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Sommer, Sonne, Seewind, das Meer zu ihren Füßen und eine romantische Zufallsbekanntschaft. So hat sich Frauke Thomas ihren Urlaub an der Nordsee vorgestellt. Doch dann kommt alles anders. Gleich am ersten Tag begegnet ihr eine Frau, die ihrer verstorbenen Mutter täuschend ähnlich sieht. Kurz darauf findet sie einen Zettel unter dem Scheibenwischer ihres Wagens: »Verschwinde!«. Frauke informiert ihre Tante Larissa, die mit einem geheimnisvollen Koffer zu ihr an die Nordsee eilt und noch in der selben Nacht ermordet wird. Mit Hilfe der Hauptkommissarin Mira Wiedemann, versucht Frauke den Tod ihrer Tante zu klären und deckt dabei die dunkelsten Geheimnisse ihrer eigenen Familie auf.
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Seitenzahl: 301
Gisela Garnschröder
Larissas Geheimnis
Kriminalroman
Impressum
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-179-5
E-Book-ISBN: 978-3-96752-679-0
Copyright (2020) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag unter Verwendung folgender Bilder von Shutterstock.com: 1679674735
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Hergestellt in Bremen, Germany (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
I
Aufgebracht knallte Frauke die Tür hinter sich zu und stürmte die Treppe hinunter. Bleierne Hitze lag über der Stadt, und schon nach wenigen Minuten auf dem Gehweg Richtung Innenstadt war sie vollkommen durchgeschwitzt, was allerdings zum Teil an ihrem schnellen Schritt lag, mit dem sie zur Belustigung anderer Passanten den Bürgersteig hinunter stapfte.
Sie hatte alles genau geplant, die Route ab Wilhelmshaven immer am Wasser entlang, über den Deich, durch angrenzende Orte, immer wieder kurze Zwischenstopps eingefügt zum Picknicken, Muschelsammeln und Ausruhen am Deich, und des Abends zur Pension nach Hooksiel zurück. Andreas hatte sie entsetzt angeblickt, dann den Kopf geschüttelt und ihren Plan schlichtweg abgelehnt.
»Nicht mit mir!«, hatte er gebrüllt. »Im letzten Jahr auf Sylt hat es die ganze Zeit Bindfäden geregnet!«
»Für das Wetter kann man doch nichts«, hatte sie gefrustet eingewendet, woraufhin er höhnisch erwiderte:
»Oh doch! Ich fliege in den Süden! Da ist Sonne garantiert.«
»Du weißt genau, dass ich Fliegen nicht vertrage!«
Sie war laut geworden und Tränen der Wut standen in ihren Augen.
»Weil du dich strikt weigerst, etwas dagegen zu tun!«
»Radfahren macht mehr Spaß, und außerdem habe ich schon gebucht!«
Er war so verblüfft, dass er nach Luft schnappte, bevor er empört antwortete: »Ohne mich zu fragen? Spinnst du?«
Das war zu viel, sie war hinausgestürmt, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. Nun rannte sie durch die Stadt, an den Läden vorbei, schob sich durch die Menschenmengen, sah weder die Pärchen, die Hand in Hand einher schlenderten, noch die Kinder, die Eis leckend vorübergingen, spürte nur die Wut auf Andreas und ein wenig auf sich selbst und stand irgendwann nach Stunden wieder vor ihrer Wohnungstür. Andreas war nicht mehr da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel.
»Fahre zu meinen Eltern. Einen schönen Urlaub. Andreas.«
Wütend zerriss sie den Zettel, warf ihn in den Mülleimer und packte ihren Koffer. Tags darauf stand sie gegen acht Uhr morgens auf dem Deich von Wilhelmshaven und blickte begeistert über das Watt und den langen Strand, der zu dieser frühen Stunde noch fast leer war. Nur ein einsamer Jogger drehte seine Runden. Es war Ebbe und die Sonne ließ den feuchten Schlick sanft aufleuchten. Frauke spürte den Wind in ihren Haaren, schnupperte diese wunderbare Mischung aus Salz, Schlick, Teer und Öl, die den Geruch ihrer Heimatstadt ausmachte.
»Meine Heimat am Jadebusen«, dachte sie und seufzte vernehmlich.
Wie konnte Andreas nur annehmen, dass sie noch einmal im Urlaub darauf verzichten würde? Seit sie als Zwölfjährige von Tante Larissa aus der kleinen Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter gewohnt hatte, abgeholt worden war, hatte sie Heimweh nach diesem Geruch, nach dem weißen Sand in den Dünen, in denen sie als Kind gespielt hatte, nach dem Strand und nicht zuletzt dem Wind, der ihr Haar zerzauste. Tränen traten ihr in die Augen, sie hatte die letzten Worte ihrer Mutter noch im Ohr:
»Tante Larissa wird gut für dich sorgen.«
Es war mehr ein Flüstern gewesen. Sie hatte sich weinend auf die Sterbende gestürzt und konnte tagelang vor Schmerz nichts essen. Die Mutter starb tags darauf im Krankenhaus und wurde neben dem Vater, der ein Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, beigesetzt. Tante Larissa nahm Frauke mit zu sich nach Bielefeld, versorgte sie liebevoll und bewahrte die wenigen Sachen, die von ihren Eltern geblieben waren, gut auf. Frauke lernte neue Freunde kennen und lebte sich langsam ein, aber das Heimweh nagte an ihrer Seele, und ihre Tante fuhr jedes Jahr in den Ferien mit ihr an die Küste, aber niemals nach Wilhelmshaven, sooft Frauke auch bat.
