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Jessica Mayhew ist glücklich verheiratet und eine erfolgreiche Psychotherapeutin. Als jedoch der attraktive Schauspieler Gwydion Morgan ihre Praxis betritt, wird ihr Leben auf den Kopf gestellt. Jessica fühlt sich zu Gwydion hingezogen, aber dieser leidet unter einer seltsamen Phobie, und Jessica befürchtet, er könnte Selbstmord begehen. Um die Ursachen seiner Erkrankung zu ergründen, besucht sie das Haus seiner Familie an der walisischen Küste und stößt dort auf ein düsteres Geheimnis, das sie schon bald selbst in große Gefahr bringt.
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Seitenzahl: 436
Titel
Über dieses Buch
Widmung
Prolog
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Danke
Über die Autorin
Die Romane von Charlotte Williams bei LYX
Impressum
CHARLOTTE WILLIAMS
Im Schatten der Klippen
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Hanne Hammer
Die Psychotherapeutin Jessica Mayhew hat es nicht leicht: Der dramatische Auftritt des Schauspielers Gwydion Morgan in ihrer Praxis kommt zu einem Zeitpunkt, als ihr Leben ohnehin schon anstrengend genug ist. Jessicas Mann hat ihr gerade erst gestanden, dass er einen One-Night-Stand mit einer viel jüngeren Frau hatte. Gwydion ist talentiert – jedoch geistig viel zu labil. Er leidet unter einer seltenen Phobie, und Jessica ist entschlossen, die Ursache für seine Angst zu finden. Als Gwydions Mutter sie anruft, weil ihr Sohn Selbstmordgedanken hegt, beschließt Jessica, der Familie einen Hausbesuch abzustatten. Die Morgans leben in einem Anwesen auf einer hohen Klippe, mit eigenem Privatjet und einer malerischen Aussicht über die Felsenbucht. Ein abgelegener und zugleich faszinierender Ort. Bei ihrem Besuch findet Jessica heraus, dass Gwydions Au-pair-Mädchen in seiner Kindheit unter mysteriösen Umständen in der Bucht ertrank. Was ist damals geschehen? Hat ihr Patient eine dunkle Seite … oder steckt noch Schlimmeres dahinter?
Für Henry und Natàlia
Du hast sie regelmäßig beobachtet, nicht wahr? Sie beobachtet wie ein Habicht, jede ihre Bewegungen. Nun gut, die Leute taten das, natürlich. Sie war ein hübsches Mädchen. Rosige Wangen und ein himmelblauer Pullover, blonde Locken, kurze Shorts und diese langen, braun gebrannten Beine mit den eckigen, knochigen Knien wie bei einem Kind. Diese Oberschenkel ohne die kleinste Delle und der Flaum auf den Unterschenkeln, weich und seidig wie ein Pfirsich. Gerade erst der Kindheit entwachsen, das war sie – du sahst es daran, dass sie nicht still sitzen konnte, wenn sie fernsah, las, dort auf dem Sofa saß und mit ihren schlaksigen Beinen herumzappelte, mit ihrem Haar spielte und plötzlich merkte, dass du sie beobachtetest, und sich aufrichtete, die Füße wieder auf den Boden stellte, die Arme verschränkte, ihre Brust verbarg, unsicher plötzlich.
Und wie sie gelacht hat, wie Glockengeläut – wie man es nur im Märchen hört, Feenglöckchen, Glöckchen, die an einem Schlitten im Schnee klingeln … Oh, what fun it is to ride … Es war gut, das im Haus zu hören, weil es die düstere Stimmung durchbrach, sie durchschnitt, als sei sie Sülze, trüber Aspik, und wir mitten darin. Sie rief uns, erinnerte uns, wie glücklich auch wir sein könnten, gewesen sein könnten, vielleicht noch werden könnten, wenn nur …
Immer schien ihr ein Lachen auf den Lippen zu liegen, das sah man, ihre Worte schwankten an seinem Rand entlang, schlüpften über ihre rosa Zunge, die der eines Kätzchens glich, ihr Atem war süß und warm wie eine Untertasse mit Milch. Mädchen machen das nicht mehr, wenn sie erwachsen werden, sie machen das nicht, nicht wahr – jede Frage mit einem Zappeln und einem Kichern beantworten. Ein Segen in gewisser Weise, dass sie immer so geblieben ist, lebhaft und glücklich, glücklich und lebhaft, leicht schwindelig an der Grenze ihres Lebens, auf das Wasser hinabschauend, ihren Mut sammelnd, um einzutauchen. Dass sie nie müde aufgewacht ist, ohne jemandem neben sich, alleine dagelegen hat, die Glieder träge, die Eingeweide von Schmerz erfüllt, einem leeren, sauren Schmerz, dem Schmerz des Versäumnisses, aus dem Fenster auf die regennassen Bäume draußen geschaut hat, deren Äste krumm in den Winterhimmel ragten und sich gefragt hat, wie so viele Jahre einfach vergehen, so schnell an ihr vorbeirauschen konnten, so listig, ein jedes ein Spieler in einem sommerabendlichen Spiel von Statuen, die lange Schatten werfen und sich jedes Mal, wenn du zurückschautest, weiter heranschlichen, nahe, näher, immer näher, bis einer schließlich vortrat und dir auf die Schulter klopfte …
Oh, komm jetzt, hör auf. Du krepierst noch nicht. Werd nicht rührselig. Die Vergangenheit ist vergangen. Sie ist dort, wo du sie gelassen hast, weit entfernt. Eines Tages gehst du um eine Ecke und kannst sie nicht mehr sehen. Sie ist vorbei. Endgültig. Niemand sonst weiß etwas, oder? Nur du und sie, und wenn du jetzt beschließt, dich nicht zu erinnern … nun, dann war es das. Gott hat sich davongemacht, und er kommt nicht zurück.
Natürlich war sie selbst schuld. Sie hat genau gewusst, worauf sie sich einließ. Du hast ihr gesagt, dass sie kein Recht hat, so mit den Leuten umzuspringen. Sich so zu produzieren, sich zu nehmen, was immer sie wollte, wann immer sie wollte. Es war nicht fair. Du hast nur getan, was du tun musstest. Dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben, an Ort und Stelle.
Und hinterher hat es dir nicht leidgetan, es tut dir noch immer nicht leid, es wird dir nie leidtun, weil sie es letzten Endes, verdammt noch mal, verdient hatte. So kokett und kichernd dazusitzen, als könne sie kein Wässerchen trüben.
Dummes, kleines Miststück. Es war ihr Fehler. Ihr eigener, blöder Fehler. Nicht meiner …
Es war ein sonniger Montag im September. Der Tag begann wie jeder andere: Bob war auf Dienstreise, Nella und Rose stritten sich während des Frühstücks und schwiegen beide im Auto, als ich sie zur Schule fuhr. Ich setzte sie am Schultor ab und sah ihnen nach, wie sie in einem bestimmten Abstand zueinander die Straße hinuntergingen, Rose ordentlich und gepflegt, in ihrem marineblauen Anorak, das Haar zurückgekämmt, Nella, schlendernd, in ihrer zerrissenen Jeans, den Kopf im Rhythmus der Musik aus ihrem iPod bewegend. Ich fragte mich, ob Rose eventuell zu gut geraten war, ein wenig zu sehr darauf bedacht zu gefallen. Und Nella das genaue Gegenteil, eher zu schlampig, zu unbekümmert. Ich seufzte unwillkürlich, als ich ihnen nachschaute.
Ich hoffe, sie sind okay, dachte ich, als sie eine nach der anderen um die Ecke aus meinem Gesichtsfeld verschwanden. Ich fühlte dieses vertraute Ziehen, aus Liebe oder Angst oder was immer es war, das mich regelmäßig überkommt, wenn meine Kinder von mir fortgehen, hinaus in die Welt; dann beugte ich mich vor, schaltete das Radio ein und fuhr zur Arbeit.
