Im Spiegel der Seele meiner Tochter - Anna Joel Richter - E-Book

Im Spiegel der Seele meiner Tochter E-Book

Anna Joel Richter

4,8

Beschreibung

Der Chef, der ihre herausragenden Leistungen nicht erträgt, der Ehemann, der seine junge Frau an Freunde verschachert, die Wochenend-Beziehung, in der Gewalt an der Tagesordnung ist: Irgendetwas muss Madlena an diesem Spiel, bei dem sie immer nur verliert, nicht verstanden haben. Doch wo ist der Fehler? Madlena beschließt, es herauszufinden – nicht nur für sich, sondern auch für ihre kleine Tochter. Am Ende macht sie eine unglaubliche Entdeckung. Ein mitreißender Roman, in dem Anna Joel Richter ihre eigene Lebensgeschichte erzählt.

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Für Maya

Mi, 06. August 2014

Du bist jetzt seit etwa fünf Stunden in der Luft. Auf dem Weg nach Kanada.

David und ich, Anna, haben uns gerade ein schönes Plätzchen mit dem Wohnmobil gesucht. Wir sind immer noch in der Nähe von Frankfurt.

Tja, und gerade überkommt mich etwas, das doch eigentlich nur anderen Müttern vorbehalten ist: Mir ist zum Heulen elend. Das ist wohl ein Prozess, gegen den keiner gefeit ist. Ich realisiere so langsam, dass mein Kind jetzt wohl aus dem Haus ist. Zumindest für die nächsten 365 Tage. Ob ich das will oder nicht, aber Erinnerungen aus den letzten zwanzig Jahren werden laut. Wie albern! Aber sie kommen. Und es sind so viele. Unsere Geschichte so komplex und vielschichtig. Mir kommen Erkenntnisse, was Du für mich bist. Nicht, dass ich das nicht schon vorher gewusst hätte.

Morgen müssen wir wieder zurück nach Hause. Oder, wie wir es nennen, in unser »Auffanglager«, das wir vor drei Monaten beziehen mussten. War ein bisschen viel mal wieder in der letzten Zeit. Ich bin so froh, dass Du weit, weit weg sein kannst. Raus aus unserem Dilemma. Ein ganzes Jahr lang die Freiheit und das Abenteuer genießen!

Ich werde diese Zeit nutzen. Diese 365 Tage. Ohne Job, ohne Zuhause, ohne Verantwortung. Das Leben ist mal wieder entgleist. Es gibt viel aufzuarbeiten. Meine Beobachter sagen immer wieder, ich könnte einen Roman schreiben. Ich glaube, das werde ich jetzt mal tun. 365 Tage lang!

Meine Romanfigur? Ich werde sie Madlena nennen. Ich denke, mit etwas Abstand wird es leichter.

Dann lege ich jetzt mal los. Und Dir, mein Stern, viel Spaß in Amerika. Bitte lass uns immer wissen, wie es Dir geht!

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Prolog II

Sternstunde

Verflucht

Schwelbrand

Stichflammen

Zwangsbeleuchtung

Trotzhochzeit

Kursänderung

Atempause

Apokalypse

Hausaufgaben

Panik

Rettungsdienst

Königskinder

Aufbauphase

Arschengel

Nachspiel

Außerplanetarisch

Stecknadel

Patchwork

Higgs-Teilchen

Mobbing

Heilpraktikerin

Finale

Nachschlag

Epilog

Prolog

Was soll ich sagen?

Jetzt sitze ich hier am helllichten Tag mitten in der Woche und kann mit mir nichts anfangen. Klar, es gäbe unendlich viel zu tun. Das Leben mit beiden Händen anpacken zum Beispiel. Machen, einfach machen … Klingt simpel.

Da draußen vor meinem Fenster erstrecken sich dreitausend Quadratmeter Grundstück. Wunderschön gelegen. Wundervolle Möglichkeiten. Die Sonne lacht seit Tagen ungetrübt vom Himmel. Die Lebendigkeit der Goldfische im Teich zeigt an: Ja, es ist endlich Sommer. Und ich? Mir bleibt mal wieder ungebeten viel Zeit, mein Leben zu reflektieren. Verdammt! Wer hat sich das eigentlich ausgedacht?

Angefangen hat alles mit einer Vision. Es sollte die Krönung oder besser die beweiskräftige Rechtfertigung dafür sein, dass es sich lohnt, sein Leben immer wieder in Frage zu stellen. Dass es sich immer wieder lohnt, ausgetrampelte Pfade zu verlassen und etwas Neues zu wagen. Dass es sich lohnt, weil man irgendwann da ist, wo man sich selbst erkennt und respektiert. Das war der Plan.

Um diesen wahren Menschen in mir zu finden, habe ich den Vater meiner Tochter verlassen und mich auf wirtschaftlich brüchiges Eis begeben. Auf dem Weg zu mir habe ich immer wieder versucht, die Mutter und den Vater, die mir wie Bleigewichte um die Hüften hingen, loszuwerden. Ich habe meinen Beruf aufgegeben – eine sichere Anstellung bei guter Bezahlung –, um noch einmal ganz von vorn anzufangen. Mutig!

Aber jetzt so, auf halbem Wege, droht mir nun langsam doch die Puste auszugehen. Ich stehe schon wieder vor einer riesigen Geröllwand und habe keine Ahnung, ob ich jetzt noch Lust habe, da auch wieder hinaufzuklettern. Ich, das denke ich zumindest, habe diesen Hang da nicht hinbestellt. Und ich finde, jetzt ist es auch langsam echt mal gut mit solchen Hindernissen! Irgendwann im Leben muss es doch mal ruhigeres Fahrwasser geben. Irgendetwas sanft Plätscherndes. Ein kleiner Bonus dafür, dass man immer so tapfer weitergemacht hat. Finde ich.

Ich stehe also am Fuße meiner nächsten Geröllhalde und blicke zurück. Was haben wir denn bisher so geschafft? Das weiß ich noch nicht. Bei diesem Blick zurück gibt es einige Kapitel, die ich längst schon zugeschlagen hatte. Ich muss mich gerade mal setzen. Da war so viel! Doch wo, bitte, sind die beschwerlichen Wege, die ich hinter mich gebracht habe? Vor mir erstreckt sich ein grasbewachsener Pfad. Moose und malerisch blühende Wildblumenkissen bieten ein friedvolles Bild. Wo sind bloß die beschwerlichen Steilhänge? Nass, glitschig und unerbittlich? Gerade spüre ich noch die Last der Vergangenheit, und Tränen der Ohnmacht und Enttäuschung bahnen sich den Weg über meine Wangen. Ich bin verwirrt. So total verwirrt und mit mir allein.

Ich sollte jetzt erst einmal hier sitzen bleiben. Da gibt es wohl einigen Klärungsbedarf, bevor ich eine Entscheidung über meinen weiteren Weg treffe. Niedergeschlagen krame ich in meinem Rucksack nach meiner Thermoskanne. Zu einer effektiven Pause gehört auf jeden Fall mal eine gute Tasse Tee. Den Rucksack wuchte ich mir in den Rücken, er soll mir als Stütze dienen. Kopfschüttelnd lasse ich meinen Blick über das Land schweifen, das sich vor mir ausbreitet. So sanft, so friedlich. So friedlich. Wo ist meine Geschichte geblieben? Wo?

Prolog II

Tag 365

Frankfurt.

Die Abendsonne spiegelt sich golden auf den Tragflächen des Fliegers, der meine Tochter jetzt ans andere Ende der Welt bringt.

Der Abschied war lang und tränenreich und doch geprägt von einem Bewusstsein der unerschütterlichen Zusammengehörigkeit und dem Triumph über die Widrigkeiten des Lebens. Wir haben gemeinsam einen langen, beschwerlichen Weg bewältigt. Während ich ihr nachblicke, packen mich Erinnerungen an die letzten zwanzig Jahre.

Wie schön, wie stark, wie selbstsicher dieses wunderbare Geschöpf geworden ist. Voller Stolz und leidenschaftlicher Kraft nimmt die frisch gebackene Abiturientin ihr Leben in die Hand. Mit zielgerichteten Vorstellungen davon, was das Leben ihr zu bieten hat; sie muss nur zugreifen.

Gerade noch hielt ich dieses warme, weiche Bündel, das sich vertrauensvoll an mich schmiegte, in meinen Armen. Ich war fest entschlossen, diesem neuen Menschen mit all meiner Kraft und Liebe eine neue Richtung zu geben. Mit einem Urvertrauen, das nur sie mir je entgegenbringen konnte, ließ sie mir alle Möglichkeiten, sie zu führen, zu leiten und zu beraten, immer getragen von dem festen Willen, einen Pfad für sie zu finden, der sie hinausführt in eine neue Freiheit, weit weg von Lebensmustern, in denen Generationen vor ihr noch gefangen sind.

