der Schulter gedrückt hatte.
»Griaß Sie Gott, Kellerknecht-Bauer, Kellerknecht-Bäuerin.«
Der Geistliche schüttelte den braven Kirchgängern die Hände. »Und was kommt diesmal daher?«
»Ein türkisches Kind. Aber wir schauen nur auf ihr Herz.«
»Ja, man kann sich die Herkunft der Kinder nicht aussuchen. Jesus hat gesagt, lasset die Kindlein zu mir kommen. Machen Sie es zu einem guten, folgsamen Christenkind.«
»Natürlich, Herr Pfarrer. Sowieso.«
»Integrieren sich die Pflegekinder gut?« Der Pfarrer hielt immer noch die rissige Hand der Bäuerin in seinen fleischigen Pranken.
»Na ja, sie brauchen schon eine feste Hand.« Hans Kellerknecht straffte den Rücken und zwirbelte sich den Schnurrbart. »Sie stammen ja von asozialen Eltern ab.«
»Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.« Der Pfarrer gab endlich die Hand von Frau Kellerknecht frei und trat einen Schritt zur Seite. »Wenn Sie Fragen haben oder Hilfe brauchen, wenden Sie sich jederzeit an mich. Die heutige Kollekte war jedenfalls für Sie.«
»Herr Pfarrer, wir wissen Ihre Hilfe sehr zu schätzen.« Frau Kellerknecht nahm ihre dreijährige Brigitte auf den Arm und richtete deren weiße Kniestrümpfe. »Man will ja auch adrett angezogen sein am Sonntag.«
Der Pfarrer ließ seinen Blick über die Orgelpfeifen-Kinder schweifen.
»Dass ihr auch schön brav seid und euren Eltern nur Freude macht! Tut ihr schön mithelfen auf dem Hof?«
Die Kinder nickten artig und scharrten mit den Füßchen. Der Pfarrer merkte nicht, dass ein älterer Bub und eines der Mädels sehr blass wurden.
»Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich möchte noch andere Gemeindemitglieder begrüßen.«
»Natürlich, Herr Pfarrer. Und danke für die schöne Predigt.«
Aufrechten Ganges schlenderte die Familie Kellerknecht zum Auto.
2. November 1975
Steffi, schau, wir sind da!«
Der weiße Kleinbus mit der Aufschrift »Jugendamt Wien« rumpelte auf dem grob geschotterten Feldweg zum Kellerknecht-Bauernhof hinauf und zog eine dichte Staubwolke hinter sich her. Der Hof war bei Weitem nicht der schönste landwirtschaftliche Betrieb in der Gegend. Die Fassade war stellenweise abgebröckelt, die Farbe der Fenster ausgebleicht, aber vor jedem hing doch ein Blumenkasten, wenn auch um diese herbstliche Jahreszeit bereits mit Fichtenzweigen abgedeckt.
»Riech mal, Steffi, das ist die herrliche Landluft!«
Birgit, die Fürsorgerin vom Jugendamt, kurbelte die staubige Scheibe herunter.
»Na, wie gefällt dir das hier?«
Steffi, die bald Dreieinhalbjährige, wachte auf. Die Fahrt von Wien war lang gewesen, über drei Stunden saß das Kleinkind nur stumm auf ihrem Hintersitz und ließ sich stoisch durchschütteln. Der Geruch nach Schweinen und Kühen war ihr fremd und ungewohnt. Sie presste ihre Händchen auf Mund und Nase und senkte den Kopf.
»Und da kommt auch schon der Hofhund!« Birgit drückte noch einmal kräftig auf das Gaspedal, um die letzten Schlaglöcher auf dem Feldweg zu überwinden, der aussah wie ein alter, löchriger und an den Rändern zerfaserter Gürtel.
Ein großer schwarzer Hund kam bellend angelaufen, sein Gesicht nur noch durch die schmutzige Scheibe von Steffis Gesicht getrennt. Seine spitzen Zähne waren zum Greifen nahe.
Wieder zuckte die Kleine zusammen, presste die Händchen auf die Augen und machte sich auf ihrem Sitz ganz klein.
Die Versprechungen und Verlockungen der Erzieherinnen im Heim hatten in ihrem kleinen Gehirn eine Art Märchenschloss entstehen lassen, wo Frau Holle die weißen Kissen schüttelte und der Zaun aus Lebkuchenherzen gemacht war. Die Wirklichkeit an diesem grauen regnerischen Herbsttag sah anders aus.
Die Fürsorgerin zog die Handbremse und sprang aus dem Wagen. »Schau Steffi, da steht auch schon deine neue Mutti!«
Steffi wagte einen Blick zu dem eher trostlosen Gehöft hin. Am Hintereingang stand eine mollige Frau mit Kurzhaarfrisur im Dirndl und hatte ein kleines blondes Mädchen, ebenfalls im Dirndl, an der Hand.