Der Verkehr stand die ganze Cathedral Road hinunter, und während ich im Stau stand, drehte ich den Rückspiegel zu mir hin und überprüfte mein Aussehen. Ich hatte in der Nacht nicht gut geschlafen, die Schatten unter meinen Augen zeugten davon. Ich holte einen Lippenstift aus meiner Tasche und rieb mir etwas Farbe auf die Wangen in der Hoffnung, dass sie von den Schatten ablenken würde. Das tat es, aber nicht auf vorteilhafte Weise. Ich überlegte, ob ich die Farbe wieder abwischen sollte, als der Fahrer hinter mir hupte, sodass ich den Spiegel zurückdrehte und auf das Gaspedal trat, wobei ich der Versuchung widerstand, ihm den Mittelfinger zu zeigen.
Auf dem Weg ins Büro kaufte ich mir in dem Tante-Emma-Laden um die Ecke einen Kaffee zum Mitnehmen. Ich parkte hinter dem Gebäude, in dem ich arbeite, und ging zum Haupteingang. Auf dem Weg in mein Büro blieb ich bei Branwen, unserer Empfangsdame, stehen, um sie zu begrüßen, und wir hatten eine ausführliche Diskussion darüber, ob es heute regnen würde. Dann stieg ich die Treppe in die zweite Etage hoch, schloss die Tür zu meinem Büro auf und trat ein.
Der Raum war so ruhig, hell und einladend wie immer. Die Sonne fiel durch die Blätter der Bäume vor dem Fenster, ließ Schatten an der Decke spielen, und von der Straße unten war das leise Brummen des Verkehrs zu hören. Es herrschte eine perfekte Ordnung. Meine Bücher standen in geraden Reihen in den Regalen, und mein Relief im Stil Ben Nicholsons blickte ernst von der gegenüberliegenden Wand herunter. Die beiden Sessel standen genau richtig – nicht zu nah und nicht zu weit auseinander, um vertrauliche Gespräche zu ermöglichen –, und die Couch am Fenster wirkte mit ihrem Polster in einem gedämpften Grün eher einladend als einschüchternd.
Ich ging zu meinem Schreibtisch, schaltete den Computer an, und während er hochfuhr, sah ich meine Post durch. Unter den Rechnungen und Reklamesendungen war nichts von Bedeutung, nur ein paar Einladungen zu Konferenzen, eine in Leipzig und eine in Stockholm, an denen ich wahrscheinlich nicht teilnehmen würde. Ganz unten in dem Stapel stieß ich auf einen kleinen, braunen Umschlag, auf dem in ordentlichen Großbuchstaben mein Name und meine Adresse standen. Ich öffnete ihn und fragte mich, was wohl darin sein mochte. Er enthielt keinen Brief, nur das Foto eines mittelalten Mannes. Er hatte etwas Finsteres an sich, und als ich genauer hinsah, erkannte ich auch den Grund: Seine Augen waren mit einem Marker ausgemalt, sodass sie ganz schwarz waren.
Ich war verwirrt. Das Foto war draußen aufgenommen, möglicherweise am Meer – jedenfalls irgendwo, wo es windig war. Der Mann war attraktiv, erinnerte an einen Patrizier mit dichtem, grau werdendem Haar, einer knochigen Adlernase und der Art Falten, die ein Gesicht eher unverwechselbar machen und von gelebtem Leben künden, als dass sie es verlebt und besiegt aussehen lassen. Er trug eine Lederjacke, deren Kragen lässig gegen den Wind hochgeschlagen war. Die Andeutung eines Lächelns spielte um seine Lippen. Er wirkte wie ein Mann, der mit sich und seinem Platz auf der Welt zufrieden war, der den Betrachter vielleicht sogar ein wenig hochmütig ansah. Selbst die schwarz ausgemalten Augen konnten dieses Flair von Selbstvertrauen nicht zerstören.
Ich guckte noch einmal in den Umschlag, ob nicht doch ein Brief darin war, aber er war leer. Ich drehte ihn herum und studierte den Stempel. Der Brief war gestern hier aufgegeben worden. Ich fragte mich, wer in aller Welt ihn an mich geschickt hatte und warum. Ich war neugierig, aber nicht beunruhigt. Es gehörte zu den Berufsrisiken meines Jobs, seltsame Sendungen zu bekommen. Frühere Klienten oder deren Familienangehörige schickten mir gelegentlich weitschweifige, wirre Briefe, die überschwänglich oder ausfällig waren oder beides. Gewöhnlich überflog ich sie, legte sie zur Seite und schickte nach einigen Wochen ein paar höfliche Zeilen als Antwort zurück. In diesem Fall würde ich das offensichtlich nicht müssen, da kein Absender auf dem Umschlag stand.
Ich steckte das Foto zurück in den Umschlag und legte ihn in die Ablage für die noch zu erledigenden Dinge. Die Briefe aus der morgendlichen Post, die ich noch brauchte, legte ich darauf und warf die Reklameschreiben in den Papierkorb. Dann machte ich meinen mitgebrachten Kaffee auf, blies hinein und nippte daran.
Das Telefon klingelte. Ich meldete mich nicht, weil ich wusste, wer es sein würde – Bob war auf einer Konferenz. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein, und ich hörte Bobs Stimme.
»Jess, ich wollte nur hören, wie es dir geht.« Er klang irgendwie besorgt. Gut, dachte ich. Geschieht ihm recht. Soll er ruhig leiden.
Vor einem Monat war Bob von einer Dienstreise zurückgekommen und hatte mir gestanden, dass er einen One-Night-Stand gehabt hatte. Er hatte gesagt, dass er fest entschlossen gewesen sei, es mir nicht zu sagen, aber, als er erst wieder zu Hause war, gemerkt habe, dass er nicht mit der Schuld leben konnte. Er hatte mich um Verzeihung gebeten, erklärt, dass er nicht unglücklich mit mir, sondern berufsmäßig frustriert gewesen sei. Es sei ein pathetischer Versuch gewesen, sein Ego aufzubauen, hatte er gesagt. Ich hatte nicht sehr verständnisvoll reagiert.
»Und wie geht es den Mädchen?«, fuhr Bob fort. »Ich hoffe, Nellas Konzert heute läuft gut. Sag ihr, dass es mir leidtut, dass ich nicht da sein kann.« Pause. »Sag ihr, dass ich sie lieb habe, ja? Wünsch ihr Glück von mir.« Noch eine Pause.
Ich hatte ihn gefragt, wie alt die Frau gewesen war. Um die Dreißig, hatte er beschämt geantwortet. Wer sie war, hatte ich wissen wollen. Nur eine Übersetzerin vor Ort, hatte er mir erklärt. Niemand Wichtiges. Das hatte mich empört. Ein Mann von zweiundfünfzig, der Chef der Rechtsabteilung des walisischen Parlaments, hatte mit einer Frau geschlafen, die so viel jünger war als er, mit einer Frau, die er für unwichtig ansah. Ich hatte nicht weiter nachgefragt. Und ich hatte ihm auch nicht vergeben.
»Dein Handy scheint nicht zu funktionieren. Meins ist jetzt eingeschaltet, falls du mich anrufen willst.« Er seufzte. »Jedenfalls bin ich am späten Abend zurück. Ich nehme mir ein Taxi am Flughafen und werde gegen neun da sein.« Stille. »Bis dann. Ich habe eine Überraschung für dich.«
Ich hoffte, dass es keine Blumen sein würden.
Bob weiß, dass ich Blumen liebe, sodass er mir laufend welche mitgebracht hatte, große Sträuße, die darauf warteten, dass ich sie in die Vase stellte, und wenn ich das nicht tat, tat er es selbst. Wenn ich sie dann, ungeschickt arrangiert, auf dem Kaminsims stehen sah, hätte ich weinen können. Oder schreien. Aber das tat ich nicht, nur im Stillen. Ich wollte die Mädchen nicht beunruhigen. Und ich wollte an meiner Ehe festhalten … zumindest vorläufig.
Bob legte auf. Ich beugte mich vor und stellte den Ton aus, um nicht erneut gestört zu werden.
