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Beim Pilzesuchen im Tatenhauser Wald wird eine Rentnerin ermordet. Zum Ärger von Hauptkommissar Tann hat ausgerechnet seine Frau die Dame dorthin gebracht. Alle Hinweise auf den Täter führen allerdings ins Leere und auch die Tatwaffe, ein Fleischermesser, bringt die Beamten anfangs nicht weiter. Dann wird mitten in Versmold ganz in der Nähe des Schweinebrunnens eine weitere Tote gefunden und Tann stößt auf einen Suizid, der viele Jahre zurückliegt. In ihrem neuen Fall haben Hauptkommissar Tann und seine Kollegen es nicht nur mit viel Schnee, unausgesprochenen Wahrheiten und einem uralten Fall zu tun, sondern auch mit einem Täter, der vor nichts zurückschreckt.
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Seitenzahl: 393
Gisela Garnschröder
Kommissar Tann 5
Krimi
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Print-ISBN: 978-3-96752-163-4
E-Book-ISBN: 978-3-96752-663-9
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28237 Bremen
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Wasserschloss Tatenhausen lag still im Frühdunst. Der Blick auf die Zinnen wurde beim Vorbeigehen rasch von den hohen Bäumen des Waldes verdeckt. Seine Hündin Senta dicht bei Fuß, durchstreifte Förster Roland Wellmann langsam den Wald. Er war vom Weg abgebogen und schritt seitlich am Schlossgraben entlang.
Es raschelte im Unterholz.
Vorsichtig nach allen Seiten witternd kam eine Ricke zum Vorschein.
Der Wind stand günstig. Das Tier bemerkte den Jäger nicht.
Behutsam hob er sein Fernrohr, um sich ein genaues Bild machen zu können.
Senta knurrte fast unhörbar leise. Eine Handbewegung des Försters zum Kopf seiner Hündin, doch schon war das Reh mit schnellen Sprüngen im Gebüsch verschwunden.
Beim Weitergehen fiel Wellmanns Blick auf die stark verblassten Kreuze. Die waren Jahre zuvor von Umweltschützern aus Protest gegen den Ausbau der Autobahn, die diesen Wald zerschneiden sollte, mit weißer Farbe auf die Bäume gemalt worden.
Plötzlich blieb Senta ruckartig stehen, die Ohren gespitzt. Sie knurrte leise und bedrohlich. Wellmann hockte sich zu ihr nieder und streichelte sanft ihren Rücken. Die Hündin blickte gebannt ins dichte, mit Farnkraut überwucherte Gebüsch. Ihr Knurren wurde lauter. Irgendetwas beunruhigte sie.
»Na, na«, flüsterte Wellmann. »Was gibt es denn da so Schreckliches?«
Er erhob sich wieder und ging langsam weiter. Die Hündin sperrte sich, folgte nur zögernd ihrem Herrn. Sie ließ das Farnkraut nicht aus den Augen und witterte intensiv.
Langsam verließ Wellmann den Weg und kämpfte sich durch den Farn.
Abrupt stoppte er. Die Hündin schlug laut an.
Etwa zwei Meter vor ihnen, fast völlig verdeckt vom Grün, lag ein Mensch.
Sophie Rümers reckte sich und schaute zum Barenberg hinauf, hinter dem langsam die Morgensonne hervorkam. Ihr Rücken schmerzte vom langen Bücken. Sie warf einen Blick über das Möhrenfeld und dann auf die gefüllten Körbe zu ihren Füßen. Es war noch früh. In einer Stunde würde die Septembersonne den Schatten der Ravensburg verlassen und die morgendliche Kühle vertrieben haben. Langsam ging sie die wenigen Schritte zu dem kleinen Traktor, den sie am Rand des Feldes abgestellt hatte. Ihr war warm geworden bei der Arbeit. Sie holte sich eine Wasserflasche unter dem Sitz hervor und trank in hastigen Zügen.
Dann sprang sie, als habe das Wasser ihre Muskeln komplett erneuert, wie ein junges Mädchen auf den Sitz und fuhr schwungvoll zu den Körben. In Windeseile lud sie die schweren Körbe auf, als wären sie mit Watte gefüllt, sprang erneut auf den Traktor und tuckerte gemütlich in Richtung Hof davon.
Sie war erst wenige Meter gefahren, als ihr ein Fahrrad entgegenkam.
Agnes, ihre wesentlich jüngere Schwester, mühte sich, tief über den Lenker gebeugt, den hügligen Weg hinauf und kam schnaufend neben dem Traktor zum Stehen.
Mit einem Ruck stoppte Sophie das holprige Gefährt.
»Wo hast du so lange gesteckt?«, erkundigte sie sich empört. »Wenn ich fertig bin, brauchst du auch nicht mehr hochzukommen.«
»Na, dann eben nicht!«, antwortete Agnes beleidigt, wendete ihr Rad und sprang auf.
»Warte!« Sophie hatte den Traktor abgestellt, und es war augenblicklich still.
Sie beugte sich zu Agnes hinunter, die schon wieder auf den Füßen stand und sie empört ansah.
»Du kannst mir bei den Pilzen helfen!«
Agnes nickte, sprang erneut aufs Rad und rief, ohne sich noch einmal umzusehen: »Okay!«
Sophie ließ den Traktor wieder an und tuckerte zufrieden hinter ihrer Schwester her, die nun mit wehenden Haaren den Hügel hinunter schoss.
Seit Sophie nach dem Tod ihres Mannes mit dem Gemüseanbau begonnen hatte, war es ihr Bestreben, die Angebotspalette immer mehr auszubauen. Sie bot neben verschiedene Zwiebelsorten auch Lauch, Zucchini und seit Neuestem Pilze aus eigenem Anbau an. Zwiebeln und Zucchini hatte sie direkt hinter der etwas windschiefen Scheune angepflanzt. Hier, im Halbschatten, gedieh das Gemüse prächtig. Nur die Pilzkulturen, die sie in der Scheune teils auf großen Strohballen, wie auch in Bottichen mit Holzschnitzeln züchtete, warfen wenig Ertrag ab.
Als sie nun mit dem Traktor herankam, stand Agnes, die Hände in die Hüften gestemmt in der großen Scheunentür und schüttelte den Kopf. Kaum hatte Sophie den Traktor abgestellt rief sie: »Was willst du denn hier ernten? Die Pilze sind überhaupt nicht nachgewachsen!«
Sophie war vom Traktor gesprungen und blickte skeptisch über die Strohballen. Dann ging sie langsam von einem zum anderen. Sie schnitt ein paar frische Champignons und warf einen skeptischen Blick über die Stockschwämmchen, die ebenfalls für die Ernte noch nicht reif genug waren.
»Du hast recht«, sagte sie zu Agnes mit Blick über die Pilze, die sie gesammelt hatte. »Wir müssen noch eine Woche warten.«
»Am besten, du machst einen Waldspaziergang«, sagte Agnes.
»Das hat mir Berta schon gesagt«, ereiferte sich Sophie. »Die kann ihre Waldpilze selbst essen. Nicht auszudenken, wenn ein Giftpilz darunter wäre!«
»Da wäre ich auch vorsichtig«, gab Agnes zu. »Dann warte, oder noch besser, du holst dir ausnahmsweise Pilze vom Großmarkt.«
»Oh nein«, wehrte Sophie ab. »Zum Großmarkt fahre ich nicht. Meine Kunden erwarten frische Ware direkt von hier.«
»Wenn schon«, antwortete Agnes verächtlich. »Das merkt doch keiner!«
»Nein!«, lehnte Sophie kategorisch ab. »Ich werde die Kunden auf nächste Woche vertrösten.« Sophie zog das große Tor zu.
