Im Netz des Mörders - Nicky DeMelly - E-Book
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Im Netz des Mörders E-Book

Nicky DeMelly

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Beschreibung

Wer wird überleben, wenn die Dunkelheit zuschlägt?
Ein packender Kriminalroman, der die Leserschaft bis zur letzten Seite in Atem hält

Kriminalkommissar Ben Kollang, gezeichnet von einem dramatischen Einsatz vor drei Jahren, ertränkt die dunklen Schatten seiner Vergangenheit nur zu gerne in Alkohol. Als er nach einem seiner zahlreichen Barbesuche sein Handy verliert, findet er zuhause in seiner Cloud verstörende Aufnahmen. Darauf zu sehen: Ein gefesseltes und blutüberströmtes Opfer. Identität unbekannt. Nach der grausamen Entdeckung beginnt ein schauerlicher Albtraum, denn die Jagd nach Antworten führt Ben zu einem brutalen Killer, der es persönlich auf ihn abgesehen hat. Und bald auch auf diejenigen, die er liebt …

Erste Leser:innenstimmen
„Ein traumatisierter Kommissar mit einem Alkoholproblem wird das Ziel eines brutalen Killers. Spannung pur!“

„Fesselnder Krimi und ein Muss für Alle, die das Gefühl von Gänsehaut lieben …“
„Ich bekomme ‚Tatort‘-Vibes und es war ein echter Lesegenuss. Sehr düster.“
„Kommissar Bens Leben wird zum Albtraum und ich konnte den Kriminalroman nicht weglegen, bis ich nicht wusste, wie es ausgeht.“

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Seitenzahl: 479

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Über dieses E-Book

Kriminalkommissar Ben Kollang, gezeichnet von einem dramatischen Einsatz vor drei Jahren, ertränkt die dunklen Schatten seiner Vergangenheit nur zu gerne in Alkohol. Als er nach einem seiner zahlreichen Barbesuche sein Handy verliert, findet er zuhause in seiner Cloud verstörende Aufnahmen. Darauf zu sehen: Ein gefesseltes und blutüberströmtes Opfer. Identität unbekannt. Nach der grausamen Entdeckung beginnt ein schauerlicher Albtraum, denn die Jagd nach Antworten führt Ben zu einem brutalen Killer, der es persönlich auf ihn abgesehen hat. Und bald auch auf diejenigen, die er liebt …

Impressum

Erstausgabe März 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98778-320-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98778-863-5

Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © STILLFX, © Foto-Ruhrgebiet, © getgg stock.adobe.com: © banphote depositphotos.com: © Ensuper Lektorat: Astrid Pfister

E-Book-Version 01.08.2024, 10:53:17.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Im Netz des Mörders

Triggerwarnung

Enthält Szenen mit Folter und sexueller Gewalt

Kapitel 1

»Karl, tun Sie das nicht!« Bens Stimme war nicht mehr als ein Krächzen. Hilflos warf er einen Blick über die Schulter auf seine Kollegen, die allerdings ähnlich überfordert wirkten wie er. Großartig. Warum war er doch gleich so schnell die Alutreppen dieses stillgelegten Teils der Fabrik hochgerannt? Damit er Karl nun am nächsten stand und es versaute? Ganz toll hinbekommen.

Er räusperte sich und machte einen zögerlichen Schritt nach vorne. Sein Gegenüber reagierte sofort und trat näher an die Schwelle zum Abgrund hinter ihm. Das Quietschen seiner Gummisohle auf dem Beton hallte in Bens Gehirn nach. Ein kaltes Grinsen lag auf Karls Gesicht, eine Spur von Wahnsinn blitzte in seinen Augen auf.

Er macht ernst!, schoss es Ben durch den Kopf. Der Druck in seinem Bauch erhöhte sich und brachte seinen Körper zum Beben.

Du musst etwas tun!

Aber was? Das war sein erster Einsatz als Kommissar! Wie sollte er wissen, was er dem Mann erzählen musste? In Gedanken ging er seine theoretischen Kenntnisse durch, die er sich in der Ausbildung angeeignet hatte. Damals hatte er sich genau diese Situation herbeigewünscht, um als strahlender Held daraus hervorzugehen. Ja, Probleme mit Minderwertigkeitskomplexen hatte er da nicht gehabt. Nun stand er hier und war überfordert wie nie zuvor in seinem Leben.

Dieses Anstarren brachte ihn nicht weiter. Langsam hob er die Hände – und ließ sie wieder sinken. Karl und auch seine Kollegen mussten nicht sehen, wie sehr sie zitterten. »Kommen Sie schon, lassen Sie uns reden. Weg kommen Sie hier sowieso nicht mehr und sterben wollen Sie doch nicht wirklich, oder? Es findet sich immer eine Lösung.«

Karl hob die Augenbrauen und lachte lauthals los. »Der war gut!« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Kleiner, was bist du denn für ein Bulle? Kennst du die Strafen für Mord nicht? Ich habe die Wahl zwischen lebenslänglich für die sieben Leichen oder zu springen. Was glaubst du, welchen Weg ich wählen werde?«

Ben schluckte schwer, er hatte keine Ahnung, was er darauf erwidern sollte. Warum zum Teufel kam von den anderen nichts? Erneut warf er einen flehenden Blick zurück, aber wer ihn nicht ignorierte, zuckte mit den Schultern. Verdammter Mist! Die konnten ihn doch jetzt nicht hängen lassen!

Doch. Konnten sie. Und sie taten es auch, als Karl einen weiteren Schritt nach hinten machte. Der Beton war zu Ende. Ebenso wie das Geländer, an dem er sich notfalls noch hätte festhalten können.

Tu endlich was!

Aber ihm fiel nichts ein, was er machen oder sagen könnte. Zumal er den Kerl verstehen konnte. An seiner Stelle hätte er nur eine Sache anders gemacht: Er hätte nicht gezögert.

Karl gab ihm die Chance, ihn aufzuhalten. Ihn festzunehmen, dorthin zu bringen, wo er hingehörte … hinter schwedische Gardinen. Und die würde er nutzen. Da ihm die Worte fehlten, konnte er nur noch handeln. Er atmete tief durch und spurtete los. Fünf, vielleicht sechs Schritte lagen zwischen ihnen. Schnell gemacht. Er musste ihn nur passend am Kragen erwischen. Gleichzeitig mit der anderen Hand das Geländer umklammern, damit sie nicht beide abstürzten. Das war zu schaffen!

Noch zwei Schritte. Er streckte die Arme aus. Einen in Karls Richtung, die andere Hand schwebte über dem Metallrohr. Er musste nur zugreifen, sobald er seinen Kragen hatte.

Noch ein Schritt. Warum kam er nicht näher?

Weil sich der Kerl fallen ließ. Verflucht! Ben warf sich nach vorne, streckte seine knapp eins neunzig, soweit es ihm möglich war. Und verfehlte ihn um Millimeter. Ebenso wie das Geländer. Anstatt ihn zu retten, würde er mit ihm in die Tiefe stürzen. Was unweigerlich auch seinen Tod zur Folge hätte.

Galt er dann als sein achtes Opfer? Das würde er nicht mehr herausfinden. Wieso kamen ihm derart dämliche Gedanken, wenn er kurz vor dem Tode stand? Kein Film über seinen Lebensweg, der an ihm vorbeiglitt. Keine tollen Erinnerungen, von denen es ohnehin nur eine Handvoll gab. Nur dieser Anblick des fallenden Mannes und das Wissen, dass Bens Leben nur zehntel Sekunden nach dem von Karl beendet sein würde.

Er starrte in den Abgrund. Alles verlief wie in Zeitlupe, Karl war noch nicht aufgeschlagen. Mit ausgebreiteten Armen und einer erschreckenden Ruhe im Gesicht sah dieser ihn an. Er hatte sein Ende offenbar akzeptiert. Seine Augen strahlten eine Genugtuung aus, die sich in Bens Ego fraß. Dann kam der Aufprall.

Ben würde auf ihm landen. Dieser Gedanke machte es noch schlimmer.

Etwas schnürte ihm die Luft ab. Nicht die Panik. Es war sein Kragen. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht fiel. Mehrere Hände hatten ihn gepackt, rissen ihn zurück und nahmen ihm die Sicht nach unten.

Ben war gerettet. Musste sich nicht mit den Eingeweiden dieses Monsters vermengen, dessen Überreste dreißig Meter tiefer großflächig verteilt lagen.

Dank seiner Unfähigkeit, ihn aufzuhalten.

Kapitel 2

Ein Stoß ins Kreuz ließ Ben nach vorne kippen. In Richtung Abgrund! Panisch wedelte er mit den Armen. Die anderen hatten ihn festgehalten und sogar zurückgezogen! Wieso sollte er nun doch in die Tiefe auf Karls Überreste stürzen?

Seine Hände fanden Halt. Erleichtert sackte er ein Stück in sich zusammen.

Aber wer hatte ihn umbringen wollen? Mit rasendem Herzschlag fuhr er herum. Der Schwindel nahm ihm fast das Gleichgewicht. Schweiß brannte in seinen Augen. Hektisch wischte er ihn weg und machte einen Schritt nach vorn. Irritiert hob er die Brauen, als das metallische Klackern seiner Schuhsohle ausblieb. Das Aluminium am Boden, die Wände aus Kalksandstein – all das hatte sich in Holz verwandelt. Der staubige Zementgestank war dem abgestandenen Geruch nach Bier und Schnaps gewichen.