Nun fliegt er dahin, mein Stern, der mir nicht nur all sein Vertrauen schenkte, sondern auch der Mensch ist, der mir mein eigenes Leben zeigte, wenn ich mich in mir verlor, der mich am Leben erhielt, wenn es mir unerträglich erschien, und der mir heute fast täglich beweist, dass ich nach vielen Verlusten, Gefühlen des Scheiterns und des Versagens doch für diesen einen Menschen etwas bewirkt, etwas geschafft, ja, ganz viel richtig gemacht habe.

Sternstunde

Ich heiße Madlena, bin sechsundzwanzig Jahre alt und ich werde ein Kind bekommen. Heute noch!

Woher ich das weiß? Nun, bei der klaren Flüssigkeit, die mir gerade unkontrolliert abgeht, wird es sich um Fruchtwasser handeln. Ich werte das als Hinweis darauf, dass es jeden Moment losgehen kann.

Wie es mir geht? Ganz wunderbar! Mir geht es so gut wie noch nie in meinem Leben. Wie soll ich das beschreiben? Da liegt etwas Magisches in der Luft. Eine wundervolle Verheißung. Noch nie habe ich mich so getragen gefühlt von einem Gefühl der allumfassenden Ruhe, die ganz tief aus meinem Innern zu kommen scheint. Alle Ängste, alle Aufregungen, die ewig plappernden Gedanken sind dieser alles erfüllenden Ruhe gewichen. Ich schwebe wie auf Wolken, nehme alles weich gedämpft, wie durch den Filter einer anderen Dimension wahr. Was ist das bloß? Ich mag es kaum hinterfragen. Einfach nur genießen, festhalten, für immer …

Wo ist eigentlich schon wieder mein Mann? Der Vater meiner Tochter? Ich weiß nicht. Ich weiß es nie! Er muss hier irgendwo sein. Ich glaube, er werkelt noch im Keller. Richtig, er wollte heute die Matratze des Kinderbettchens etwas höher lagern. Ich habe da noch so ein altes Erbstück von meinen Großeltern. Das Bettchen, das mein Großvater einst für meine Mutter gebaut hat.

Soll ich meinem Mann Bescheid geben, dass es losgeht?

Ich möchte diese Stille in mir so gerne noch festhalten. Diesen magischen Moment, bevor alles anders wird.

***

»Wie immer mit Milch und Zucker?«

Madlena lächelte geheimnisvoll, während sie ihrem Schwager den Kaffee reichte. Gregor studierte interessiert eine Bauanleitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er nahm die unbestimmte Verheißung, die in der Luft lag, nicht wahr.

»Ja, bitte mit Milch und Zucker. Sehr geschickt, dein Großvater.«

Madlena fühlte sich wie auf Wolken getragen, als sie zurück in die Küche ging.

»Ja, er hat sich viel mit Holz befasst«, rief sie. »Dieses Bettchen ist noch eines seiner einfacheren Objekte. Er hat auch sehr filigrane Modellschiffe, Wanduhren, Nähkästchen und so etwas gebaut.«

›Was für eine merkwürdige Situation‹, dachte sie. Das Kaffeekochen, der Schwager in ihrem Wohnzimmer, ihr Mann bei der Arbeit im Keller. Und sie. Keiner ahnte etwas. Sie erwartete etwas so Großes. Etwas viel Gewaltigeres. Alles um sie herum schien ihr so unwirklich. Sie nahm alles wie durch den Filter einer anderen Dimension wahr.

»Hier, bitte, deine Milch, Gregor. Ich hoffe, Frischmilch ist in Ordnung. Ich habe leider keine Konservenmilch da. Du weißt, wir trinken keinen Kaffee.«

»Danke, Madlena, das ist völlig okay.«

Entspannt ließ sich Madlena in ihren Sessel gleiten, den kugelrunden Bauch vorsichtig mit der rechten Hand haltend, während sie sich mit der linken auf die Armlehne stützte.

»Was treibt denn dein Mann noch am heiligen Sonntag?«, fragte Gregor, dem das geschäftige Treiben aus dem Keller nicht entgangen war, neugierig lauschend.

»Ich habe ihm schon Bescheid gegeben, dass du da bist. Er kommt gleich. Das Bettchen für Maya ist noch nicht ganz fertig. Ach, entschuldige, Gregor, du magst doch so gerne diese Cappuccino-Keks-Dinger.«

Mit einer unbestimmten Handbewegung deutete Madlena auf den Schrank hinter sich, in dem sie allerlei Naschereien aufbewahrte. Sie rutschte auf die Sesselkante vor, um sich wieder aus ihrem gemütlichen Sessel hochzubugsieren, als Alexander in der Tür erschien.

»Nee, bleib bloß sitzen, Madlena.« Leichtfüßig sprang Gregor auf die Füße und war mit wenigen Schritten bei seinem Gastgeber. Übermütig drosch er seinem Schwager auf die Schulter.

»Na, altes Haus? Ist nicht mehr lange, oder?«

Ein verhaltenes Lächeln schlich sich auf Alexanders Lippen, das die Augen jedoch nicht erreichte. Ihm war noch nicht klar, wie er der Zukunft entgegensehen sollte. Da rollte etwas auf ihn zu, was er wohl gewollt hatte, ihm aber dennoch schlaflose Nächte bereitete.

»Na ja, in ein paar Tagen könnte es losgehen. Ich habe eben noch ein paar Klötze zurechtgesägt, damit wir die Matratze des Bettchens etwas höher lagern können. Dann müssen wir uns nicht so zu dem Kind runterbücken.«

Zu dem Kind runterbücken. Alexander war ein Meister darin, seine Gefühle und Gedanken vor der Welt da draußen zu verbergen. Viel zu groß war die Gefahr, den verletzlichen Kern, sein geschundenes Inneres dem unberechenbaren Miteinander im Außen preiszugeben. Mit diesem festgefrorenen Lächeln auf den Lippen stand er da, seine Arme hingen steif an seinem Körper herab. Unsicher, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Ganz anders sein Schwager. Dieser erfahrene, überaus stolze Vater zweier Kinder fegte um den Wohnzimmertisch, wie immer voller Lebenslust und sprühend vor Elan, und genehmigte sich noch einen kräftigen Schluck aus seiner Kaffeetasse.

»Ach, ihr zwei«, sinnierte er, »wird echt Zeit, dass unsere beiden Mäuse Verstärkung bekommen.«

Er, der unerschütterliche Charakter und stets verlässlicher Fels in der Brandung für seine kleine Familie, nahm solche Signale der Hilflosigkeit nicht wahr. Abstrakte Ängstlichkeiten und Gedankenmodelle, die ihren Nährboden aus längst überlebten, aber vergessenen Dramen bezogen, existierten in seinen Vorstellungen nicht.

»Ich wollte euch auch nur schnell ein paar Sachen vorbeibringen, die Christine für euch herausgesucht hat. Guckt einfach, was ihr davon gebrauchen könnt. Ich hab davon ja keine Ahnung.«

Sein typischer »Das-haben-meine-Mädels-organisiert-ich-bin-ja-nur-der-Bote«-Blick streifte die vielen Tüten, die er neben sich abgestellt hatte. Madlena dankte es ihm nochmals herzlich und ließ einen lieben Gruß an ihre fürsorgliche Schwägerin ausrichten.

»Und jetzt erzähl schon, ihr seid gerade bei den letzten Vorbereitungen?«, wandte sich Gregor neugierig an den werdenden Vater. Madlena setzte ein Gesicht auf, als wäre ihr noch etwas Dringendes eingefallen. Abermals machte sie sich an das schwierige Unterfangen, sich jetzt doch noch einmal aus ihrem Sessel zu erheben.

»Entschuldigt ihr mich noch einmal kurz?«, kam sie stöhnend auf die Füße. Sie wusste ihren Besucher jetzt in guten Händen. Eine gute Gelegenheit, sich noch einmal kurz zurückzuziehen. Noch einen letzten Moment allein sein vor einer ganz neuen, sicherlich alles verändernden Erfahrung. Sie genoss ihre Überlegenheit angesichts der Ahnungslosigkeit der Männer. Da war etwas, was bisher nur sie wusste. Ganz anders als ihr Mann sah sie der Ankunft ihrer Tochter voller Freude entgegen. So sehr hatte sie sich diesen Augenblick herbeigesehnt! Noch einmal zog sie sich zurück in das gemeinsame Schlafzimmer und setzte sich aufs Bett, um ungestört dieser überirdischen Stille zu lauschen, die sich in ihr ausgebreitet hatte. Was war das bloß? Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so getragen gefühlt. So vollkommen erfüllt von einer allumfassenden Ruhe, die tief aus ihrem Innern zu kommen schien. Alle Ängste, Aufregungen und die ewig plappernden Gedanken waren dieser Ruhe gewichen. Einer Stille, die nur sie hören konnte und die sie gerne für immer festgehalten hätte …

***

Holzminden 1967

Mit gekreuzten Knöcheln lehnte er an der Kommode. Neben dem schmalen Bett das einzige Möbelstück in dieser beengten Behausung. Die Handflächen rechts und links abgestützt, den Oberkörper leicht vorgebeugt, sah er aus, als wäre er bereit zum Sprung. Sein Blick starr auf die junge Frau gerichtet, die dabei war, seine Sachen aus dem großen, grünen Seesack, den er gerade erst gepackt hatte, wieder auf sein Bett zu verteilen. Sie ging dabei sehr sorgfältig und konzentriert vor. Unruhe spiegelte sich in seinen Augen. »Marlies, ich muss mit dir reden!« Die junge Frau reagierte nur unmerklich. Sie war nicht dumm. Schon seit Tagen nahm sie eine unheilvolle Spannung war, die diese Beziehung bedrohte. Subtil nur, doch mit von Tag zu Tag gnadenlos zunehmender Intensität. »Marlies, bitte!« Endlich stieß er sich ab und war mit zwei Schritten bei ihr. Behutsam nahm er ihre Hände, um ihre Aufmerksamkeit von der Tätigkeit auf sich zu lenken. »Marlies, hör mir bitte zu.« Zögernd hob sie ihren Kopf und blickte ihn unsicher an. Die Tränen, die kommen wollten, brannten in ihren Augen.