Birgit riss die hintere Schiebetür auf: »Steffi, komm raus. Du bist bei deiner neuen Familie.«
Der große schwarze Hund kläffte direkt neben ihren Beinchen, die in dünnen Strumpfhosen und Schühchen steckten.
»Hasso, hierher!« Die neue Mutter pfiff den Hund zurück und kettete ihn an.
»So, Steffi, jetzt komm schon. Ich will noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück.«
Birgit hob beherzt das Mädchen aus dem Auto und stellte es auf den Schotter. Seine dünnen Beinchen zitterten vor Angst und Aufregung. Hoffentlich machte sie sich jetzt nicht nass, dachte Birgit, das wäre ja ein blöder erster Eindruck. Immerhin nahmen die Kellerknechts nur Kinder, die schon aus den Windeln waren, so war es vereinbart.
Aus dem Kofferraum hob die Fürsorgerin noch Steffis Habseligkeiten: eine gelbe Plastiktüte, in der eine zweite Wäschegarnitur und eine abgekaute rosa Zahnbürste untergebracht war. Sonst nichts. Nicht einmal ein Stofftier.
»Komm her, Kleine, lass dich mal anschauen.«
Frau Kellerknecht beugte sich herab und schüttelte Steffis schlappes kaltes Händchen.
»Du bist wirklich ein hübsches Kind.« Sie streichelte ihre Wange und hob ihr Kinn an, nachdem Steffi beharrlich auf den Boden blickte. »Du musst mich schon anschauen, wenn ich mit dir rede. Ich bin deine neue Mutti. – Na, so ein schöner dichter Wimpernkranz, und so lange schöne Haare. Das wird dem Hans gefallen.«
Sie überließ es den beiden dreijährigen Mädchen, sich gegenseitig anzustarren, und wendete sich Birgit, der Fürsorgerin, zu.
»Mögen S’ g’schwind hereinkommen auf einen Kaffee und einen Apfelstrudel?« Die gesamte Unterhaltung fand unter dem dröhnenden Gebell des Hundes statt, der grimmig knurrend an seiner Kette im Kreis herumlief und versuchte, die Mädchen anzuspringen. Angstvoll trat Steffi einen Schritt nach hinten und landete mit ihrem abgewetzten Halbschuh in einer Pfütze. Die pummelige Brigitte lachte.
Von drinnen duftete es verführerisch. Der Magen der kleinen Steffi zog sich krampfhaft zusammen. So etwas Köstliches hatte sie noch nie gerochen.
»Ach, wie gern täte ich das, Frau Kellerknecht, aber ich bin es nicht gewohnt, den Kleinbus zu fahren, und trau mich ehrlich gesagt nicht in der Dunkelheit zurück …«
»Na, dann nehmen Sie aber eine anständige Jause mit, schauen Sie, ich habe Ihnen schon was hergerichtet.« Frau Kellerknecht eilte in das Innere des Bauernhauses und kam kurz darauf mit einem prall gefüllten Korb zurück: »Mit ganz lieben Grüßen an die Kollegen in der Fürsorge. Ein selbst gebranntes Schnapserl für den Chef habe ich dazugegeben und an Schweinsbraten, ganz frisch.«
»Na, Frau Kellerknecht, das wäre doch nicht nötig gewesen …« Birgit brach fast unter der Last des Korbes zusammen.
»Und natürlich drei Flaschen von unserem selbst gebrauten Apfelmost, und einen Käse aus eigener Produktion …« Die wackere Bäuerin lupfte ein rot-weiß gemustertes Küchentuch. »Das bringen Sie mir beim nächsten Mal einfach wieder mit, gell?«
Birgit war innerlich durchaus froh, dass die wackere Bäuerin kein lebendes Ferkel mit in den Korb gesteckt hatte. Aus dem Stall war ohrenbetäubendes Gekreisch und Stoßen von den Tieren zu hören, und auch die Kühe in der Nachbarabteilung blökten und muhten schon ungeduldig und traten an ihren schweren Ketten von einem Bein auf das andere.
»Sie merken, es gibt allerhand zu tun!« Frau Kellerknecht winkte Birgit hinterher, die ebenfalls winkend in den Kleinbus stieg und den schweren Korb auf den Beifahrersitz wuchtete.