»Alles klar?«, erklang eine rauchige Stimme hinter ihm.

Erneut fuhr Ben herum. Starrte in kleine, hellblaue Augen in einer faltenreichen Visage. Er kannte diesen Mann. Er war kein Polizist. Woher …

Er sah an ihm vorbei, auf das Flackern der Leuchtreklame von Theos Zapfenstreich an der Wand.

Heilige Scheiße.

Mit zitternden Händen rieb er sich das schweißnasse Gesicht und ließ sich auf den Barhocker neben ihm gleiten. Blamieren konnte er sich. Wie gut, dass hier heute nichts los war.

Wieder fiel sein Blick auf Theo, der ihn prüfend musterte, während er ein Glas polierte.

»Ja, alles okay.« Seine Stimme klang gebrochen. Eilig räusperte er sich. »Gibst du mir noch einen Whiskey?«

»Ist der letzte, ich schließe gleich.«

»Schon so spät?« Mit gerunzelter Stirn sah Ben auf die Uhr neben dem Schild. Kurz vor eins. Es erschreckte ihn, wie schnell die Zeit vergangen war. Nur gut, dass er morgen frei hatte.

Er genehmigte sich einen großen Schluck. Seine Hand zitterte, aber wenigstens ging sein Puls langsam wieder runter.

Der glühende innere Drang, über seinen Flashback von gerade zu reden, irritierte ihn. Das machte er, wenn überhaupt, nur mit Theos Kellnerin Melina. Sie hatte jederzeit ein offenes Ohr für ihn. Vorausgesetzt, sie hatte Schicht, was heute nicht der Fall war.

Seltsam, dabei war sie dienstags immer hier.

»Theo, wo ist Melina?«

»Krank.« Missmutig verzog er das Gesicht, während er das Glas prüfend gegen das Licht hielt.

Verdammt. »Länger?«

»Bänderriss. Hat gerade noch geschrieben, dass die eine Woche, die sie bisher krankgeschrieben ist, wohl nicht reichen wird.«

Ben seufzte tief. Das würde dauern. Dabei war sie die Einzige, mit der er über seine Probleme redete. Seit sie von seinem missglückten ersten Einsatz vor drei Jahren mitbekommen hatte, als die Jungs ihn hierhergeschleppt hatten, hatte er ihr bedenkenlos von seinen Albträumen und Flashbacks erzählen können. Sie hörte zu, ohne groß zu kommentieren. Was er anfangs in einem Moment unerträglicher Frustration angefangen hatte, war inzwischen zu einer Art Seelentherapie für ihn geworden, wenn ihn das schlechte Gewissen mal wieder aufzufressen drohte.

Ob er Theo mal nach ihrer Nummer fragen sollte?

Er entschied sich dagegen. Wäre sie daran interessiert, sich sein Gejammer auch in ihrer Freizeit anzutun, hätte sie das längst signalisiert.

Ben kam allein klar. Das war er immer schon. Alles, was er jetzt brauchte, war Schlaf.

Er leerte sein Glas und zahlte. »Richte Melina gute Besserung von mir aus, wenn du von ihr hörst.«

»Mach ich.«

Draußen empfing ihn klare, kühle Luft. Der Sichelmond leuchtete schwach vom sternenklaren Himmel. Ben taumelte, es war wohl doch ein Whiskey zu viel geworden. Aber wenn er sich konzentrierte, klappte es einigermaßen mit dem geradeaus Laufen.

Sobald er die kleine Siedlung und somit auch die Straßenlaternen hinter sich gelassen hatte, sah er nahezu nichts mehr. Das wäre halb so wild, müsste er nicht in seinem Zustand über einen unebenen Trampelpfad laufen. Wie gut, dass die Handys heutzutage mit Taschenlampen ausgestattet waren.

Er griff in die Jeanstasche. Und blieb stocksteif stehen. Tastete hektisch sämtliche anderen Taschen ab. Da waren Schlüssel, Geldbörse, ein Paket Taschentücher. Das war alles.

Fuck! Sein Handy musste noch in der Kneipe liegen. Hoffentlich war Theo noch da.

Er hat es sicher schon gefunden, beruhigte er sich selbst und eilte zurück.

Von Weitem sah er, dass der alte Wirt gerade abschloss.

»Stopp, warte mal!« Er legte einen Zahn zu.

Theo erwartete ihn mit genervter Miene. »Was willst du noch? Ich bin müde.«

»Ich hab mein Handy verloren. Hast du es gefunden?«

»Nein. Ich gucke morgen nach.«

Echt jetzt? »Komm schon, lass mich nicht hängen. Es kann ja nur am Tresen liegen. Oder auf dem Klo.«

Er sah ihn derart finster an, dass sich Ben einer Absage sicher war, dann jedoch seufzte er tief und schloss wieder auf.

»Danke, Mann. Hast was gut bei mir.«

»Jau, mindestens ein Ticket fürs Falschparken«, brummte er.

Grinsend schlug Ben ihm auf die Schulter. »Das fällt zwar nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, aber ich sehe, was ich machen kann.«

Er schob sich an Theo vorbei und betätigte den Lichtschalter. Für einen Moment war er geblendet, dann sah er sich um. Auf seinem Platz an der Theke lag es nicht.

»Ich leih mir mal dein Telefon«, sagte er, während er danach griff und seine Nummer eintippte. Der Anruf ging nicht raus. Verdammt! Aber es passte, der Akku war nicht mehr der Beste.

Seufzend stellte er das Mobilteil wieder in die Ladestation und suchte den Raum ab. Er hockte sich hin und sah unter Tische und Stühle. Was Blödsinn war, wie hätte es dorthin kommen sollen? Er hatte nur am Tresen gesessen und war pinkeln gegangen.

Ja, auf dem Klo musste es sein.

»Wo willst du denn jetzt noch hin?«, rief Theo genervt hinter ihm her.

»Ich beeile mich.«

Daraus wurde nichts. Er nahm jeden Winkel und alle Kabinen unter die Lupe, obwohl er nur das Pissbecken genutzt hatte, und raufte sich die Haare. So ein Smartphone konnte sich doch nicht in Luft auflösen!

Erneut durchsuchte er seine Taschen. Ohne Erfolg. Das konnten doch nicht wahr sein! Wo hatte er es zuletzt gehabt?

»Herr von und zu Kollang, ich schließe jetzt zu!«

Theo … den hatte er ganz vergessen. Klar, er wollte schlafen. Ben hatte ja alles abgesucht, dennoch hielt er auch auf dem Weg zurück zum Ausgang den Blick gesenkt.

»Gefunden?«

Ben schüttelte mit zusammengepressten Lippen den Kopf und trat auf den geschotterten Parkplatz vor der Kneipe.

»Taucht schon wieder auf.«

Dessen war sich Ben nicht so sicher. Er vermutete eher, dass es ihm gestohlen … Augenblick mal. »Theo, hast du mitgekriegt, dass ich angerempelt wurde?«

»Jau. Da mag dich einer nicht.« Der alte Mann schmunzelte und schloss die Bar erneut zu.

»Kennst du ihn? Seinen Namen? Ist dir irgendwas aufgefallen? Eine Bewegung vielleicht … dass er sich was in die Tasche gesteckt hat?«

Er musterte Ben stirnrunzelnd. »Kannte ich nicht, war zum ersten Mal da. Du denkst, der hätte es dir geklaut? Glaub ich nicht. Der machte nicht den Eindruck.«

Ben hob eine Braue. »Man guckt den Leuten immer nur vor den Kopf. Glaub mir, manchmal wundert man sich. Hat er irgendwas gesagt? Ich war in Gedanken und hab’s nicht mitbekommen.«

Theo lachte auf. »Hab mich schon gewundert. Bei Blöder Bulle gehst du sonst immer hoch wie eine Rakete.«

Ein besonders netter Zeitgenosse also.

»Überleg noch mal. Ich brauche einen Namen oder die seiner Begleiter.«

Theo funkelte ihn an. »Und ich brauche Schlaf. Du übrigens auch.«

»Vor allem brauche ich mein Handy. Komm schon, denk nach. Umso eher kannst du pennen.«

»Das kann ich jetzt schon. Werde ich auch, du hast mich lange genug aufgehalten. Tschüss.«

Mit diesen Worten ließ er Ben stehen, der hart die Kiefer aufeinanderpresste. Kurz dachte er darüber nach, ihn ins Haus nebenan zu begleiten, wo Theo wohnte, aber das hätte nichts gebracht. Er konnte sturer sein als ein Esel.

Ben ließ es, zumal auch er schleunigst ins Bett musste. Ihm fielen fast die Augen zu.

Den Weg, den er eben bereits genommen hatte, untersuchte er akribisch bis zum Feldweg. Ab hier wurde es ohne Taschenlampe zur echten Herausforderung. Zu allem Übel suggerierte ihm sein Bauchgefühl auf unangenehme Weise, dass er das Handy ganz schnell finden sollte.