»Marlies, ich werde alleine nach München gehen!« Jetzt war es heraus und er wusste, sie würde es als Verrat an ihrer Liebe werten. Wie sollte sie auch anders! Er liebte diese Frau. Ehrlich und aufrichtig. Doch er wusste auch, sie würde an seiner Seite nicht glücklich werden. Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Dieser Moment, den sie seit Tagen fürchtete, überstieg ihre Kräfte. Ihr, die sonst immer fleißig etwas zu erzählen hatte, versagte die Stimme. Nur ein kurzes Schluchzen, das all ihrer aufgestauten Angst, ihrer Verzweiflung in einem einzigen erschütternden Laut Ausdruck verlieh, stahl sich aus ihrer Kehle. Tief traurig und resigniert sah er auf sie herab. In diese vor Kummer und Tränen geröteten Augen. Es zerriss ihm schier das Herz. Und doch musste er hier und jetzt die Weichen für ihrer beider Leben stellen. Und er wusste, es war richtig!

All die wunderbaren Monate, die sie zusammen hier im Wohnheim während ihrer Ausbildung zusammen verbracht hatten. Sie, so schön, so vertrauensvoll. Sie himmelte ihn an. Und doch würde sie seinen Lebensstil niemals akzeptieren können! Immer würde sie versuchen, ihn in ihre Vorstellungen zu pressen. Sie, die sich nur an klaren Regeln orientierte, strukturierten Systemen folgte. Festgezurrt in ihrem Korsett ergab sie sich ganz den Dogmen und kleinbürgerlichen Engstirnigkeiten ihrer Zeit.

Ganz anders als er. Ansgar. Ihm hatte die Welt so viel zu bieten. Sie brach gerade auf. Es war die Zeit der Freigeister und Revolutionäre. Flexibel und neugierig durchbrach er immer wieder alte Denkstrukturen. Überraschte sich selbst immer wieder neu mit nie da gewesenen Denkansätzen und Ideen zu möglichen Lebensmodellen. Ergab sich dem Rausch der Welt und ihr Treiben zu entdecken. Er lebte über seine Grenzen hinaus. Sein Geist, sprudelnd vor Lebensdurst, war den Begrenzungen seines Seins in der Materie oft schon meilenweit voraus. Profane Grundlagen zur Existenzerhaltung wie Essen, Kleidung oder eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit den Dingen, die ihn umgaben, waren diesem Mann eher lästig. Wo sollte das hinführen?

Würde sie sich selbst zu seiner Haushälterin degradieren? Sie, die keine andere Welt zuließ als die Banalitäten im Außen. Sie würde es für den Rest ihres Lebens zu ihrer Aufgabe machen, sein Gepäck zu organisieren, aus Sorge, dass die Wäsche knittern könnte. Sie würde sich nie Raum geben für eine philosophische, theoretische Sicht auf die Dinge. Nie innehalten und die Nichtigkeiten ruhen lassen. Gefangen in der Priorität des Pflichtbewusstseins. Zensiert von der Gesellschaft.

Und sie würde ihn bald hassen. Hassen für seine unverantwortliche, egoistisch liberale Lebensanschauung. Würde es hassen und es nicht ertragen, dass er sich nicht beherrschen, nicht reglementieren ließ – von ihr. Dass er sich nicht in ihre kleine, ordentlich strukturierte Welt pressen lassen würde.

Immer noch ruhte sein Blick auf ihr. Traurig, aber entschlossen. »Marlies, lass das jetzt!« Sanft nahm er ihr die Socken aus der Hand, die sie immer noch fest umklammert hielt. Vorsichtig schloss er sie in seine Arme. So vieles wollte er ihr mit dieser Geste sagen. ›Ich liebe dich so sehr und darum muss ich dich gehen lassen. Es war eine wunderschöne Zeit, die ich immer in meinem Herzen tragen werde.‹ Er sprach all das nicht aus. Es würde abgedroschen klingen. Gab es überhaupt etwas, das man in einem solchen Moment sagen konnte? Plötzlich erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Mit aller Kraft befreite sie sich aus seinen Armen und war mit wenigen Schritten an der Tür. Ohne sich noch einmal umzusehen, stürzte sie aus dem Raum auf den langen, dunklen Flur.

Blind vor Tränen, ohnmächtig vor Fassungslosigkeit taumelte sie zur Treppe. Sie spürte kaum, wie ihre Füße sie die Treppe hinunter trugen. Bleischwer. Der Schlüssel. Wo war der verdammte Schlüssel zu ihrem Zimmer. Sie wollte sich eingraben. Alleine sein mit ihrem Schmerz, der sie zu zerreißen drohte.

***

»Madlena, kommst du? Gregor möchte sich verabschieden.«

Wie lange hatte sie da gesessen? Noch immer im Zauber des Augenblicks gefangen, erhob sie sich von ihrem Bett und nahm die wenigen Schritte bis zum Treppenabsatz. Unten stand schon ihr Schwager im Mantel, bereit, sie zum Abschied in die Arme zu schließen, sie und ihre Kugel.

»So, haltet die Ohren steif und wenn ihr Hilfe braucht, sagt Bescheid!«

Ein letztes Grinsen vom Schwager, der nichts ahnte, und schon war er durch die Tür verschwunden. Jetzt war der Moment gekommen, da sie ihr Wissen mit ihrem Mann würde teilen müssen. Bedächtig schloss sie die Haustür hinter ihrem Besucher und richtete ihren Blick erwartungsvoll auf die Kellertreppe. Ihr Mann, der Vater ihres Kindes, war gerade noch einmal in dem Werkraum verschwunden, um die fertigen Stützen für das Kinderbett zu holen. Noch einmal ganz tief einatmen. Noch einmal ganz fest verankern, dieses Gefühl. Noch einmal ein Dankgebet gen Himmel senden, dass dieser Moment so perfekt war. Keine Hektik, keine Schmerzen, kein Schneechaos. Kein unabkömmlicher Ehegatte, der seine Teilnahme an einem anberaumten Tennismatch für unabdingbar halten könnte. Und sie steckte auch nicht alleine in einem Fahrstuhl fest oder befand sich weitab vom Parkplatz mitten im Wald. Nichts dergleichen! Absolute, unantastbare Ruhe! Der perfekte Moment für ihr persönliches Wunder!

Schritte auf der Treppe. Alexander wollte sich auf dem Weg nach oben gerade geschäftig an ihr vorbeischieben, als sie seine freie Hand in die ihre nahm. Durch die Berührung aus seinen Gedanken gerissen, blickte er ihr in die Augen und erkannte sofort, dass sie sich nur mit Mühe eines schelmischen Grinsens erwehren konnte. Doch schon im nächsten Moment brach sich dieses übermächtige Grinsen Bahn und ergoss sich strahlend über ihr Antlitz. Sie schien von innen her zu leuchten. All ihre Glückseligkeit trug sie jetzt, da sie sich entschieden hatte, ihre Vorfreude zu teilen, in einem einzigen Strahlen zur Schau. Beschwörend sagte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen: »Wenn du mit dem Bettchen fertig bist, können wir auch langsam los …«

»Jetzt? Wieso? Woher weißt du das?«

»Mir ist schon vor einiger Zeit die Fruchtblase geplatzt. Ich denke, wir sollten uns langsam mal auf den Weg machen.«

»Und da sagst du nichts?«

»Nur keine Eile, ist ja noch nichts passiert.«

Mit wenigen Schritten erklomm Alexander die Stufen in das obere Stockwerk des kleinen Reihenhäuschens. Etwas benommen und überrannt von der Nachricht, die ihm seine Frau soeben strahlend übermittelt hatte, sah er sich um. Im Kinderzimmer war schon alles vorbereitet. Neben dem Bettchen gab es einen Kleiderschrank aus Kiefernholz. Die Kommode, ebenfalls aus Kiefer, hatte er eigenhändig um einen Aufsatz erweitert, der als Wickeltisch dienen sollte. Daneben stand ein kleines Sofa, eine Sitzgelegenheit für Mutter und Kind. Die Messlatte hing auch schon an der Wand; dort würden sie die stolzen Erfolge des stetigen Wachstums ihrer Tochter für alle Zeit in das Holz gravieren. Es sah ganz gemütlich aus. Das Bettchen war hübsch mit einem Himmel und einem Nest ausgestattet. An den Fenstern, aus demselben Stoff, entsprechende Gardinen.