»Sei schön brav, Steffi, ich schaue bald einmal wieder vorbei!«
»Das müssen Sie nicht, Sie wissen ja, wir kennen uns mit Pflegekindern aus.«
Frau Kellerknecht zog die Mädchen ins Haus. »Wir haben es eigentlich lieber so, wenn die Kinder sich erst mal an ihr neues Zuhause gewöhnen.«
»Natürlich. Sehe ich genauso.« Birgit zog die Tür hinter sich zu, drückte einmal auf die Hupe und rumpelte, eine Staubwolke hinter sich zurücklassend, vom Hof. Beim Wenden hinter dem Stall erwischte der Kleinbus fast noch einen Hahn, der empört krächzend und flügelschlagend zur Seite flatterte. Der Hund fing erneut an zu bellen und brachte sich an seiner Kette fast selbst um. Die dreieinhalbjährige Brigitte ließ ihn wieder von der Leine, und der Hund preschte bellend und keifend dem Kleinbus hinterher.
Steffi stand im Flur und fühlte, wie etwas Feuchtwarmes ihre Strumpfhose durchnässte und an ihren Beinen herunterzüngelte wie eine glitschige Schlange.
Zwei Jahre später, Sommer 1977
Mutti, darf ich im Hof spielen gehen?« Steffi stellte vorsichtig die letzte Tasse auf die Anrichte, die sie mit dem löchrigen Geschirrtuch abgetrocknet hatte. Sie trug ein abgelegtes Latzkleid ihrer gleichaltrigen Pflegeschwester Brigitte und sprang barfuß von dem Höckerchen, auf dem sie eigens für ihre Hausarbeit gestanden hatte. »Die Brigitte ist schon so lange auf der Schaukel!«
»Und was ist mit dem Besteck?« Frau Kellerknecht gab der Fünfjährigen eine leichte Kopfnuss mit der tropfenden Spülbürste, sodass das Wasser ihr in den Nacken lief. »Hast du das mit Absicht vergessen?«
»Nein. Entschuldigung, Mutti.« Artig stieg Steffi auf den hölzernen Hocker.
»Dann putz es gründlich sauber und lege es in die richtigen Fächer der Schublade.«
Frau Kellerknecht wischte sich die Hände an der Kittelschürze sauber und eilte zur offen stehenden Haustür, wo wieder mal der Hofhund an der Kette angeschlagen hatte.
»Ah, der Briefträger. Grüß Gott! Mögen S’ an Kaffee oder a Schnapserl?«
»Nein danke, Kellerknecht-Bäuerin. Aber a Unterschrift tät ich brauchen.«
Der Uniformierte steckte neugierig seinen Kopf zur Wohnküche herein. »Und, immer schön fleißig, die lieben Kleinen?«
Auf dem Herd, gefährlich nahe neben der hantierenden Fünfjährigen, brodelte bereits ein riesiger weißer Kochtopf voller Kartoffeln.
»Ach, das machen s’ eh gern, gell, Steffi? Die tun sich drum raufen, wer der Mutti helfen darf. Die Großen sind ja in der Schule, da darf die Steffi heut der Mutti helfen, da ist sie ganz stolz drauf.«
Draußen quietschte die Schaukel in ihren rostigen Scharnieren, auf dem bäuchlings mit herausforderndem Blick die fünfjährige Brigitte lag. Vor lauter Langeweile hatte sie schon mit den Füßen ein großes Loch in den staubigen Schotter geratscht.
»Aber die eigene ist auch nicht im Kindergarten?!«
»Die tut der Steffi heut Gesellschaft leisten. Meine Brigitte ist a ganz a Liabe.« Frau Kellerknecht spähte auf das Einschreiben wie ein Specht auf etwas, das ihm ins Nest gefallen ist.
»Wann kommt die Steffi zum Spielen?«, raunzte Brigitte gelangweilt.
»Wenn sie fertig ist.«
Frau Kellerknecht unterschrieb den gelben Wisch, den der Postbote ihr hinhielt, und knallte die Tür zu.
Aus den Augenwinkeln betrachtete Steffi, die emsig schwere Löffel und Messer polierte, sowohl die Schwester draußen auf der Schaukel wie auch die Mutter, die sich schwerfällig auf einen Küchenstuhl fallen ließ und sich die Haare raufte.
»Einschreiben vom Jugendamt, so a Mist.«
Sie riss der kleinen Steffi das Messer, das sie gerade abtrocknete, aus der Hand und schnitt den dünnen grauen Umschlag auf. Kopfschüttelnd überflog sie die amtlichen Zeilen und klatschte den Brief auf den Küchentisch. »Das könnte denen so passen.«
»Was könnte denen so passen, Mutti?« Steffi drehte sich in ihrem zu kurzen Kleidchen nach der erbosten Frau um, die mit zitternden Fingern ein Stamperl mit Zirbenschnaps vollgoss. Von der Löffelspitze tropfte es auf den Küchenfußboden.