Kapitel 3

Ben atmete auf, als am Ende der Buckelpiste die ersten Straßenlaternen seinen Weg erhellten. Wenn ihm doch nur einfallen würde, wo und wann er das Mistding zuletzt in der Hand gehabt hatte! Er erinnerte sich lediglich daran, es morgens eingesteckt zu haben, ehe er zur Arbeit gefahren war. Womit er nur zwanzig Stunden Revue passieren lassen musste, in denen er es unbemerkt verloren haben könnte. Das war doch zum Kotzen!

Bis nach Hause suchte er jeden Millimeter der Strecke ab und verrenkte sich sämtliche Gliedmaßen, um im Auto nichts zu übersehen. Er stellte sogar Zimmer für Zimmer auf den Kopf.

Das Handy blieb verschwunden.

Resigniert legte er sich ins Bett und bemühte sich um seinen bitternötigen Schlaf. An Entspannung war jedoch nicht zu denken. Zunehmend frustriert wälzte er sich herum und fand keine Ruhe. Das Gedankenkarussell drehte sich mit voller Geschwindigkeit. Sobald ihn der Schlaf fast übermannte, schreckte er wieder hoch. Dabei half ihm der Alkohol sonst immer wenigstens beim Einschlafen.

Die Angst war zu groß. Angst vor diesem verfluchten Albtraum, der ihn seit ziemlich genau drei Jahren nahezu jede Nacht quälte. Schon wenn er nur daran dachte, kamen ihm die Bilder wieder in den Kopf und animierten sein Herz zu Höchstleistungen.

Damals hatte man ihm Absicht unterstellt. Auf den Kameras schräg hinter ihm hatte es so ausgesehen, als hätte er Karl in den Abgrund gestoßen. Die folgenden Stunden, bis ihn sämtliche anwesenden Kollegen entlastet hatten, waren die Hölle gewesen. Nach seinem Vollversagen beim ersten Einsatz und dem Anblick von Karls Überresten war dieser Vorwurf zu viel gewesen. Er konnte sich noch heute genau an das Gefühlschaos erinnern, das ihn übermannt hatte. Die Machtlosigkeit, die Verzweiflung und Frustration, die ihn in eine Art Schockzustand versetzt hatte. Das wollte er nie wieder erleben.

Obwohl das Thema vonseiten der Vorgesetzten schnell abgehakt gewesen war, hatte er sich weiterhin schuldig gefühlt. Diese Schuld fraß sich, wann immer er zur Ruhe kam, durch seine Eingeweide. Dass er das damals vor der Psychologin hatte verbergen können, grenzte für ihn noch heute an ein Wunder.

Scheinbar war sein Wille, direkt weiterarbeiten zu dürfen, größer gewesen als der Wunsch nach Verarbeitung. Das hatte sich bis heute nicht geändert, er liebte seinen Job nach wie vor. Dennoch hätten ihm ein paar Stunden bei ihr vermutlich nicht geschadet.

Doch dafür war es jetzt zu spät. Nie wieder würde er das Thema komplett auffrischen. Das, was er mit Melina besprach, war nur ein Bruchteil des Geschehens und schon völlig ausreichend.

Stöhnend warf er sich auf die andere Seite und drängte die Erinnerungen zurück. Dorthin, wo sie hingehörten, nämlich in die hintersten Winkel seines Gehirns. Stattdessen kam ihm das Handy in den Sinn. Na toll. Nicht hilfreich.

Nach weiteren Minuten des Herumwälzens schlug er frustriert die Fäuste auf die Matratze, schwang sich auf die Bettkante und raufte sich die Haare. Seine Augen brannten vor Müdigkeit, aber sein Gehirn lief auf Hochtouren. So würde er nie in den Schlaf finden.

Vielleicht half ja der Fernseher.

Gähnend schleppte er sich in seinen Boxershorts die Treppe herunter und ließ sich auf das Sofa fallen. Zuckte zusammen und stöhnte genervt auf. Musste Leder im ersten Moment immer so kalt sein?

Er zappte sich durch die Programme. Dauerwerbesendung, Porno, uralter Western, noch ein Porno. Großartige Auswahl. Einer der Sportsender brachte eine Doku über einen ihm unbekannten Fußballer. Auch uninteressant. Da blieb wohl nur ein Film. Wofür er allerdings aufstehen müsste, um die Fernbedienung für den Receiver aus der Schublade unter dem Fernseher zu holen.

Er konnte sich nicht aufraffen. Dann startete er eben den Laptop, der auf dem Tisch stand. Ein paar YouTube-Videos waren immer gut.

Apropos Video – was für Aufnahmen waren eigentlich auf seinem Handy? Der Gedanke, dass ein vermeintlicher Dieb in seiner Privatsphäre herumschnüffelte, machte ihn nervös. Hatte er peinliche Bilder drauf? Falls der Dieb überhaupt drankam, immerhin war das Smartphone ja passwortgeschützt. Aber wenn, wollte Ben wenigstens wissen, ob er sich lächerlich machte.

Vom Junggesellenabschied eines Basketballkollegen letztes Wochenende war das durchaus möglich. Die Aufnahmen hatte er sich noch nicht angesehen und den Jungs traute er eine Menge Blödsinn zu.

Er startete den Rechner und loggte sich in die Cloud ein. Dort wählte er die letzten zwanzig Fotos aus und klickte die Diashow an.

Das Blut schoss ihm ungebremst ins Gesicht. Heilige Scheiße, in der Öffentlichkeit musste er seinen Alkoholkonsum drastisch reduzieren. Wann hatte er sich bis auf die Unterhose ausgezogen? Und wer hatte die Fotos gemacht?

Gnadenlos präsentierte ihm das Programm weitere Bilder, die ihn während eines ungelenken Tanzes auf den Tischen, in lächerlichen Posen eines zugekifften Sängers, übermotivierten Gitarristen und arroganten Models zeigten. Es wurde immer peinlicher und kostete ihn zunehmend Überwindung, die Show nicht abzubrechen.

Das folgende Foto war unscharf, er konnte nur etwas Helles erkennen. War das Haut? Dann allerdings nicht seine, denn so weiß war er nur am … oh Gott, hatte er seinen nackten Hintern gezeigt?

Nächstes Bild. Ben runzelte die Stirn. Diese zarte Wade war definitiv nicht seine, sondern die einer Frau. Ein One-Night-Stand? Der Erste nach drei Jahren, und dann erinnerte er sich nicht mal daran?

Aber wieso gab es Fotos davon? So etwas würde er niemals machen. Derart besoffen konnte er gar nicht sein.

Nein, sicher hatte sie mit ihm nur über Tische und Bänke getanzt. Das könnte auch den Kratzer an ihrem Arm erklären, der auf dem nächsten Bild zu sehen war.

Wer war sie? Gab es kein Gesichtsfoto?

Nun wurde ihm eine Hand präsentiert. Definitiv weiblich, jedoch nicht die einer Frau, die es sich auf einer Party gut gehen ließ. Eher wie frisch von der Gartenarbeit, wenn man den Dreck unter den teils abgebrochenen Fingernägeln bedachte.

Ein dumpfes Gefühl machte sich in seinem Magen breit. Irgendetwas stimmte da nicht.

Was haben die anderen angestellt? Und wieso sind die Fotos mit meiner Kamera gemacht worden?

Nächstes Bild. Ben erstarrte. Eine Klinge, wieder neben weißer Haut. Es könnte die Flanke der Frau sein. Was bedeuten würde, dass sie verflucht wenig Kleidung trug.

Das Messer zog ihn in seinen Bann. Es war keins, was man in einem normalen Haushalt fand, sondern ein Springmesser, wie er es lange nicht mehr gesehen hatte. Mit blutverschmierter Schneide.

Schlagartig verdoppelte sich die Geschwindigkeit seines Herzschlags. Mit zitternden Fingern wischte er sich über das Gesicht und klickte zwei Bilder zurück. Besah sich den Kratzer auf dem Arm genauer. Er war oberflächlich, konnte aber durchaus von dem Messer stammen. Doch dafür war zu viel Blut an der Klinge. Was für ein gottverdammter Irrsinn war das? Wieso gab es diese Bilder auf seiner Cloud? Was für einen makabren Streich spielten ihm die Jungs?

Stammten sie wirklich von ihnen? Nichts deutete auf einen der Orte hin, an denen sie gefeiert hatten. Waren sie später noch woanders gelandet, woran er sich nicht erinnerte?

Eine letzte Datei wurde ihm angezeigt. Ein Video. Vielleicht klärte ihn das ja auf.

Irgendetwas hielt ihn zurück. Eine Ahnung. Angst. Er wollte es sich nicht ansehen. Aber dann meldete sich der Polizist in ihm. Mit aufeinandergepressten Lippen klickte er das Video an.

Es dauerte zwölf Sekunden, doch diese fühlten sich an wie Stunden.

Kapitel 4

Ben war wie erstarrt. Das konnte unmöglich real sein. Nein, der Alkohol spielte ihm einen Streich. Anders war das nicht zu erklären.

Es kostete ihn Überwindung, aber es nützte nichts – er musste es sich noch einmal ansehen. Sich selbst beweisen, dass sein Verstand dringend Schlaf brauchte. Dass dieser Schwachsinn nicht real gewesen war.