Alles bereit! Jetzt konnte es wohl losgehen.

»Bringst du bitte gleich die Tasche für das Krankenhaus mit herunter? Sie steht direkt hinter der Tür im Schlafzimmer.«

Tasche! Alexander stand noch immer unschlüssig mit den Holzklötzen in der Hand da. Als er es bemerkte, legte er sie eilig weg und griff nach der Tasche hinter der Tür. Jetzt war keine Zeit mehr für Klötzchen. Jetzt kam, was kommen sollte!

Auf dem Weg in die Klinik gab sich Madlena ganz bewusst ihrem nicht weichen wollenden unwirklichen Gefühl hin. Wie würde es sein, mit einer Maya? Wenn sie nach Hause kamen, würden sie zu dritt sein!

In der Klinik gab es erst einmal einen gehörigen Rüffel von der Hebamme.

»Da kommen Sie jetzt erst? Wie konnten Sie so lange mit einer geplatzten Fruchtblase warten? Das Kind ist ungeschützt, aufsteigende Keime könnten es gefährden!«

Madlena saß so zuversichtlich in ihrem geheimnisvollen Kokon, dass sie diese Maßregelungen kaum berührten.

»Wir sind ja jetzt da. Und nun? Wie geht es jetzt weiter?«

Da sich keinerlei Wehenfunktion einstellen wollte, schickte man Madlena mit ihrem Mann die Kliniktreppen rauf und runter. Sanfte Globuli sollten ihr Übriges tun. Doch der Erfolg war nur sehr mäßig. Die Schwester stellte ihr in Aussicht, dass, wenn sich die Geburt nicht von alleine einstellen würde, am nächsten Morgen mit einem Wehentropf nachgeholfen werden müsste. Das Kind musste raus! Innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach Blasensprung. So!

»Stiefelchen, was ist los? Mögen wir es dramatisch? Mama mag aber keinen Tropf und eine Geburt nach Zeitplan. Könntest du dir die Sache nicht noch einmal überlegen?«, verhandelte sie mit dem Ungeborenen in seiner angekratzten Behausung.

Die halbe Nacht führte Madlena Diskussionen mit ihrer Tochter. Doch am nächsten Tag musste, wie angedroht, gegen zwölf Uhr der unumgängliche Tropf gelegt werden. Madlena war auf alles gefasst. Gerüchte, dass künstlich eingeleitete Wehen um einiges unangenehmer sein sollen als der natürliche Vorgang, ließen sie dann doch nicht mehr kalt. Ihr Kokon hatte sie ausgespuckt; von dieser magischen, himmlischen Stille in ihr war leider nichts geblieben. Jetzt blickte sie der blanken Realität ins Auge – und die tat weh!

Voller Empörung schleuderte sie dem Arzt nach vier Stunden in den Wehen ein beherztes »Scheiße« entgegen. Wäre der Schmerz nicht so allumfassend gewesen, hätte sie in diesem Moment gerne über die sich jetzt als nur zu wahr entpuppenden Beschreibungen einer Geburt gelacht: »Es ist, als müsstest du einen Backstein quer ausscheißen!« Wie obszön. Aber es traf des Pudels Kern leider nur allzu exakt. Der anwesende Arzt, der seit Kurzem zwischen ihren Beinen lauerte, warf ihr einen verständnislosen Blick zu. Was wusste der denn schon von der Ungerechtigkeit der Bedingungen, unter denen alle Frauen dieser Welt ihre Kinder ins Leben entlassen mussten?

Doch dieser Schrei, der ihr herausgerutscht war, nachdem sie sich aller Selbstkontrolle beraubt fühlte, war es wohl auch, der Maya endgültig den Weg in ihr Leben bahnte. In diesem magischen Augenblick, als ihr Kind das Licht der Welt erblickte, waren auch für Madlena aller Schmerz, alle Ungerechtigkeiten, alle Pein vergessen. Da war nur noch sie! Makellos, einfach perfekt lag sie da. Wütend schreiend, strampelnd und wunderschön! Madlena konnte nicht anders, als ihre Tochter unentwegt anzustarren. Da war es also, dieses Geschöpf, das sie in den letzten Monaten jeden Morgen mit einem sanften Klopfen gegen die Bauchdecke begrüßt hatte. Dieses Menschlein, das immer wieder Purzelbäume in ihrem Innern zu schlagen schien und zur Erinnerung an seine Anwesenheit ständig seine kleinen Füße kraftvoll gegen die Wand seiner Behausung gestemmt hatte.

Noch immer versunken in fassungslose Betrachtungen, nahm sie ihre verschmierte Tochter in Empfang. Gerade noch wütend zeternd ob des unhaltbaren Umstandes, dass man sie gerade ihrer Nestwärme beraubt hatte, schmiegte sich das kleine Bündel nun einigermaßen versöhnt an die warme nackte Haut der Mutter. Vertraut war das! Die Stimme der Mama, das Gefühl altvertrauter Zweisamkeit. Alles gut. So konnte es bleiben!

***

Werneck 1969

Wohlig räkelte sie sich in dem warmen, betörend nach Rosen duftenden Wasser. Ganz dekadent lagen die vorgewärmten, flauschigen Badetücher rechts von ihr auf der hübschen, mit Ornamenten verzierten Truhe.

Dutzende Kerzen sorgten für eine romantische Stimmung. Ein hochwertiger Kristallkelch, gefüllt mit Champagner in ihrer Hand, machten die Bemühungen ihrer Tante, ihr ein unvergessliches Erlebnis zu bereiten, vollkommen.

Es war der Tag ihrer Hochzeit. Ihr weißes bodenlanges Kleid hing sorgsam auf einem Bügel im Schlafzimmer. Schon bald würde sie seine Frau sein!

Erinnerungen vom gestrigen Abend stiegen in ihr auf. Sie hatte sicherlich eine zu blühende Fantasie! Ärgerlich schüttelte sie den Kopf, stellte das Sektglas auf dem Badewannenrand ab und tauchte unter. Sie würden heiraten. Heute noch!

Zart wie das Schlagen von Schmetterlingsflügeln regte sich etwas in ihrem Unterleib. Sie war im vierten Monat schwanger. Gut, dass man den Bauch in dem Kleid noch nicht würde sehen können!

»Kann ich dir helfen? Du sagst, wenn du so weit bist!« Freundlich drang die Stimme ihrer Tante durch die geschlossene Badezimmertür. »Du hast recht, ich bin schon ganz aufgeweicht. Ich wasche mir nur noch schnell die Haare. Fünf Minuten, ja?« Mit einem tiefen Seufzer griff Marlies nach der Shampooflasche. Rosenduft! Die Tante hatte wirklich an alles gedacht. Ein dankbares Lächeln huschte über ihr Gesicht.

Etwas wehmütig löste sie den Stöpsel aus der Wanne und ließ das duftende Nass entweichen. Nun würde sie sich wohl aus der sanften, tragenden Umarmung lösen und ihrem großen Tag entgegentreten. Entschlossen wickelte sie ihren jungen Körper in das warme Badetuch. Samtig fühlte sich ihre Haut an. Der Badezusatz hatte ihr gut getan. Ein anderes Tuch flocht sie sich wie einen Turban um ihren Kopf. Mit einem aufmunternden Blick, so als wollte sie sich selbst Mut machen, öffnete sie die Tür zum Badezimmer.

»Danke Adele – es war wunderbar!« Lächelnd blickt sie ihrer Gönnerin entgegen. »Das freut mich. An einem solchen Tag sollte man sich fühlen wie eine Königin«, entgegnete Adele wissend. Die Zufriedenheit, dass sie ihrer Nichte eine Freude hatte machen können, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Marlies lachte: »Das ist dir allerdings gelungen!« »Dann wollen wir mal sehen, dass wir dir eine ebenso königliche Frisur zaubern.«

***

»Na Wolfgang, noch ein Schnäpschen?« »Kann nicht schaden«, entgegnete der Angesprochene und nahm vorsichtig das dargebotene, übervolle Glas in Empfang. »Auf ex, mein lieber Schwager. Jetzt ist es vorbei mit der Freiheit.« Routiniert leerte Wolfgang das Glas und genoss es, wie die klare Flüssigkeit seinen Schlund für einen Moment in ein brennendes Inferno verwandelte.