Ich sah auf die Uhr. Bis zu meinem ersten Termin, dem Erstgespräch mit einem neuen Klienten, war noch eine Stunde Zeit. Ich beschloss, sie mit der Recherche zu einer meiner Stammklientinnen zu verbringen, mit der ich später einen Termin hatte, statt mir weiter über Bob und darüber Gedanken zu machen, was er auf der Konferenz machte und ob ich ihm seinen Treuebruch jemals würde vergeben können.
Ich las gerade einen Artikel über komplexe Trauer im Journal of Phenomenological Psychotherapy, als es an der Tür klopfte. Ich schaute auf die Uhr. Mein neuer Klient war ein wenig zu früh, doch da es sein erster Termin war – und zudem noch ein Erstgespräch und keine reguläre Stunde –, legte ich den Artikel weg, griff nach meinen Notizen, ging zur Tür und bat ihn herein.
In dem Moment, in dem er ins Zimmer trat, fiel mir auf, dass er ein erstaunlich attraktiver Mann war, groß und breitschultrig, mit einer natürlichen Anmut. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig. Er trug Jeans im Destroyed-Look, einen schwarzen V-Ausschnitt-Pullover ohne etwas darunter und ein paar moderne Laufschuhe. Sein schulterlanges Haar war aus dem Gesicht gekämmt, und er hatte einen Eintagebart.
»Setzen Sie sich doch«, sagte ich und zeigte auf einen der Sessel in der Ecke des Raums.
»Tut mir leid, dass ich etwas zu früh bin.« Er sprach langsam und höflich.
»Das macht nichts.«
Er wählte den Sessel, der am nächsten zum Fenster stand. Ich setzte mich ihm gegenüber und sah in meine Notizen.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Gwydion nenne, Mr Morgan?«
»Ganz und gar nicht.«
»Und bitte nennen Sie mich Jessica.«
Er nickte. Aus der Nähe sah ich, dass seine Augen grün und von dicken, schwarzen Wimpern eingerahmt waren. Ich wandte den Blick ab. Alles andere wäre mir ungehörig erschienen.
Ich wartete darauf, dass er zu reden begann. So, wie ich ausgebildet worden war, ist das das natürliche Prozedere. Man wartet, bis der Klient das Gespräch beginnt. Man hört aufmerksam zu, dann gibt man das Feedback, das heißt, man wiederholt, was der Klient gerade gesagt hat, wobei man das Gesagte eventuell leicht interpretiert. Nur dass ich nicht immer tue, was ich tun soll. Eigentlich nie, um genau zu sein. Heute, nach all den Jahren praktischer Erfahrung, vertraue ich darauf, was mir natürlich erscheint. Deshalb fragte ich nach einer kurzen Pause, »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich war mir bewusst, dass seine Augen auf mir ruhten, während ich mit ihm sprach. Normalerweise komme ich recht formell gekleidet zur Arbeit, in maßgeschneiderten Hosenanzügen und schicken Blusen. Ich mag Vintage-Kleidung von hoher Qualität und Retro-Outfits, die zu finden und zusammenzustellen ich mir einige Mühe mache. Doch an diesem Morgen war ich in einem bedruckten Baumwollkleid im Stil der 40er-Jahre und hochhackigen Espadrilles eher lässig gekleidet, da es ein warmer Tag war. Plötzlich fühlte ich mich unsicher mit meinen nackten Beinen und wünschte, ich hätte etwas weniger Freizügiges gewählt.
»Ich weiß es nicht.« Er fuhr sich frustriert mit der Hand durch das Haar. »Es ist etwas …« Seine Stimme verlor sich.
Wieder breitete sich Schweigen aus. Diesmal sagte ich nichts. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass gleich meist etwas Interessantes kommt, wenn jemand plötzlich ins Stocken gerät.
»Es ist seltsam … Ich weiß nicht, wie …« Er wurde rot.
Ich fragte mich, ob es um frühzeitigen Samenerguss ging. Das ist eins der häufigsten Probleme, mit denen Männer zu mir kommen. Vor allem Männer unter dreißig, wie er. Deshalb wartete ich auf eine Gelegenheit, ihm zu helfen, es auszusprechen, falls es das war.
Er blickte zu Boden. Seine dicken, schwarzen Wimpern schlugen unregelmäßig gegen seine geröteten Wangen. Schließlich sprach er.
»Es geht um Knöpfe«, sagte er.
»Um Knöpfe?« Ich wiederholte das Wort ruhig und gelassen. Feedback, Sie wissen schon. Manchmal ist es natürlich am besten, dem korrekten Vorgehen zu folgen.
»Ja, Knöpfe.«
Ich senkte den Blick, um zu sehen, ob seine Jeans einen Nietenknopf hatte. Falls es so war, war er unter dem Gürtel verborgen.
»Irgendwelche besonderen Knöpfe?«
Er sah mich an, erleichtert, dass ich ihn nicht ausgelacht hatte.
»Die aus Plastik sind am schlimmsten. Die mit den vier kleinen Löchern. Aber eigentlich mag ich sie alle nicht.«
Eine Pause entstand.
»Gut.« Ich lächelte ihn beruhigend an, wie ich hoffte.
»Das ist nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht denken. Es ist ein durchaus bekanntes Syndrom. Es hat sogar einen Namen. Koumpounophobie.«
»Wirklich?« Er sah erleichtert aus. »Koumpou… Wie hieß es doch gleich?«
»Koumpounophobie. Das Wort wurde für Menschen geschaffen, die eine solche Knopfphobie haben, dass sie das Wort ›Knopf‹ nicht einmal aussprechen können.«
»Verstehe.« Er lächelte mich vorsichtig an. »Nun gut, so schlimm ist es bei mir nicht. Ich kann über Knöpfe sprechen. Ich kann sie nicht tragen, aber ich kann sie ansehen. Aus der Ferne. Ich würde sie aber nicht anfassen. Und wenn sie lose werden. Oder abgehen …« Er schauderte.
Ich hatte schon früher mit Fällen von Koumpounophobie zu tun gehabt. Sie waren schwierig zu behandeln. Manchmal, wenn ich gar nicht weiterkam, schickte ich sie zu Dougie hinüber, dem Verhaltenstherapeuten auf der anderen Seite des Flurs. Meinir, der Hypnosetherapeut eine Etage über mir, war auch sehr gut in so etwas.
Gwydion seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sein glänzendes Haar fiel ihm vor das Gesicht.
»Wenn ich gestresst bin, ist es schlimmer.«
»Das ist häufig so.«
Jetzt sah er leicht enttäuscht aus. Menschen sind seltsam, was das angeht, ist mir aufgefallen. Zuerst sind sie erleichtert zu hören, dass sie ein Syndrom mit einem wichtig klingenden Namen haben. Dann machen sie sich Sorgen, dass ihre Beschwerden nicht exklusiv genug sein könnten.
»Im Moment stehe ich stark unter Stress«, sagte er. »Ich arbeite sehr viel, stecke gerade in der Endphase einer Serie.« Er hielt inne und sah mich forschend an. »Einer Fernsehserie.« Er hielt erneut inne. »Ich bin Danny aus Down in the Valley. Wahrscheinlich haben Sie das schon einmal gesehen.«
»Ah.« Ich nickte unverbindlich.
Down in the Valley ist eine walisische TV-Soap, die es schon ewig gibt. Die Mädchen ließen keine Folge aus. Aber ich hatte noch nie eine Episode bis zum Ende geguckt, und Danny ganz bestimmt nie im Fernsehen gesehen. Wenn doch, hätte ich mich an ihn erinnert.