Nach acht Sekunden stoppte er das Video und drückte mit zitternden Fingern den Ausschalter am Laptop. Er hatte keine Muße für normales Herunterfahren. Hauptsache dieser kranke Horror verschwand.

Regungslos saß er da, starrte auf den schwarzen Bildschirm und bemühte sich, seine Atmung in den Griff zu bekommen.

Er musste das melden. Das waren nicht seine Freunde gewesen. Genauso wenig spiegelte es die ausgelassene Stimmung der Party wider.

Das war bitterer Ernst.

Automatisch ging sein Griff zum Tisch, wo er sein Smartphone immer hinlegte. Er ging jedoch ins Leere. Ben sah hin und wurde von einem eisigen Schauer übermannt, als er es nicht entdeckte.

Was war er doch für ein Trottel. Wo war er nur mit seinen Gedanken?

Aber wie sollte er ohne Handy den Boss informieren, der friedlich zu Hause in seinem Bett schlafen dürfte?

Chiara! Sie wohnte nur zwei Straßen weiter.

Binnen kürzester Zeit war er angezogen und stürmte durch die menschenleere Siedlung des Münsteraner Vororts. Hauptsache, sie öffnete ihm um diese Uhrzeit!

Es dauerte, aber schließlich stand sie in einem zu lang geratenen T-Shirt in der Haustür und funkelte ihn aus verschlafenen Augen an. »Ben, es ist gleich vier Uhr in der Nacht. Wenn du keinen verdammt guten Grund hast, mich zu dieser gottlosen Zeit aus dem Schlaf zu reißen, teste ich meinen Taser an dir, gefolgt vom Schlagstock.«

»Ja, sorry«, murmelte er und drängte sich an ihr vorbei ins Haus. »Ich brauche dein Handy, meins ist weg.«

Fassungslos starrte sie ihn an. »Sag mal, tickst du noch ganz frisch? Was kann ich dafür, wenn du dein Handy verlierst? Und wieso sollte ich dir meins geben? Ey, du bist besoffen, oder? Komm, geh nach Hause und …«

Sie brach ab, als Ben sie an den Schultern packte und ernst, fast schon gehetzt ansah. »Chiara, ich muss Schnaider anrufen. Jetzt sofort. Es ist dringend.«

Sie verengte die Augen zu kleinen Schlitzen. »Dir ist klar, was passiert, wenn du ihn grundlos um diese Uhrzeit aus dem Bett klingelst, oder?«

Genervt stöhnend wandte sich Ben ab und hob die Hände. »Meine Fresse, für wie dämlich hältst du mich? Gibst du mir jetzt bitte dein fucking Handy, oder muss ich erst auf die Wache fahren und wichtige Zeit vergeuden?«

Stirnrunzelnd blinzelte sie. »Was ist denn …«

»Handy. Bitte. Jetzt. Dann kannst du mithören. Es ist eilig, verflucht noch mal!« Er hatte keine Zeit, weder für doppelte Erklärungen noch für Diskussionen. Wenigstens verschwand sie endlich und holte das Teil aus dem Nachbarzimmer. Die Nummer ihres Dienststellenleiters hatte sie bereits rausgesucht.

Er drückte auf Anrufen und wurde plötzlich von dem Gefühl übermannt, sich irgendwo anlehnen zu müssen. Als sein Rücken die Wand berührte, meldete sich Schnaider mit schlaftrunkener Stimme. Ben stieß sich wieder ab und wanderte auf wackligen Knien durch den Raum, während er seinen Boss und gleichzeitig Chiara über die nötigsten Dinge aufklärte.

Keine zwei Minuten später war das Gespräch beendet. Ben gab ihr das Handy zurück. »Kannst du mich auf die Wache fahren?«

»Klar. Das will ich mir auch ansehen.«

»Perfekt.«

***

Schnaider war alles andere als gut gelaunt. »Wenn das irgendwelche alkoholbedingten Ergüsse sind, werde ich Sie augenblicklich beurlauben.«

»Das würde ich sogar verstehen. Gibt aber keinen Grund dafür.«

Sie zogen sich in den Besprechungsraum zurück, wo sie eine Leinwand zur Verfügung hatten. Nicht, dass Ben das auch noch im Großformat sehen wollte, allerdings fielen ihnen Kleinigkeiten so eher auf.

Dieses Mal achtete er darauf, von wann die Aufnahmen waren, und erschrak erneut. Sie stammten von gestern am frühen Abend.

»Dann legen Sie mal los«, drängte Schnaider.

Er startete mit den Fotos. Beim ersten meckerten sie noch, wie unscharf alles wäre, bei den nächsten wurden Chiara und der Boss ruhiger.

Schließlich kamen sie zu dem Video. Ben zögerte, obwohl er es jetzt, nachdem einige Zeit seit dem ersten Ansehen verstrichen war, nicht mehr nachvollziehen konnte. Es war eine Aufnahme wie Hunderte andere, die sie sich leider immer wieder antun mussten, und es gab weitaus schlimmere. Aber diese befanden sich nicht in seiner Cloud.

Mit geschlossenen Augen atmete er tief durch und wünschte sich insgeheim, dass er sich getäuscht hatte und wirklich der Alkohol schuld war.

Dann betätigte er die Playtaste.

Kapitel 5

Zunächst blieb die Leinwand schwarz. Dann flackerte für den Bruchteil einer Sekunde ein Licht auf, präsentierte ihnen ein Stück blasse Haut. Die Wade. Das Flackern wiederholte sich, immer andere Stellen des nackten, weiblichen Körpers blitzten auf. Der Arm. Die Hand. Es folgten einige Bilder des blutüberströmten Oberkörpers. Woher das Blut kam, war in der kurzen Zeit nicht zu erkennen, aber es war reichlich da. Zu viel. Es zog sich vom Hals bis hinunter zum Schambereich, der ebenfalls unbedeckt und dank weit gespreizter Beine deutlich zu erkennen war.

Ben wandte sich ab und presste Daumen und Zeigefinger gegen seine Nasenwurzel.

Auch die beiden anderen waren blass geworden. Chiara nickte Ben zu, die Augen eine Spur zu weit geöffnet. Da war das nächtliche Wecken wohl doch berechtigt gewesen.

Schnaider räusperte sich und wandte sich an Ben. »Haben Sie eine Idee, von wem die Aufnahmen stammen könnten, oder wer diese Frau ist?«

Ben schüttelte seufzend den Kopf. »Nicht die Spur.«

»Wo und wann haben Sie das Handy verloren? Geben Sie uns wenigstens eine annähernde Idee.«

Mit zusammengepressten Lippen zuckte er mit den Schultern. So sehr er auch grübelte, seine letzte Erinnerung daran war die beim Anziehen. »Wo weiß ich nicht. Irgendwann gestern zwischen fünf Uhr morgens und ein Uhr nachts.«

Einen Moment lang sah Schnaider ihn an, als würde er Ben vierteilen wollen, aber seine Stimme blieb sachlich. »Das sind zwanzig Stunden. Können Sie es nicht etwas weiter eingrenzen?«

»Na ja, die Fotos sind gegen achtzehn Uhr gemacht worden. Wenn das mit meinem Handy passiert ist …« Er hob die Hände. Es nervte ihn selbst, aber mehr Infos ließ die Watte in seinem Schädel gerade nicht durch.

»Okay. Ich informiere den Bereitschaftsdienst der Kriminalwache und Oberstaatsanwalt Lee. Außerdem stelle ich ein Team zusammen. Omando, Sie sind dabei.«

Bens Blick schoss in die Höhe. »Und ich?«

»Sie schlafen erst mal Ihren Rausch aus. Erteilen Sie uns die Erlaubnis, Ihr Gerät zu orten, auf Ihre Cloud zuzugreifen und alles auf die Entfernung Machbare mit Ihrem Handy zu tun, was diese Frau retten könnte?«

»Ja, natürlich.« Das stand außer Frage und war wohl der einzige Vorteil, dass es seine Cloud und sein Smartphone betraf. Denn so ersparten sie sich stundenlanges Warten auf die richterliche Genehmigung und konnten direkt loslegen. Er schrieb sein Passwort sowie alles Weitere auf, was brauchbar sein könnte, und hielt seinem Chef den Zettel mit festem Blick hin. »Ich bin fit, ich kann sofort ermitteln.«

Schnaider sah ihn missbilligend an. »Kollang, ich bin nicht blind und wiederhole mich nur ungern. Sobald Sie Ihren Rausch ausgeschlafen haben, werden wir gemeinsam zu Lee fahren. Omando, bringen Sie ihn nach Hause.«

Ben öffnete erneut den Mund, wurde aber von der erhobenen Hand seines Chefs ausgebremst. »Höre ich auch nur ein Wort der Widerrede, werden Sie an dem Fall gar nicht mitarbeiten.«

Schnaider meinte das ernst, das wusste er aus leidiger Erfahrung. Also presste Ben die Lippen aufeinander und schenkte sich seinen Kommentar. So sehr es ihn nervte – er folgte Chiara aus dem Büro, begleitet von einem unangenehmen Druck, der sich immer weiter in seinem Bauch ausbreitete. Es war seine Cloud, sein Fall. Er wollte sofort loslegen, ihn lösen und die Frau retten, sollte das möglich sein. Ob sie noch lebte, war nämlich nicht zu erkennen gewesen. Vielleicht fanden die Spezialisten das ja heraus. Was er wohl erst nach allen anderen erfahren würde.