»Und? Noch einen? Auf einem Bein lässt es sich doch nicht so gut stehen.« »Nein, danke!« Wolfgang winkte lachend ab. »Ich will meine Hochzeit noch nüchtern erleben. Später bestimmt!« Vertraulich legte er seiner zukünftigen Schwägerin den Arm um die schmale Schulter und drückte sie herzlich an sich. Diese balancierte die Flasche mit dem Obstler, etwas aus dem Gleichgewicht gekommen, in der Rechten und das volle Glas in der Linken. Keck lachte sie dem zukünftigen Mann ihrer großen Schwester ins Gesicht und prostete ihm zu. »Auf dein Wohl, du Fast-Ehemann.« ›Ein nettes Ding, die Kleine‹, dachte er sich. Süße siebzehn und so appetitlich anzuschauen. Sie war so niedlich in ihrer Hemmungslosigkeit.

Aber jetzt wurde es doch langsam Zeit. Die Trauung war für 13.00 Uhr angesetzt. Es gab noch ein Stück zu fahren und er wollte seine Braut nicht warten lassen.

***

Kritisch warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Adele hatte gute Arbeit geleistet. Ihr Haar war fachmännisch aufgesteckt. Ihr Haupt gekrönt von einem schulterlangen Schleier, der von einem mit einer Textilrose verzierten Kamm gehalten wurde.

»Wunderschön!«, vernahm sie die weiche, angenehme Stimme ihres Onkels hinter sich. Stolz drehte sich Marlies herum, um sich ihm in ihrer ganzen Pracht zu präsentieren. Das Kleid ganz klassisch gerade geschnitten. Es bestand aus einem schlichten weißen Unterkleid. Darüber ein Mantel aus hauchzarter Spitze, nur gehalten durch eine weitere Textilrose auf Kragenhöhe. »Nur eines fehlt noch.« Geschickt wickelte Heinrich ein wunderbares Rosenbukett aus seinem Papier und überreichte der Tochter seines Bruders feierlich die üppige Pracht. Gerührt nahm Marlies das florale Kunstwerk entgegen. »Er ist wunderschön geworden. Vielen Dank euch beiden. Vielen Dank für alles!« Herzlich umarmte sie ihren Onkel Heinrich, dann ihre Tante. »So viel Mühe!« Verlegen drehte sie ihren Brautstrauß in den Händen. Doch noch bevor betretenes Schweigen sich der Stimmung im Raum bemächtigen konnte, ergriff Heinrich die Initiative. »So, ich würde sagen, jetzt ist es so weit! Der Wagen wartet im Hof auf dich. Dann lass dich begleiten in dein neues Leben.« Galant nahm Heinrich seine Nichte bei der Hand und hakte sie sicher unter. Ein zartes Rot auf ihren Wangen untermalte Marlies’ Jugend und Unsicherheit. Dankbar ließ sie sich von ihrem Onkel zu dem Auto begleiten, das sie gleich zur Kirche bringen würde. Zu ihrem zukünftigen Ehemann.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Jetzt war keine Zeit mehr für Zweifel. Bilder der Erinnerung, die kommen wollten, von Enttäuschung und Verlust, dürften jetzt keine Rolle mehr spielen. Alles war arrangiert. Das Baby in ihrem Bauch. Alles würde gut werden! Die Liebe besiegt alles!

Sie war eine strahlende Braut. Lächelnd trat sie ihrem Bräutigam entgegen. Und lächelnd blickten sie sich an, während sie die letzten Schritte bis vor den Altar gemeinsam antraten. Sie atmete tief ein. Ihre Lider flatterten.

Sie war nervös. War das nicht normal? Willst du diesen hier anwesenden Wolfgang Kolb zu deinem rechtmäßig angetrauten Ehemann nehmen? Ihn lieben und ehren, bis dass der Tod euch scheidet, so antworte mit »JA«. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz ließ pochend ihren Brustkorb erbeben. »Ja« – jetzt war es versprochen.

Fest zurrte sie den Mantel der Illusionen um sich. Entschlossen gab sie sich hin. Dem Leben mit ihm.

***

Ganze acht Tage verbrachte das frisch gebackene Gespann in der Obhut der Klinik. Von Komplikationen konnte man da nicht wirklich reden, jedoch hatten es Madlenas Brüste bei der Produktion des ersten Lebenssaftes doch etwas zu gut gemeint. Die Milch sprudelte in solchen Mengen, dass Madlena viele andere Babys hätte mitversorgen können. Es bedürfte einiger Maßnahmen und entschlossener Versuche, den Fluss einzuschränken. Mit Abstilltabletten, eimerweise Quark aus der Klinikküche und Abpumpversuchen bemühte sich das gesamte Personal, dem Problem Herr zu werden, damit die kleine Familie endlich gefahrlos den heiß ersehnten Heimweg antreten konnte.

Am 28. Februar, eine Woche nach dem Karnevalstrubel, war es so weit. Endlich konnten Mutter und Kind den ersten Schritt gemeinsam in die Welt hinaus wagen. Madlena hatte gerade den schweren roten Morgenmantel in ihrer Tasche verstaut und sah sich noch einmal prüfend in dem Wöchnerinnenzimmer um, um sicherzugehen, dass sie auch nichts vergessen hatte, als sich vorsichtig ein Kopf durch den Türspalt schob.

»Na, ihr zwei? Schon alles startklar? Hey, da ist ja jemand wach!« Frisch gewickelt und verpackt lag Maya in ihrem Bett. Mit weit aufgerissenen Augen lauschte sie dem Treiben im Zimmer und ahnte, dass nun große Veränderungen anstanden. Ihre Tante Christine, die sie gerade entdeckt hatte, war mit wenigen Schritten bei ihr und hob sie behutsam aus dem Bettchen. Wissend blickte sie von dem Baby auf und lächelte ihre Schwägerin an.

»Geht es dir gut, Madlena? Hoffentlich hast du dir noch einmal eine gute Mütze Schlaf gegönnt, bevor du jetzt ohne die Nachtschwestern hier auskommen musst.«

»Na, wirklich Mitleid kennen die hier auch nicht. Wenn das Kind Hunger hat, musst du ran und der Frühstücksappell zerrt dich gnadenlos morgens um 6.00 Uhr aus dem Schlaf«, entgegnete Madlena gut gelaunt. »Außerdem machen mir meine beiden Übereifrigen hier immer noch schwer zu schaffen. Die fühlen sich an wie Zementsäcke. Da finde ich sowieso keine Schlafposition.«

Lachend betrachtete sie ihre soeben gerügte Oberweite und berührte vorsichtig, als könnte sie etwas zerbrechen, mit dem Handrücken die linke Brust.

»Aber das wird schon. Zum Glück trinkt Maya so zuverlässig. Wenn sie nicht wäre – ich wäre wohl längst geplatzt.«

Zärtlich strich sie ihrer kleinen Tochter, die sich zufrieden von ihrer Tante in den Armen wiegen ließ, über den schon recht kräftigen dunklen Haarschopf.

»So, ich denke, ich habe dann auch schon alles«, sagte sie und blickte sich suchend um. »Hast du den MaxiCosi mitgebracht?«

»Der steht draußen vor der Tür. Hier, nimm mal die Maus, ich hole ihn schnell herein, dann können wir sie direkt mal Probe sitzen lassen.«

In dem Autositz für Kinder bis sechs Monate wirkte Maya noch so zerbrechlich und winzig. Kaum zu glauben, dass sie da schon in wenigen Monaten herausgewachsen sein sollte.

»Das ist so lieb von dir, dass du uns abholst!«, bedankte sich Madlena noch einmal herzlich bei ihrer Schwägerin. »Was soll man mit nur drei Tagen Sonderurlaub? Es ist doch auch noch einmal ein ganz besonderer Moment, das erste Mal gemeinsam nach Hause zu kommen. Ich bin so froh, dass du dabei bist und wir nicht alleine in ein leeres Haus kommen. Danke! Wirklich!« Christine wusste genau, wie die Frau ihres Bruders empfand. Man fühlte sich so verletzlich; jedes Ereignis schien eine viel größere Intensität zu haben. Es war nicht leicht, dem Hormonhaushalt so ausgeliefert zu sein; machtlos den Instinkten folgen zu müssen, die die Natur zum Schutz des Kindes eingerichtet hatte; beobachten zu müssen, wie die sonst so taffe, selbstständige Frau einer übervorsichtigen, von übertriebenen Emotionen geplagten Mutter Platz machte.

»Aber es ist mir doch eine Ehre, meine kleine Nichte nach Hause zu holen. Ist ja schließlich auch für mich das erste Mal, dass ich Tante werde. Na ja, so eine richtige Tante jedenfalls. Die anderen sind ja quasi nur angeheiratet«, lachte sie. »So, nimmst du die Maus und ich trage die Tasche? Wow, was hast du denn da alles drin?«

Christine schulterte das schwere Stück und klemmte sich auch noch die Babydecke unter den Arm.