»Pass doch auf, du saust ja hier alles voll!«
Wütend sprang Frau Kellerknecht auf und riss Steffi den Suppenlöffel aus der Hand, den sie als Nächstes polierte.
»Du bist einfach nur ungeschickt!« Sie holte schon aus, um Steffi damit auf den kleinen Popo zu hauen, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als die Tür aufflog und Hans Kellerknecht in seinem blauen Drillich und Stallschuhen hereinpolterte.
»Gibt es bald Mittagessen? Ich habe einen Mordshunger.« Der Bauer riss sich die Kappe vom Kopf und hängte sie an den Haken. Mit ihm wehte ein beißender Geruch nach Kuh- und Schweinestall herein, und grobe Stücke erdige Klumpen klebten an seinen Sohlen.
»Zieh um Himmels willen die Stallstiefel aus«, keifte Frau Kellerknecht. »Ich wische die Küche nicht ein zweites Mal.«
»Was hast du denn?« Herr Kellerknecht stieß sich die Stiefel von den Füßen und schnipste mit den Händen. Sofort sprang Steffi barfuß vom Küchenhocker, huschte unter den Tisch und trug die schweren stinkenden Stiefel vor die Tür. Kurz darauf kam sie mit groben Filzpantoffeln wieder, krabbelte unter den Tisch und streifte sie dem Bauern über die mehrfach gestopften Socken.
»Post vom Jugendamt.« Frau Kellerknecht stocherte am Herd prüfend in den kochenden Kartoffeln herum und stieß unwirsch mit dem Fuß das Höckerchen zur Seite, das ihr dabei im Weg stand. »Sie wollen uns die Steffi wegnehmen.«
»Das kommt gar nicht infrage. Gell, Steffi.« Der Bauer ließ seine flache Hand auf die Tischplatte sausen. »Jetzt, wo du so gut gelernt hast und so brav bist.«
Draußen quietschte provokant gelangweilt die Schaukel unter dem übergewichtigen Kind.
»Geh spielen!« Frau Kellerknecht packte die Kleine am Arm und schob sie zur Tür hinaus. »Aber wehe, ich höre einen Streit!«
Unter dem eifersüchtigen Gebell des schwarzen Hundes und den hellen Kinderstimmchen, wer jetzt auf die Schaukel dürfe und für wie lange, grapschte der Bauer nach dem Brief.
»Die leibliche Mutter hat in eine Adoption eingewilligt.« Er kratzte sich den kurz geschorenen Kopf. »Das heißt, die Steffi soll weg von uns?«
»Sag ich ja!«
»Spinnt die, die Alte? Diese Frau Krippentrog kennt uns doch gar nicht.«
Frau Kellerknecht setzte sich neben ihn auf die Holzbank und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte.
»Geh, herst. Lass das. Das macht mich ganz nervös.«
»Da war jemand hier.« Sie schenkte erneut ihr Schnapsglas voll und schob es ihrem Mann zu. »Ein grässliches Weib.«
»Wann?« Er sah sie grimmig von der Seite an.
»Vor ein paar Wochen. Ihr wart gerade alle im Feld, Steffi auch. Das Weib tauchte aus dem Maisfeld auf und sah so aus, als hätte es da drin übernachtet. Das muss die Mutter von der Steffi gewesen sein. Die hatte so was Kaltes, Arrogantes im Blick.«
»Und das sagst du mir erst jetzt?« Der Bauer starrte seine Frau mit zusammengekniffenen Augen an, die Hand um das Schnapsglas gelegt.
»Ich habe sie gleich vertrieben, ich habe geglaubt, sie sei eine Landstreicherin.«
»Habt ihr nix geredet?!«
»Doch …« Die Bäuerin druckste verlegen herum. »Sie hat behauptet, sie ist die Mutter von der Steffi und sie will schauen, wie es ihr geht. Eine jüngere Frau war auch noch dabei.« Sie fing wieder an, auf der Tischplatte herumzuwischen, aber der Bauer fegte ihre Hand mit dem Ellbogen vom Tisch. »Ich habe denen gesagt, da könnte ja jeder kommen und sie soll sich schleichen.«
»Gut hast du das gemacht.« Der Bauer legte plötzlich seine Pranke um ihre Schultern und tätschelte ihr das kurze aschblonde Haar. »Das hübsche Vögelchen lassen wir nicht mehr fliegen, gell, Bäuerin. Zu was die noch taugen wird …«
Frau Kellerknecht wehrte den Arm ihres Mannes ab, sprang auf und riss den Deckel vom dampfenden Topf: »Mei, jetzt hab ich die Kartoffeln vergessen!«
Sie nahm zwei Topflappen und goss in einem dampfenden Schwall die Kartoffeln ab.