Ein genervtes Stöhnen entfuhr ihm, als er sich auf Chiaras Beifahrersitz fallen ließ.

Sie setzte sich neben ihn, die Bewegungen grazil und wendig wie die einer Raubkatze. »Was ist los?«

»Ich will ermitteln und nicht pennen.«

Sie lachte auf und startete den Motor. »Du klingst wie ein schmollendes Kleinkind.«

»Wirklich witzig. Wie würde es dir denn an meiner Stelle gehen?«

Nachdem sie relativ knapp vor einem Auto herausgezogen war, seufzte sie. »Ähnlich. Aber der Chef hat recht. Du kannst kaum geradeaus gehen, wie willst du so ermitteln? Wenn du ausgeschlafen hast, sieht das Ganze sicher anders aus.«

Genervt verzog er den Mund. Das kotzte ihn an. Egal, wie viel Logik dahintersteckte, die er den beiden leider zugestehen musste.

»Hältst du mich auf dem Laufenden?«

»Wenn du mir verrätst, wie ich das machen soll? Du hast nicht mal ein Handy, auf dem ich dich anrufen könnte.«

Ben unterdrückte ein Fluchen. Das war das Erste, was er sich später besorgen würde. »Per Mail geht.«

Sie atmete tief durch und schüttelte den Kopf. »Ben, ich verstehe dich. Aber das werde ich nicht machen, denn du brauchst dringend Schlaf. Wenn du später so aussiehst wie jetzt gerade, wird Schnaider dich sofort wieder nach Hause schicken. Also reiß dich zusammen und gönn dir ein paar Stunden Schlaf.«

Mit erhobener Augenbraue ließ er den Blick gen Himmel gleiten. »Ja, Mama.«

Ihr Schnauben entlockte ihm trotz der miesen Laune ein Schmunzeln.

Den Rest des Weges über schwiegen sie. Ben zerbrach sich den Kopf, wann er das Handy zuletzt in der Hand gehabt hatte, aber in seinem Hirn herrschte eine dichte Nebelmauer, die sämtliche Erinnerungen der letzten Tage – außerhalb der Dienstzeiten – vor jeglichem Zugriff verschloss. Es machte ihn wahnsinnig, bestätigte jedoch seinen Chef darin, dass er dringend ein paar Stunden Pause brauchte.

Chiara stoppte auf seiner schmalen Auffahrt.

«Danke.« Er öffnete die Wagentür, als sein Blick auf das Podest vor der Haustür fiel. »Was liegt denn da rum?«

Etwas Dickes mit grauem Fell befand sich auf seiner ausgefransten Fußmatte. Stirnrunzelnd stieg er aus und ging zögernd näher. Es war eine tote Ratte. Na super. Er hasste diese Viecher. Als er sich bückte und nach der Schwanzspitze greifen wollte, erklang Chiaras Stimme dicht hinter ihm. »Wie kommt die denn da hin?«

Ben hätte damit rechnen müssen, dass sie ihm folgte. Dennoch erschrak er dermaßen, dass er hoch- und herumfuhr, wobei er fast seine Faust in ihrem Bauch versenkte.

Mit erhobenen Händen trat sie einen Schritt zurück. »Hey, bleib locker! Ich bin keine Ratte!«

»Sorry.« Tief einatmend sammelte er sich und brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Wenn du die haben willst, musst du es nur sagen.«

»Gott bewahre! Aber ernsthaft – wie kommt die vor deine Haustür?«

»Das wird ´ne Katze gewesen sein. Hier laufen schließlich genug rum.«

Ihr Blick blieb skeptisch. »Und die positioniert das Vieh so akkurat auf deiner Schwelle? Denkst du nicht, dass du eher einen Feind hast?«

»Einen?« Er lachte auf. »Da gibt es etliche, genauso wie bei dir. Aber die legen keine Ratten vor Haustüren. Wenn, erscheinen sie persönlich.«

»Ja, vermutlich.«

»Kannst ja mal gucken, ob du auch ein schönes Geschenk bekommen hast.«

Angewidert zog sie die Nase kraus. »Nee, ich fahre wieder zur Wache und hoffe, dass das Geschenk – sollte eins bei mir liegen – entsorgt ist, bevor ich Feierabend habe.« Sie seufzte. »Was heute wohl dauern wird.«

Streu ruhig noch Salz in die Wunde.

Er sprach es nicht aus. »Ja, fahr mal die Frau retten.«

»Sollte sie noch zu retten sein«, murmelte sie.

»Ja.«

Ohne sich zu ihr umzudrehen, mahlte er mit den Kiefern, als er ihr Auto davonfahren hörte. Zu groß war der Frust, nicht mitzukönnen. Nicht nur, dass er nicht ermitteln durfte, nervte ihn. Auch Chiara, die ihm allein durch ihre Anwesenheit immer wieder den nötigen Halt gab, fehlte ihm jetzt an seiner Seite.

Weichei.

Kapitel 6

Der Schlaf war alles andere als erholsam, und doch wachte er erst um zehn Uhr auf. Trotz der lediglich fünf Stunden war es für seinen Geschmack viel zu spät.

Eilig duschte er und füllte Kaffee in seinen Thermobecher. Lederjacke an und ab. Ein Job wartete auf ihn, über den sollte er nachdenken.

Sobald er die Straße erreichte, hielt er inne. Hatte er abgeschlossen? Genervt von seiner Schusseligkeit kehrte er um und checkte es. Glücklicherweise, er hatte es tatsächlich vergessen. Trottel.

Er eilte zur Bushaltestelle, denn selbst fahren durfte er mit Sicherheit noch nicht. Die Nebelwand durchzog seinen Kopf nach wie vor, wenn auch etwas lichter als letzte Nacht. Sein Schädel dröhnte und eine leichte Übelkeit hatte sich zur inneren Unruhe dazu gesellt. Den Kaffee hätte er sich schenken können.

All das ignorierte er jedoch und lenkte seine Gedanken zum gestrigen Tag zurück. Wann und wo hatte er das Handy verloren? Oder besser gesagt, war es ihm gestohlen worden? Das hatte nur während des Flashbacks klappen können, sonst wäre ihm das garantiert nicht entgangen. Passte aber nicht, denn es musste eher passiert sein.

So sehr er auch grübelte – ihm fiel nicht ein, ob er es seit dem Ankleiden noch mal in der Hand gehabt hatte.

Ein entgegenkommender Fußgänger rempelte ihn an. Unwillkürlich ballte er die Fäuste und fuhr herum, aber der junge Kerl eilte weiter, ohne ihn zu beachten – während Ben mit sich kämpfen musste, ihm nicht hinterherzurennen und eine reinzuhauen. Himmeldonnerwetter, was war bloß los mit ihm? Er war doch sonst nicht so aggressiv.

Er musste den Fall schnell lösen. Ja, ganz genau: er. Das brauchte er jetzt für sein Ego, denn langsam überkam ihn die Angst, den Verstand zu verlieren. Ein derartiger Erfolg wäre definitiv hilfreich.

Bald fand er sich im Bus wieder, wobei er sich kaum daran erinnerte, eingestiegen zu sein. Eine Haltestelle vor seinem Ziel stieg er aus, direkt neben einem Elektronikladen. Wer hätte gedacht, dass ein Handy in der Tasche derart beruhigend sein konnte.

Jetzt hoffte er nur, dass Lee bald Zeit für Schnaider und ihn hatte, damit er endlich ermitteln konnte.

***

Wie jedes Mal, wenn er Schnaiders Büro betrat, fühlte sich Ben wie in einer Arztpraxis. Das Mobiliar war aus düsterer Eiche gefertigt, die beiden Fenster nahezu vollständig mit Plissees verdeckt. Licht kam hier lediglich von der Halogenbeleuchtung an der Decke, welche die weißen Raufasertapeten anstrahlte.

Das war nicht gerade förderlich für seine Übelkeit, denn Ärzte in jeglicher Form und Variante stressten ihn.

Schnaider sah auf. »Kollang. Setzen Sie sich.«

Ben gehorchte und erwiderte den prüfenden Blick seines Chefs bemüht gelassen.

»Sie sehen nicht viel besser aus als letzte Nacht.«

Ein genervtes Aufstöhnen konnte er nur mit Mühe unterdrücken. Zumal sein Boss ebenfalls ganz schön blass war. »Mir geht’s gut. Wann hat Lee Zeit für uns?«

»Wie lange haben Sie geschlafen?«

Na toll. Das wichtigste Thema ignorierte er einfach. Wut stieg in ihm auf, hervorgerufen durch seine nervtötende innere Unruhe. Was zum Kuckuck ging ihn sein Schlaf an? »Ich habe keine Stoppuhr laufen lassen.«

»Kollang!«

Idiot. Wie war das mit dem Zusammenreißen? Sonst konnte er die Arbeit an diesem Fall vergessen. »Etwa fünf Stunden. Danach hab ich mir ein neues Handy gekauft. Die Nummer kann ich Ihnen direkt geben.«

»Lenken Sie nicht ab.«

Ben runzelte die Stirn. »Tu ich nicht.« Dabei beließ er es, denn Schnaiders Blick nach zu urteilen, konnte er sich bei dem nächsten dummen Spruch seine Papiere abholen.