»In acht Tagen kommen schon ein paar Dinge zusammen. Wir mussten uns wegen der Sonderlieferungen schon ganz schön hier einrichten«, grinste Madlena und ging ein wenig in die Hocke, um mit beiden Händen den MaxiCosi zu ergreifen, in dem ihre Tochter schon gut verschnürt auf ihren ersten Reiseantritt wartete. »Dann wollen wir mal, mein Stiefelchen.«

Zärtlich gab Madlena ihrem Baby einen Kuss auf die halb bemützte Stirn und nahm den Sitz vom Bett.

»Dann mal los.« Mit einem Lächeln voller Vorfreude und respektvoller Erwartung sah sie sich noch einmal zu ihrer Schwägerin um, die ihr startbereit zunickte. Entschlossen, mit dem MaxiCosi am Arm, schritt Madlena durch die Tür und trat auf den Flur. Die ersten Schritte in einen neuen Lebensabschnitt.

So, 07.09.2014 / Tag 333

Fünf Monate sind vergangen seit dem Umzug. In mir scheint alle Rebellion, aller Widerstand, aller Kampfgeist zu erlöschen. Die Hoffnung schwindet, dass ich bald wieder aus unserem Auffanglager hier herauskomme. Allmählich beginne ich mich mit den Gegebenheiten hier abzufinden. Resigniert, melancholisch, gleichgültig.

Ich habe mir das Zimmer von meiner Tochter etwas hergerichtet. Hier kann ich nachts herumtigern, wenn ich nicht schlafen kann, und hier kann ich schreiben.

Draußen im Garten sind die Nachbarn dabei, den wunderbaren Grüngürtel vor dem Fenster zu vernichten. Immer weiter frisst sich der Bagger durch die Natur, bestehend aus gerade schwer tragenden Pflaumenbäumen und den im Frühjahr so zart blühenden Büschen. Alle werden sie Opfer des Baggers. Eine ordentliche Mauer soll dahin! Ich bin empfindlich, spüre den Tod der Pflanzen. Habe kaum noch Tränen. Unsere Vermieterin läuft mit einer Freundin lachend durch den Garten, der zu unserem Mietanteil gehört. Ungefragt. Das alles gehört ihr! Ich sitze teilnahmslos hinter meinem Computer und sehe zu, wie sich die Welt da draußen, mit der ich mich sowieso schon nicht abfinden konnte, noch unerträglicher wird. Noch ein Busch, noch ein Baum fällt. Und die Menschen da draußen haben Spaß bei ihrer Arbeit. Ich hoffe, dass man mich nicht bemerkt hinter meinem ungeschützten, bodenlangen Fenster ohne Gardinen. In den anderen Räumen habe ich die Rollläden unten gelassen. Ich will nichts zu tun haben mit diesem Ort, dieser Umgebung, diesen Menschen. Sie lachen. Sicher sind sie nett. Aber ich fühle mich wie aus einem Puzzlespiel gefallen. Nicht mehr dazugehörig.

Die Fliegenplage reißt nicht ab. Gerade erst wieder vierundzwanzig Stück mit der elektrischen Fliegenklatsche erschlagen und immer noch schwirren mir unzählige um den Kopf. Die Decke übersät mit Überresten, nun stille Zeugen, dass solche Kämpfe in der Vergangenheit häufig stattgefunden haben müssen. Noch so etwas, was die Vormieterin uns wohlweislich verschwiegen hat. Ich kann es ihr nicht verübeln. Sie hatte zwei Kinder! Wollte nur hier heraus. Irgendwie heraus aus dem dreijährigen Mietvertrag, den wir jetzt absitzen müssen. Auf dem Boden. Rüsselkäfer. Winzig klein, aber zu Hunderten. Jeden Tag sauge ich sie mehrfach mit dem Staubsauger ein. Woher sie wohl kommen? In der Badewanne Silberfische. Nicht so viele, immer mal wieder ein paar. Die Luft, draußen gerade sommerlich warm, ist hier drinnen feuchtkalt. Im Büro Stockflecken. Wir haben erst gar nicht angefangen, hier zu renovieren. Sicherlich wären uns hier und da Teile der Wände entgegengekommen, wenn wir die Tapeten entfernt hätten. Sie hängen alle noch da, wo die Vormieter sie hingeklebt haben. Nichts ist so, wie ich es machen würde. Unsere Möbel wirken wie Fremdkörper in einer fremden Umgebung, die sie nicht aufnehmen. Alles wirkt wie eingefroren. Mein ganzes Leben. Und ich. Wir haben keine Kraft, daran etwas zu ändern.

Wir leben jetzt mit Fliegen, Käfern, Silberfischen und feuchtkaltem Raumklima. Mit dem siebzig Grad heißen Wasser aus der Leitung, gegen das wir nichts ausrichten können, weil uns hier ja nichts gehört. Und einer Heizung, die im Keller vollpower aus dem geöffneten Fenster heizt, das nicht geschlossen werden darf. Wir werden nur die Kosten dafür tragen dürfen. Aber da ist einfach keine Kraft mehr zu kämpfen. Einfach keine Kraft mehr. Es ist wie ein Gefängnisaufenthalt. Nur dass wir Ausgangsrecht haben und oft in den Urlaub fahren können. Aber das Leben kann erst in drei Jahren weitergehen. Erst dann sind wir frei, um zu versuchen, uns etwas Neues aufzubauen. Zwei Jahre und sieben Monate!

Verflucht

Eine Woche war vergangen, seit Mutter und Tochter aus der Klinik nach Hause gekommen waren. Längst war alles zur Routine geworden. Madlena hatte alles perfekt im Griff. Vorbildlich führte sie den Haushalt, versorgte ihre Tochter und bemühte sich, den Wünschen ihres Mannes gerecht zu werden. Sie war eine Powerfrau, die ihren persönlichen Schwächen keinen Raum ließ, solange sie es irgendwie vermeiden konnte.

Stolz trug sie gerade den selbst gebackenen Kuchen auf. Ihre Tochter lag zufrieden brabbelnd in ihrem Reisebettchen, das Madlena im Wohnzimmer aufgeschlagen hatte, um sie tagsüber sicher betten zu können.

»Du siehst schon wieder aus, als sei nie etwas geschehen. Woher nimmst du nur innerhalb so kurzer Zeit diese perfekte Figur?« Anerkennend ließ Susanne den Blick über Madlenas schlanke Gestalt gleiten.

»Ich glaube, dazu habe ich nicht viel beigetragen«, gestand Madlena wahrheitsgemäß. Ihre lange, schlanke Gestalt neigte nicht zu Pölsterchen. Ganz im Gegenteil.

»Ich konnte einfach monatelang kaum etwas essen, weil mir permanent übel war. Ich brachte einfach nichts hinunter. Zwischendurch habe ich mich selbst gefragt, wie ich Maya und mich mit nur einem Apfel oder einem Brot am Tag durchbringen soll, aber es hat wohl gereicht. Jedenfalls habe ich dadurch kein Gramm zu viel angesetzt. Nichts, was nicht sofort mit der Niederkunft weg gewesen wäre. Also keine Zauberei.«

Aber insgeheim freute sich Madlena natürlich über das Kompliment. Hatte sie sich doch vor neun Monaten für immer von ihrer makellosen Jungmädchenfigur verabschiedet, in der Erwartung, mit einem von Streifen übersäten Hängebauch in die Mutterschaft entlassen zu werden. Tatsächlich war das Ereignis spurlos an ihr vorbeigegangen. Mal wieder daran erinnert, schickte sie abermals einen Dank an ihre guten Anlagen. Während sie den Kaffee ausschenkte, bediente sich ihr Ex-Mann schon am Kuchen und naschte ungeniert.

»Also kochen und backen konntest du schon immer gut.« Mit vollem Mund grinste er seine neue Lebensgefährtin an, wohl als freche Aufforderung gemeint, so etwas doch auch einmal zu versuchen. Susanne ließ sich, wie immer, davon nicht provozieren. Sie war hochintelligent, und mit einem solchen Intellekt ließen sich banale Haushaltsarbeiten nicht vereinbaren. Madlena fand diese Einstellung schon immer sehr amüsant. Susanne konnte Bücher querlesen und speicherte Wissen wie ein Computer. Machte einen Hochschulabschluss im Fernstudium nach dem anderen und verbrachte ihre gesamte Zeit ausschließlich mit philosophischen Lebensfragen zur Überwindung ihrer Angststörung. Auf der anderen Seite war sie jedoch nicht in der Lage, sich selbst ein paar Spaghetti zu kochen. Vor Intelligenz verhungert sozusagen. Madlena fragte sich so manches Mal, wenn sie ihre Nachfolgerin so beobachtete, ob zu viel Intelligenz einen tatsächlich für die elementaren Dinge des Lebens unempfänglich machen konnten – bis hin zur Lebensunfähigkeit. Aber solange man ein soziales Netz um sich gesponnen hatte, das einen respektierte, darin bestärkte und unterstützte, mochte das funktionieren.