»Und ihr zwei da draußen, hört sofort auf zum Streiten«, keifte sie durch das offen stehende Küchenfenster. »Sonst kommt die Schaukel in den Stall!«
Sie knallte den Topf auf die Anrichte. »Und was machen wir jetzt?«
»Meinst du die Kartoffeln? Machst halt an Kartoffelbrei!«
»Geh, Hans! Ich meine mit dem Wisch vom Amt!«
»Hier steht, ein Amtsarzt soll die Steffi begutachten, ob sie zur Adoption tauglich ist.«
Frau Kellerknecht klatschte die Topflappen auf den Tisch. »Natürlich ist sie das nicht. Viel zu schwach und zu dünn für ihr Alter. Macht noch ins Bett. Asozial eben.«
Herr Kellerknecht hob fragend die Augenbrauen.
»Macht sie wirklich? Muss ich ihr den Hintern versohlen?«
»Nein, aber wer will mir das Gegenteil beweisen?« Die Bäuerin zog eine Grimasse, als hätte sie einen zweideutigen Scherz von sich gegeben.
»Ich finde, die kann ganz gut anpacken. Und die kapiert auch, was man von ihr will. Letztens auf dem Feld …«
»Hans, kapierst du es nicht?« Frau Kellerknecht warf die Hände in die Luft. »Natürlich haben wir die schon sehr gut erzogen. Aber für uns, nicht für fremde Leute.«
Herr Kellerknecht schwieg und kippte sich den letzten Rest Schnaps hinter die Binde.
»Hier steht doch, ich soll sie am 14. Juli in Graz beim Jugendamt vorstellen.« Frau Kellerknecht riss das Schreiben an sich. »Das mach ich auch, die Steffi und ich, wir machen uns in der Großstadt einen richtig schönen Tag. Aber bei der Busfahrt …« Sie griff in das oberste Fach der alten Küchenkredenz, »… da tu ich ihr ein paar Tropferl vom Baldrian auf an Würfelzuckerl träufeln, den sie so gern mag. Den kriegt sie manchmal, wenn sie sehr brav war.«
Sie riss das Fenster auf. »So, jetzt reicht es mit dem Zank da draußen. Brigitte, du gehst ins Kinderzimmer spielen, und Steffi, du fegst den Hof zusammen! – Und wer nicht gehorcht, der kriegt die Weidenrute zu spüren!« Sie knallte die Teller auf den Tisch und legte klirrend das Besteck dazu. »Gut geputzt hat sie es, die Kleine. Wir können dann essen, wenn die Kinder aus der Schule kommen.«
Herr Kellerknecht nickte. »Wir machen schon alles richtig. Hat ja der Pfarrer auch gesagt. – Und die Steffi, die geben wir nimmer her.«
Knapp zwei Wochen später, 14. Juli 1977
Stell dich nicht so an, Steffi, jetzt lass dich nicht die ganze Zeit ziehen!«
Frau Kellerknecht, zur Feier des Tages mit frisch ondulierten Haaren und im reschen Dirndl, zerrte die Kleine hinter sich her, die verwirrt und benommen wirkte.
Vom Grazer Hauptbahnhof waren sie noch in die Straßenbahn gestiegen, und keines der lärmenden Verkehrsmittel hatte Steffi je zuvor in ihrem Leben gesehen. Ängstlich und überfordert zuckte sie bei jedem fremden Geräusch zusammen, mit ungewohnt trippelnden Schritten in dem etwas zu kurzen Dirndl, in das Frau Kellerknecht sie heute Morgen gezwängt hatte. Brigitte passte halt längst nicht mehr rein.
Die Kleine hielt die Hand ihrer Mutter ganz fest. Die vielen Autos und die quietschende Straßenbahn beunruhigten sie. Als neben ihr ein Rettungswagen mit Martinshorn vorbeiraste, umklammerte sie deren Beine und fing zu weinen an. »Mutti, ich will nach Hause!«
»Mach kein Theater«, schimpfte Frau Kellerknecht. »Die Leute gucken ja schon!«
»Aber es ist so laut hier, und ich bin so müde! Das tut mir in den Ohren weh!« Steffi presste sich die Hände auf die Ohren.
»Zerstör nicht deine Frisur! Wir kommen noch zu spät aufs Amt.« Wieder zerrte die Bäuerin harsch an dem Kinderhändchen und schleifte das benommene Kind durch die Straßen. Es herrschte flirrende Hitze, und die eng stehenden Häuser sowie der Asphalt schienen zu glühen.
Schließlich hatten sie das Jugendamt erreicht und nahmen im Gang auf einer Reihe von Holzstühlen Platz.