»Ich muss die Möhren noch bündeln«, sagte sie. »Du kannst mir helfen.«
Agnes ging zu ihrem Rad und fuhr mit einem zustimmenden Nicken davon. Sophie sprang wieder auf ihren Traktor, tuckerte um die Scheune herum und hielt auf der anderen Seite vor der großen Deelentür. Sie sprang ab und stellte den ersten Korb mit Möhren auf einen Tisch. Agnes hatte schon Handschuhe angezogen und begann sofort, die Möhren in haushaltsübliche Bunde zusammenzubinden.
Das Polizeiauto kam im Schritttempo über den sandigen Weg heran.
Roland Wellmann hatte sich auf einem dicken Stein niedergelassen. Beim Anblick des Fahrzeugs stand er auf und fuhr gleich den ersten Beamten an, der ausstieg. »Das hat aber lange gedauert!« Seine Hündin sprang auf und knurrte leise. Mit einer Handbewegung beruhigte Wellmann das Tier.
Einer der Uniformierten zuckte bedauernd die Schultern und erklärte: »Ging nicht schneller. Unfall auf der Bundesstraße.« Mit der Hand wies er auf den nachfolgenden Wagen, der nun direkt hinter dem Polizeifahrzeug hielt. »Wir haben die Kripo gleich mitgebracht!«
Kaum ausgesprochen sprangen zwei Herren aus dem Zivilfahrzeug. Einer war groß und schlaksig, mit dunklen Haaren und braunen Augen. Der andere nur wenig kleiner, mit rotem Vollbart und ebenso rotem Haar, der ihm das Aussehen eines Seebären verlieh. Der Dunkelhaarige zückte seinen Ausweis und hielt ihn Wellmann unter die Nase: »Hauptkommissar Tann, das ist mein Kollege, Kommissar Weiß.«
Wellmann fasste seine Hündin am Halsband. »Kommen Sie!«, sagte er, verließ mit großen Schritten den Weg und ging durch den üppigen Farn voraus, während ein Notarztwagen direkt hinter den anderen Fahrzeugen hielt.
Die Beamten folgten Wellmann mit wachsamen Blicken.
Der Förster stoppte plötzlich und zeigte mit der Hand auf eine gekrümmte Gestalt am Boden, die fast ganz von dem Grün verdeckt wurde.
»Der Hund hat angeschlagen, sonst hätte ich sie gar nicht gefunden«, sagte er, während die beiden Kriminalbeamten sich fast gleichzeitig beiderseits der Leiche niederhockten.
Hauptkommissar Tann hatte sich Handschuhe übergezogen und bewegte den Kopf der Frau zur Seite.
»Berta!«, rief er erstaunt aus. »Berta Rohrmann!«
»Kennst du sie?«, fragte Alfons Weiß.
Tann nickte. »Sie muss schon länger tot sein«, stellte er fest. »Die Totenstarre hat bereits eingesetzt.«
Ächzend erhob er sich und winkte einen Mann in weißem Kittel heran.
»Kommen Sie, Doktor Bracht!«, rief er. »Hier liegt sie!«
Der Notarzt, ein gemütlicher älterer Herr mit Halbglatze und grauem Haarkranz, kam etwas außer Atem heran und beugte sich ebenfalls über die Tote. Die Frau hatte braun gefärbtes, halblanges Haar und trug eine grüne Latzhose über einem dicken Wollpullover. Ihre Füße steckten in halbhohen, grünen Gummistiefeln. Zusammengekrümmt und beide Hände vor ihren Leib gepresst, lag sie da. Die Augen waren weit aufgerissen und ihr Gesicht vom Schmerz verzerrt. Vorsichtig rollte der Arzt sie auf den Rücken, wobei ihre linke Hand etwas zur Seite rutschte. Entsetzt starrten die Männer auf das Messer, das am Bauch aus der blutüberströmten Latzhose ragte. Die rechte Hand der Toten umklammerte den Griff.
»Da muss jemand aus nächster Nähe mit Kraft zugestochen haben!«, erklärte Dr. Bracht.
Der Förster räusperte sich heftig, um einen aufkommenden Brechreiz zu unterdrücken, nahm seine Hündin an der Leine und ging auf den Weg zurück.
Einer der uniformierten Beamten eilte zu seinem Wagen, um kurze Fakten an die Einsatzleitung weiterzugeben. Sein Kollege war währenddessen schon dabei, das Gelände großräumig mit rot-weißem Band abzusperren.
Kommissar Weiß war unter seinem roten Bart blass geworden. Tann hatte die Handschuhe wieder abgestreift, seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und betrachtete die Tote nachdenklich, während Weiß vorsichtig das Gebüsch rund um die Tote untersuchte. Er bemerkte einen mit Pilzen gefüllten Korb, nahm ihn und brachte ihn zum Weg, während der Arzt eine mitgebrachte Decke über die Tote breitete und sich ächzend erhob.
»Ich bin hier überflüssig«, erklärte Dr. Bracht leise und wandte sich zum Gehen. »Alles Weitere muss die Rechtsmedizin klären.«
Die Beamten nickten zustimmend und Dr. Bracht stapfte durch den Farn davon.
Kommissar Weiß sah ihm nach und stieß seinen Kollegen sanft in die Seite.
»Woher kennst du die Tote?«
Tann schrak zusammen, als sei er mit den Gedanken weit weg gewesen.
»Sie wohnt ein paar Straßen von uns entfernt«, sagte er. »Meine Frau hat sie auf dem Markt kennengelernt. Berta hat früher hin und wieder bei uns Babysitter gemacht.«
Alfons Weiß strich sich nachdenklich über den roten Bart.
»Ich fasse mal zusammen: Diese Berta arbeitete als Marktfrau auf dem Berliner Platz, außerdem machte sie Babysitting«, sagte er. »Sie ist doch mindestens sechzig. Bekam sie keine Rente?«
Josef Tann holte einen Notizblock aus der Tasche, schrieb etwas auf und antwortete: »Im Gegenteil, sie bekommt eine gute Rente und ist, so viel ich weiß, sogar schon vierundsechzig. Sie langweilt sich zu Hause, deshalb steht sie in Gütersloh und manchmal auch in Borgholzhausen für eine Bekannte im Marktstand. Das Babysitting bei uns hat sie umsonst gemacht, darum hilft ihr Cil zum Beispiel bei Einkauffahrten oder kutschiert sie, wenn’s grad auskommt.«
Weiß holte tief Atem und antwortete: »Wenn das so ist, sollten wir zuerst mit deiner Frau sprechen.«
»Das werden wir wohl müssen«, antwortete Tann und setzte hinzu: »Ich weiß noch gar nicht, wie ich Cil beibringen soll, dass Berta tot ist.«
Alfons Weiß zog die Brauen hoch und seine wasserblauen Augen nahmen einen besorgten Ausdruck an. »War sie häufig bei euch?«
»In letzter Zeit selten. Schließlich ist Christian bereits in der zweiten Klasse.« Tann fuhr sich mit der Hand durchs Haar und fluchte leise.
Alfons Weiß reagierte nicht darauf und einen Moment herrschte Schweigen.
Dann gingen sie, jeder in eine andere Richtung, noch einmal langsam durch das Gebüsch, um weitere Spuren zu sichern. Als sie sich nach einiger Zeit gemeinsam an ihrem Fahrzeug einfanden, hatte Alfons Weiß einen grau gemusterten Wollschal in einer Tüte bei sich, der vermutlich der Toten zuzuordnen war.
»Die Kollegen von der ›Spusi‹ sind auch schon aufgestanden«, frotzelte Alfons Weiß nun und wies mit der Hand auf einen Tross von Fahrzeugen, der sich über den Waldweg quälte. Sie warteten die Ankunft der Kollegen ab, übergaben ihnen die bereits sichergestellten Gegenstände, besprachen einige Details mit dem Leiter der Spurensicherung und fuhren davon.