Er begann, mir von sich zu erzählen. Er war nicht nur Danny in Down in the Valley, er hatte auch in The War of the Dragon Kings und in diversen anderen Filmen mitgespielt, die auf Curtain Call Casting, einer Internetseite, aufgelistet waren, sagte er. Er stand gerade vor dem Durchbruch, ihm war eine Hauptrolle in einer großen Historienserie angeboten worden, einer Verfilmung des Romans Helen von Maria Edgeworth, einer Zeitgenossin von Jane Austen. Er freute sich sehr darüber und würde in drei Monaten mit den Proben beginnen. An mich hatte er sich gewandt, weil er fürchtete, nicht mit seinem Kostüm zurechtzukommen – den Knöpfen an der Weste, der Jacke und so weiter. Er wirkte sehr konzent- riert, war wortgewandt und empfindsam und offensichtlich sehr engagiert, was seine Arbeit anging. Trotz – oder gerade wegen – seiner Zurückhaltung hatte er eine starke Präsenz, und ich konnte mir durchaus vorstellen, dass er ein talentierter Schauspieler war. Ich sah auch, dass ihm seine Phobie sehr zu schaffen machte, dass er Angst hatte, diese lang ersehnte Gelegenheit könnte ihm durch die Finger schlüpfen.
Als er zum Schluss gekommen war, sagte ich: »Ich frage mich, ob Sie zurzeit noch andere Probleme haben?«
»Wie meinen Sie das?«
»Quält Sie noch etwas anderes?«
»Zum Beispiel?«
»Nun ja, Beziehungsprobleme beispielsweise.«
»Ich habe keine Freundin, falls Sie das meinen. Ich meine, es gab … es gibt … hin und wieder …« Er wandte den Blick ab. Mich überraschte diese Schüchternheit, da er ein sehr attraktiver Mann war. »Aber nichts Ernsthaftes. Im Moment jedenfalls nicht.«
»Und Ihre Familie?«
»Ich bin ein Einzelkind. Ich habe eine sehr enge Beziehung zu meiner Mutter. Mein Vater …« Er verstummte.
»Ich komme mit meinem Vater nicht zurecht, wirklich nicht«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort. »Er hat etwas von einem Egomanen.« Er zögerte. »Aber um ehrlich zu sein, möchte ich darauf nicht näher eingehen. Ich will nur für diese Knopfphobie eine Lösung finden und weiterkommen.«
Ich nickte. »Ja, das verstehe ich, gerade angesichts dieser großen Rolle. Aber ich fürchte, dass ich Ihnen nicht helfen kann, wenn es schnell gehen soll. Ich bin Psychotherapeutin. Was ich mache, braucht viel Zeit und viel Mühe. Und es funktioniert nicht immer.«
Er sah überrascht aus.
»Wenn Sie zu mir kommen würden, müssten wir uns auf jeden Fall Ihre Familienverhältnisse genauer ansehen, vor allem die, die Ihnen schwierig erscheinen, verstehen Sie.«
Ein Anflug von Verärgerung zeigte sich auf seinem Gesicht, aber ich fuhr fort.
»Wenn Sie schnell etwas tun möchten, wenden Sie sich am besten an meinen Kollegen auf der anderen Seite des Flurs. Er arbeitet ganz anders. Er wird Ihnen helfen, Ihre negativen Gedankenmuster aufzuspüren, ihre ganz persönlichen Ängste, und er wird Übungen mit Ihnen machen, um diese zu verändern. Er wird möglicherweise mit einer Technik arbeiten, die sich Expositionstherapie nennt. Zuerst sprechen Sie über Knöpfe, dann sehen Sie sich Bilder von Knöpfen an, dann werden Sie aufgefordert, einen anzufassen und so weiter, bis Sie Ihre Phobie überwunden haben.« Ich machte eine Pause. »Ist es das, was Sie wollen?«
Er schien unsicher.
»Diese Methode ist sehr wirksam«, sagte ich. »Und gerade diesen Kollegen kann ich wärmstens empfehlen.«
»Die Sache ist die …« Er sah weg, wich meinem Blick aus. »Es geht nicht nur um die Knöpfe.«
Plötzlich machte er einen scheuen, verlegenen Eindruck. Wieder kam mir der Gedanke, dass er ein sexuelles Problem haben könnte, doch ich schob ihn zur Seite. Die eigenen Gedanken ausklammern, genau das muss man, wenn man anderen zuhört. Sie in Parenthese setzen und später auf sie zurückkommen. Das ist eine gute Regel, an die ich mich zu halten versuche.
»Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern.
Ich fragte mich, was es sein konnte. Meiner Ansicht nach waren Phobien bezüglich Knöpfen und Spinnen und dergleichen ziemlich leicht zu verstehen, wenn auch nicht zu kurieren. Sie sind die sicheren, bequemen Stützen, an denen wir unsere Ängste angesichts der wirklich großen Dinge festmachen, die wir nicht kontrollieren können, angefangen bei der Tatsache, dass wir geboren werden und dass wir sterben müssen und nicht wissen, warum. Es ist leichter, Angst vor Knöpfen zu haben als vor so etwas. Es sei denn, es wird heftiger, natürlich.
Schließlich hob er den Blick und sah mir direkt in die Augen. »Ich muss Sie besser kennenlernen, bevor ich …«
Ich versuchte zuzuhören, fühlte mich aber langsam wie ein erschrockenes Kaninchen, das im Scheinwerferlicht eines Autos gefangen war.
»Ich hoffe, jemanden zu finden …«
Eines Autos mit sehr großen Scheinwerfern in einer sehr dunklen, verregneten Nacht.
»… jemanden, dem ich vertrauen kann.«
Plötzlich fühlte ich eine Hitzewelle von meiner Brust aufsteigen. Ich wandte den Blick ab, hoffte, dass sie sich nicht bis in mein Gesicht ausbreitete.
Gegenübertragung, sagte ich mir. Wenn du emotional auf deine Klienten reagierst, anfängst zu glauben, dass du sie leidenschaftlich liebst oder hasst. Das sind nur verdrängte Emotionen aus anderen Beziehungen in deinem Leben. In diesem Fall war es sehr viel schneller dazu gekommen als üblich, noch vor der Übertragung. (Das ist die Phase, in der der Klient glaubt, dich leidenschaftlich zu lieben oder zu hassen.) Aber ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich damit zurechtkam. Die Situation konnte sich für uns beide sogar als hilfreich erweisen, wenn sie unter Kontrolle blieb. Wie gesagt, über die Jahre hatte ich gelernt, mir zu vertrauen.
Gwydion blinzelte, und ich blinzelte, und der Moment war vorüber.
Ich sah zu dem Relief an der gegenüberliegenden Wand hin. Es war weiß, besänftigend und heiter. Der Kreis schien ganz natürlich zwischen den Quadraten zu sitzen, in vollem Vertrauen darauf, dass er an seinem rechtmäßigen Platz war.
»Nun gut, Gwydion«, sagte ich. Ich sah ihn an und lächelte mein nettestes, einfühlsamstes Lächeln. »Ich betrachte mich als ziemlich vertrauenswürdig. Wenn Sie sich entscheiden, zu mir zu kommen, werde ich mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen.«
Nach Gwydion Morgan hatte ich noch vier andere Klienten, die alle seit Langem zu mir kamen, die ihre Geschichten erzählten, die mich noch immer faszinierten und bewegten, entweder die Geschichten selbst oder die Art, wie sie sie erzählten. Dann fuhr ich zu Nellas Schule. Sie würde an diesem Nachmittag auf einem Konzert singen. Sie hatte erst vor Kurzem mit Singen angefangen – alle Mädchen machten das im Musikkurs in der zehnten Klasse, hatte sie gesagt, es war einfacher, als ein Instrument zu lernen –, doch bis jetzt hatte ich sie nicht einen einzigen Ton hervorbringen hören. Bei den seltenen Malen, die sie geübt hatte, hatte sie ostentativ ihre Zimmertür zugemacht, ihre Stereoanlage voll aufgedreht und mir verboten, in ihr Zimmer zu kommen, bevor sie fertig war. Und sie hatte nicht gewollt, dass ich zu dem Konzert kam, aber ich hatte darauf bestanden.