»Hier, spiel!«
Frau Kellerknecht zeigte auf eine Spielecke mit Bauklötzen und Legosteinen, um die sich Steffi normalerweise gerissen hätte, aber sie saß nur ganz schlapp auf dem Stuhl und ließ die dünnen Beinchen baumeln. Der Baldrian zeigte Wirkung.
»Oder such dir wenigstens was in dem Malbilderbuch aus!«
Ein Malbilderbuch war eine solche Kostbarkeit, die Steffi zu Hause auf dem Bauernhof nicht besaß. Nur Brigitte besaß eines und dazu noch dreißig verschiedenfarbige Buntstifte, die Steffi niemals auch nur berühren durfte. Und jetzt wollte das undankbare Kind sie nicht!
Ärgerlich zupfte Frau Kellerknecht an ihrer praktischen Kurzhaarfrisur und gönnte sich einen Schluck aus der mitgebrachten Flasche Limonade.
»Kommen Sie bitte weiter, der Herr Doktor hat jetzt Zeit für Sie.« Eine Jugendamt-Mitarbeiterin schritt vor ihnen her durch einen langen heißen Gang, in dem die Staubkörnchen im grellen Sonnenlicht vor den Fenstern tanzten. Draußen ratterte eine Straßenbahn vorbei, und als sie schrill klingelte, klammerte sich Steffi wieder an die Beine ihrer Mutti.
»Sie ist eben leicht hinterher in ihrer Entwicklung.« Frau Kellerknecht pflückte das Kind von sich ab und drehte es zurück in die richtige Richtung. Dabei lächelte sie die Mitarbeiterin anbiedernd an und freute sich, dass auch der Arzt die letzte Bemerkung gehört hatte, denn die Tür stand bereits offen.
»So? Das wollen wir doch mal selbst feststellen.« Der bebrillte Amtsarzt reichte Frau Kellerknecht und auch Steffi die Hand. »Sag, Steffi, womit willst du spielen?« Er deutete auf die Spielecke.
Steffi taumelte leicht benebelt auf ein großes Stofftier zu, das auf dem roten Sofa lag, und kuschelte sich ganz eng daran. In ihrem zu kurzen Dirndl legte sie sich mit dem fast gleich großen Bären auf das Sofa und schlang die Beine um ihn.
»Frau Kellerknecht, Sie wissen, warum Sie und Steffi hier sind?«
Frau Kellerknecht schaute ihn ratlos an und zuckte mit den Schultern.
»Ich mache heute ein paar Untersuchungen an Steffi, die zur Adoptionseignung beitragen sollen. Haben Sie das so weit verstanden?«
»Ja natürlich. Aber schauen Sie, so verhält sie sich immer, wirft sich gleich jedem Fremden an den Hals und will schmusen. Das ist doch nicht normal.« Argwöhnisch betrachtete sie das Kind.
»Steffi, magst du den Bären?« Der Arzt wandte sich dem Kind zu, das seltsam müde und weggetreten wirkte.
Lächelnd streckte Steffi dem Weißkittel das Stofftier entgegen.
»Schenkst du ihn mir? Das ist aber lieb von dir.« Gerade als der Arzt das Tier nehmen wollte, riss Steffi es wieder an sich und vergrub ihr Gesicht in dem Plüschfell.
»Sehen Sie, Herr Doktor, sie kann noch gar nicht unterscheiden, was mein und dein ist. Zu Hause will sie auch immer alles haben und beißt und kratzt, wenn ein Geschwisterkind ihr ein Spielzeug streitig macht. Außerdem macht sie noch ins Bett.«
Die Sekretärin maß Länge und Körpergewicht, der Arzt schaute ihr in den Mund und hörte ihre Lungen ab. Steffi ließ alles ohne Murren über sich ergehen.
»Das ist ein kerngesundes und braves Kind.« Der Doktor strich Steffi über das dunkle Lockenhaar und wandte sich lächelnd Frau Kellerknecht zu. »Mit ihr haben Sie sicher viel Freude.«
»Ja, schon, aber mir kommt es vor, als sei sie ein wenig zurückgeblieben. Meine Tochter Brigitte kann schon viel besser reden.« Frau Kellerknecht verschränkte die Arme vor der Brust. »Schauen Sie! Die hier spricht ja gar nicht! Fast als könnte sie es nicht!«
»Na ja, Kinder entwickeln sich unterschiedlich. Außerdem war sie drei Jahre lang im Heim.« Der Doktor fuhr auf seinem fahrbaren Stuhl hinter den Schreibtisch und warf einen Blick auf die Akten. »Aus Erfahrung weiß ich, dass die Kleinen dort im Heim gerade mit dem Nötigsten versorgt werden, aber Zuwendung und Förderung findet nicht statt.«
»Ja, und wir müssen das jetzt ausbaden.« Frau Kellerknecht zog einen Flunsch und fächelte sich Luft zu. »Dabei tun wir immer mit ihr üben, gell, Steffi. – Sehen Sie, sie reagiert nicht.«
Der Kinderarzt fuhr auf seinem Rollhocker hinter den Schreibtisch. »Aber wir machen noch einen entwicklungspsychologischen Test. Dann weiß ich mehr.« Er machte der Helferin ein Zeichen, und gemeinsam ging das eingespielte Team an die Arbeit. »Wollen Sie draußen warten, Frau Kellerknecht? Vielleicht mögen Sie ein Eis essen gehen? In der Nähe gibt es ein kleines Café.«
»Nein, ich lasse das Kind nicht eine Sekunde aus den Augen. Wo denken Sie hin.«
Täuschte sich der erfahrene Amtsarzt, oder wurden Steffis Augen noch ausdrucksloser?