»Nach Wilhelmshaven fahre ich nicht, und du solltest es auch nicht tun«, erklärte Tante Larissa bestimmt und dann wurde nicht mehr darüber gesprochen. Trotzdem war für Frauke jeder Urlaub an der Küste fast wie Heimkommen, doch jetzt war das Gefühl stärker, hier war sie wirklich daheim. Es ließ den Ärger mit Andreas völlig verblassen. Unterwegs hatte sie sich gefragt, wie es mit ihnen weiter gehen soll, aber das Hochgefühl, welches sich bei ihr einstellte während sie auf der Autobahn Richtung Norden fuhr, ließ keinen Platz für solche Gedanken, und als die ersten Möwen am blauen Himmel auftauchten, hatte sie allen Ärger und sogar Andreas komplett vergessen.
Sie ging die Stufen des Deichs hinunter über das Gras, zog Schuhe und Strümpfe aus und trat auf den kühlen Sand. Langsam, jeden Schritt spürend, ging sie an dem schmalen Dünenstreifen entlang, ließ den Blick gleiten bis hin zu den Tanks auf der anderen Seite, spürte den Sand zwischen ihren Zehen, bückte sich nach einem Büschel Strandhafer und erstarrte. Eine Frau mittleren Alters hatte es sich in einer Mulde auf einer karierten Decke bequem gemacht. Sie trug einen hellblauen Jogginganzug mit weißen Paspeln und lag mit geschlossenen Augen bewegungslos da. Fraukes Herz klopfte bis zum Hals, sie wollte weitergehen, damit die Frau sie nicht bemerkte, aber ihre Beine waren wie festgewachsen. Sie wusste, dass ihre Mutter tot war. Sie hatte sie noch am Tag vor ihrer letzten Stunde gesehen, war auf ihrer Beerdigung gewesen und nun lag sie dort und schlief. Das rötliche Haar leicht gewellt und halblang, das schmale, blasse Gesicht mit den Sommersprossen auf der Nase, die schmalen Lippen und die langen, kupfernen Wimpern, so ganz anders als ihre, die dicht und schwarz ihre grauen Augen umrandeten. Fraukes Mund war trocken, das Herz klopfte bis zum Hals. Das konnte nur ein Irrtum sein, ein Trugbild, sie schloss die Augen, um diesem Irrsinn zu entgehen, öffnete sie wieder und wurde unfreundlich angepfiffen:
»He, verschwinden Sie, Sie nehmen mir die Sonne weg.«
Die Frau verstummte und sah sie wie versteinert an. Endlich löste sich die Starre und Frauke wich zurück:
»Entschuldigung«, murmelte sie und ging zögernd weiter, die Blicke der anderen im Rücken.
Die Frau hatte sogar die Stimme ihrer Mutter und die gleichen Augen, hellbraun mit einem grünlichen Rand.
Wie in Trance entfernte sich Frauke von dem Platz, ging langsam durch den Schlick zum Wasser; die Flut hatte eingesetzt, stetig rollten die Wellen näher zum Strand, und ihre Füße spürten das kühle Nass. Ihr Blick glitt über die graue, stählern schimmernde Fläche bis zum Horizont hinaus, als könne sie das Gesicht ihrer Mutter heraufbeschwören, um einen Vergleich zu finden, ändern würde das nichts. Plötzlich trat sie auf eine Muschel, der Schnitt brannte und sie humpelte zurück, sah ihre Schuhe weit hinten liegen, einer hier, einer dort. Sie hatte sie verloren ohne es zu bemerken, sammelte sie wieder ein und setzte sich am Rand des Deichs ins Gras, um sich ihre Schnittwunde anzuschauen, welche leicht blutete. Sie rieb die Stelle mit ihrem Taschentuch ab und schlüpfte wieder in ihre Schuhe. Den schwachen Schmerz ignorierend, ging sie noch einmal zu der Stelle, an der die Frau gelegen hatte. Sie war weg. Suchend glitten Fraukes Augen umher, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Langsam ging Frauke über den Deich zum Parkplatz zurück und stieg in ihren Wagen. Auf dem Weg nach Hooksiel grübelte sie über die Frau in den Dünen nach und nahm sich fest vor, gleich am nächsten Tag die Gegend gründlich nach ihr abzusuchen. So in Gedanken hätte sie fast eine Ampel übersehen, sie riss sich zusammen und sah plötzlich ein Stück Papier unter ihrem linken Scheibenwischer, welches sie beim Einsteigen nicht bemerkt hatte. Bei Grün fuhr sie ein Stück die Straße hinunter und hielt an, um den Zettel zu entfernen. Es war eine handgeschriebene Mitteilung auf einem Blatt von einem Abreißblock.
»Verschwinde!«
Der Zettel fiel zu Boden und flog mit dem Wind davon, Frauke lief hinterher und hätte beinahe einen jungen Mann umgerannt, braun gebrannt, groß schlank, blond. Er fing die Nachricht auf.
»Das klingt nicht gerade liebenswürdig. Was haben Sie verbrochen?«
Er hatte ein umwerfendes Lachen und wunderschön gerade Zähne. Frauke wurde rot und griff nach dem Zettel.
»Keine Ahnung«, antwortete sie knapp und lief zu ihrem Auto.
»He, warten Sie doch.«
Er stellte sich vor ihren Wagen und strahlte sie an.
»Sie werden das doch nicht erst nehmen? Ich wollte Sie gerade zum Abendessen einladen.«
Ein nervöses Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Ich kenne Sie doch gar nicht.«
Er zog sein Gesicht in bedauernde Falten wie ein Hund, der um Vergebung bettelt, reichte ihr die Hand und stellte sich vor.
»Friedrich Lust, meine Freunde nennen mich Fried.«
»Frauke Thomas«, stammelte sie, öffnete die Autotür, sprang hinein, startete und fuhr davon.
Verblüfft sprang er zur Seite und rief ihr nach:
»Wir haben noch keinen Treffpunkt ausgemacht!«
Sie hob die Hand als Gruß und schoss davon. In ihrem Kopf hämmerte es. Kannte jemand sie hier oder hatte die unbekannte Frau ihr den Zettel unter den Scheibenwischer geklemmt? Sicher, wer sollte es sonst gewesen sein? Aber warum? Und woher diese Ähnlichkeit? Vielleicht war die Unbekannte eine entfernte Verwandte ihre Mutter. Bis sie bei ihrer Pension ankam, grübelte Frauke nach, wurde immer verwirrter und fasste den Entschluss, nach dem Auspacken Larissa anzurufen.