Ich war spät dran, deshalb fuhr ich ein wenig schneller als sonst, bog auf den Vorplatz ein und parkte eilig. Dann rannte ich zu der Aula hinüber und schloss mich den letzten Eltern an, die hineinströmten. Ich suchte mir einen Platz, nickte den Leuten, die ich kannte, höflich zu und sah zu Nella hinüber. Sie stand mit ihren Klassenkameradinnen an der Seite der Bühne. Als sie mich sah, winkte ich diskret, doch sie winkte nicht zurück. Stattdessen wandte sie sich um und begann, mit ihren Freundinnen zu reden.
Der Lehrer schloss die Tür, und die Gespräche im Raum verstummten. Dann ging er auf die Bühne, stellte sich vor und bedankte sich für unser Kommen. Er schien ein wenig zu dankbar für unsere Anwesenheit, was nichts Gutes versprach.
Die ersten beiden Künstler waren zwei schrecklich schüchterne Jungen mit E-Gitarren, von denen der eine einen langweiligen Bluesriff zum Besten gab, während der andere willkürlich und übertrieben improvisierte. Während sie spielten, wanderten meine Gedanken zurück zu dem Foto, das ich heute Morgen mit der Post bekommen hatte. Wahrscheinlich ist es nur von einem aufgebrachten Klienten, sagte ich mir, aber trotzdem war es seltsam. Ich musste herausfinden, wer der Mann auf dem Foto war; vielleicht würde mir das verraten, wer es mir geschickt hatte …
Als Nächste trat ein molliges, linkisches Mädchen mit einer Brille auf, die sich durch ein Cello-Stück sägte. Sie machte den Eindruck einer jungen Frau, die es im Leben nicht leicht hatte, aber trotzdem fest entschlossen war, Bachs flattergeistige Arpeggios zu besiegen und dafür eine Eins zu bekommen. Am Ende des Stückes hatte ich das Gefühl, aufstehen und klatschen zu müssen, obwohl es quälend gewesen war zuzuhören.
Der Lehrer machte einen leicht erschöpften Eindruck, als er zurück auf die Bühne kam, sich an das Klavier setzte und ankündigte, dass jetzt die Sängerinnen kommen würden. Wie Nella gesagt hatte, waren es alles Mädchen. Nicht ein Junge war unter ihnen.
Die Erste war eine hübsche Fünfzehnjährige mit sorgfältig geglättetem und geföntem Haar, deren gesittete Darbietung von My Heart Will Go On auf die Note perfekt war. Trotz des unsinnigen Textes – für den sie natürlich nichts konnte – und ihrer auf absurde Weise dramatischen Gesten erntete sie wilden Applaus. Anschließend schlurfte Nella auf die Bühne, den Kopf gesenkt, die Haare vor dem Gesicht, die Hände in den Taschen ihrer Jeans vergraben.
Ich hielt den Atem an, und mein Herz begann zu klopfen. Ich versuchte, nicht auf der Stuhlkante zu sitzen. Als der Lehrer die ersten Noten des Lieds spielte, wünschte ich, sie würde das Publikum ansehen, doch sie sah stur weiter auf den Boden.
Sie begann zu singen. Ihre Stimme war ein Flüstern, fast nicht zu hören. Ich war verärgert, frustriert. Was war mit meiner Tochter los? Warum war sie nicht zuversichtlich, selbstsicher wie das Mädchen mit dem geglätteten Haar? Sie war genauso hübsch und vermutlich eine ebenso gute Sängerin. Wenn sie nur …
Dann hob sie den Kopf. Jetzt war ihre Stimme laut und klar. Ich schluckte. Tränen traten mir in die Augen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme, und ich hörte sie zum ersten Mal. Einen kurzen Augenblick sah sie mich an. Sie musste mir meine Gefühle angesehen und sie mussten ihr Mut gemacht haben, denn als sie zu der letzten Strophe kam, schien sie ihre Hemmungen loszulassen und zu vergessen, wo sie war.
Als sie zu Ende gesungen hatte, blickte sie triumphierend auf, als das Publikum zu klatschen begann. Ich klatschte mit, so fest ich konnte. Jemand rief »Bravo«, als sie die Bühne verließ, und ich sah sie lachen, während ihre Freundinnen sich um sie drängten und ihr gratulierten.
Die nächste Schülerin betrat die Bühne, ein großes Mädchen mit einer Klarinette. Ich hörte höflich zu, als sie mit ihrer Darbietung begann, aber ich hatte genug. Während die Töne aus dem Instrument herausströmten, ein seltsames Quäken und Kreischen, wurde mir extrem heiß, und ich legte mir die Hand auf die Stirn und schloss für einen Moment die Augen. Dabei sah ich Gwydion Morgans dicke, schwarze Wimpern gegen seine geröteten Wangen schlagen.
Die Hitzewelle flaute ab, und ich öffnete die Augen. Keine Panik, sagte ich mir. Das sind nur die Hormone. Und die Überraschung, Nella singen zu hören, so wunderschön, so unerwartet.
Die Klarinette gab ein hohes Quietschen von sich, und im Publikum wurde gelacht. Das Mädchen fing an zu kichern und hörte einen Moment auf, an dem Hals des Instruments herumzufingern, während der Lehrer am Klavier geduldig wartete. Das Publikum rutschte auf den Sitzen hin und her, und einige Eltern erhoben sich leise und gingen, da sie die Darbietung ihrer Kinder bereits gesehen hatten. Ich nutzte die Gelegenheit, mit ihnen aus dem Saal zu schlüpfen, wobei ich Nella schnell zuwinkte. Ich wusste, dass es sie verlegen machen würde, wenn ich zu ihr ginge und ihr gratulierte. Sie wandte den Blick ab, doch ich bemerkte trotzdem, wie sie versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken.
Draußen auf dem Parkplatz ging ich schnell zu meinem Auto, schloss die Tür auf und wollte mich gerade hineinsetzen, als ich hinter mir jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und sah einen Mann in den Dreißigern in einem weiten, karierten Hemd und Jeans. Er trug einen Gitarrenkasten. Zuerst erkannte ich ihn nicht, doch als er näher kam, erinnerte ich mich an ihn als einen früheren Klienten.
»Emyr«, sagte ich. »Hallo.« Ich schwieg einen Moment. »Was machen Sie denn hier?«
Ich werde oft von früheren Klienten angesprochen, wenn ich meinen täglichen Geschäften nachgehe – Cardiff ist schließlich ein kleiner Ort –, und in der Regel freue ich mich, sie zu sehen. Doch Emyrs etwas zu vertrauliches Verhalten verursachte immer ein leicht unbehagliches Gefühl in mir.
»Dasselbe wie Sie. Ich habe mir die Show angesehen.«
Er lächelte und kam näher. Er hatte ein breites Lächeln – Reihen gerader, weißer Zähne – und hellbraune Sommersprossen. Er war einen Kopf größer als ich, und sein Haar hatte diese goldene, kastanienbraune Farbe, die man so oft sieht, obwohl man sich Waliser eher dunkel und klein vorstellt.
»Ich wollte mir nur mal angucken, was die jungen Leute so machen«, fuhr er fort. »Augen und Ohren offenhalten.«
»Die jungen Leute.« Vielleicht war das das Problem. Emyr hatte eine Vorliebe für lehrerhafte Wörter wie »die jungen Leute«. Er war vor ein paar Jahren mit einer nicht wirklich schweren Depression zu mir gekommen, nachdem er seinen Job verloren hatte, doch da er nur über die Ungerechtigkeit der Situation hatte wettern wollen, statt sich seine Reaktion darauf anzusehen, hatte ich nicht viel für ihn tun können, und nach ein paar Stunden war er nicht mehr wiedergekommen.
»Ich habe Ihre Tochter singen gehört«, fuhr er fort. »Sie hat Talent, finden Sie nicht?«
»Danke. Ja, das hat sie.« Gerade wollte ich ihm erzählen, dass ich vor dem heutigen Tag Nella nicht einen Ton hatte singen hören, doch aus irgendeinem Grund ließ ich es.
»Wie geht es Ihnen inzwischen?«, fragte ich stattdessen.