Sophie Rümers hatte um acht Uhr ihren Stand auf dem Berliner Platz gerade vollständig aufgebaut, als auch schon die ersten Kunden kamen. Immer wieder schaute sie auf ihre Armbanduhr und warf einen verärgerten Blick über den Platz. Wo zum Donnerwetter blieb ihre Ablösung nur? Seit zwei Jahren hatte sie für den Stand in Gütersloh eine befreundete ältere Dame angestellt. Die betreute die Kunden so zuverlässig und gewieft, dass Sophie getrost nach dem ersten Ansturm heimfahren konnte. Allerdings war ihre Hilfe um zehn Uhr noch immer nicht da, und trotz mehrmaliger Anrufe nicht erreichbar.
Gerade als Sophie ihre Schwester telefonisch um Hilfe gebeten hatte, kamen zwei Herren an ihren Stand. Der Rothaarige mit einem Bart, bei dem jede Frau ein Kribbeln in den Fingern verspürte, sofort zur Schere zu greifen, reichte ihr eine Karte.
»Guten Morgen«, sagte er mit einem merkwürdigen Blinzeln in den wasserblauen Augen. »Mein Name ist Weiß, das ist mein Kollege, Hauptkommissar Tann. Sind Sie Frau Rümers?«
Sophie starrte auf die Karte und wurde bleich.
»Ist etwas an meinem Stand nicht in Ordnung?«, fragte sie angriffslustig, und überlegte augenblicklich, gegen welche Vorschrift sie verstoßen haben könnte.
Der Beamte grinste. »Wir sind nicht vom Ordnungsamt, wir sind vom Morddezernat.«
»Mord?« Sophie fasste sich an den Hals und blickte sich erschrocken um. »Wer ist denn ermordet worden?«, presste sie hervor.
In diesem Moment trat der zweite Mann vor, den sie bisher kaum beachtet hatte. Er war groß und dünn und seine dunklen Haare hingen ihm in die Stirn. Er lächelte sie gewinnend an und erkundigte sich: »Kennen Sie eine Frau Berta Rohrmann? Sie soll in Ihrem Stand gearbeitet haben.«
»Berta?«, stieß Sophie hervor. »Was ist mit ihr? Ich warte schon den ganzen Morgen auf sie.«
»Frau Rohrmann ist tot!«, erklärte der Rothaarige, der sich mit Weiß vorgestellt hatte.
Entsetzt schlug Sophie die Hände vors Gesicht. Mit aufgerissenen Augen starrte sie die Männer an. »Aber«, stotterte sie. »Berta war doch gar nicht krank.«
Der dunkelhaarige Hauptkommissar, dessen Name Sophie in der Aufregung bereits wieder vergessen hatte, zog sein Gesicht in besorgte Falten und antwortete leise: »Frau Rohrmann wurde ermordet.« Er sah sie fest an und erkundigte sich fast im gleichen Atemzug: »Wissen Sie, warum Frau Rohrmann im Tatenhauser Wald Pilze gesucht hat?«
Nun war Sophie völlig durcheinander und plumpste auf den Stuhl, der direkt hinter ihr stand und normalerweise nur in der Pause von ihr benutzt wurde.
»Pilze gesucht? Ich denke sie ist tot?!«
Kommissar Weiß strich sich über seinen roten Bart. »Ja, sie ist tot«, sagte er. »Die Pilze muss sie vorher gesucht haben. Ein brauner Spankorb stand etwas von ihr entfernt und war mit unterschiedlichen Pilzen gefüllt.« Er musterte Sophie aus hellen, wasserblauen Augen und fuhr fort: »Könnte es sein, dass die Pilze für Ihren Marktstand gedacht waren?«
Sophie wurde nun rot im Gesicht und sprang empört auf die Füße. »Was fällt Ihnen ein?!«, verteidigte sie sich. »Ich verkaufe nur Pilze, die ich selbst gezüchtet habe! Bei diesen Wildpilzen muss man immens vorsichtig sein.« Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah die beiden Männer kampfeslustig an.
Der Dunkelhaarige grinste leicht. »Wir sind nicht gekommen, um Ihre Waren zu prüfen!«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, während sein rothaariger Kollege das Warenangebot musterte. »Mich interessiert, wann Sie Frau Rohrmann zuletzt gesehen haben.«
»Am Dienstag. Hier auf dem Markt.«
»Hat sie Ihnen gesagt, was sie vorhatte, außer Pilze suchen?«
Sophie schüttelte den Kopf. »Nichts hat sie gesagt.«
»Frau Rohrmann wurde im Tatenhauser Wald tot aufgefunden. War Sie häufiger dort, um Pilze zu suchen? Hatte sie Bekannte in Halle oder Tatenhausen?«
»In Halle? Keine Ahnung. Sie war immer sehr verschlossen. Da war aber eine Frau, mit der sie sich hin und wieder traf.« Sophie überlegte angestrengt. »Ich glaube sie kam aus Tatenhausen.«
»Wissen Sie den Namen der Dame?«
»Nein.« Sophie war mit den Gedanken schon bei ihrem Stand und überlegte angestrengt, woher sie Ersatz für Berta Rohrmann bekommen konnte. Sie hörte gar nicht mehr richtig zu.
»Hat Frau Rohrmann Verwandte? Kennen Sie eventuell ihre Familie?«
»Ihr Mann ist schon lange tot. Mehr weiß ich nicht«, antwortete Sophie nun etwas genervt. Sollte dieser Kommissar doch sehen, woher er seine Informationen bekam. Sie hatte zu tun.
Als nun eine Kundin an den Stand trat und sich nach dem Preis für Kartoffeln erkundigte, wandte sich Sophie ihr zu und ließ die Polizisten einfach stehen.
Tann hatte sich Notizen gemacht und reichte der Marktfrau seine Karte.
»Sollte Ihnen zu Frau Rohrmann noch etwas einfallen, rufen Sie mich doch bitte an.«
Dann stapfte er mit riesigen Schritten hinter seinem Kollegen her, der schon an der Polizeistation auf ihn wartete.
Sophie bediente die Kundin und gleich die nächste. Und immer wieder erzählte sie vom Tod ihrer Hilfe und den Beamten, die sie mit Fragen bombardiert hatten. So kam es, dass der Tod von Berta Rohrmann bei Sophie die Kasse klingeln ließ. Ihre Stammkunden kamen und wollten die Neuigkeit aus erster Hand erfahren.
Als ihre Schwester einige Zeit später kam, hatten beide Frauen alle Hände voll zu tun, um dem Ansturm der Kunden gerecht zu werden.
Hauptkommissar Tann und sein Kollege Alfons Weiß waren nach dem Marktbesuch und einer kurzen Stippvisite bei den Kollegen der Schutzpolizei am Berliner Platz gleich nach Spexard zu dem kleinen Häuschen von Berta Rohrmann gefahren, um sich dort ein wenig umzuschauen.
Eine Nachbarin kam herbei und musterte das Tun der Beamten misstrauisch.
»Hat Frau Rohrmann Verwandte?«, erkundigte sich Weiß bei seinem Kollegen.
Tann zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, so gut kenne ich sie nicht«, antwortete er und fuhr mit der Hand über den Türsturz, um nach einem Schlüssel zu suchen.