Der Kriminalhauptkommissar beugte sich vor. »Kollang, es geht hier um ein Menschenleben und wir haben nichts! Keinen Hinweis, keine Spur, keine Idee. Gar nichts. Da kann ich mit einem übermüdeten Kriminalkommissar, der in seinem Zustand womöglich etwas übersieht, überhaupt nichts anfangen.«

Frustration überflutete sein Innerstes. Sie waren kein Stück vorangekommen. Das durfte doch nicht wahr sein!

Er presste die Lippen aufeinander, bevor ihm ein unpassender Kommentar entweichen konnte. Von denen schossen ihm nämlich gerade eine Menge durch den Kopf. Ein Einziger davon hätte ihn wahrscheinlich schon den Job gekostet.

Offenbar hatte Schnaider nicht mit seiner Schweigsamkeit gerechnet. Stirnrunzelnd starrte er ihn an, blinzelte dann und lehnte sich seufzend zurück. Er griff nach seinem Telefon und tippte darauf herum. »Verbinden Sie mich bitte mit Oberstaatsanwalt Lee.«

Ben verschränkte die Arme vor der Brust. Na endlich.

***

Zehn Minuten später saßen sie im Dienstwagen. Bens Schädel dröhnte inzwischen mächtig und die Schlagerparade aus dem Radio machte es nicht besser. Er lehnte den Ellenbogen gegen den Fensterrahmen und stützte den Kopf auf seiner Hand ab. Dann schloss er die Lider und massierte unauffällig die Schläfe, während sich Schnaider durch Münsters überfüllte Innenstadt kämpfte.

Das Brennen in seinen Augen ließ nach, dennoch konnte er die Ruhe nicht genießen. Stattdessen betete er innerlich, dass sie bei Lee nicht so lange warten mussten, sodass er endlich vor seinen Rechner kam.

Sie hatten Glück und konnten direkt zum Oberstaatsanwalt durchgehen. Der klein gewachsene, aber drahtige, koreanische Mann mit den wachsamen Augen begrüßte sie gewohnt freundlich. Das war er immer und doch hatte er eine Art an sich, die selbst bei Ben eine respektvolle Zurückhaltung auslöste. Sicher war die Tatsache, dass er aufgrund seiner Größe und tiefenentspannten Ausstrahlung häufig unterschätzt wurde, sein Schlüssel zum Erfolg.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen?«, fragte er mit seiner hellen, sanften Stimme, sobald alle saßen.

»Einen Kaffee, bitte. Schwarz.« Ben brauchte jetzt etwas im Magen. Ob Kaffee da so gut war, würde er noch sehen, aber die schmackhaften Alternativen hielten sich stark in Grenzen. Dabei fiel ihm ein, dass er den Thermobecher – seinen einzigen – in Schnaiders Büro vergessen hatte. Super.

Nachdem alle mit ihren Getränken versorgt waren, musterte Lee Ben. »Den Kaffee haben Sie nötig, oder?«

Dabei warf er ihm ein derart freundschaftliches Lächeln zu, dass Ben fast ein herzhaftes Oh Gott, ja, herausgerutscht wäre. Womit er sich natürlich direkt ins Aus katapultiert hätte. »Kaffee geht immer.«

»Das stimmt. Dennoch sehen Sie müde aus. Oder geht es Ihnen nicht gut?«

Ging es hier nur um ihn? Als würde Schnaider besser aussehen! »Na ja, wenn plötzlich seltsame Aufnahmen in der eigenen Cloud auftauchen, man aber nicht ermitteln darf, geht einem das schon mal auf den Sack.«

»Hält Sie das vom Schlafen ab?«

Okay, es hatte ein Wink mit dem Zaunpfahl werden sollen. Stattdessen hatte Lee eine Steilvorlage daraus gemacht. Verdammt, er musste aufpassen! »Ich habe es erst letzte Nacht entdeckt und morgens schläft es sich nicht so gut wie nachts. Aber ich bin fit.«

Gott, er hasste es, derart angestarrt zu werden. Lee schien nicht mal zu blinzeln.

»Darf ich fragen, warum Sie nachts auf Ihre Cloud zugreifen, anstatt zu schlafen?«

»Ich habe gegen ein Uhr nachts bemerkt, dass mein Handy verschwunden ist, und wollte nachsehen, welche Bilder darauf gespeichert sind.«

Lee nickte verstehend, ohne den Blick abzuwenden. Ben hingegen hielt dem nicht länger stand und wandte sich seinem Kaffee zu.

Woher zum Teufel kam seine Nervosität? Lee war immer fair und wusste, was er tat. Wovor hatte Ben also Angst?

Vermutlich war er wirklich übermüdet.

Auch Lee trank einen Schluck von seinem Tee, ohne Ben aus den Augen zu lassen. »Herr Kollang, wann hatten Sie Ihr Handy zuletzt in der Hand?«

»Soweit ich mich erinnere, gestern Morgen gegen fünf, als ich mich angezogen habe.«

Lee nickte. »Gut. Nach dem Anziehen sind Sie zur Arbeit gefahren?«

»Richtig. Bis fünfzehn Uhr war ich ausschließlich auf dem Präsidium.«

»Wurde eine Ortung versucht?«

Schnaider richtete sich auf. »Ja, wir haben die Nummer auch angerufen, aber es scheint ausgeschaltet zu sein.«

Das kurzfristige befreiende Gefühl, als sich Lee endlich von Ben abwandte, war prompt wieder verschwunden, als er fragte: »Herr Kollang, haben Sie irgendeine Idee, wo Sie es verloren haben könnten?«

»Nein. Äh, ja! Also … vielleicht. Wobei …«

Schnaider stöhnte. »Kollang, Klartext!«

Mit aufeinandergepressten Lippen warf Ben ihm einen vernichtenden Blick zu und beugte sich vor. Wenn er seinen direkten Vorgesetzten nicht länger im Augenwinkel hatte, konnte er ihn vielleicht vergessen, damit er nicht noch gereizter reagierte. »Ich wurde angerempelt, absichtlich. Etwa eine halbe Stunde, bevor ich den Verlust bemerkt habe. Derjenige kann es aber nicht gewesen sein, denn die Aufnahmen wurden gegen achtzehn Uhr gemacht. Also nein, ich habe keine Idee.«

Lee nickte. »Gut. Sagen Sie mir bitte trotzdem, wer das war. Wir müssen jedem noch so unwahrscheinlichen Hinweis nachgehen. Haben Sie einen Namen?«

»Leider nicht.«

»Schade. Hat er etwas gesagt? Vielleicht den Grund für den Rempler?«

»Ich war in Gedanken. Einen ersichtlichen Grund gab es nicht, ich saß einfach nur da, mit dem Rücken zu ihm. Laut dem Wirt hat er mich als Blöden Bullen betitelt. Er ist dann auch direkt gegangen.« Jedenfalls glaubte er das.

»Wie war die Stimmlage?«

»Angespannt, denke ich. Als ich den Wirt nach seinem Namen gefragt habe, war sein Kommentar: Da mag dich jemand nicht. Oder so ähnlich.« Ben seufzte. Er hätte dem nachgehen müssen. Aber nein, lieber schwelgte er in beschissenen Erinnerungen. Verfluchter Flashback!

»Es ist also in einer Kneipe passiert?«

Großartig. Nächstes Outing. »Ja, bei Theos Zapfenstreich in Gievenbeck.«

»Dieser Theo kennt den Namen des Mannes ebenfalls nicht?«

»Nein, er war wohl zum ersten Mal da.«

»Okay. Gegen halb eins, sagten Sie?«

»Richtig.«

Lee lehnte sich zurück. »Herr Kollang, wo waren Sie gestern zwischen fünfzehn und achtzehn Uhr?«

Kapitel 7

Das war nicht sein Scheißernst! Mit verengten Augen verschränkte Ben die Arme vor der Brust. »Wird das hier ein Verhör? Stehe ich ernsthaft unter Verdacht?«

Während Lee keine Miene verzog, seufzte Schnaider. »Kollang, Sie sind lange genug in dem Job, um zu wissen, wie das abläuft. Je mehr Sie erzählen, desto eher können wir Hinweise finden. Also, nicht rumzicken, sondern reden.«

Natürlich war Ben klar, dass er wie ein potenzieller Verdächtiger behandelt werden musste. Dieses Gefühl erinnerte ihn jedoch unweigerlich an die zwei Stunden, in denen das damalige Video suggeriert hatte, er habe Karl Knauk von der Plattform gestoßen. Es war die Hölle auf Erden gewesen und genauso wie damals zogen sich auch jetzt seine Eingeweide zusammen. Dennoch ließ er sich nichts anmerken, obwohl es ihm schwerfiel.