»Ich arbeite als A&R-Manager, um es einmal so auszudrücken.« Er grinste schief. »Ich baue ein neues Musikprojekt der Gemeinde auf. Subventioniert vom Gemeinderat. Wir suchen nach jungen Leuten, die vielleicht gerne unser Studio nutzen würden. Vierundzwanzig Magnetspuren, aktuelle Technik. Umsonst.« Er kramte in seiner Jeanstasche, fischte eine leicht ramponierte Visitenkarte heraus und gab sie mir.
Ich warf einen Blick auf die Karte. Sie war in grellen Farben gehalten, und der Name »Safe Trax« prangte in einer sehr an Graffiti erinnernden Schrift darauf, die Nella als »schwach« abtun würde, dessen war ich mir sicher. Darunter standen sein Name und eine Kontaktnummer.
»Danke.« Ich steckte die Karte in meine Tasche. »Schön, Sie wiedergesehen zu haben.«
»Gleichfalls. Passen Sie auf sich auf.«
Ich stieg in mein Auto, nickte ihm durch das Fenster zu und gab Gas. Als ich durch das Tor fuhr, sah ich, wie er sich umdrehte und mir nachsah und dann langsam Richtung Schule ging.
An diesem Abend machte ich das Lieblingsessen der Kinder, um Nella eine Freude zu machen: Hamburger und Pommes frites. Wir aßen vor dem Fernseher. Die Hamburger waren vom Wild, das weniger fett ist, aber das hatte ich ihnen nicht gesagt; die Brötchen waren aus Vollkornmehl, und die Fritten hatte ich selbst gemacht in der Hoffnung, dass sie etwas gesünder waren als die gekauften. Auf jeden Teller kam zudem noch ein kleiner Salat aus Blattsalat, Tomaten und Brunnenkresse, obwohl ich wusste, dass Rose ihren nicht essen würde. Doch selbst wenn sie das nicht tat, konnte ich mich zumindest damit trösten, dass ich mein Bestes getan hatte. Wie sang Merle Haggard, Bobs Lieblingscountrysängerin, doch so schön – Mama Tried.
Nachdem wir zu Abend gegessen und abgeräumt hatten, ging Rose in die Küche, um Klarinette zu üben, während Nella nach oben verschwand, um ihre Hausaufgaben zu machen. Ich wusste, dass nach wenigen Minuten laute Musik aus ihrem Zimmer kommen würde, unterbrochen von Ruhepausen, wenn sie auf dem Handy telefonierte. Vor Kurzem hatte ich beschlossen, nicht weiter zu intervenieren – schließlich war sie jetzt sechzehn –, deshalb ging ich in Bobs Arbeitszimmer und schaltete den Computer an. Dann machte ich die Tür fest zu und setzte mich.
Ich gab einen Namen in die Suchmaske ein: Curtain Call Casting. Ich zögerte einen winzig kleinen Moment, fragte mich, ob ich wirklich der Aufforderung meines neuen Klienten nachkommen sollte, dann klickte ich die Seite an. Ich scrollte an einer Liste herunter, fand seinen Namen und klickte noch einmal.
Oben auf der Seite war eine Werbeaufnahme. Die Beleuchtung war dunkel und trübe, und Gwydion stand direkt vor der Kamera. Er trug ein enges weißes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose, die so tief auf den Hüften saß, dass sie nicht nur den Bund seiner Designer-Boxershorts freigab, sondern auch einen flüchtigen Blick auf seinen muskulösen Bauch erlaubte. Sein Haar war strubbelig, und seine Augen waren halb geschlossen, als käme er gerade aus dem Bett.
Neben dem Foto war eine Spalte, die mit »Kurz und bündig« betitelt war. Ich sah sie mir an und las die entscheidenden Daten oder wie immer man das bei einem Schauspieler nennt. Spielalter: 25. Größe: 1,85 m. Gewicht: 80 Kilo. Haarfarbe: braun. Augenfarbe: nussbraun – nein, das stimmte nicht, seine Augen waren grün. Körperbau: durchschnittlich. Das war alles.
Unter dem Werbefoto waren seine Rollen aufgelistet. Außer in The War of the Dragon Kings schien er vor allem in unbedeutenden walisischen Fernsehshows mitgewirkt zu haben, einschließlich der berühmt-berüchtigten Serie Down in the Valley, und dann waren noch zwei Cameos in Filmen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, sowie Radio- und Fernsehwerbespots aufgeführt. Ich scrollte weiter herunter. Die kommende Rolle in dem Historiendrama wurde noch nicht erwähnt.
Musik dröhnte oben aus Nellas Zimmer. Ich beschloss, sie zu ignorieren.
Unter der Spalte »Kurz und bündig« gab es einen Link zu einer anderen Seite, den ich anklickte. Er führte zu einer Filmdatenbank und lieferte noch mehr Details zu The War of the Dragon Kings sowie ein weiteres Foto von Gwydion, auf dem er nicht viel mehr als einen Lendenschurz trug. Der Film war ein Remake von einer der Geschichten des Mabinogions und dem Mangel an Besprechungen nach zu urteilen kein sonderlich erfolgreiches. Ich scrollte zu den Kommentaren unten auf der Seite herunter, um mir die letzten Posts anzusehen, in denen es um seine Rolle in dem Film ging. Leider wurden seine schauspielerischen Fähigkeiten nirgendwo erwähnt. Dafür warf die erste Mitteilung, die von jemandem mit dem Namen Shelleewellee kam, die Frage auf: »Ist Gwydion nicht ein absoluter Leckerbissen«, was von allen in Wendungen, die keinen Zweifel aufkommen ließen, mehr als bejaht wurde. Der einzige Kommentar, der möglicherweise als Kompliment zu seiner schauspielerischen Leistung ausgelegt werden konnte, kam von jemandem mit dem Namen »Gigigirl«: »Der Typ ist gut besetzt, was für ein super Film, das Ende war so traurig, dass ich nach der Schachtel mit den Taschentüchern greifen musste …«
Die Musik oben wurde lauter. Ich fragte mich, ob ich doch hochgehen und einschreiten sollte. Aber wieder entschied ich mich dagegen. Es war an der Zeit, dass Nella lernte, ihre Hausaufgaben ohne meine Einmischung zu machen und in der Schule die Konsequenzen zu tragen, wenn sie sich nicht zusammenreißen konnte. Davon einmal abgesehen, hatte ich selbst zu arbeiten.
Ich kam mir einen Moment etwas albern vor, als ich die Cyber-Gemeinschaft von Gwydions leicht schwachsinnigen Schulmädchen-(und Schuljungen-)Fans anklickte, doch statt die Seite zu schließen, scrollte ich an einer mit »Facts am Rande« überschriebenen Rubrik herunter, der ich entnahm, »Ausgebildet an der Royal Academy of Dramatic Art (RADA)«. Am Ende der Spalte war ein Link »Weiter«.
Ich wollte gerade den Link anklicken, als ich mir selbst Einhalt gebot. Obwohl Gwydion mich mehr oder weniger dazu aufgefordert hatte, ihn zu googeln – eigentlich sogar angedeutet hatte, dass es als seine neue Therapeutin meine Pflicht sei, das zu tun –, fand ich, für den Moment genug erfahren zu haben. Er musste mir seine Geschichte zu der für ihn richtigen Zeit selbst erzählen, mit seinen Worten. Es war ihm gegenüber nicht fair, so voreilig zu handeln. Oder mir gegenüber, was das anging. Es würde leichter, viel leichter für mich sein, ihm zu helfen, wenn ich nicht zu viele vorgefasste Meinungen über ihn hatte.
