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Wir verabscheuen Langeweile, mögen nicht warten und steigern allzugerne das Tempo. Aber wer sich unter dem Diktat der Termine nur durchs Leben peitscht, lebt an seinen eigenen Möglichkeiten vorbei. Zeit ist Leben, nicht nur kostbar, sondern auch vielfältig und bunt. Zeit gewinnt, wer der Devise abschwört, die alles Leben dem ökonomischen Nutzen unterordnet. Ruhe ist ein Sehnsuchtswort. Und Langsamkeit eine Einladung. "Europas bekanntester Zeitforscher" Karlheinz A. Geißler zeigt: Wer zur Ruhe kommt, hat einfach mehr vom Leben. Er sieht das Besondere und das Detail. Auf der Autobahn des Lebens rast man am Glück vorbei. Daher: immer mit der Ruhe! Gönn dir Zeit. Das Leben ist zu kurz – und viel zu schön – für Hektik.
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Seitenzahl: 133
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Karlheinz A. Geißler
Immer mit der Ruhe
Ein einfach-leben-Buch
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
E-Book-Konvertierung: Newgen Publishing Europe
ISBN E-Book: 978-3-451-82563-7
ISBN Print: 978-3-451-00870-2
Himmlische Ruhe – irdisches Glück
Vorwort von Rudolf Walter
Bach in der U-Bahn
Als die Hast noch albern war
Wie wir gehetzt und schnell wurden
Die Welt – ein Tempodrom
Unsere kleinen Fluchten – Reisen statt rasen
Alles braucht seine Zeit
Nur der Geduldige ist weise
Wenn Abbremsen nötig wird
Enthetzen: Vermeiden, was zu schnell ist
Die Kunst des Wartens und des Abwartens
Zum Zeitsparen sind wir nicht auf der Welt
Zum Glück gibt es die Pausen
Von Hummeln, Schildkröten und Co
Königsweg der Erfahrung: Der Umweg
Vom Schmecken und Genießen
Zeit für Liebe, Zeit für Freundschaft
Time is honey
Krieg ist schnell, Frieden langsam
Brüderlichkeit und Barmherzigkeit
Der Sonntag – ein „Lattenzaun der Zeit“
Jetzt aber mal schön langsam!
Zeit haben
Eine bescheidene Utopie
Stellen Sie sich vor: Nichts ist geschehen
Das Sofa auf der Autobahn
Die Tage des „Dazwischen“: Schwebende Zeiten
Schluss jetzt! – Der Charme des Aufhörens
Vorwort von Rudolf Walter
Für 61 Prozent der Deutschen unter 29 Jahren beginnt der Tag mit einem Blick auf ihr Handy. Abends nicht anders: 40 Prozent aller Befragten werfen, als letzte Tagesaktivität, einen letzten Blick aufs Handy, bevor sie einschlafen.
„Nichts tun“, so der Titel eines Buchs, das die amerikanische Künstlerin Jenny Odell geschrieben hat und das von der Kunst handelt, sich dem Sog der sozialen Medien zu entziehen. Ihr „Held“ kommt aus einer ganz anderen Welt. Es ist ein uralter Mammutbaum ihrer Heimat Oakland, der Jahrhunderte nur überlebt hat, weil sein Holz als unnütz und nicht verwertbar galt. Alle anderen Bäume wurden gefällt. „Unnütz zu wirken kann verhindern, dass wir aufgefressen werden“, sagt sie.
„Zeitfresser“, Lebenszeitfresser, das sind nicht nur die Medien, aber die besonders. Sie sind es, so Odell, die unsere Aufmerksamkeit kaufen und weiterverkaufen, unsere Sehnsüchte nach Gemeinschaft und Verbundenheit kapern und sich so einnisten in unserer eigenen Lebenszeit: durch permanente Vernetzung, mit immer neuen Nützlichkeits-Angeboten, die Konsum und Informationen verheißen, Ansprüche stellen und Reize aussenden. Immer „schneller und schneller“ und in der „Gleichzeitigkeit der Sensationen“. Sie verfolgen uns – als wären sie ein Teil von uns – wie der eigene Schatten, der dicht an uns klebt.
Kann man seinen Schatten überhaupt loswerden?
Eine alte Geschichte fragt genau danach. Da geht es ebenfalls um einen Baum. Sie handelt von einem Mann, den der Anblick seines eigenen Schattens so sehr verstimmte, dass er beschloss, ihn hinter sich zu lassen und ihm davonzulaufen. Aber sein Schatten folgte ihm mühelos. Also lief er schneller und schneller so lange weiter, bis er tot zu Boden sank. Die Pointe: Er hätte nichts tun müssen, als in den Schatten eines Baumes zu treten, sich hinzusetzen und auszuruhen. So wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden. In der Unterbrechung, nicht in der permanenten Steigerung seiner Aktivität lag die Lösung.
Immer mit der Ruhe: Das ist ein mentales Gegenlager zum Tempo der Welt. Und – folgt man Karlheinz Geißler – auch ein Grundgesetz der Lebenskunst. Es heißt so viel wie: Eine Grenze ziehen zwischen mir und dem, was mich da zu überwältigen droht. Nichts überstürzen und sich nicht treiben lassen. Sondern erst mal hinschauen, und dann das tun, was dran ist – eins nach dem andern. Scheinbare Automatismen unterbrechen. Achtsamkeit und im Augenblick SEIN – fest verwurzelt im Jetzt. Denn da ist der Ursprung von allem. Und sich nicht von jemand anderem schubsen, bedrängen oder von Äußerlichkeiten unter Druck setzen oder gar erpressen lassen.