»Ich bin zur Arbeit gefahren, war ausschließlich im Büro und hab Papierkram erledigt. Nach Feierabend ging es direkt nach Hause, wo ich aber schon alles nach dem Handy abgesucht habe, ebenso wie das Auto. Es ist nicht da.«

Lee nickte. »Das wissen wir. Die Kriminaltechnik hat inzwischen herausgefunden, dass die Aufnahmen mit Ihrem Smartphone gemacht wurden.«

Natürlich wussten sie das. Dennoch wurde Ben heiß und kalt im Wechsel. Das war gar nicht gut.

»Herr Kollang, Sie waren also bis fünfzehn Uhr auf der Wache. Was genau haben Sie danach gemacht?«

»Ich bin auf direktem Weg nach Hause gefahren. Und nein, das kann niemand bezeugen. Mit etwas Glück vielleicht meine Nachbarin.« Ben richtete sich auf. »Klar kann sie das! Sie hat mir gegen vier Uhr ein Stück Kuchen vorbeigebracht.«

Wieder trat ein herzliches Lächeln auf Lees Gesicht. Ob es daran lag, dass sich Ben soeben entlastet hatte oder er es süß von der Nachbarin fand, sei mal dahingestellt. Vermutlich Letzteres.

»Wie heißt Ihre Nachbarin?«

»Hildegard Schreeben. Mit zwei E.« Toll. Er mochte sie wirklich, denn sie war die Oma, die er früher gern gehabt hätte. Aber spätestens fünf Minuten nach ihrer Befragung würden leider sämtliche Nachbarn wissen, dass er der Entführung verdächtigt wurde. Wundervoll.

Lee fuhr mit seiner Fragestunde fort: »Waren Sie den Rest des Tages zu Hause?«

»Nein. Ich war später noch in Theos Zapfenstreich.«

»Wann genau?«

Ben schluckte und kratzte sich verlegen am Kopf. »Kurz vor sechs bin ich losgegangen.«

Er wandte sich ab, während Schnaider vernehmlich schnaubte. »Sie haben sich also sieben Stunden lang die Kante gegeben?«

Ben funkelte ihn an. »Von Kante geben war keine Rede. Und selbst wenn – was ich in meiner Freizeit mache, geht Sie einen Scheiß an! Heute ist eigentlich mein freier Tag, also kann Ihnen meine Promillezahl am Ar…«

»Das reicht.« Trotz der deutlich erhöhten Lautstärke blieb Lees Stimmlage entspannt. »Wenn sich Ihr Bericht bestätigt, sind Sie entlastet.«

Erneut verengte Ben die Augen zu kleinen Schlitzen und ballte die Fäuste. »Sie dachten wirklich, ich hätte eine Frau entführt, ihr Gewalt angetan, die Scheiße gefilmt und dann auf meine Cloud gepackt? Um dann mitten in der Nacht Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, in der Hoffnung, das arme Opfer zu retten? Für wie unfähig halten Sie mich bitte?«

»Nicht unfähig, nur unverschämt und aktuell überfordert. Jetzt atmen Sie mal tief durch und benehmen sich wie der eigentlich fähige Kriminalkommissar, der Sie sonst sind. Denken Sie darüber nach, was hier gerade passiert. Dann sollten Sie merken, dass Ihnen niemand etwas anhängen will.«

Gott, was war er für ein Idiot. Lee machte nur seinen Job. Die Akten mussten passen, wenn es irgendwann vor Gericht ging, und er zickte hier rum. Ben wünschte sich auch nur einen Hauch von Lees Gelassenheit. Stattdessen hatte er seine Aggressionen kaum im Griff. Tolle Voraussetzungen, um als Polizist zu arbeiten.

Er rieb sich das Gesicht und sah seinem Gegenüber fest in die Augen. »Tut mir leid. Die ganze Sache nervt mich, weil ich bisher nicht ermitteln konnte. Es ist meine Cloud, mein Handy und ausgerechnet ich durfte nichts machen.«

»Daran sind Sie nicht ganz unschuldig«, mischte sich Schnaider wieder ein. »Bei Ihrem Alkoholkonsum müssen Sie mit so etwas rechnen.«

Ben öffnete den Mund, um ihn ein weiteres Mal an seinen freien Tag zu erinnern, klappte ihn aber wieder zu. Es stimmte ja, er hätte sich nicht sinnfrei die Kante geben dürfen.

Lee musterte ihn erneut. »Sie helfen in diesem Moment bei den Ermittlungen, indem Sie uns so viele Hinweise wie möglich liefern. Allerdings gibt auch mir Ihre Müdigkeit und die daraus resultierenden Überreaktionen zu denken.«

»Ich bin nicht müde, nur genervt.«

Schnaider seufzte. »Sie sind im Auto fast eingeschlafen.«

»Blödsinn! Ich hab mir das Ohr zugehalten. So musste ich den Schund aus Ihrem Radio nur einseitig ertragen. Es war reine Höflichkeit, dass ich mich auf die rechte Seite beschränkt habe!«

Sein Chef fuhr hoch. »Kollang, wen glauben Sie eigentlich hier vor sich zu …«

Lee hob die Hände. »Bitte, meine Herren, so kommen wir nicht weiter. Herr Kollang, Ihre ungewohnt aufbrausende Art lässt mich eine gewisse Befangenheit vermuten. Sie haben angegeben, das Opfer nicht erkannt zu haben. Hat sich das inzwischen vielleicht geändert? Oder haben Sie einen Verdacht?«

Ben schüttelte müde den Kopf. Das war ihm heute alles zu anstrengend, sein Schädel dröhnte, als wäre eine Schlagbohrmaschine darin am Werk. »Ich bin nicht befangen und nein, ich habe nicht den Hauch einer Idee, wer das Opfer ist.« Er sah auf. »Ist unter den gemeldeten Vermisstenfällen niemand, der passen könnte?«

»Leider nicht. Aktuell verschwunden sind lediglich eine Dunkelhäutige und eine Frau, deren Gesicht mit Muttermalen übersät ist. Die würden sich auf dem Körper fortsetzen, aber bei unserem Opfer ist keines zu sehen. Auch keine Narbe oder Tätowierung. Sie offenbart keinerlei Hinweise.«

»Wurden die Aufnahmen vielleicht bearbeitet?«

»Nein, sie sind original.«

Ben wandte sich an Schnaider. »Welcher Kriminaltechniker ist dran?«

»Harmann. Bis vor ein paar Stunden auch Smitti, aber der wurde für einen anderen Fall abgezogen.«

»Okay.« Das beruhigte Ben. Reinhard Harmann war wohl der Fähigste der Jungs. Er hatte zwar nicht viel mit ihm zu tun, aber sein Ruf eilte ihm voraus. Wenigstens etwas, was hier gut lief.

Lee sah auf die Uhr und erhob sich. »Es tut mir leid, ich werde vor Gericht erwartet.« Er nahm sein Jackett von der Stuhllehne, ohne seinen Blick von Ben abzuwenden. »Herr Kollang, nutzen Sie heute Ihren freien Tag und überlegen Sie, wo Sie Ihr Handy verloren haben könnten. Wenn es Ihnen morgen besser geht, können Sie uns bei den Ermittlungen unterstützen.«

Na großartig, noch ein Tag Nichtstun. Das war doch zum Kotzen! Aber wenn er nach seinem Gezicke von eben die Welle machte, würde er ganz raus sein. Also presste er ein »Okay« heraus und begleitete Schnaider mit mahlendem Kiefer zum Auto.

Wieder musste er die Schlagerparade ertragen, was seinem Kopf alles andere als guttat. Dennoch zwang er sich dazu, die Hände auf den Beinen nicht zu Fäusten zu ballen oder sich gar die Schläfen zu massieren. Nicht, dass der Chef noch auf seltsame Ideen kam.

Bens Laune war am Boden. Einen weiteren Tag nutzlos herumzusitzen und nichts zu tun, würde ihn nur wieder in den überflüssigen Teil seiner Gedankenwelt katapultieren. Er brauchte die Ablenkung, die Möglichkeit, Opfer zu retten und Verbrecher von den Straßen zu holen. Das konnte er, darin war er gut. Das hielt ihn aufrecht.

Kapitel 8

»Soll ich Sie nach Hause bringen?«, fragte Schnaider kurz vor dem Revier.

Um Gottes willen!

Keine Minute länger ertrug er den Schwachsinn aus dem Radio. »Nein, danke. Ich werde zu Fuß gehen, frische Luft wird mir guttun. Aber ich muss noch meinen Thermobecher aus Ihrem Büro holen.«

Er folgte seinem Chef in dessen Praxis, wie Ben den Raum heimlich nannte. Sobald er den Becher in der Hand hielt, sah er ihn aufrichtig an. »Sorry für die Zickerei.«

Schnaider nickte. »Dieses Mal nehme ich die Entschuldigung an, aber kommt das noch mal vor, und das auch noch vor einem Vorgesetzten, haben wir ein großes Problem. Oder besser gesagt: Sie werden eins haben.«

»Klar.« Ben verzog die Lippen zu einem Lächeln und verabschiedete sich. Er überlegte kurz, ins Büro zu gehen, das er sich mit Chiara teilte, entschied sich aber dagegen. Den Boss mit sowas auch noch zu provozieren, war keine gute Idee.

Er würde jetzt seinen Becher mit frischem Kaffee füllen und losmarschieren.