Ihr Zimmer war klein, aber hübsch eingerichtet, mit hellen Eichenmöbeln und karierten Gardinen am Fenster. Die Zimmerwirtin, eine nette, rundliche Dame, servierte ihr, obwohl es bereits elf Uhr war, zur Feier ihrer Ankunft ein opulentes Frühstück und danach fühlte Frauke sich gleich besser, was sich schlagartig änderte, als sie ihre Tante anrief.
»Du solltest Wilhelmshaven meiden, Frauke. Es ist eine so öde Stadt.«
»Tante Larissa, bitte sag mir, ob du eine Frau kennst, die Mutti wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sieht?«
Fraukes Stimme hatte fast flehentlich geklungen, aber am anderen Ende war Stille.
»Larissa?«
Die Tante hatte aufgelegt. Mehrmalige Versuche sie zu erreichen blieben erfolglos. Frauke packte eilig ein paar Sachen, lieh sich bei der Wirtin ein Fahrrad und fuhr durch den Sonnenschein zum Deich.
Sie fuhr schnell, war in wenigen Minuten da, stellte ihr Rad ab und setzte sich oben auf der Deichkrone auf eine Bank. Die Fahrt hatte sie beruhigt und sie atmete tief die salzige Luft ein. Sie dachte an Andreas, der in den Süden fliegen wollte und sie hier allein in diesem Schlamassel sitzen ließ. Gerechterweise musste sie sich eingestehen, dass es allein ihre Entscheidung war, hierher zu kommen. Sie musste herausfinden, was die fremde Frau mit ihr und ihrer Mutter zu tun hatte, denn dass der Zettel von dieser Frau stammte, war so gut wie sicher. Umständlich kramte sie ihn aus der Hosentasche und las ihn noch einmal, was ihre Unruhe nicht beseitigte, denn selbst die Schrift kam ihr vertraut vor. Seufzend stand sie auf und ging hin und her. Ein Jogger kam über den Deich auf sie zu, und sie wich zur Seite. Er trug eine blaue Kappe, und sein Gesicht war nicht zu erkennen. Gerade als er vorbei war, drehte er sich um und rief erstaunt aus:
»Sie sind es, ich dachte schon, ich sehe Sie nie wieder.«
Er war verschwitzt, sein T-Shirt hatte dunkle Flecken, und als er nun die Kappe abnahm, strahlte sein Gesicht unter klebrigen, nassen Haaren.
Frauke wollte eine schnippische Antwort geben, aber plötzlich war sie froh, dass er da war, und hörte sich sagen:
»Die Welt ist klein.«
Im selben Moment kam ihr dieser abgedroschene Spruch so dumm vor, dass sie verlegen errötete. Er lachte.
»Unten bei der Pizzeria gibt es ein gutes Pils, wie wär‘s mit heute Abend.«
»Abgemacht.«
Frauke lächelte ebenfalls. Er stülpte seine Kappe wieder auf, trottete davon, drehte sich noch einmal um und rief:
»Um acht! Nicht vergessen!«
Langsam ging Frauke den Deich hinunter über die Steine und hielt die Hände ins Wasser. Lange saß sie da, beobachtete die Wellen, die sanft ans Ufer klatschten, die kleinen Fische, die zwischen den Steinen hin und her flitzten, fühlte die Sonne auf ihrer Haut, sah oben einige Möwen ziehen und weit hinten auf dem Meer einen Kutter Kurs auf den Hafen nehmen. Wie sehr hatte sie den Urlaub herbeigesehnt, doch nun fühlte sie sich leer, schutzlos, ungewollt in eine Zwickmühle geraten, aus der es kein Entrinnen gab. Nach Stunden erst machte sie sich auf den Weg zu ihrer Pension, leicht getröstet von dem Gedanken, dass sie den Abend nicht allein verbringen musste.
Sie sah den Wagen schon von Weitem. In ihrem Bekanntenkreis gab es niemanden, der einen Chevrolet fuhr, außer Tante Larissa. Beunruhigt stellte Frauke ihr Fahrrad ab. Kaum hatte sie die Eingangstür erreicht, wurde diese von Larissa Norten aufgerissen.
»Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, empfing sie ihre Nichte.
Frauke betrachtete die Tante, sah die Furcht in ihren Augen und meinte knapp:
»Fein, dass du sofort gekommen bist, Larissa. Komm, wir gehen auf mein Zimmer.«
Kaum hatte Frauke die Tür hinter sich geschlossen, ließ Larissa sich in einen Sessel fallen und sagte:
»Du darfst nicht nach Wilhelmshaven, ich habe es deiner Mutter versprochen.« Frauke lachte.
»Ich bin erwachsen, du kannst mir nicht verbieten dorthin zu gehen. Es ist meine Heimat. Außerdem habe ich dir zuliebe extra hier in Hooksiel gebucht.«
Larissa Norton lachte gequält:
»Das Wangerland ist für dich genauso gefährlich«, antwortete sie und knetete unruhig ihre Hände, als müsse sie ein Wischtuch auswringen, bevor sie leise weiter sprach:
»Deine Mutter hatte eine Zwillingsschwester.«
»Ach! Das erfahre ich jetzt, nach so vielen Jahren!«, fauchte Frauke böse.
Larissa nickte.
»Ich weiß es war nicht richtig, aber deine Mutter wollte auf keinen Fall, dass du es erfährst, ich habe es ihr versprochen.«
»Mach dich nicht lächerlich, Larissa!«, schnaubte Frauke verärgert.