»Hallo, junger Mann!«
Die Nachbarin war näher gekommen und stand nun direkt vor dem Haus, die Hände angriffslustig in die Hüften gestützt. »Was suchen Sie da?«
Tann drehte sich abrupt um, lächelte breit und holte seinen Ausweis aus der Tasche. Er stellte sich vor und wies mit der Hand zu seinem Kollegen, der gerade dabei war, in das hintere Teil des Gartens zu gelangen. »Mein Kollege, Kommissar Weiß. Können Sie uns sagen, ob hier außer Frau Rohrmann noch jemand wohnt?«
Die Frau kam näher und betrachtete den Polizeiausweis. »Was wollen Sie denn von Frau Rohrmann?«, erkundigte sie sich dann, ohne auf Tanns Frage einzugehen.
Der Hauptkommissar zog sein Gesicht in nachdenkliche Falten und hielt die Frau fest im Blick. »Wohnen Sie hier gleich nebenan?«
»Natürlich«, platzte sie empört heraus. »Ich bin Martha Zupf und wohne schon über dreißig Jahre hier. Berta ist heute auf dem Markt.«
»Frau Zupf«, sagte der Hauptkommissar. »Wann haben Sie Frau Rohrmann zuletzt gesehen?«
Martha Zupf sah den Beamten irritiert an. »Ist etwas passiert? Ist Berta verunglückt?«
Tann nickte. »Frau Rohrmann wurde heute Morgen tot aufgefunden. Haben Sie vielleicht zufällig gesehen oder gehört, wann sie das Haus verlassen hat.«
»Tot?« Die Stimme von Frau Zupf war schrill und sie schnappte vernehmlich nach Luft. »Das kann doch nicht sein! Sie ist doch gestern Nachmittag mit dem Rad …« Frau Zupf verstummte und sah den Kommissar entsetzt an. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
Gerade als Tann antworten wollte, kam Alfons Weiß um die Hausecke herum aus dem hinteren Teil des Gartens.
»Alles dicht und gut verschlossen, wir sollten einen Schlosser beauftragen«, sagte er und blickte erstaunt auf die Frau, die neben seinem Kollegen stand.
»Das ist Frau Zupf, die Nachbarin von Frau Rohrmann«, erklärte Tann und wandte sich wieder an Frau Zupf. »Wann, sagten Sie, hat Frau Rohrmann das Haus verlassen?«
»Genau weiß ich es nicht mehr«, antwortete die Nachbarin, noch immer sichtlich geschockt. »Es war so etwa um halb fünf gestern am Nachmittag. Ich war im Bad und habe etwas gehört. Dann sah ich durchs Fenster, dass Berta ihre Haustür abschloss und mit dem Rad davonfuhr.«
Sie stockte und rang sich dann zu der Frage durch, die sie schon zuvor stellen wollte. »Hat Berta einen Schlaganfall gehabt?«
Tann verneinte. »Sie wurde ermordet.«
Der Schrei, den die Frau ausstieß, erstickte unter ihrer Hand, die sie augenblicklich vor den Mund hielt. »Ermordet? Das ist doch unmöglich!«
Alfons Weiß hatte sich einen grünen Streifen an der Hose abgewischt, die er vom Überklettern des Gartenzauns zurückbehalten hatte. Er sah seinen Kollegen an und übernahm nach dessen unhörbarem Nicken die weitere Befragung.
»Fuhr Frau Rohrmann immer mit dem Rad?«
»Meistens, sie hat kein Auto«, erklärte die alte Dame bestätigend.
In diesem Moment kam ein Kleinwagen angerast und stoppte mit quietschenden Reifen von dem Haus von Frau Rohrmann.
Cäcilia Tann sprang heraus und lief auf die Beamten zu.
»Jos?! Was machst du hier?«, rief sie etwas aufgebracht. Erst dann bemerkte sie Frau Zupf. Sie gab ihr die Hand und sah sie fragend an.
»Das ist die Polizei! Berta wurde ermordet«, sprudelte Martha Zupf hervor.
»Ermordet?« Cäcilia sah ihren Mann so erbost an, als habe er die Tat vollbracht.
»Sag, dass das nicht wahr ist!«
Tann zuckte die Schultern und sein Kollege schaltete sich ein.
»Wir wollten dich ohnehin gleich aufsuchen, Cäcilia.«
Die Nachbarin stand neugierig dabei, um ja kein Detail zu verpassen.
Josef Tann nahm seine Frau bei der Hand und führte sie ein Stück weg, während Alfons Weiß der Nachbarin noch einige Fragen stellte.
Cäcilia Tann hatte sich wieder gefangen. »Wo ist sie gestorben?«, erkundigte sie sich bei ihrem Mann, als sie nun langsam den Bürgersteig entlang schritten.
»Im Tatenhauser Wald. Sie wurde erstochen.«
»Nein!« Cil war stehen geblieben und sah ihren Mann entsetzt an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und stöhnte: »Hätte ich sie nur nicht dorthin gebracht!«
Er wurde blass. »Du hast sie hingebracht? Wann?«
Sie zitterte jetzt am ganzen Körper und war ebenso blass wie die Leiche, die er vor einigen Stunden im Wald gesehen hatte.
»Gestern Nachmittag. So gegen sechzehn Uhr etwa«, flüsterte sie.
»War Chris mit?«, erkundigte er sich. Doch in derselben Sekunde fiel ihm ein, dass sein Sohn Christian am Tag zuvor gleich nach der Schule mit den Großeltern ins Sauerland gefahren war, um dort bis zum Sonntagabend zu bleiben. Er wollte sich korrigieren, aber seine Frau sah ihn gleichermaßen geschockt wie empört an.
»Toller Vater!«, fauchte sie. »Weiß nicht einmal, dass Chris bei meiner Mutter ist.« Sie holte tief Luft und setzte bitter hinzu: »Bedeuten wir dir so wenig?«
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, lief zu ihrem Wagen und fuhr davon.
»Cil, lass dir doch erklären …«
Josef Tann sah ihr nach und verwünschte sich selbst. Er war in letzter Zeit mit Arbeit überhäuft worden und dann noch der Ärger mit dem Präsidium. Davon hatte er ihr noch gar nichts erzählt.
Seit Jahren war er mit seinem Kollegen bei der Kreispolizeibehörde in Gütersloh an der Herzebrocker Straße stationiert. Vor einigen Tagen hatte Polizeirat Brunger ihm und Alfons Weiß mitgeteilt, dass sie in Kürze ins Präsidium nach Bielefeld versetzt würden. Eigentlich war das Morddezernat ohnehin in Bielefeld angesiedelt, aber in Gütersloh hatte die Kripo ebenfalls einen kleinen Stab von Mitarbeitern. Nun sollte das Büro aufgelöst werden und sie sollten nach Bielefeld versetzt werden. Tann wohnte in Spexard und hätte eine gute halbe Stunde Fahrt nach Bielefeld. Es würde dann nicht mehr so einfach sein, seinen Sohn während des Dienstes von der Schule abzuholen. Da würde einiges auf seine Frau zukommen, die als Lehrerin am städtischen Gymnasium arbeitete.
»Hat es sie so mitgenommen?« Alfons Weiß stand plötzlich vor ihm.
Tann war so in Gedanken gewesen, dass er ihn gar nicht gehört hatte. Er blickte auf und schüttelte langsam den Kopf. »Ich hab’s vermasselt«, sagte er, ging ohne ein weiteres Wort zum Wagen und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Alfons Weiß stieg wortlos ein und startete.
Erst unterwegs bestimmte er: »Wir müssen deine Frau aber unbedingt vernehmen. Vielleicht weiß sie, warum diese Frau Rohrmann in Tatenhausen war. Soll ich das machen?«
Tann nickte wortlos. Sein Kollege streifte ihn mit einem Seitenblick.
»Hängt bei euch der Haussegen schief?«
»Ich weiß nicht so recht«, gab Tann zu. »Cil war so komisch.«
»Liegt ihr unsere Versetzung im Magen?«
Tann seufzte.