In der nächsten Viertelstunde musste Steffi Bilder von Häusern, Menschen und Landschaften erkennen und benennen, Gesagtes wiederholen und selbst zeichnen. Sie arbeitete jedoch eifrig mit, so gut sie eben konnte, in ihrem benebelten Zustand.
Wie selten war es in ihrem kurzen Leben bisher vorgekommen, dass man ihr ganz ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte? Gegen jede Müdigkeit ankämpfend, genoss sie die Zuwendung dieses gütigen Mannes und seiner freundlichen Mitarbeiterin. Zum Schluss mochte sie sich auf den Schoß des Arztes setzen. Sie war übermüdet und überfordert, aber zu dem freundlichen, zugewandten Mann hatte sie Vertrauen und kuschelte sich an ihn.
Der Arzt lächelte. »Schön, dass die Kleine so unbeschwert ist.«
»Da haben Sie es wieder. Sie wirft sich fremden Leuten an den Hals. Speziell Männern. – Nehmen Sie das ruhig zu Protokoll.«
Frau Kellerknecht warf der Assistentin einen auffordernden Blick zu.
»Welchen Männern?« Der Arzt zog die Stirn in Falten.
»Na ja, dem Postboten und dem Pfarrer.«
»Die kennt sie ja. Das ist doch nicht ungewöhnlich.« Er tätschelte dem Kind übers Haar.
»Meine Brigitte macht das nicht. Die weiß von Natur aus, was sich gehört.«
Der Arzt hielt mit dem Tätscheln inne und zog die Augenbrauen hoch.
»In den Kindergarten geht Steffi nicht?«
»Nein, dazu ist sie nicht in der Lage. Sie kann keine Kontakte zu anderen Kindern knüpfen, ohne dass es Zank und Streit gibt. Sie beißt und kratzt und schreit, wenn nicht alles nach ihrem Willen geht. Man muss sich mit ihr in der Öffentlichkeit schämen. Jemand anders käme mit diesem Wildfang gar nicht zurecht.«
Der Arzt machte sich über den Wuschelkopf der fast schlafenden kleinen Patientin hinweg Notizen. Alles, was die Frau behauptete, stand für ihn im krassen Widerspruch zu dem Erlebten.
»Womit spielt die Steffi denn am liebsten?«
»Sie sitzt stundenlang auf der Schaukel und starrt vor sich hin. Alleine weiß sie nichts mit sich anzufangen. Ich könnte sie gar nicht in den Kindergarten geben. Sie macht den anderen Kindern Angst.« Frau Kellerknecht beugte sich vertraulich nach vorn, sodass ihr pralles Dekolleté fast aus dem Dirndl rutschte: »Sie stammt von einer Asozialen ab, ich hab die mal gesehen, die hat bei uns im Kukuruzfeld übernachtet, so etwas tut man doch nicht, außerdem Vater unbekannt, aber Türke. Sie wissen schon, einer von den Sozialgeld-Schmarotzern.«
Der Arzt überhörte das alles geflissentlich und schrieb wieder etwas in Steffis Akte.
»Förderung ist sehr wichtig in ihrem Alter. Vielleicht braucht das Mädchen noch etwas Zeit, um mit Kindern ihrer Altersklasse gleichzuziehen. Vermutlich ist es für eine Adoption zu früh. Vielleicht nächstes Jahr.«
Frau Kellerknecht klappte so heftig den Verschluss ihrer Tasche zu, dass das schlafende Mädchen hochschreckte.
»Meine Rede.« Abrupt stand sie auf und zog Steffi vom Schoß des Arztes. »Und das hier darf erst gar nicht einreißen. Reiß dich zusammen, Steffi. Was soll denn der Doktor von dir denken.«
»Sie ist gerade mal fünf, Frau Kellerknecht.«
»Wir behalten sie gerne bei uns. Gell, Steffi. Sie darf bei uns sein, wie sie ist.«
»Dann soll es so sein.«
Der Arzt reichte Frau Kellerknecht und auch Steffi die Hand. »Ich sehe euch nächstes Jahr.