»Seit deinem Anruf habe ich keine Ruhe mehr gehabt, solche Sorgen habe ich mir um dich gemacht.«
Frauke sah wieder die Angst in den Augen ihrer Tante, schüttelte ärgerlich den Kopf und schaute aus dem Fenster.
»Glaubst du etwa, ich breche zusammen, wenn ich es erfahre?«
Larissa Norten lächelte nervös.
»Daran habe ich eigentlich weniger gedacht.«
Frauke wirbelte herum.
»Verdammt, sprich nicht in Rätseln, darauf habe ich jetzt wirklich keine Lust.« Larissa erhob sich und ging zur Tür.
»Ich habe dir etwas mitgebracht. Deine Mutter hat bestimmt, dass du es erst an deinem fünfundzwanzigsten Geburtstag bekommst. So lange können wir nicht warten.«
Frauke schaute ihrer Tante nach, die vorsichtig die Tür öffnete und erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand davor stand, hinaus ging. Belustigt folgte sie Larissa, die ihr unten im Eingang schon wieder entgegenkam, einen kleinen, braunen Lederkoffer in der Hand. Eilig schob Larissa ihre Nichte ins Zimmer und gab ihr das Köfferchen.
»Diesen Koffer sollte ich dir geben, sobald du fünfundzwanzig bist, aber ich glaube, dann ist es zu spät.«
Frauke nahm den Koffer auf den Schoß und versuchte die eingerosteten Schlösser zu öffnen.
»Gibt es einen Schlüssel?«
Larissa schüttelte den Kopf:
»Nein.«
Frauke holte ihr Taschenmesser, ein Geschenk von Andreas, und schon nach wenigen Minuten gaben die Schlösser nach. Briefe und alte Fotos fielen heraus. Ein Foto zeigte zwei Mädchen mit Zöpfen, lachend auf einem Pferd, sie glichen sich wie ein Ei dem anderen.
»Waltraud und Verena verstanden sich sehr gut, sie waren immer zusammen, bis Verena vor gut fünfundzwanzig Jahren den Kaufmann Karsten Thilo Bornfeld heiratete.«
»Mutter ist tot. Was hat sie gegen mich, deine Schwester?«
Larissa hatte unentschlossen herumgestanden, schrak bei Fraukes Worten auf und sagte:
»Das musst du schon selbst herausfinden. Ich muss zurück.«
Frauke ließ den Koffer fallen, sprang auf und umarmte ihre Tante.
»Tante Larissa, warum bleibst du nicht einfach hier? Wir gehen heute Abend essen und machen uns ein schönes Wochenende.«
Larissa wehrte ab.
»Ich muss noch heute zurück. Versprich mir, dass du nicht mehr nach Wilhelmshaven fährst.«
Sie beschwor ihre Nichte eindringlich, was Frauke dazu veranlasste, lächelnd zu nicken.
»Keine Sorge. Gute Heimfahrt!«
Mit gemischten Gefühlen ließ Larissa die junge Frau zurück und stieg in ihren Wagen. Sie war kaum hundert Meter gefahren, als sich plötzlich in ihrem Rücken eine Stimme erhob, die das Blut in ihren Adern erstarren ließ.
»Du hast unsere Abmachung verletzt, Larissa.«
Larissa schwieg und steuerte einen Parkplatz an.
Frauke betrachtete eine Zeit lang die Fotos, die fast immer die beiden Schwestern, manchmal mit, manchmal ohne Larissa zeigten, dann stellte sie den Koffer zur Seite, um sich zurechtzumachen. Keinesfalls wollte sie den Abend allein verbringen, nicht weil sie durch das ängstliche Getue ihrer Tante abgeschreckt worden war, sondern hauptsächlich, weil sie sich über Andreas geärgert hatte.
Die Pizzeria war klein und gemütlich. Schon am Eingang kam ihr Fried mit strahlendem Lächeln entgegen.
»Fein, dass Sie da sind«, begrüßte er sie fröhlich, und Frauke fühlte sich zum ersten Mal an diesem Tag wohl. Die Pizza war lecker, und sie tranken Pils dazu. Fried plauderte ununterbrochen über seine Urlaubsaktivitäten und lud sie für den nächsten Tag zu einer Wattwanderung ein.
»Eigentlich wollte ich nach Wilhelmshaven, meine Tante besuchen«, erklärte sie, denn sie hatte sich vorgenommen, Larissas Warnungen zum Trotz, der unbekannten Schwester ihrer Mutter einen Besuch abzustatten.
»Das können wir vorher machen. Wir fahren mit dem Rad vorbei«, bot Fried an und sie lachte kopfschüttelnd.
»Der Besuch kann warten, ich komme morgen mit.«
Sie verließen die Pizzeria kurz vor Mitternacht zu Fuß. Als sie einen Parkplatz passierten, wollte Fried einen parallel verlaufenden Fußweg benutzen, aber Frauke steuerte direkt auf eines der Autos zu und rief überrascht aus:
»Schau nur, der Chevrolet meiner Tante! Mir hat sie gesagt, sie müsse sofort nach Hause.«
Der Wagen stand etwas schief, erst beim Näherkommen sahen sie, dass die Tür nur angelehnt war. Fraukes Herz klopfte plötzlich unruhig, und sie griff unwillkürlich nach Frieds Hand, während er die Autotür öffnete. Die Frau hatte ihren Kopf auf das Lenkrad gelegt, ihre Hände hingen verkrampft hinunter. Sie schlief nicht, sie war tot.
»Nein!«
Fraukes Schrei gellte durch die Nacht, und dann sank sie in sich zusammen. Friedrich Lust griff nach seinem Handy, wenige Minuten später waren Polizei und Notarzt zur Stelle. Der Parkplatz wurde durch Scheinwerfer hell erleuchtet und nun erst sah man das Blut, welches aus der Fahrzeugtür nach außen sickerte. Larissa Norton lag mit durchschnittener Kehle auf dem Fahrersitz. Frauke war ohnmächtig geworden, sie erwachte im Krankenwagen, und ein junger Arzt sprach beruhigend auf sie ein. Sie setzte sich abrupt auf.