Kopfschüttelnd lächelte sie auf Udo hinunter. Die Ehe mit diesem Mann war eine Farce gewesen. Doch nun, da sie geschieden war und Susanne diese Last geschultert hatte, konnte sie diesen Mann und alles, was er für sie war, entspannt aus sicherer Distanz betrachten.

»Jetzt, wo du dich eingehend davon überzeugt hast, dass der Kuchen schmeckt, könntest du mir vielleicht auch ein Stück geben, Udo?«, meldete sich Ottmar zu Wort.

Ottmar, ein Kommilitone von Udo und aus früheren Zeiten gemeinsamer Bekannter von Udo und Madlena, reichte auffordernd seinen Teller über den Tisch. Udo, so beschäftigt mit seiner Beute und mit vollem Munde kauend, gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er sich noch einen Augenblick gedulden müsse.

Madlena war das alles nicht neu. Ergeben lächelnd stellte sie die Kaffeekanne ab und nahm den dargebotenen Teller entgegen.

»Das große Stück für dich, Ottmar?« Sie kannte ihre Besucher gut. Vielleicht zu gut. Verschmitzt wie ein kleiner Junge nickte der Angesprochene.

»Wenn du hast. Du weißt ja, ich habe immer Hunger. Und ich bin immer froh, wenn ich mal etwas selbst Gemachtes bekomme – nach all dem Fertigzeug und Mensafraß.«

Klar, das wusste sie. Fertige Teller mit Alufolie, die nur noch in die Mikrowelle geschoben werden mussten. Fünf Kartons für die Woche. Am Wochenende essen bei Mama.

Madlena fühlte sich wohl in ihrer Rolle. Sie war ihren Besuchern eine gute Gastgeberin, dem Kind ging es gut, ihr Mann konnte zufrieden mit ihr sein. Stolz auf sich, dass sie so gut funktionierte, dass alles so gut funktionierte. Im Vorbeigehen beugte sie sich zu ihrer Tochter herunter und grabbelte sie am Bauch. Maya gluckste vor Vergnügen und strampelte ausgelassen mit ihren Beinchen. Madlena war zufrieden. So zufrieden … als sie ein kurzes Kribbeln in den Beinen verspürte. Nur ganz kurz. Nur ganz leicht. Sie musste sich nur kurz einmal hinsetzen. Es war ja auch alles getan. Jetzt würde sie sich selbst erst einmal ein Stück Kuchen gönnen.

***

Es wurde ein ausgelassener Nachmittag. Die Kuchenplatte war bald geleert und Ottmar kratzte sich auch noch die letzten Krümel zusammen. Madlena wusste, dass sie nicht lange mit dem Abendessen warten durfte. Es stand alles bereit.

»Das war ein netter Abend.«

Madlena war noch voller Kraft und Stolz, die sie aus den gelungenen Stunden gezogen hatte. Die Gäste waren fort. Wohlgelaunt hatten sie sich soeben verabschiedet, um die knapp einstündige Heimreise anzutreten. Alexander grummelte etwas in sich hinein. Gab keine Antwort.

Augenblicklich war die ausgelassene Stimmung, die gerade noch den Raum erfüllt hatte, wie abgeschaltet. So als hätte jemand die Nadel eines Plattenspielers vom Tonträger geschubst. Stille. Wie eine Windhose, die man schon von Weitem sehen kann, näherte sich ein wohlbekanntes Empfinden, dessen sie sich nicht würde erwehren können: Angst! Für Tränen, mit denen sie diesem Gefühl Ausdruck hätte verleihen müssen, war hier kein Platz. War in ihrem Leben kein Platz! Wie albern auch. Nur weil ihr Mann ihr keine Antwort gab? Und doch. Was hatte sie falsch gemacht? Was hatte ihm nicht gefallen? Was hätte sie tun müssen, damit er jetzt nicht so übellaunig war? Diese Spirale in ihrem Kopf, dieses Ding, das sich immer weiter durch ihre Schädeldecke zu bohren schien, drehte sich. Immer weiter, immer tiefer. Madlena konnte das nicht zulassen. Sie versuchte die abweisende Haltung ihres Mannes zu ignorieren.

»So, dann komm du jetzt mal her, mein Sternchen. Da riecht es ja verdächtig nach einer neuen Windel, hm?«

Zärtlich nahm sie ihre Tochter aus ihrem Reisebettchen im Wohnzimmer und trug sie in den ersten Stock. Entschlossen stemmte sie sich gegen dieses Gefühl, das sich immer mehr Raum in ihrem Innern zu verschaffen schien. Sich ausbreitete in jeden Winkel ihres Seins, als hätte jemand eine Nebelrakete in ihr entzündet, die jetzt langsam ihre Wirkung entfaltete und sie völlig in Besitz zu nehmen drohte.

»Und du warst so lieb heute, mein Schatz. Geht’s dir gut, ja?«

Ihre Tochter dankte ihr für die Aufmerksamkeit mit einem entzückenden Lächeln. Lustvoll quietschend ließ sie sich anstandslos von Madlena wickeln und strampelte dabei ausgelassen mit ihren strammen Beinchen. Madlena lächelte. Was für ein Glück, dass sie da war. Ihr Mann Alexander und sie waren beide nicht die Fruchtbarsten. Eher hätte sie den Kinderwunsch aufgegeben, bevor sie sich freiwillig in die Tretmühle künstlicher Möglichkeiten begeben hätte.

Immer im Bewusstsein, welch besonderer Schatz ihr da zuteil geworden war, nahm sie ihre Kleine vom Wickeltisch und trug sie wieder hinunter ins Wohnzimmer. Sie wollte noch schnell den Wohnzimmertisch abräumen, bevor Maya nach ihrer Mahlzeit verlangte. Wo war bloß ihr Mann? Das war ein Phänomen, das sie nie so recht ergründen konnte. Ihr Mann war oft zu Hause und doch nicht da. Er hatte kein eigenes Zimmer, keine richtige Werkstatt, in der er sich zum Handwerken zurückziehen konnte. Es gab einen Fitnessraum. Im Keller. Doch auch von dort drangen keine Laute nach oben. Sie rief nicht nach ihm. Das schätzte er nicht. Bemüht, ihre ängstlichen Gedanken nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, trug sie die Überreste des abendlichen Gelages in die angrenzende Küche. Eine Küchenzeile aus foliertem Holzimitat mit einer passenden Tischgruppe unter dem Fenster. Das alles hatte es schon gegeben, bevor sie vor fast zwei Jahren hier einzog. Es war das Haus ihres Mannes. Ein Objekt, das schon so manche trübe Stunde lange vor ihrer Zeit hier gesehen hatte. Nicht zuletzt das Scheitern von Alexanders erster Ehe. Madlena hatte sich von Anfang nicht wohl hier gefühlt. Es war, als hätten diese Wände nichts als Traurigkeiten gespeichert. Die Wände waren so grau tapeziert, wie sich das Haus anfühlte. Doch es war Alexanders Steckenpferd, sein ganzer Stolz. So viel hatte er schon in dieses Heim investiert und es von Grund auf neu renoviert. Er war sehr geschickt in solchen Dingen, hatte ein gutes Gespür für die Schaffung von Raum und die Verarbeitung von Materialien. Doch trotz der optimalen Ergebnisse, die Alexander erzielt hatte, konnte es Madlenas sensiblen Geist nicht darüber hinwegtäuschen, dass diesem Haus etwas fehlte. Etwas, das nicht bewertbar, nicht messbar war. Diesem Haus war durch Äußerlichkeiten keine Atmosphäre einzuhauchen, die den Bewohnern ein Gefühl von Geborgenheit, ein Gefühl von Sicherheit, so etwas wie Nestwärme hätte schenken können. Dieses Haus war wie eine Hülle ohne tragende Substanz. So hohl wie eine Filmkulisse. So zehrend wie ein unbemerkter Bandwurm.

Im Wohnzimmer meldete sich Maya lautstark zu Wort. Ihr war jetzt doch eingefallen, dass sie mächtigen Hunger hatte. So plötzlich und keinen Aufschub duldend wie immer, forderte sie brüllend ihr Recht. Madlena, die gerade erst das Tablett abgestellt hatte, atmete einmal tief durch. Die Stimme ihrer Tochter wurde von Tag zu Tag kräftiger. Inzwischen konnten diese unerwarteten schrillen Töne doch empfindlich das Nervengeflecht in der Magengegend attackieren. Noch zart wie kleine Schmetterlingsflügel, zupften diese Töne an den empfindsamen Sensoren knapp über dem Bauchnabel.

»Na, Süße? Komm mal her, meine Motte. Das haben wir doch gleich.«

Routiniert legte Madlena ihre Tochter an und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Erleichtert sog ihre Tochter gierig an der dargebotenen Brust. Doch diese Stille und das Verurteiltsein zum Nichtstun brachte Madlena auch die unseligen Gedanken zurück, die sie so vehement zu verdrängen suchte. Alexander hatte sich nicht mehr sehen lassen. Aus Erfahrung nach unzähligen Versuchen wusste sie, dass es ihr keine Antworten bringen würde, Alexander zur Rede zu stellen. Ihn immer wieder zu fragen, was ihn bedrückte. Was man ändern könnte. Womit er unzufrieden war. Er würde nicht antworten. Das tat er nie. Er wurde stets ungehalten, schien immer auf der Flucht.