In dem Moment ging die Tür auf, und Bob kam herein. Er ist ein großer, gut gebauter Mann, und er dominiert jeden Raum, sobald er ihn betritt. Er hatte noch seinen Mantel an, einen perfekt geschnittenen, schwarzen Überzieher, und Regentropfen funkelten auf seinen Schultern. Sein lockiges Haar war leicht strubbelig, seine Brille hatte er hoch in die Haare geschoben, und sein Gesicht erstrahlte in einem enthusiastischen, jungenhaften Lächeln. Wann immer er nach Hause kam, brachte er den Duft kalter, frischer Luft, ferner Städte und eines aufregenden, ereignisreichen Lebens außerhalb der Grenzen unserer häuslichen Welt mit, der mein Herz schneller schlagen ließ. Doch nicht dieses Mal.
Er hatte eine schwarze Papiertüte mit einem silbernen Rand in der Hand.
Er trat zu mir an den Schreibtisch. »Bitte schön«, sagte er.
Ich nahm ihm die Tüte ab und warf einen flüchtigen Blick auf ihren Inhalt. Darinnen steckte, in einem Kokon aus weißem Seidenpapier, eine Gardenie.
»Danke«, sagte ich. Ich konnte den Duft der wachsartigen Blume riechen, steckte aber nicht den Kopf hinein und schnupperte daran, wie ich das normalerweise getan hätte.
Stattdessen stellte ich die Tüte neben meine Füße auf den Boden.
»Du bist also zurück«, sagte ich.
Als er die Emotionslosigkeit in meiner Stimme hörte, erstarb sein Lächeln.
»Ja, ausnahmsweise gab es keine Verspätung.«
Um seine Enttäuschung zu verbergen, sah er geistesabwesend über meine Schulter auf den Computerbildschirm. Ich folgte seinem Blick und fragte mich, wie ich erklären sollte, was ich da gerade tat. Doch als ich auf den Bildschirm sah, stellte ich fest, dass Gwydions Website verschwunden war. Nur noch der Bildschirmschoner war zu sehen, ein Ferienschnappschuss von der Familie, die in Neoprenanzügen der Größe nach aufgestellt wie eine lächerliche Reihe von Pinguinen, irgendwo an einem windigen Strand in Westwales stand.
Jean, meine erste Klientin an diesem Tag, langweilte mich. Sehr. Das tat sie hin und wieder, vor allem wenn wir in der vorhergehenden Stunde einen Schritt weitergekommen waren. Dann kam sie und begann, nach einer äußerst flüchtigen Begrüßung, sich über irgendein kleineres häusliches Problem im Detail auszulassen: über einen verstopften Abfluss, einen Badewannenstöpsel, der nicht passte, ein seltsames Geräusch, das von dem Staubsauger kam. Heute war es eine defekte Gardinenschiene.
»Man kann nicht einfach das kaputte Teil reparieren, verstehen Sie.« Sie seufzte frustriert. »Man muss jemanden finden, der eine Neue anfertigt. Das kostet ein Vermögen …«
»Und dann ist da natürlich noch die Anbringung …«
Ich dachte an den Artikel, den ich über komplexe Trauer gelesen hatte. Man spricht von komplexer Trauer, wenn jemand sich nach mehr als einem Jahr noch so verhält, als hätte der Verlust ihn gerade erst getroffen. Ich hatte ihn in der Hoffnung gelesen, Jean irgendwie helfen zu können weiterzukommen, aber es schien nichts genützt zu haben.
»Ich habe keine Ahnung, wo ich jemanden finden soll, der sie anbringt …«
Meine Gedanken schweiften ab. Ein Bild von Gwydion erschien vor meinem inneren Auge. Er saß auf einem Pferd, mit nichts als einem knappen Lendenschurz bekleidet und einem Köcher mit Pfeilen auf dem Rücken. Er blickte in die Ferne, sein gebräunter Körper war schweißnass. An seiner Schulter klebte Erde, als sei er vor nicht allzu langer Zeit heruntergefallen…
»Ich habe in den Gelben Seiten nachgesehen, aber …«
Er drehte den Kopf, seine grünen Augen verengten sich, als er mich sah …
»Ich weiß nicht, worunter ich nachsehen soll. Brauche ich einen Innenarchitekten? Einen Schreiner? …«
Er wendete das Pferd und kam langsam auf mich zugeritten. Ich beobachtete das Spiel der Muskeln unter seiner Haut, während er sich näherte, bevor er sich schließlich hinunterbeugte, die Hand ausstreckte und …«
»Sie hören mir nicht zu, richtig?«
Jean hörte auf zu reden.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ich meilenweit weg gewesen war.
»Natürlich tue ich das.«
Ich war über mich selbst erschüttert. Was zum Teufel war mit mir los, dass ich mitten in einer Stunde vor mich hin träumend – nein, fantasierend – dasaß? Bobs Seitensprung hatte mich offenbar tiefer getroffen, als mir bisher bewusst gewesen war. Ich musste wirklich mit diesem Unsinn aufhören und mich zusammennehmen, sagte ich mir, vor allem da Gwydion – der reale Gwydion – sich entschlossen hatte, eine Therapie bei mir zu machen und direkt nach Jean kommen würde.
Jean schniefte. »Ich muss Sie wohl sehr langweilen.«
Ein Schweigen entstand.
»Nein.« Ich wählte meine Worte mit Bedacht. »Aber vielleicht würde es Ihnen helfen, wenn Sie Ihre Gefühle direkter zum Ausdruck brächten.«
»Das versuche ich doch.« Sie war wirklich wütend.
Jean hatte recht. Hätte ich mich konzentriert, hätte ich mitbekommen, dass sie ihren Problemen Ausdruck verliehen hatte, ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes in den Griff zu bekommen (»man kann nicht einfach das Kaputte reparieren«), ihrem Ärger über ihre angespannte finanzielle Situation (»das kostet ein Vermögen«), ihrer Angst, nie mehr einen neuen Partner zu finden (»ein Mann, der passt«) und ihrer Verzweiflung, plötzlich im Alter von fünfundsechzig Witwe zu sein, die all dem zugrunde lag. Es war mein Job, ihre Codes zu knacken, ihr zu helfen, das wirklich anstehende Problem zu sehen, und das hatte ich nicht getan.
Sie war verärgert. Sie begann, an dem noppigen Stoff ihres Reißverschluss-Oberteils zu ziehen. Es war aus marineblauem Polyester, und sie trug eine passende marineblaue Hose dazu, die in den Katalogen voller lächelnder, gesund aussehender älterer Leute mit langweiligen Klamotten als »Slacks« bezeichnet worden wäre. Nur dass Jean weder lächelte noch gesund aussah. Ihre Haut war fleckig und runzlig und ihr Haar ungewaschen, dünn und schlecht gefärbt.
»Also, heute bin ich wirklich durcheinander. Nicht, dass Sie das interessiert …«
Ich spitzte die Ohren. Jetzt wurde es wichtig.
»Durcheinander?«
»Ja. Und müde. Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen.«
»Sie konnten nicht schlafen?«
»Hören Sie auf, alles zu wiederholen, was ich sage«, fauchte sie. Eine Pause entstand. »Es ist so, dass ich von Derek geträumt habe.«
Diesmal schwieg ich. Derek war ihr verstorbener Mann.
»Er hat furchtbar ausgesehen«, fuhr sie fort. Ihre Stimme begann zu zittern. »So dünn. Als wäre er …« Ihre Stimme brach, und sie begann zu weinen.
Auf dem Tischchen zwischen uns lag eine Packung Papiertaschentücher. Ich beugte mich vor und schob sie ihr hin. Sie nahm ein Taschentuch, wischte sich die Augen und fuhr fort.
»Er hat mich angefleht, ihn nicht zu vergessen.«
Ich sah flüchtig zur Uhr. Unsere fünfzig Minuten waren eindeutig vorbei. Wir waren sogar etwas über der Zeit.
Verdammt, dachte ich. Sie hatte es wieder getan. Jean hatte die Angewohnheit, wichtige Dinge zum Schluss der Stunde zur Sprache zu bringen. Obwohl sie die Uhr gut sehen konnte, schien ihr dieses Verhaltensmuster völlig unbewusst zu sein.
Ich wartete, während sie sich die Nase putzte, das Taschentuch in ihren Ärmel stopfte und sich zurück in ihren Stuhl setzte. Sie wollte gerade fortfahren, als ich sie unterbrach.