»Larissa? Ist sie tot?«
Der Arzt nickte und erkundigte sich:
»Ist sie eine Verwandte von Ihnen?«
Frauke nickte stumm. Eine ältere Dame lugte durch die Tür der Ambulanz und musterte Frauke. Ihr blondes Haar trug sie hochgesteckt und ein kurzes Lächeln huschte über ihr blasses, übermüdetes Gesicht, in dem hellblaue Augen kurz aufblitzten, als sie sich vorstellte.
»Wiedemann, Kripo Wilhelmshaven.«
Ihre Stimme war rau.
»Raucherin«, dachte Frauke und sah den gelben Zeigefinger auf dem Dienstausweis in der rechten Hand. Die Kommissarin nahm Fraukes Personalien auf und stellte ihr Fragen, die Frauke so gut es ging beantwortete.
»Hatte Ihre Tante Feinde? Kannte sie jemanden hier?«
Frauke seufzte.
»Ich weiß es nicht. Sie hatte Angst, aber ich weiß nicht warum.«
Sie kletterte, ohne auf den Protest des Notarztes zu achten, aus dem Krankenwagen. Eine Mannschaft der Spurensicherung schwirrte um den Wagen ihrer Tante herum, und Fried stand ratlos, die Hände in den Hosentaschen vergraben, dabei. Die Kommissarin blies hastig einige Rauchkringel in die Luft, bevor sie sich wieder an Frauke wandte.
»Sie sollten nach Hause gehen.«
Sie reichte ihr noch eine Visitenkarte mit ihrer Telefonnummer und ging schnellen Schrittes zu ihren Kollegen. Fried kam, drückte stumm ihre Hand. Er hatte eine Taxe gerufen und brachte sie zu ihrer Pension zurück.
Sie hatte entsetzlich geträumt. Die Sonne schien ins Zimmer, als sie erwachte, mit einem Blick zur Uhr sprang sie auf und wäre fast über einen Koffer gestolpert. Im selben Moment fiel ihr der vergangene Abend wieder ein, und sie sank zurück auf ihr Bett.
»Die Briefe.«
So plötzlich, wie ihr der Einfall kam, so sehr wünschte sie, dass dort die Lösung lag. Sie stellte den kleinen Lederkoffer neben sich auf das Bett und begann mit zitternden Fingern darin herumzuwühlen. Sie ließ sich das Frühstück aufs Zimmer bringen und begann mit den Fotos. Ihre Mutter mit Larissa und der Zwillingsschwester in allen möglichen Situationen, Familienbilder eben, nichts Besonderes.
Das Frühstück kam, und obwohl sie geglaubt hatte, sie würde nichts hinunter bekommen, hatte sie plötzlich Hunger. Nachdem sie sich gestärkt hatte, befasste sie sich mit den Briefen. Es waren Liebesbriefe ihrer Mutter an ihren Vater, zumindest sah es so aus. Alle Briefe begannen mit:
»Mein Liebster.«
Manchmal hatte sie mit V. und manchmal mit W, unterschrieben und es dauerte eine Weile, bis Frauke begriff, dass nicht alle Briefe von ihrer Mutter stammten, einige waren von deren Zwillingsschwester Verena, also hatten beide demselben Mann geschrieben. Nach einiger Zeit gewahrte Frauke auch Unterschiede im Schriftbild, ihre Mutter schrieb ordentlich, fast pedantisch sauber und korrekt, die Schwester flüchtiger, die Buchstaben ineinander gezogen, hin und wieder fehlerhaft. Frauke machte zwei Päckchen und begann erst die Briefe ihrer Mutter zu lesen. Plötzlich klingelte das Telefon, Frauke erschrak, meldete sich dann mit klopfendem Herzen. Es war die Rezeption, die Kommissarin war erschienen und stand wenige Minuten später im Zimmer. Verlegen schob Frauke die Briefe in den Koffer und erkundigte sich:
»Haben Sie schon etwas heraus gefunden?«
Mira Wiedemann schüttelte den Kopf.
»Ich denke, Sie helfen mir.«
»Ich?«
Frauke stand vom Bett auf, bot der Kommissarin einen Sessel an und setzte sich ihr gegenüber auf einen Stuhl.
»Was wollte Ihre Tante hier? Warum hat sie diesen Parkplatz angefahren?«
Die Beamtin sah Frauke prüfend an und diese übergab ihr den mysteriösen Zettel, erzählte von ihrer Begegnung mit der Fremden und berichtete, dass ihre Tante nur deshalb hergekommen war.
»Sie haben die Zwillingsschwester Ihrer Mutter noch nie zuvor gesehen?«
»Ich habe gar nicht von ihr gewusst. Larissa hat mir nur gesagt, dass ich Wilhelmshaven meiden soll.«
Bei dem Gedanken an den Tod ihrer Tante kamen Frauke erneut die Tränen.
»Sie hängen an Ihrer Tante, nicht wahr?«
Frau Wiedemann hatte ihr Haar diesmal zu einem Pferdeschwanz gebunden, was sie nicht ganz so unnahbar erscheinen ließ. Frauke kramte umständlich ein Taschentuch hervor.
»Sie ist meine einzige Verwandte.«
Kaum waren die Worte heraus, schluchzte sie auf.
»Kann es sein, dass die andere, -- ich meine, es ist doch auch Larissas Schwester.« Die Kommissarin schaute durch das Fenster in den blauen Himmel, wo die Möwen ihre Kreise zogen.
»Ja«, sagte sie, »so etwas kommt vor.«
Frauke schnäuzte sich heftig.
»Ich habe Briefe und Fotos, Tante Larissa hat sie mitgebracht - gestern.«
Interessiert betrachtete Frau Wiedemann die Fotos und Briefe, die Frauke nun auf den Tisch packte.