Gedankenverloren ging er in die Teeküche – und wäre am liebsten sofort wieder rausgestürmt. Nicht das auch noch!

Martin Wiegesal, der einzige Kollege, mit dem er absolut nicht klarkam, sah ihm entgegen. Schadenfreude nahm jede Faser seines Körpers ein. »Kollang! Ausgeschlafen? Siehst verkatert aus.« Er grinste kalt und nippte an seinem Kaffee, ohne sich von ihm abzuwenden.

»Hast du keine eigenen Probleme?« Ben stellte seinen Becher unter den Vollautomaten. Wassertank leer erschien im Display. Großartig. Missmutig füllte er ein Litermaß und wandte sich der Maschine zu. Er kippte das Wasser hinein, bis Wiegesal ihn grob anrempelte. Eine Pfütze bildete sich auf der Arbeitsplatte. Ben fuhr herum und leerte in einer fließenden Bewegung den Rest auf seinem Kollegen aus.

Mit einem erschrockenen Aufschrei machte dieser einen Satz zurück, wobei sich auch noch Kaffee aus seiner Tasse auf seinem Hemd ausbreitete. »Was soll der Scheiß?«

»Oops, sorry. Ich wollte nur sehen, wer hier so blind durch die Gegend läuft und Kollegen über den Haufen rennt. War wohl etwas schwungvoll.«

Wiegesal schoss vor und packte Ben am Kragen. »Das wirst du bereuen«, flüsterte er dicht neben seinem Ohr.

»Oh wow, meine Knie zittern schon vor Angst. Kleiner Tipp: Halte besser Abstand, bevor meine Faust unkontrollierte Bewegungen in Richtung deiner Hackfresse macht.«

Wut und Frust brodelten in ihm. Was er beides liebend gern rauslassen würde. Vor ihm stand der perfekte Boxsack. Dennoch hielt er sich zurück, denn den ersten Schlag würde er ganz bestimmt nicht machen.

Martin grinste kalt und stieß ihn von sich. Ben machte sich kampfbereit und wartete fast schon sehnsüchtig auf den ersten Faustschlag seines Gegenübers, doch der blieb aus. Stattdessen stellte Wiegesal seine Tasse auf die Ablage, lächelte süffisant und stolzierte aus dem Raum.

Zitternd vor unterdrückter Wut und doch irritiert, dass nicht mehr kam, sah er ihm hinterher.

Arschloch!

Kopfschüttelnd wischte er seine Sauerei um den Kaffeeautomaten weg und startete die Maschine. Wiegesal brachte ihn regelmäßig an seine Grenzen. Das würde sehr bald in eine Schlägerei ausarten, darauf würde er beide Hände verwetten. Bestenfalls allerdings nicht hier, sondern bei Theo, wo er sich auch gerne nach Feierabend herumtrieb.

Was interessierte ihn der Idiot? Er hatte ganz andere Sorgen. Zuallererst musste die Frau im Video gerettet werden, und zwar gestern schon.

Kapitel 9

Ben stand eine Stunde Fußmarsch bevor, und das durch Münsters überfüllten Straßen. Diese laute Hektik war nicht seins, schon gar nicht nach dem Gespräch. Dennoch genoss er den Rückweg. Er konnte ja ohnehin nicht mehr machen, als darüber nachzudenken, wann und wo er das Handy verloren haben könnte und ob ihm irgendjemand entsprechend nahegekommen war.

Seine Gedanken wanderten ergebnislos umher. War es Zufall, dass ausgerechnet sein Handy für diese Aufnahmen gestohlen worden war? Oder ging es gegen ihn persönlich? Wenn es so wäre – wer hätte ein Interesse daran, ihm zu schaden? Wer war diese Frau? Hatte sie etwas mit ihm zu tun?

Ben hatte nie eine feste Beziehung geführt und von den One-Night-Stands kannte er gerade mal die Vornamen. Allerdings war der letzte Sex drei Jahre her. Seit der Sache mit Knauk hatte er kein Interesse mehr daran und nur noch seine eigene Hand zwischen seine Beine gelassen.

Die einzige Frau, mit der man seine Gefühle ankratzen könnte, war Chiara. Was allerdings niemand wusste, nicht mal sie selbst. Sie waren zwar kurz vor dem Abi fast zusammengekommen, aber das Studium hatte ihn nach Frankfurt verschlagen, weil er zu Hause raus gewollt hatte. Sie hatten den Kontakt verloren und sich erst vor drei Jahren bei dem versauten Fall wiedergesehen. Seither waren sie Freunde, nicht mehr. Dass er mehr wollte, würde er niemals offen zugeben, zumal er ohnehin nicht beziehungsfähig war.

Seine Nachbarin Hillie fiel aufgrund ihres Alters aus dem Raster. Dann war da nur noch Melina. Aber sie stand trotz des verletzungsbedingten Ausfalls mit Theo in Kontakt. Also konnte sie es auch nicht sein.

Nein, das war alles Blödsinn. Es betraf nur zufällig seine Cloud. Der Täter hatte garantiert keine Ahnung, mit wem er sich anlegte. Schön blöd für ihn.

Wobei – sie kamen ja nicht voran. Womöglich war dem Entführer doch klar, dass Ben Polizist war, und gerade das verlieh ihm einen Kick. Immerhin machte er – oder sie? – es ihnen nicht gerade leicht.

Zu Hause würde er sich noch mal die Aufnahmen ansehen. Vielleicht fiel ihm ja irgendetwas auf, was auf den Tatort und das Opfer hindeutete.

Frustriert kickte er einen Stein vor sich her und rieb sich das Gesicht. Die Randale des Verkehrs auf der Straße, der stetig zunahm, trieb ihn noch in den Wahnsinn. Er sollte Gas geben, in Gievenbeck war es wesentlich entspannter.

Ein reißender Schmerz im Fußgelenk und in den Rippen ließ ihn beinahe zu Boden gehen. Fast zeitgleich wurde er umhergeschleudert. Bis er irgendwo anschlug. Ungebremst knallte er auf den Gehweg und blieb benommen liegen. Was zur Hölle war da passiert?

Trotz des Schwindels, der ihn überkam, richtete er sich auf und blinzelte den Bürgersteig entlang. Ein junger Mann rappelte sich einige Meter entfernt auf, stellte seinen E-Scooter zurück auf die Räder und raste damit davon.

Verfluchter Bastard!

Ben kämpfte sich hoch, was eine Kunst für sich war. Trotz des Adrenalinüberschusses in seinen Adern war der Schmerz mehr als ausgeprägt. Er konnte kaum auftreten, vom Einatmen ganz zu schweigen. Sein Kopf meldete sich ebenfalls zu Wort, er musste damit gegen einen Baum geprallt sein. Als wäre sein Kater nicht schon genug, so ein Mist!

Wut kochte in ihm hoch. Dieser Arsch verschwand einfach. Es war unglaublich! Ob er die Kollegen rufen sollte?

Er entschied sich dagegen. Den Spinner würden sie ohnehin nicht zu fassen bekommen. Wenig hoffnungsvoll sah er sich nach Zeugen um, aber Fehlanzeige. Zumindest entdeckte er niemanden, den seine Situation kümmerte. Kein Auto- oder Radfahrer, der gebremst hatte, und die vereinzelten Fußgänger auf der gegenüberliegenden Straßenseite eilten ihren Weg entlang, entweder ins Handy versunken, am Telefonieren oder gedankenverloren vor sich hinstarrend. Es war frustrierend, wie wenig sich die Menschheit heutzutage für das Leid anderer interessierte.

Tja, heute war definitiv nicht sein Tag, so viel stand fest. Er wagte einige zögerliche Schritte und war erleichtert, dass es einigermaßen klappte. Es fühlte sich zwar an, als wolle der Fuß bei jedem Auftreten wegknicken, doch wenigstens funktionierte das Gehen.

Humpelnd kämpfte er sich voran und bemühte sich, den Schwindel zu ignorieren, der das Geradeauslaufen nicht gerade vereinfachte. Er überlegte, sich doch ein Taxi zu rufen. Aber nein. Innerlich kochte er vor Wut, da half ihm nur Bewegung. Jetzt hatte er einen weiteren Grund, sich abreagieren zu müssen. Was hatten die nur alle gegen ihn?

Ein feucht-klebriges Gefühl an der Schläfe weckte seine Aufmerksamkeit. Er griff nach oben und zog einen blutverschmierten Finger zurück. Himmelarsch! Nicht das auch noch. Der letzte Ort, zu dem er wollte, war ein Krankenhaus. Selbst wenn es bis zur nächsten Klinik ein Katzensprung wäre und seine Verletzungen vermutlich ein guter Grund waren.

So ein Blödsinn. Es war sicher nur ein Kratzer und alles, was Schnaider morgen zu sehen bekommen würde.

Er unterdrückte ein Stöhnen und schlurfte weiter. Die halbe Strecke hatte er noch vor sich. Bis dahin sollte er sich wohl wieder eingekriegt und einen klaren Kopf haben.

Es klappte nicht. Sein Fuß ärgerte ihn, die Motorengeräusche der unzähligen Autos dröhnten in seinen Ohren, außerdem fiel ihm das Atmen schwer. Er kam nicht drumherum, zumindest den Bus zu nehmen.