»Davon hab ich ihr noch gar nichts erzählt.«
Alfons Weiß gab keine Antwort und stoppte den Wagen. Sie waren vor Tanns Haustür angelangt. Cäcilias Wagen stand vor der Garage.
»Ich übernehme die Befragung!«, sagte Weiß und beide stiegen aus.
Josef Tann wollte gleich die Haustür aufschließen, aber sein Kollege schüttelte den Kopf und drückte auf die Klingel. Drinnen erklangen klappernde Schritte, die Tür wurde aufgerissen, Cäcilia stand im Türrahmen und schreckte zurück.
»Du? Wo ist Jos?«
»Oh!«, erklärte Alfons Weiß leutselig. »Jupp macht ’nen Spaziergang durch den Garten!«
Cil schaute unschlüssig an Alfons vorbei, dann sagte sie: »So ist das!«
In ihrer Stimme schwangen Spott, Argwohn und Ärger mit. Sekunden später lächelte sie und bat Alfons herein. »Nun erzähl mir doch bitte einmal, wieso Berta ermordet wurde«, sagte sie und ging zielstrebig in die Küche.
Alfons war schon häufiger bei Tanns zu Besuch gewesen und quetschte sich ungeniert auf die Eckbank.
»Möchtest du einen Kaffee?«, erkundigte sich Cil und warf dabei einen belustigten Blick aus dem Fenster, wo ihr Mann sich im Garten auf die Terrasse gesetzt hatte. Ohne auf die Beantwortung ihrer Frage zu warten, setzte sie die Kaffeemaschine in Gang und holte einen Kuchenteller mit Obstboden aus dem Kühlschrank. Sie deckte den Tisch für drei und legte auf jeden Teller ein Stück Kuchen.
Weiß beobachtete sie und lächelte: »So eine Vernehmung lasse ich mir gefallen«, sagte er und rieb sich grinsend seinen leichten Bauchansatz.
»Pass auf, dass es dir nicht als Voreingenommenheit ausgelegt wird!«, drohte Cil schelmisch und fuhr fort: »Ich warte immer noch auf deinen Bericht!«
»Jawohl, Madame!« Langsam spießte Alfons mit der Kuchengabel ein kleines Stück des Obstbodens auf und schob es sich genießerisch in den Mund.
Cil runzelte abwartend die Stirn, und er beeilte sich, ihr die Fakten von Berta Rohrmanns Tod zu berichten.
»Berta hatte doch gar keine Feinde. Zumindest ist mir davon nichts bekannt. Sie war immer allein.«
»Wir sind mit den Ermittlungen noch am Anfang«, gab Alfons zu verstehen und wollte wissen: »Wieso hast du sie dorthin gebracht?« Er sah Cil ernst an und setzte hinzu: »Ich brauche die genaue Uhrzeit mit allem Drum und Dran. Das ist eine Vernehmung, Cäcilia!«
»Ach, darum ist Jos draußen geblieben.« Sie grinste, schenkte Kaffee für Weiß und sich ein und setzte sich Alfons gegenüber.
»Josef wollte gestern früher Schluss machen, um mit mir einkaufen zu fahren. Um vier Uhr war er immer noch nicht da. Ich wollte nicht länger warten und bin losgefahren.«
Sie klammerte ihre Hände um die Tasse, als müsse sie sich wärmen. Dabei warf sie einen verstohlenen Blick aus dem Fenster, wo ihr Mann noch immer auf der Terrasse saß und in den Himmel schaute.
Alfons hatte den Blick bemerkt, lächelte leicht und meinte: »Er war im Büro.«
Ertappt wurde sie rot, was bei ihrer weißen Haut und dem roten Haar sehr gut aussah.
»Ich war schon ein Stück gefahren, da sah ich Berta mit dem Fahrrad. Sie wollte zum Taxistand.«
Der Kommissar hatte seinen Notizblock gezückt, schrieb etwas auf und unterbrach sie: »Wann war das genau?«
»Ich glaube, halb fünf. Berta hat das Rad an einen Laternenpfahl gekettet und ist zu mir in den Wagen gestiegen. Ich habe sie zum Schloss Tatenhausen gebracht. Dort auf dem Parkplatz ist sie ausgestiegen und mit ihrem Spankorb im Wald verschwunden. Ich bin wieder zurückgefahren und habe eingekauft.«
»Und du bist sicher, dass sie nur Pilze suchen wollte?«
Cäcilia sah Alfons einen Moment nachdenklich an. »Gesagt hat sie es. Warum?«
»Es könnte doch sein, dass sie mit jemandem verabredet war.«
»Davon hat sie nichts gesagt«, erklärte Cäcilia. »Berta war aber immer für eine Überraschung gut.«
Weiß runzelte die Stirn und seine blauen Augen musterten Cäcilia aufmerksam.
»Hattest du das Gefühl, dass sie etwas anderes vorhatte?«
Cäcilia schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Jetzt mache ich mir Vorwürfe, dass ich sie nicht wenigstens gefragt habe.«
Weiß wollte etwas sagen, aber Cäcilia fuhr fort: »Berta war manchmal ziemlich spontan. Sie konnte von einer Minute auf die andere ihr Vorhaben aufgeben und etwas ganz anderes unternehmen.«
Alfons Weiß leerte seine Kaffeetasse und erhob sich. »Sie hat aber nichts dergleichen gesagt?«
»Nein.«
»Wie wollte sie zurückkommen?«
»Sie hat mir gesagt, dass sie sich ein Taxi nehmen wollte.«
»Wir haben bei ihr kein Handy gefunden. Gibt es am Wasserschloss eine Telefonzelle?«
»Gegenüber vom Parkplatz liegt ein Café. Dort wollte Berta telefonieren.«
»Die Standbetreiberin vom Markt sprach davon, dass Frau Rohrmann in Tatenhausen eine Bekannte hat. Weißt du davon?«
Cäcilia Tann sah Weiß erstaunt an. »Eine Bekannte in Tatenhausen? Davon hat sie noch nie etwas gesagt!«
»Warum wollte sie überhaupt so weit weg? Hier in der Nähe gibt es doch Wälder genug, um Pilze zu sammeln«, wollte Alfons wissen, während er die letzten Kuchenkrümel vom Teller kratzte.
»Das hab ich Berta gestern auch gefragt«, sagte Cil. »Sie hat nur gelacht und gesagt, dass sie da die ergiebigsten Stellen kennt, weil sie schon als Kind dort Pilze gesucht hat.«
Weiß wandte sich zur Tür. »Danke, das war’s schon. Willst du deinen Mann nicht rufen? Er hat auch Kuchen verdient.«
Cil grinste ihn an und ging zur Terrassentür.
»Jos, es ist noch Kuchen da!«
Tann sprang auf die Füße, kam auf sie zu, gab ihr einen leichten Kuss auf die Wange und meinte mit einem Seitenblick auf seinen Kollegen: »Das will ich auch hoffen!«
Einige Minuten später waren die Beamten auf dem Weg ins Kommissariat.
Alfons Weiß fuhr sich mit der linken Hand durchs Haar, während er mit der rechten lässig das Lenkrad hielt. Sie waren noch nicht weit gefahren, als er plötzlich fragte: »Was hast du eigentlich gestern Abend so lange im Büro gemacht?«
Tann runzelte die Stirn. »Akten aufgearbeitet. Wieso?«
Weiß pfiff leise durch die Zähne und richtete seinen Blick auf die Straße.