»Sie sagten, Ihre Mutter starb, als Sie zwölf waren, haben Sie auch als Kind nie deren Zwillingsschwester gesehen?«
»Gestern Morgen am Strand sah ich sie zum ersten Mal in meinem Leben. Ich war völlig durcheinander und habe anschließend Tante Larissa angerufen.«
»Was hat sie gesagt?«
Frauke seufzte.
»Nicht viel, sie hat gleich aufgelegt.«
Die blauen Augen der Beamtin funkelten ungeduldig.
»Was genau? Jeder Hinweis ist wichtig.«
Frauke kamen erneut die Tränen, und sie wischte sie mit dem Handballen weg.
»Geh nicht nach Wilhelmshaven, deine Mutter wollte nicht, dass du es erfährst. Dann hat sie aufgelegt, und ich bin mit dem Fahrrad raus. Als ich zurückkam, war sie hier und brachte den Koffer mit.«
»Haben Sie die Briefe gelesen?«
»Dazu hatte ich keine Zeit.«
»Dann fangen Sie jetzt damit an.«
Die Kommissarin wandte sich zum Gehen.
»Geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas Wichtiges erfahren.«
Schon an der Tür erkundigte sie sich:
»Seit wann kennen Sie Herrn Lust?«
»Seit gestern, Zufallsbekanntschaft«, antwortete Frauke.
»Einige Zufälle zu viel, wenn Sie mich fragen«, kommentierte die Kommissarin knapp und schloss die Tür hinter sich.
Frauke schaute ihr irritiert nach. Kalt lief es ihr über den Rücken, Angst kroch in ihr hoch, ein schlummerndes Tier, welches, einmal aufgewacht, sich ihrer bemächtigte und ihr fast den Atem nahm. Zitternd und schluchzend begann sie, die Briefe ihrer Mutter zu lesen.
»Ruhe in Frieden!«
Der Pfarrer segnete das Grab, drückte Frauke die Hand und entfernte sich langsam. Es waren nur wenige Freunde und Nachbarn, die an diesem regnerischen Nachmittag mit Frauke am Grab von Larissa Norton standen. Andreas war nicht dabei. Frauke hatte ihn nicht erreichen können. Drei Tage nach dem Mord war die Leiche freigegeben worden, und Frauke hatte die Überführung nach Bielefeld veranlasst. Von dem Mörder keine Spur, die Briefe ihrer Mutter gaben keinen Anhaltspunkt, sie hatte sie Kommissarin Wiedemann zur Prüfung übergeben, die Fotos in den Koffer gepackt und mit genommen. Am nächsten Tag hatte sie einen Termin beim Notar, danach wollte sie wieder zurück ins Wangerland, schließlich hatte sie noch eine Woche Urlaub gebucht. Friedrich Lust hatte sich bei ihr nicht mehr gemeldet.
Die Wohnung von Larissa Norton sah aus, als sei die Besitzerin nur für wenige Minuten abwesend, in der Dusche lag der Duft ihres Shampoos, Fernseher und Stereoanlage waren stand-by geschaltet, in der Küche stand benutztes Geschirr, neben der Spüle lag eine Zeitung aufgeschlagen auf dem Tisch, und im Wohnzimmer blinkte der Anrufbeantworter. Frauke hatte den Briefkasten geleert, legte seinen Inhalt ungelesen auf den Couchtisch im Wohnzimmer und setzte sich in den gemütlichen Fernsehsessel. Larissas Gegenwart war so heftig zu spüren, dass ihr die Tränen kamen. Zum dritten Mal im Leben hatte sie einen geliebten Menschen verloren und diesmal auf eine grausame Art. Larissa war ihr Freundin und Mutter zugleich gewesen, wenn auch die spröde, manchmal herrische Art ihrer Tante so ganz anders war, als die ihrer Mutter. Frauke vermisste sie, und die Tatsache, dass sie ihr diese schöne Eigentumswohnung hinterlassen hatte und auch noch einiges an Erspartem, trug noch mehr dazu bei. Langsam begann sie, die Post durchzusehen. Ein Brief fiel auf durch seine Handschrift, etwas eckig, weil Druckbuchstaben verwendet wurden, aber gut leserlich. Es war der Brief eines Mannes, relativ förmlich erkundigte er sich nach ihrem Befinden und nach Frauke. Überrascht drehte Frauke den Brief mehrmals um, kein Absender, der Name abgekürzt, ein Stempel aus Bremen auf dem Umschlag. Wen kannte Larissa in Bremen? Nie hatte Frauke sie mit einem Mann in Verbindung gebracht. Der Text war kurz, fast geschäftsmäßig abgefasst, wenn auch mit der Hand geschrieben. Der Schreiber, ein gewisser Herr B. berichtete, dass es ihm und der Familie gut ginge. Fraukes Herz klopfte aufgeregt, denn B. konnte niemand anders sein als ihr Onkel, der Mann von Mutters Zwillingsschwester. Aus dem Brief schloss Frauke, dass er regelmäßig Kontakt zu Larissa gehalten hatte. Fast zehn Jahre hatte sie mit ihrer Tante zusammengewohnt und nichts davon mitbekommen. Seufzend erhob sich Frauke und schaute sich in der Wohnung um, in der Hoffnung, mehr zu entdecken. Stunden vergingen, sie hatte sich eine Pizza kommen lassen, bis sie endlich im Schlafzimmer der Tante in der Rückwand des Kleiderschranks eine kleine Schiebetür fand, die einen Wandtresor zum Vorschein brachte. Er war durch einen Code gesichert. Gerade in diesem Moment ging das Telefon. Mit klopfendem Herzen lief sie hin, die Nummer war ihr unbekannt. Sie nahm ab.
»Hallo, mit wem spreche ich?« erkundigte sich die Stimme am anderen Ende.