»Es tut mir leid, Jean.« Ich sprach sanft zu ihr, versuchte, so freundlich und mitfühlend zu klingen, wie ich konnte. »Für heute müssen wir hier aufhören. Unsere Zeit ist um.«
Ich hoffte, noch eine Pause zu haben, bevor mein neuer Klient, Gwydion Morgan, eintraf. Ich habe zwischen den Stunden gerne ein paar Minuten für mich, um mir Notizen zu machen, meine Mails zu checken, einen Blick auf meinen Terminplan zu werfen, zur Toilette zu gehen und mir vielleicht eine Tasse Tee zu machen, wenn die Zeit reicht. Eine Pastille gegen Mundgeruch zu lutschen. Eine Zigarre zu rauchen. Einen Highball zu trinken. Schon gut, natürlich rauche ich keine Zigarren und trinke keine Cocktails, ich weiß nicht einmal genau, was ein Highball ist, aber bildlich gesprochen ist es das, was ich zwischen den Stunden tue. Dasitzen und ins Leere starren und nachdenken. Das Spiel der Schatten beobachten, die die Bäume draußen an die Decke werfen. Doch diesmal hatte ich keine Gelegenheit dazu. Denn als Jean sich wieder gefasst hatte und ich sie hinausbegleitete, saß Gwydion bereits im Wartezimmer. Sie war spät dran und er früh.
Es war genau die Situation, die ich zu vermeiden suche. Ich mag es nicht, wenn meine Klienten sich die Klinke in die Hand geben. Sie werden eifersüchtig und neugierig und beginnen, Fragen zu stellen. Der Gedanke, dass ich mich auch um andere Klienten kümmern muss, scheint ihnen nie zu kommen, bevor sie ihnen nicht wirklich begegnen und der Realität ins Auge sehen müssen. Und wenn das passiert, neigen sie dazu, ihren Zorn auf die eine oder andere Weise an mir auszulassen. Natürlich ist all das Wasser auf die Mühlen des Therapeuten, und es zeigt mir, wie meine Klienten mit Konkurrenz umgehen – Geschwisterrivalität und all das –, aber alles in allem führt es nur zu Komplikationen, und ich fühle mich immer ein bisschen unwohl dabei.
Als Jean Gwydion sah, drehte sie sich mit einem verletzten, anklagenden Blick zu mir um, bevor sie sich leicht verärgert verabschiedete, während Gwydion mich seinerseits mitfühlend anlächelte, als würde er mich bedauern, dass ich mich mit einer so langweiligen Person abgeben musste. Um Jean irgendwie zu besänftigen und Gwydion auf seinen Platz zu verweisen, fasste ich Jean besorgt an der Schulter, während ich mich von ihr verabschiedete und dann Gwydion ansah und höflich fragte, ob es ihm etwas ausmachen würde, bis zum Beginn seiner Stunde draußen zu warten und erst dann hereinzukommen.
Als ich wieder in meinem Sprechzimmer war, griff ich nach meiner Tasche und machte mich auf die Suche nach einem Lippenbalsam und einer Haarbürste. Meinen Compact-Puder fand ich nicht, sodass ich keinen Spiegel hatte. Dann ging ich zu meinem Stuhl, setzte mich und sah das weiße Relief an der Wand an, fest entschlossen, Gwydion so gefasst gegenüberzutreten, wie er das von mir erwartete.
Der Kreis war wie immer an seinem rechtmäßigen Platz zwischen den Quadraten. Doch als ich genauer hinsah, fiel mir auf, dass er leicht pulsierte. Die Bewegung war fast nicht zu erkennen, doch sie war da. Ich hatte das noch nie gesehen. Der Kreis hatte immer friedlich in der Mitte geruht, seine ernste Ruhe hatte auf die Vierecke um ihn herum ausgestrahlt. Ich sagte mir, dass mir nur das Licht einen Streich spielte, aber trotzdem nervte es mich. Und dann spürte ich eine intensive Hitze von meiner Brust in meinen Nacken aufsteigen, in mein Gesicht und meine Arme.
In dem Moment klopfte es an der Tür.
»Herein.«
Die Tür ging auf, und Gwydion kam herein. Heute trug er Jeans und eine Lederjacke. Darunter hatte er ein weißes T-Shirt an wie auf dem Reklamefoto.
Ich zeigte auf den freien Sessel mir gegenüber. »Nehmen Sie Platz.«
Er ging zu dem Sessel und setzte sich. Dabei konnte ich nicht umhin, die Wölbung seiner Brust zu bemerken, die sich unter dem T-Shirt abzeichnete. Ich wandte den Blick ab.
»Danke.« Er setzte sich in dem Sessel zurecht. Eine Pause entstand, dann sagte er: »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Wo immer Sie möchten.« Ich bemühte mich, neutral zu klingen.
Er antwortete nicht. Stattdessen sah er mich forschend an, versuchte, Augenkontakt zu mir aufzunehmen. Ich blickte so ruhig zurück, wie ich konnte.
Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Wo immer ich möchte …« Er runzelte die Stirn. Einen Moment lang schien er meine Anwesenheit vergessen zu haben. »Also …«
Schweigen entstand.
»Okay, dann fange ich mit etwas an, das mich beunruhigt. Außer den Knöpfen. Mit einem Traum, den ich immer wieder träume – manchmal sogar zweimal in der Woche.«
Das schien der Tag der Träume zu sein, dachte ich. Und zumindest kam dieser zu Anfang und nicht zu Ende der Stunde zur Sprache.
»Eigentlich ist es mehr ein Albtraum«, fuhr er fort. »Ich weiß nicht, worauf er sich bezieht, aber er erfüllt mich mit Angst.« Er hörte auf zu reden und biss sich auf die Lippe.
»Okay.« Ich begann, mich zu entspannen. Gwydion schien zu den Klienten zu gehören, die direkt zur Sache kommen und nicht dazu überredet werden müssen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und jetzt, da wir miteinander zu arbeiten begannen, schienen meine albernen Fantasien über ihn verschwunden zu sein. »Vielleicht können Sie damit anfangen, mir zu erzählen, was in dem Traum passiert.«
»Ja, natürlich.« Er setzte sich in dem Sessel zurück, schloss halb die Augen und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich bin ein Kind. Ich weiß nicht, wie alt.« Er zögerte. »Aber ich bin klein. Und da, wo ich bin, ist es dunkel. Stockdunkel.«
Er hatte die Augen jetzt ganz geschlossen, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck völliger Konzentration. Ich war überrascht, wie schnell er auf meinen Vorschlag eingegangen war, führte es aber auf seine schauspielerische Ausbildung zurück.
»Ich bin in einer Kiste eingesperrt. Jemand hat mich dort eingeschlossen. Ich kann nichts sehen, und ich kann nicht atmen. Die Luft wird knapp …«
Obwohl er total ernst war, und ich seine Aufrichtigkeit nicht infrage stellte, hatte sein Verhalten etwas Theatralisches. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, dass er wie jemand aus einem Buch aus der Selbsthilfe-Ecke von Waterstones, der hiesigen Buchhandlung, klang – Papa, tu dasnie wieder, vielleicht. Aber dann senkte ich den Blick und sah ihn am Stoff seines Ärmels kratzen, daran zerren, ihn auf eine unbeholfene Weise zwirbeln, genau wie Jean es vorhin getan hatte, und ich spürte, dass das nicht gespielt war.
»Ich will um Hilfe rufen«, fuhr er fort, »aber ich weiß, dass ich das nicht darf. Ich muss still sein. Deshalb fange ich im Dunkeln an zu zählen. Eins, zwei, drei, vier …«
Gwydion zögerte. Er öffnete die Augen und sah mich an. Dann schloss er sie wieder.
»Fünf, sechs, sieben … Ich zähle weiter, bis ich bei zehn bin.« Er holte scharf Luft und öffnete wieder die Augen. »Und an diesem Punkt wache ich auf.«