Es wurde langsam spät. Zeit für Maya, ins Bett zu gehen. Abermals kontrollierte Madlena die Windeln ihrer Tochter und wiegte sie noch eine Weile in ihren Armen. Maya liebte es, der Stimme ihrer Mutter zu lauschen, während die ihr ein Gute-Nacht-Lied vorsang. Sobald Madlena den Eindruck hatte, dass ihre Tochter zufrieden und kurz davor war, im Land der Träume zu versinken, bettete sie sie vorsichtig in ihr Bettchen unter den von kleinen, bunten Bärchen verzierten Himmel. Doch es dauerte nur Sekunden, und Maya war wieder hellwach. Zuerst wimmernd und dann mit diesem markerschütternden Stimmchen machte sie ihrem Unmut Luft. Das wurde jetzt zur Gewohnheit. Solange Maya in ihrem Bett lag und schlafen sollte, ließ sie sich durch nichts mehr beruhigen.

Alexander, endlich von dem Gebrüll alarmiert, erschien im Kinderzimmer.

»Du musst sie einfach schreien lassen. Sie muss lernen, dass sie nicht immer getragen werden kann. Sie muss auch alleine einschlafen können.«

Betreten blickte Madlena auf ihre Tochter herab. Er hatte ja recht. Es schien zur Manie zu werden.

»Komm jetzt – so geht das nicht! Sie wird sich schon beruhigen.« Ergeben ließ sie sich von ihrem Mann aus dem Zimmer führen.»Ich räume noch schnell das Wohnzimmer auf. Gucken wir gleich einen Film zusammen?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Ich komme gleich. Kannst ja schon mal gucken, was kommt.« Alexander eilte vor ihr die Treppen hinunter. Hinter ihr das Brüllen ihrer Tochter. Seufzend begab sie sich in die Küche, um das Tablett zu leeren, das noch immer dort stand, wo sie es vorhin abgestellt hatte.

Im Fernsehen lief ein seichter Sonntagabend-Film im Ersten. Doch so recht konnte sich Madlena nicht auf die Handlung konzentrieren. Auch Alexander wirkte angespannt. Ihre Tochter brüllte noch immer in unverminderter Lautstärke, dass die Wände wackelten.

In dieser Nacht wurde Madlena schweißgebadet wach. Das Bett war so nass, als hätte sie jemand mit einem Eimer Wasser übergossen. Musste sie sich ernsthaft Sorgen machen? In dem Versuch, nicht weiter darüber nachzudenken, wechselte sie die Bettwäsche. In diesem durchnässten Zeug zu schlafen wäre undenkbar gewesen. Unruhig versuchte sie wieder einzuschlafen. Ob sich das überhaupt noch lohnte? Gleich würde Maya wach werden.

***

Alexander war längst zur Arbeit gegangen. Er mochte es nicht, in seinem allmorgendlichen Rhythmus gestört zu werden, brauchte Ruhe, um sich auf den Tag vorzubereiten. Ein ausgedehntes Frühstück alleine in der Stille am Küchentisch, freie Bahn im Haus, damit seine Abläufe nicht behindert wurden. Da wirkte Madlena mit ihrer unkonventionellen Art eher wie ein Störenfried in seinem wohl durchdachten Morgenritual.

Er musste wohl schon vor einer Stunde das Haus verlassen haben, als Madlena aus ihrem unruhigen Schlaf erwachte. Sie wusste, in wenigen Sekunden würde Maya sich melden. Ein innerer Wecker, der sie kurz vor dem ihres Babys aus dem Schlaf holte, warnte sie vor, noch ehe ihre Tochter sie rufen musste. Der Tag konnte beginnen. Übernächtigt schälte sich Madlena aus dem Bett.

Wie erwartet: Maya war wach. Mit offenen Augen versuchte sie ihre Umgebung zu erfassen. Das Blickfeld der jungen Augen reichte nicht weiter, als sie selbst die Händchen ausstrecken konnte.

»Na, guten Morgen, mein Stiefelchen.« Zärtlich nahm Madlena ihre Tochter auf und trug sie zur Wickelkommode. »Dann wollen wir doch mal sehen, was die Nacht uns so beschert hat, hm?« Lächelnd begann sie Maya aus ihrem Strampler zu schälen. Noch dumpf waren die Erinnerungen vom Vortag, doch mit jedem Handgriff versuchten sie sich ihrer mehr zu bemächtigen. Sie fühlte sich ausgelaugt und erschöpft.

»Weißt du was, mein Schatz, wir zwei machen es uns jetzt noch einmal so richtig gemütlich. Du gehst jetzt noch einmal kurz in dein Bettchen, dass du mir nicht herunterfällst, und Mama macht sich nur eben schnell frisch, ja? Ich bin gleich wieder da!« Vorsichtig, das noch immer unsichere Köpfchen stützend, legte Madlena ihre Tochter noch einmal ab, bevor sie selbst mit ein paar Handgriffen ihre Bedürfnisse befriedigen konnte. Maya schien selbstvergessen und zufrieden. Kein Anzeichen, dass das Gebrüll von gestern Abend sich bald fortsetzen würde. Madlena genoss die Ruhe, das Idyll. Allein mit ihrer Tochter. Jetzt, da ihr Mann auf der Arbeit war, konnte sie sich einfach nur dem neuen Lebensgefühl hingeben und Mutter sein. Sie fühlte sich entspannt und richtig mit dem, was sie tat. Solange Maya zufrieden vor sich hinbrabbelte, nutzte sie die Zeit für noch einige Handgriffe mehr. Ein kurzes Frühstück, eine Tasse Tee, bis Maya schließlich ihren Hunger anzeigte.

»Na, meine Maus«, sagte sie sanft, »kein Grund zur Sorge.« Behutsam hob Madlena ihr Baby aus dem Bettchen, um es sich mit ihm im eigenen Bett bequem zu machen. Gemütlich polsterte sie sich in eine Lage, in der sie sich für einige Zeit der neuen Zweisamkeit hingeben konnte. Während Maya zufrieden ihre Mahlzeit an der Brust genoss, fühlte Madlena schon, wie die kurze Nacht zuvor ihren Tribut forderte. Es war so friedlich, so still. So, als würde es die Rebellionen in ihrem Kopf nicht geben. Sie dürfte abschalten. Für einige Momente.

Alexander war für klare Regeln. Eine davon war, dass Kinder nichts im elterlichen Bett zu suchen hatten. »Pass bloß auf«, hatte ihr Vater ihn bestärkt, »dass du gleich von Anfang an klare Grenzen setzt, sonst hast du sie mit achtzehn Jahren noch in deinem Bett!«

Madlena nickte ein. Nichts konnte sie jetzt davon abhalten, diesen Augenblick mit ihrer Tochter zu genießen.

***

Es sollten für eine lange Zeit die letzten entspannten Stunden für Maya und Madlena werden. Aus den handfesten Einschlafschwierigkeiten wurde ein Dauergebrüll, das auch den stärksten Nerven das Äußerste abverlangte.

Madlenas Beschäftigung bestand nur noch darin, ihre Tochter den ganzen Tag über beruhigend in den Armen zu wiegen, auf den Knien, im Kinderwagen oder in der Wippe zu schaukeln oder über die Schulter gelegt auf und ab zu tragen, wo auch immer sie gingen und standen.

Maya brüllte herzzerreißend, immerzu, stundenlang. Sie war untröstlich. Der Haushalt war längst geschafft, hektisch, nebenbei, immer begleitet vom Dauergebrüll ihrer Tochter. Als ihr Mann nach Hause kam, fand er seine Frau mit angespanntem Gesichtsausdruck, der ihm verriet, was in den letzten Stunden hier los gewesen war.

»Sollten wir nicht doch mal den Arzt fragen?«, erkundigte er sich sichtlich gereizt.

»Das habe ich doch schon längst getan. Ihr fehlt nichts. Sie sei eben ein Schreikind.« Alexander warf einen Blick in das puterrote Gesicht seiner Tochter.

»Ich gehe mich erst einmal umziehen«, beschied er, verschwand und kam nicht wieder.

Madlena wiegte ihre Tochter immer weiter. Versuchte mit allen Mitteln, sie zu beruhigen. Mit sich allein, beständig unter dem Eindruck dieses nie mehr enden wollenden Gebrülls, drängten sich längst vergessene Erinnerungen auf. Der zunächst zaghafte flüchtige Gedanke wuchs sich im Laufe der Zeit zu einer bedrohlichen Warnung aus: ›Wenn du das hier nicht ändern kannst, wird deine Tochter den gleichen Weg gehen wie du selbst! Sie hat den Pfad schon eingeschlagen. Alles beginnt, wie es mit dir selbst begonnen hat …‹