Als hätte sie sich verbrannt, fiel ihr das Telefon aus der Hand, sie keuchte. Die Stimme ihrer Mutter! Als sie sich beruhigt hatte, hob sie das schnurlose Telefon wieder auf, lauschte und setzte es in die Ladestation zurück. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen, als ihr Blick auf den großen Umschlag fiel, den der Notar ihr mitgegeben hatte.
»Alle Unterlagen komplett, auch ein persönlicher Brief Ihrer Tante ist dabei.«
Sie sprang auf und schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Das Testament ihrer Tante und ein schmaler Umschlag mit ihrem Namen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn.
Geliebte Frauke, mein Kind.
Tränen rannen Frauke über das Gesicht, die Worte verschwammen vor ihren Augen, und sie wischte sich energisch durchs Gesicht, bevor sie weiterlas.
Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Als ich dich mit nach Bielefeld nahm, war es der Wunsch deiner Mutter und meine Pflicht, aber du bist mir ans Herz gewachsen, mehr als ich je geglaubt habe, bleib‘ wie du bist und lass dich niemals irremachen in deinen Vorstellungen.
Für immer Larissa, die auch deine Mutter war. Gott schütze dich.
Am Ende des Briefes war ein Nachsatz.
‚Deine Mutter hat ihr Geheimnis nie verraten, aber ich finde, du musst die Wahrheit wissen. ‚
Darunter standen eine Zahlenkombination und der Hinweis auf den Safe.
Frauke hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Die Wohnung lag im Parterre, sie trat ans Terrassenfenster und spähte hinaus. Nichts zu sehen, nur die Silhouette der Sparrenburg hob sich über den hohen Bäumen ab, die die Wohnanlage umsäumten, trotzdem ließ sie die Rollläden hinunter. Die Unterlagen des Notars packte sie wieder in den Umschlag und verstaute sie in ihrer Handtasche, den Brief der Tante steckte sie in ihre Hosentasche.
Bevor sie die Wohnung verließ, räumte sie ordentlich auf. Der Tresor ließ sich mit dem Code leicht öffnen. Er enthielt ein Familienbuch, Fotos, mehrere ordentlich gebündelte Briefe und einen länglichen, braunen Umschlag. Frauke nahm alles an sich, verschloss den Safe sorgfältig und verließ, sich vorsichtig umschauend, die Wohnung.
Hauptkommissarin Mira Wiedemann saß an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Büro in Hooksiel, wo das Kommissariat während der Umbauarbeiten in Wilhelmshaven ein freudloses Dasein fristete. Alle Kollegen waren in Urlaub und ausgerechnet jetzt, wo sie sich auf eine ruhige Zeit bis zu ihrer Pensionierung eingerichtet hatte, musste sich eine Fremde umbringen lassen. Missmutig betrachtete sie die Fotos des Polizeifotografen vom Tatort und sog dabei heftig an ihrer Zigarette, als läge die Erkenntnis im Tabakrauch. Es klopfte. Ihr Mitstreiter, Thorben Weller, kam zur Tür herein und warf ihr einen Stapel Briefe auf den Schreibtisch, was ihre Laune nicht unbedingt hob.
»Ich habe sie alle gelesen, keine Anhaltspunkte, nur so‘n süßlicher Liebesquatsch. Außerdem sind die Briefe uralt.«
»Noch lange kein Grund sie mir auf den Schreibtisch zu werfen«, zischte Mira und drückte ihre Zigarette aus.
»Haben Sie die Kollegen in Bielefeld kontaktiert?«
Thorben nickte.
»Fehlanzeige. Ein unbeschriebenes Blatt, diese Larissa Norton. Lehrerin, ledig, keine Kinder, einzige Angehörige die Nichte Frauke Thomas. Hat übrigens die Wohnung der Alten geerbt, dahinter sollten wir uns klemmen.«
»Dummes Zeug, sie war in der Pizzeria mit diesem Friedrich Lust, das Alibi steht.«
Thorben holte tief Luft und überlegte, ob er nicht einfach am nächsten Tag blaumachen sollte. Die Zusammenarbeit mit der Wiedemann entwickelte sich zu einem echten Horrortrip, so hatte er sich die Praxisanleitung während der Ausbildung nicht vorgestellt. Sein Gedankengang war noch nicht zu Ende, als Mira Wiedemann sich erkundigte:
»Haben Sie Lust schon überprüft?«
»Ich denke, äh, Sie wollten das übernehmen.«
»Das könnte Ihnen so passen, hier den lauen Lenz zu schieben«, schnaubte Mira. »Wir haben einen Mordfall, vergessen Sie das nicht. In einer Stunde will ich das Ergebnis.«
Er war schon in der Tür, als sie ihn zurückrief:
»Recherchieren Sie gründlich, nicht so schlecht wie bei der Norton.«
»Wieso?«
Verdattert sah er sie an.
»Die Norton hat noch eine Schwester. Ist Ihnen beim Lesen der Briefe nicht aufgefallen, dass sie von zwei verschiedenen Personen geschrieben wurden?« Thorben kam zurück.
»Aber, ich dachte ...«
Mira schnitt ihm das Wort ab.
»Sie sollen nicht denken, sondern ordentlich recherchieren, verdammt.«
Thorben sah ihre blauen Augen, die ihn durchbohrten wie giftige Pfeile und verschwand wortlos. Empört blickte sie ihm nach und griff erneut zu ihrer Zigarettenschachtel. Ausgerechnet diesen Anwärter hatte man ihr aufs Auge gedrückt.