»Akten aufgearbeitet!«, wiederholte er sarkastisch und fuhr fort, ohne den Blick von der Straße zu lassen: »Ich könnte mir nach Feierabend wirklich nichts Besseres vorstellen, besonders wenn der Filius gerade bei den Großeltern weilt.«
Eine leichte Röte überzog Tanns Gesicht. »Was soll das? Hat Cil was gesagt?«
»Sie hat zu unserem Fall ausgesagt.«
»Warum dann das blöde Gequatsche?«, fragte Tann mit zorniger Stimme.
»Oh, ich mein ja nur!«, belustigte sich Weiß.
»Spar dir deine Meinung für deine eigene Frau auf. Meine geht dich nichts an«, knurrte Tann.
Sie waren bereits auf der Herzebrocker Straße, und Weiß lenkte den Wagen mit Schwung auf den Parkplatz der Kreispolizeibehörde.
Genau eine Stunde später kam Weiß in Tanns Büro und warf ihm den Bericht über Cäcilias Aussage auf den Tisch.
Tann las mit gerunzelter Stirn. »Warum, zum Teufel, hat sie Berta bis nach Tatenhausen gebracht, die hat doch Geld genug für ’ne Taxe?«
»Eigentlich wollte sie sich mit dir einen schönen Feierabend machen, aber du hattest ja etwas Besseres vor.«
»Halt die Klappe!«
Alfons Weiß grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Deine Frau war definitiv die Letzte, die Berta Rohrmann lebend gesehen hat.«
»Bis auf den Mörder«, setzte Tann hinzu.
»Trotzdem ist es eine blöde Situation für dich und deine Frau«, stellte Weiß fest.
»Was kann sie dafür, wenn einer die alte Dame abmurkst?«
»Wärst du pünktlich zu Hause gewesen, wär nichts passiert«, sagte Weiß. »Dann wär Berta Rohrmann sicher hier geblieben.«
Tann knallte zornig mit der Hand auf den Tisch.
»Berta hat sich noch nie von einem Vorhaben abbringen lassen.«
»Ich dachte, du kennst sie nicht.«
»Cil hat mir hin und wieder etwas erzählt. Der Frau kommt es nicht aufs Geld an.«
»Kam es nicht aufs Geld an«, verbesserte Weiß.
Tann hatte sich wieder beruhigt und spielte, wie so oft, mit seinem silbernen Drehbleistift.
»Lass uns einmal die Fakten zusammenfassen«, sagte er und fuhr fort: »Cil hat Berta Rohrmann zum Schlossparkplatz gebracht und ist gleich wieder davongefahren. Da war es fünf Uhr am Nachmittag. Der Förster hat die Tote um halb sieben heute Morgen entdeckt. Der Todeszeitpunkt liegt also etwa zwischen fünf Uhr gestern Abend und sechs Uhr heute Morgen.«
»Die Totenstarre hatte schon eingesetzt. Da kannst du noch ein paar Stunden abziehen«, setzte Weiß lakonisch hinzu.
»Stimmt«, gab Tann ihm recht. »Den genauen Zeitpunkt muss die Rechtsmedizin klären. Aber der Anfangszeitpunkt stimmt.«
Alfons Weiß hatte sich Tann gegenüber auf den Besucherstuhl gesetzt und strich sich nachdenklich über seinen roten Bart.
»Trotzdem«, sagte er betont ruhig. »Deine Frau war mit der Rohrmann zuletzt zusammen. Bisher haben wir nur sie als Zeugin.«
Tann holte tief Luft und antwortete aufgewühlt: »Sie wollte Berta einen Gefallen tun, verdammt!«
»Nun, es wäre ganz gut, wenn wir noch einen Zeugen hätten, der Berta Rohrmann danach gesehen hat.«
»Womit ich dir recht geben muss!«, gab Tann resigniert zu und fuhr fort: »Ich habe mir übrigens gerade eben die Genehmigung geholt, das Haus von Berta Rohrmann zu durchsuchen. Wir fahren gleich los.«
»War wohl äußerst vorsichtig, die Dame. Weder die Nachbarin noch deine Frau haben einen Schlüssel.«
»Die Marktfrau vom Berliner Platz wusste auch nichts, was uns irgendwie weiterhilft.«
»Frau Rümers hatte nur ihr Geschäft im Kopf und war verärgert, dass ihre Hilfe nicht da war. Bevor wir voreilige Schlüsse ziehen, sollten wir erst einmal den Bericht der Spurensicherung und der Rechtsmedizin abwarten«, sagte Weiß. »Sicher kommen wir dann ein Stück weiter!«
Tann legte den Bericht zur Seite und stand auf. »Lass uns fahren. Ich habe den Schlüsseldienst für achtzehn Uhr bestellt.«
Das Haus von Berta Rohrmann lag da, wie zuvor. Die Nachbarin war nirgends zu sehen, und der Mann vom Schlüsseldienst hatte die Tür im Nu auf. Drinnen fanden die Ermittler gleich neben der Eingangstür ein Schlüsselbrett mit einem passenden Ersatzschlüssel und der Schlosser konnte Feierabend machen. Die Kommissare hatten Handschuhe übergestreift und gingen langsam mit wachsamen Blicken durch die Wohnung.
Tanns erster Blick fiel auf drei Bilder im Wohnzimmer, die direkt über einem gemütlichen Ledersofa aufgehängt waren. Das erste Foto zeigte Frau Rohrmann mit einem Jungen von etwa zehn Jahren. Das mittlere war das Hochzeitsbild von Frau Rohrmann und auf dem letzten Bild war Frau Rohrmann mit einem jungen Mann abgebildet. Tann vermutete, dass es der Junge von Bild eins war. Gerade als er Alfons Weiß nach seiner Meinung fragen wollte, stieß dieser einem Pfiff aus.
»Na, sieh einer an!«, sagte er.
Er hatte sich vor den Wohnzimmerschrank gehockt und eine Schublade mit allerlei Schriftstücken geöffnet. In seiner Hand hielt er eine lederne Mappe.
»Frau Rohrmann hatte ein Pflegekind. Hier sind etliche Briefe vom Jugendamt.«
»Dann ist das Foto hier sicher von ihm.«
Weiß stand ächzend auf, ging zu den Bildern hinüber und meinte: »Bestimmt. Nun müssen wir nur noch herausfinden, wo dieser Typ wohnt.«
Tann nahm seinem Kollegen die Akte aus der Hand und blätterte darin herum.
»Volker Viering«, las er vor. Sekunden später fuhr er fort: »Er ist am dritten April 1972 geboren, also achtunddreißig Jahre alt.«
»Die Unterlagen sind schon ziemlich vergilbt. Vielleicht hatte Frau Rohrmann gar keinen Kontakt mehr zu dem Mann.«
»Wie wäre es, wenn wir die Nachbarin noch einmal befragen. Sicher hat sie gar nicht daran gedacht, weil es schon ewig her ist.«
»Wir nehmen die Akte auf jeden Fall mit.«
Wenig später standen die Beamten vor der Tür von Martha Zupf. Die Nachbarin bestätigte, dass Berta Rohrmann sich einige Jahre um ein Pflegekind gekümmert hatte.
»Die Mutter des Jungen war nicht verheiratet und musste den ganzen Tag arbeiten. Damals hat Berta noch in Borgholzhausen gewohnt. Seit sie hier eingezogen ist, kam er aber nur selten.«
»Wissen Sie den Namen des Jungen?«, erkundigte sich Tann.
Frau Zupf schüttelte den Kopf.