Möchtest du dir noch ein Zuckerl aus dem Glas hier mitnehmen?«
Steffi schaute ihre Mutti fragend an. Durfte sie? Frau Kellerknecht nickte gnädig.
»Aber nur ausnahmsweise, Steffi. Zucker ist schlecht für die Zähne. Das weißt du ja.«
Ein Jahr später, Juli 1978
Steffi, komm mit in den Stall!« Mutti wies mit einer eindeutigen Kopfbewegung auf mich.
Ich stand wie jeden Morgen nach dem Frühstück auf meinem Schemel am Spülbecken und wusch das Geschirr. Die Geschwister waren allesamt in die Schule aufgebrochen, meine gleichaltrige Pflegeschwester Brigitte in den Kindergarten. Ich sollte noch ein halbes Jahr zuwarten, wie die Mutti gemeinsam mit der Kindergärtnerin entschieden hatte. Diese Morgenstunden gehörten Mutti und mir allein, und ich genoss das Zusammensein mit ihr. Sprach sie doch mit mir und nahm mich zur Kenntnis. Ich durfte ihr helfen, und das machte mich glücklich. Immer wieder sagte sie mir, wie froh und dankbar ich sein könnte, dass ich bei ihrer Familie leben durfte. Und das war ich ja auch. Sonst müsste ich ins Heim, und das wäre ganz schrecklich.
»Halt mal die Ferkel unter die Lampe, ich muss schauen, ob die Kastrationsstelle gut verheilt ist.«
»Ja, Mutti.«
Barfuß wie immer trat ich in dem schmutzigen Stall auf dem klebrigen Stroh von einem Bein auf das andere. Der verschmierte, mit Stroh und Kot verschmutzte Gitterrost bohrte sich schmerzhaft und kalt in meine nackten Fußsohlen, und ich drohte auszurutschen.
»Mutti? Warum dürfen die echten Kinder Stiefel anziehen und wir Pflegekinder nicht?«
»Halt still und hampele nicht immer herum. Der Vati hat das so bestimmt, und so wird es gemacht. Die Pflegekinder können barfuß arbeiten. Das härtet ab.«
Mutti drückte mir ein sich heftig wehrendes Ferkel nach dem anderen in die Hände, und ich hielt die zappelnden, quiekenden Wesen so weit von mir ab, dass sie mich mit ihren zuckenden Hufen nicht ins Gesicht treten konnten. Ein paarmal hatten sie mich schon erwischt, und unter meinem Jochbein pochte ein höllischer Schmerz. Ich kniff die Augen zu und hielt den Atem an.
»Unter die Lampe sollst du sie halten!«
Mutti zerrte so sehr an mir, dass mein Fuß durch den Gitterrost rutschte und ich mir den Knöchel aufstieß.
»Au, Mutti! Das tut weh!«
»Du bist einfach nur ungeschickt und bockig!« Sie zerrte mein Beinchen wieder zurück durch den Rost. Der innere Knöchel war blutig und dreckverschmiert. Er brannte wie Feuer. Tränen schossen mir in die Augen, aber ich blinzelte sie tapfer weg. Heulen brachte nicht nur nichts, sondern es folgte fast immer eine wohlverdiente Watschn. »Jetzt hast du wenigstens einen Grund zum Heulen!«, hieß es regelmäßig. Also schluckte ich den Kloß in meinem Hals herunter.
»So, und jetzt schau, dass alle Ferkel bei der Muttersau eine Zitze abkriegen!« Mutti richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Wehe, du lässt eines verhungern, dann lernst du aber Vati kennen!«
Ich kletterte trotz des blutenden Knöchels über das hölzerne Gatter und schubste und zerrte die sich balgenden und zeternden Ferkel immer wieder in die gewünschte Richtung, bis endlich jedes von ihnen genüsslich schmatzend an einer Zitze der Sau lag. Die kleinen Äuglein waren geschlossen, die Schwänzchen rotierten im Kreis, außer dem erschöpften Schnaufen der Muttersau und dem fiependen Saugen der Ferkel war nichts mehr zu hören. Es stank fürchterlich, aber das war ich ja nicht anders gewohnt. Dutzende von schwarzgrün schillernden Fliegen umsurrten mich und die anderen armen Schweine.
»Endlich Ruhe im Stall«, entfuhr es mir erleichtert. Mein Knöchel schwoll pochend an, und ich trat schon ganz taub vor Schmerzen von einem Bein auf das andere, immer barfuß in der Gülle.