Sie dachte den Tag ihres sechzigsten Geburtstages. Der Polizeidirektor hatte ihr mit einem Blumenstrauß gratuliert und gemeint:
»In Hooksiel haben wir extra für Sie ein kleines Kommissariat eingerichtet, da werden Sie von den Bauarbeiten nicht gestört und können jeden Mittag einen schönen Strandbummel machen.«
Alle Kollegen hatten gelacht und waren kurz darauf in Urlaub gefahren. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, allein zu sein, aber mit einem Mord hatte sie nicht gerechnet, noch weniger mit einem Anwärter, der sich mehr als dumm anstellte. Gefrustet befasste sich Mira wieder mit den Tatortfotos und dem Bericht der Spurensicherung. Bisher gab es keinerlei Erkenntnisse auf den Mörder, da war nur die Aussage der Nichte, die davon sprach, ihre Tante habe Angst gehabt. Dann noch die ominöse Schwester, Zwillingsschwester der verstorbenen Mutter von Frauke Thomas, Verena Norton, die irgendwo in der Gegend wohnen sollte. Mira drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus, stand auf und verließ das Büro.
Frauke hatte eine unruhige, von Träumen gequälte Nacht verbracht, trotz mehrmaliger Versuche konnte sie Andreas in seinem Urlaubsort auf Mallorca nicht erreichen, war weiterhin allein auf sich gestellt und schwor sich, mit ihm Schluss zu machen und so bald als möglich die gemeinsame Wohnung zu verlassen, wenn auch momentan andere Dinge anstanden. Sie packte frische Sachen in ihren Koffer und suchte verzweifelt nach ihrer Wetterjacke, bis ihr einfiel, dass sie das gute Stück in Larissas Wohnung zurückgelassen hatte. Eine Nachbarin ihrer Tante empfing sie am Eingang des Hauses, drückte Frauke ihr Beileid aus und überfiel sie mit solcher Redseligkeit, dass es eine Weile dauerte, bis Frauke endlich die Tür zur Wohnung aufschloss und ein Schrei des Entsetzens über ihre Lippen kam. Diesmal war sie froh, dass die Nachbarin neugierig hinzukam und aufgeregt ausrief:
»Um Gottes Willen! Wie sieht es denn hier aus?«
Die Wohnung glich einem Trümmerhaufen. Schränke waren umgestoßen, Vasen lagen zersplittert am Boden und Frauke sank schluchzend in einen Sessel, der seitlich mit dem Messer aufgeschlitzt worden war.
Die Polizisten waren endlich wieder weg. Frauke fand nach langem Suchen ihren Friesennerz unter einem Kleiderstapel im Flur und flüchtete aus der demolierten Wohnung. Die Polizei hatte weder Fingerabdrücke noch Einbruchsspuren an den Türen oder Fenstern finden können. Stundenlang waren Beamte damit beschäftigt gewesen, alles durchzuchecken. Frauke begann, grob aufzuräumen, unterstützt von der Nachbarin, die eifrig hin und her lief, Kaffee kochte und Frauke half.
Die beiden Frauen hatten einen großen Berg im Wohnzimmer aufgeschichtet, die Sachen waren nicht mehr zu gebrauchen. Die wertvollen Gegenstände, wie der Schmuck der Tante, der auf dem Boden verstreut war, wurden sorgfältig wieder zurückgelegt. Es war Frauke ein Rätsel, warum jemand eine ganze Wohnung auf den Kopf stellte und alles Wertvolle, sogar etwa vierhundert Euro Bargeld, zurückließ. Einzig den Tresor hatten die Einbrecher nicht gefunden.
Es war später Nachmittag, als Frauke Richtung Norden aufbrach, das Geld der Tante hatte sie sicherheitshalber eingesteckt, um den Rest ihres Urlaubs in Friesland zu verbringen.
Das Fax spuckte eine Mitteilung aus, die Mira Wiedemann wieder einmal bestätigte, dass ihr Anwärter schusselig gearbeitet hatte. Die Beamten aus Bielefeld meldeten einen Einbruch in die Eigentumswohnung von Larissa Norton. Fingerabdrücke, Einbruchspuren: Fehlanzeige, und das Merkwürdigste, Geld und Schmuck waren unangetastet geblieben. Es wurde höchste Zeit, die Schwester der Norton aufzusuchen. Mira hatte im Standesamt die Geburtsurkunden überprüft und festgestellt, dass die Nortonzwillinge 1958 am dritten August geboren waren und Waltraud Norton im Jahre 1982 den Biologen Werner Thomas geheiratet hatte. Verena Norton hatte im selben Jahr den Kaufmann Karsten Thilo Bornfeld geehelicht. Nach ihren Ermittlungen wohnten die Bornfelds in einer Villa am Stadtrand von Wilhelmshaven und hatten eine Tochter. Bornfeld galt als wohlhabend, womit er sein Geld verdiente, war ihr nicht bekannt.
Zwei Stunden später stand sie mit Thorben Weller vor einem eisernen Tor und betätigte die Klingel. Aus der Gegensprechanlage ertönte eine weibliche Stimme: »Sie wünschen, bitte?«
»Kripo Wilhelmshaven, können wir Herrn Bornfeld sprechen?«
Das Tor öffnete sich fast lautlos und der Hausherr erschien, im eleganten Nadelstreifen mit passender Krawatte zum hellblauen Hemd. Mira zeigte ihren Ausweis und erklärte:
»In der letzten Woche wurde in Hooksiel eine Larissa Norton mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Kennen Sie die Frau, Herr Bornfeld?«
Bornfeld, schlank, fast hager, mit für sein Alter dichtem, mittelblondem Haar, welches von einigen Silberfäden durchzogen war, wurde bleich:
»Larissa? Tot? Wie entsetzlich!«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« Mira lugte durch den Türspalt und fuhr fort: »Können wir hereinkommen?«
Bornfeld zögerte einen kurzen Moment, bevor er antwortete:
»Natürlich, kommen Sie.«
Die Beamten traten in eine Halle mit stuckverzierter Decke und dem Charme einer vergangenen Epoche. ‚Die Restaurierung dieser Halle muss ein Vermögen gekostet haben‘, dachte Mira und nahm in einem Sessel Platz, der in der Ecke unterhalb einer geschwungenen Treppe stand.