»Das ist Jahre her. Daran kann ich mich nicht mehr erinnern.« Sie runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Er war aber vor einiger Zeit wieder da«, sagte sie. »Im letzten Sommer habe ich einen jungen Mann mit einem blauen Auto vor Bertas Haus gesehen. Sie standen in der Haustür und Berta war sehr verärgert.«
»Sind Sie sicher, dass es sich um den Mann handelte, der hier als Pflegekind lebte?«
Die Befragte nickte eifrig. »Ziemlich. Außerdem hat Berta am Tag darauf ihr Türschloss auswechseln lassen.«
»Ach!«, fuhr Alfons Weiß dazwischen. »Wieso denn das?«
»Das habe ich Berta auch gefragt, aber sie hat nur abgewunken und ›Besser ist besser‹ gesagt«, gab die Frau an und setzte hinzu: »Berta war immer sehr verschlossen. Ich vermute, der junge Mann hatte noch einen Schlüssel. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
Die Beamten machten sich Notizen und fuhren davon.
Cäcilia Tann hatte gleich, nachdem ihr Mann und Alfons Weiß gegangen waren, das Haus verlassen, um einzukaufen. Sie musste sich ablenken. Sie verfluchte ihre verdammte Eifersucht. Wäre sie doch nur zu Hause geblieben! Dann hätte Berta, wie schon oft, die Taxe genommen und alles wäre in Butter.
Cäcilia hatte ihren Kleinwagen in einer Seitenstraße abgestellt und war gleich im nächsten Geschäft verschwunden. Sie stöberte durch die Verkaufsstände, war aber mit den Gedanken weit weg. Eigentlich hatte sie vorgehabt, gemeinsam mit ihrem Sohn das Wochenende bei ihren Eltern im Sauerland zu verbringen. Christian hatte schon oft bei den Großeltern übernachtet und fühlte sich dort sehr wohl, auch ohne sie. Ihr Vater war Förster und der Junge liebte es, mit seinem Großvater durch die Wälder zu streifen. So war Cäcilia der Gedanke gekommen, das Wochenende ohne Kind so richtig zu genießen. Bevor ihr Vater am Freitagnachmittag mit Christian davongefahren war, hatte er sie in den Arm genommen und ihr leise ins Ohr geflüstert: »Macht euch ein schönes Wochenende, mein Mädchen.«
Sie hatte gelächelt, und Christian drängte zum Aufbruch.
»Opa, komm!«, rief er ungeduldig am Wagen wartend. »Ich will heute Abend noch die Rehe füttern!« Daraufhin hatte sie Josef im Dienst angerufen und ihn gefragt, ob sie nicht gemeinsam einkaufen und danach Essen gehen wollten. Er war einverstanden und versprach, pünktlich um drei Uhr zu Hause zu sein. Sie wartete eine Stunde, dann fuhr sie verärgert allein los. Unterwegs war ihr der Gedanke gekommen, dass da vielleicht eine andere sein könnte, und sie wollte zur Polizeibehörde fahren, um ihn zu beobachten. Dann hatte sie Berta getroffen!
Cäcilia seufzte. Eine Verkäuferin kam herbei und erkundigte sich freundlich: »Kann ich Ihnen helfen?«
Cäcilia schrak zusammen und verließ fluchtartig das Geschäft. Auf dem Berliner Platz atmete sie erst einmal tief durch. Dann eilte sie weiter zu einem Lebensmittelgeschäft und kaufte für das Abendessen ein.
Als sie heimkam, war ihr Mann schon da. Josef Tann stand in der Küche und schnippelte Gurken für einen Salat.
»Du machst Essen. Wie schön!«, sagte Cil und ärgerte sich sofort über ihren banalen Satz.
Josef ging darüber hinweg und strahlte sie an. »Ich dachte«, sagte er, ohne sie anzusehen, »wir machen uns einen schönen Abend!«
Cil gab keine Antwort und öffnete den Kühlschrank.
»Donnerwetter«, rief sie überrascht aus. »Sogar Wein hast du mitgebracht!«
Josef hatte seine Hände abgespült und getrocknet. Er stand mitten in der Küche und sah Cil an.
Die Röte stieg ihr aus dem Ausschnitt hoch und überflutete ihr Gesicht. Verlegen senkt sie den Blick.
Ganz sanft zog er sie in seine Arme und küsste sie.
»Wenn ich gewusst hätte, dass es dir so wichtig war, gestern …«, flüsterte er etwas atemlos. Ihre grünen Augen blickten ihn jetzt an, und die Röte in ihrem Gesicht verstärkte sich noch. Sie wollte antworten, aber ihr fielen einfach nicht die richtigen Worte ein. Sie schmiegte sich an ihn und seufzte zufrieden. Sie standen noch eine Weile eng umschlungen, dann schob er sie von sich und grinste frech.
»Wenn wir noch lange so stehen bleiben, verhungern wir«, sagte er leise. »Brätst du die Schnitzel? Paniert habe ich sie schon.«
Sie lachte jetzt fröhlich. »Klar doch«, sagte sie, holte den Teller mit dem Fleisch aus dem Kühlschrank und stellte die Pfanne auf den Herd, während er sich weiter um den Salat kümmerte.
Als Cäcilia am Sonntagmorgen erwachte, war das Bett neben ihr leer. Enttäuscht schaute sie zur Uhr. Doch im selben Moment öffnete sich leise die Tür und Kaffeeduft breitete sich im Zimmer aus. Josef kam mit einem Tablett herein. Er hatte schon Brötchen geholt. Langsam setzte er das Tablett auf ihrem Bett ab, entledigte sich seines Jogginganzugs und schlüpfte neben sie unter die Decke.
»Frühstück im Bett, wow!« Sie lächelte verträumt, und er küsste sie sanft auf die Stirn.
»Abräumen musst du!«
»Nach diesem Frühstück werde ich viel zu müde sein, um aufzustehen«, antwortete Cil schelmisch.
Er grinste jungenhaft. »Dafür werde ich sorgen.«
Sie hatten den ganzen Morgen im Bett vertrödelt, als gegen zwölf Uhr das Telefon klingelte. Josef nahm das Gespräch entgegen.
Cil hörte, dass er mit ihrem Sohn Christian sprach und ging zu ihm.
»Klar holen wir dich ab«, sagte er, legte auf und erklärte: »Der Wagen deines Vaters springt nicht an. Wir müssen Chris abholen!«
Schnell waren beide reisefertig und auf dem Weg ins Sauerland.
Montagmorgen. Nach einem herrlichen Wochenende startete Familie Tann in den Tag.
Als Erstes fand der Hauptkommissar einen Bericht der Spurensicherung auf seinem Schreibtisch. Die Kollegen hatten außer dem Schal und dem gefüllten Spankorb keine neuen Entdeckungen machen können. Bei der Tatwaffe handelte es sich um ein Fleischermesser, welches zum Auslösen von Knochen in der Regel von Schlachtern verwendet wird. Tann las sich den Text noch einmal genau durch. Dann griff er zu den Unterlagen, die er im Hause Rohrmann an sich genommen hatte, und vertiefte sich darin.
Gleich danach ließ er sich mit dem Einwohnermeldeamt verbinden.
Kurz darauf erschien Alfons Weiß in seinem Büro. Er warf sich auf den Besucherstuhl und legte ein Schriftstück auf Tanns Schreibtisch.
»Dieser Volker Viering ist Fleischer. Er arbeitet bei einem Versmolder Fleischverarbeitungsbetrieb.«
Tann sah seine Kollegen überrascht an. »Woher hast du denn die Neuigkeit? Das Einwohnermeldeamt in Gütersloh konnte mir nicht weiterhelfen.«
Weiß grinste und seine blauen Augen funkelten vor Vergnügen.
»Als er bei Berta Rohrmann Pflegekind war, hat sie noch in Borgholzhausen gewohnt. Viering wohnt immer noch da.«
Tann nickte anerkennend und las sich den Bericht seines Kollegen durch.
»Toll! Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir die Unterlagen genau anzusehen«, sagte er und fuhr fort: »Passt genau zum Bericht der Spurensicherung. Die Tatwaffe ist ein Fleischermesser!«
Weiß sprang auf, warf einen Blick über Tanns Schreibtisch und schnappte sich den Bericht der Spurensicherung. Er überflog den Text und verkündete: »Das ist kein normales Fleischermesser, sondern ein Ausbeinmesser.«
»Ja«, antwortete Tann und zitierte den Bericht: »Klingenlänge 15 Zentimeter und Grifflänge zwölf Komma zwo Zentimeter. Ein sehr scharfes, spitzes Messer, welches zum Auslösen von Knochen benutzt wird. Der Griff ist durchgängig schwarz und auf der Klinge aus gehärtetem Stahl befindet sich ein Markenzeichen.«
»Himmel, so genau brauchst du das nicht wiederholen. Es passt jedenfalls wie Topf auf Deckel. Da sollten wir uns gleich auf den Weg machen.«
Wenig später hatten die Beamten Gütersloh hinter sich gelassen und waren auf dem Weg nach Versmold. Alfons Weiß fuhr den Wagen und sah seinen Kollegen hin und wieder prüfend von der Seite an.
»Wie war dein Wochenende?«, erkundigte er sich.
»Gut. Warum?«, antwortete Tann und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Kein Zoff wegen Berta?«, bohrte Alfons weiter und schmunzelte dabei.
Tann rekelte sich in seinem Sitz und grinste siegessicher. »Alles im grünen Bereich«, antwortete er.
Sein Kollege hätte gern noch eine Frage gestellt. Aber in diesem Moment – sie waren auf der Haller Straße – kam ihnen mit hohem Tempo ein Fahrzeug entgegen und gleichzeitig wurde ihr Wagen von einem Motorradfahrer überholt. Weiß machte einen Schlenker nach rechts, um das Motorrad vorbeizulassen und hätte fast einen Baum gestreift.
»Idiot!«, brüllte er und blickte dem davonrasenden Biker empört nach.
»Hast du die Nummer?«, rief er seinem Kollegen zu, doch Tann hatte sich bei dem Ausweichmanöver derart den Kopf gestoßen, dass er nur empört die Augen aufriss und mit der rechten Hand seine Stirn massierte. »Verdammt, wie fährst du denn?«, fauchte er seinen Kollegen an.
Weiß rollte mit den Augen. »Ich? Das Motorrad hat mich abgedrängt!«
Er brachte den Wagen zum Stehen und wandte sich seinem Kollegen zu.
»Zeig her!«, sagte er und betrachtete fachmännisch die verletzte Stelle.
»Sieht aus, als hätte deine Frau dir mit dem Besenstiel eins übergebraten! Das wird bestimmt ganz blau«, stellte er grinsend fest. »Tut’s sehr weh?«
Tann warf ihm einen wilden Blick zu. »Nein, es kitzelt!«, brummte er. »Fahr endlich weiter!«
»Mittel-Loxten, wo liegt denn das?«, erkundigte sich Tann kurz darauf und Weiß antwortete:
»Außerhalb von Versmold.«
Weiß hatte den Ortskern von Versmold schon ein Stück hinter sich gelassen und befand sich auf der Aabachstraße.
»Wir sind gleich da«, sagte er und kurz darauf hielten sie vor einer Fleischfabrik.
Bevor sie das Personalbüro betraten, meinte Weiß mit Blick auf die Beule, die sich bei Tann auf der Stirn gebildet hatte: »Deine Beule macht richtig was her.«
»Ich werde dich wegen Körperverletzung verklagen«, knurrte Tann.
Die Angestellte im Personalbüro warf ihren Kajalblick mehrmals argwöhnisch auf die beiden Beamten und studierte die Polizeiausweise äußerst gründlich.
Sie war platinblond gefärbt und trug ein knappes Shirt mit einem Ausschnitt, der einen tiefen Einblick auf ihre üppige Oberweite bot.
»Herr Viering hat in dieser Woche Spätschicht. Er kommt erst um vierzehn Uhr zur Arbeit«, erklärte sie lächelnd auf Tanns Frage und erkundigte sich neugierig: »Worum geht es denn? Soll ich ihm etwas bestellen?«
»Nein, danke«, antwortete der Hauptkommissar. »Es ist nur eine Routineangelegenheit. Wir werden den Herrn zu Hause aufsuchen.«
Wenig später befanden sich die Beamten auf dem Weg nach Borgholzhausen.
Weiß steuerte den Wagen durch schmale, gewundene Straßen einer wunderschönen, immer hügliger werdenden Landschaft.
»Machen wir einen Ausflug oder warum kurvst du durch die Pampa?«, grunzte Tann seinen Kollegen ungehalten an. Sein Kopf hämmerte und seine Laune war absolut auf dem Nullpunkt.
»Ich nehme direkt Kurs auf die Burg Ravensberg«, erklärte Alfons Weiß.
Tann antwortete nicht, denn gerade in diesem Augenblick erhob sich über einem Waldstück die Burg, und wenig später hatten sie Borgholzhausen erreicht.
»Viering wohnt am Rebhuhnweg«, erklärte Weiß seinem schweigsamen Kollegen.
Am Ziel parkte er den Wagen vor einem grauen Haus, dessen verputzte Fassade dringend einen Anstrich nötig hatte. Die Beamten fanden weder Türschild noch Hausnummer und klingelten. Ein Mädchen lugte durch das Fenster neben der Tür.
Dann ein Rumpeln, der Klang eine Kette, die Tür öffnete sich einen Spalt und die Kleine erkundigte sich vorsichtig: »Was möchten Sie?«
Alfons Weiß hockte sich nieder und erklärte: »Wir hätten gern Herrn Viering gesprochen.«
»Papa schläft noch«, sagte sie und schloss die Tür. Im selben Moment wurde die Tür erneut geöffnet und ein Mann in Pantoffeln und Schlafanzug stand davor.
»Wir kaufen nicht an der Tür«, sagte er und wollte die Tür zuschlagen, aber Weiß hatte geistesgegenwärtig seinen Fuß dazwischen gehalten.
»Polizei«, sagte er. »Können wir Sie einen Moment sprechen?«
Der Mann stutzte. »Polizei? Ist etwas passiert?« Er entriegelte die Kette und öffnete die Tür weit, während sich das Mädchen hinter ihm verbarg.
Alfons Weiß hielt dem Mann seinen Ausweis hin. »Kommissar Weiß«, stellte er sich vor und wies auf seine Kollegen: »Mein Kollege, Hauptkommissar Tann.«
Der Mann blickte die Beamten verstört an.
»Sind Sie Herr Viering, Volker Viering?«, erkundigte sich nun Josef Tann bei ihm.
Viering nickte ungeduldig. »Was ist denn los? Ist was mit meiner Frau?«
»Nein, nein. Nur ein paar Routinefragen, Herr Viering«, beruhigte ihn Tann. »Können wir hereinkommen?«
»Ja, natürlich«, antwortete Viering. »Ich ziehe mir schnell etwas über.«
Das Mädchen war etwa zehn Jahre alt. Alfons weiß zwinkerte ihm zu.
»Hast du heute keine Schule?«
»Ich bin krank«, hauchte die Kleine verlegen, und ihr blasses Gesicht bekam etwas Farbe.
Der Vater kam zurück, er trug jetzt einen Jogginganzug und strich seiner Tochter zärtlich übers Haar. »Geh in dein Zimmer, Ina.« Das Mädchen verschwand.
Volker Viering ging mit den Beamten in die Küche, und alle drei setzten sich um den Küchentisch. Der Fleischer hatte ein volles Gesicht, dunkelblondes Haar und sanfte, braune Augen. Er war groß und von kräftiger, muskulöser Statur. Man sah ihm an, dass er regelmäßig schwere Arbeiten verrichtete.