Immer mit der Ruhe meint auch: dass ich mich auch nicht von jedem Lärm aufscheuchen oder ständig von inneren Impulsen ablenken oder jagen oder überwältigen lasse. Sondern dass ich ganz bei mir, also: in Berührung mit mir, aber auch bei der Sache bin. Dabei aber auch zuschauen und abwarten kann, wie etwas sich entwickelt. Es meint also: sich und der Sache Zeit lassen. Die Zeit lassen, die sie braucht.
Alles eine Frage der Zeit, sagt Karlheinz Geißler. Und natürlich ist auch Lebenskunst – wie alles im Leben – zuallererst eine Frage der Zeit, aber nicht der Geschwindigkeit. „Die Zeit fährt Auto“, hatte schon Erich Kästner gesagt, fasziniert vom Tempo der Welt. Nichts gegen Tempo, aber: „Hyperdynamik ist immer schädlich, in welche Richtung auch immer – jeder Autofahrer weiß das: nicht zu sehr beschleunigen, nicht zu scharf abbremsen.“ Der Philosoph Hermann Lübbe, inzwischen 95 Jahre alt, hat das der SZ gesagt, am 31.12.2011, in einem Interview zu seinem 85. Geburtstag.
Das Glück fährt Rad. Oder es geht zu Fuß. Oder was andere Rezepte für eine neue Balance für ein neues Gleichgewicht sind: Innehalten, Stillsein, Pausieren, Unterbrechen, Stopp sagen.
„Nonstop happy hour“ – versprach einige Jahre (bis Corona kam) die Angebotstafel einer Kneipe in Freiburg. „Happy hour“: in der Regel das befristete Angebot zum preisgünstigeren Konsum alkoholischer Getränke zum „Vorglühen“ – jetzt das Versprechen ewiger Glückseligkeit, wenn man nur genügend trinkt?
Ewige Glückseligkeit assoziiert den Himmel. „Nonstop happy hour“ durch Alkoholkonsum könnte ein Bild für Hölle sein. Pausenloses Weitermachen galt früher als höchstes Unglück und als Strafe der Götter. Der Mythos vom Sisyphos erzählt davon. Dass man pausenlos glücklich sein könne, ist jedenfalls eine Illusion, sagt Karlheinz Geißler. Der Mensch ist ein Pausenwesen. Schon beim Atmen zeigt sich das. Einatmen, Pause, Ausatmen: Wer das nicht macht, kann nicht überleben. Wir brauchen den Rhythmus von Aktivität und Passivität, sonst werden wir atemlos – und in der Konsequenz: tot.
Dass Karlheinz Geißler der unterhaltsamste, scharfsinnigste und ausdauerndste unter den gegenwärtigen Zeitbeobachtern ist, hängt mit seiner eigenen Geschichte zusammen – und mit seiner Fähigkeit stehenzubleiben, zu schauen, das Beobachtete einzuordnen. Als Opfer der ersten Nachkriegspandemie (Kinderlähmung) war er immer gezwungen, besonders genau hinzusehen, und er hat gelernt, das auch zu reflektieren. Diese Aufmerksamkeit darauf, was das Leben bringt, hat ihn zeitlebens gelehrt, wie man Fachmann für sich selber bleibt. Mit sich selber etwas anfangen können, so seine Überzeugung, ist die Voraussetzung dafür, überhaupt etwas anfangen zu können.
Aber es ist nicht nur Selbstbezüglichkeit. Er sieht auch die gesellschaftlichen Deformationen, die unser Zeitverhalten verursacht. Er kritisiert die Hektik, wo sie schädlich wird. Er lehrt uns hinzuschauen: Wir hetzen, rennen, hasten. Wir „vertun“ und „vertreiben“ Zeit, „verlieren“ sie oder „schlagen sie tot“ – und wenns „pressiert“, erfahren wir sie als drückend, strangulierend. Und unser Zeitempfinden? Zeit flieht, verrinnt, vergeht, verflüchtigt sich, drückt (bei Zeitdruck). Alles nicht sehr schön. Wir sind oft genug vertrieben aus der eigenen Zeitnatur.
Geißler dagegen sieht Zeit als Freundin. Er liebt die Zeit, bewundert ihren Farbenreichtum: die Muße, das konzentrierte Anfangen, den Genuss des Moments, das bewusste Aufhören, das Langsame ebenso wie das Schnelle, die Hummeln und die Schildkröten. Er liebt das Spiel der Zeit und besonders, wenn in der Liebe die Zeit zum spielenden Kind wird. „Time is honey“, heißt es gar. Freude am Überraschenden, am „Zwischen“, Aufmerksamkeit für die Vielfalt im Gegenwärtigen, den Zusammenfall von Augenblicksfülle und Zeitstillstand. All das zeigt: „Zeitvielfalt in einer rhythmisierten Ordnung leben ist der Schlüssel für einen wohltuenden Umgang mit Zeit.“ Sich verbinden mit der Natur, sich lustvoll einschwingen in den Rhythmus des Lebens, das gibt Stabilität, Ruhe und Kraft.
Auch für die amerikanische Künstlerin Jenny Odell ist es der Blick in den Himmel, der sie glücklich macht und sie wieder erdet. Ihre Muse ist eine Krähe und ein Krähensohn, die sie jeden Morgen besuchen und denen sie ihre Aufmerksamkeit zuwendet, ihre Zeit schenkt. Sie sind Boten der Lebendigkeit. Durch das Absehen von sich selber wird sie mit einer neuen Verbundenheit beschenkt.
Das vorliegende Buch bestärkt eine solche Sicht: Wir kommen der eigenen Zeitnatur wieder näher, wenn wir uns auf die Natur einlassen. Das ist gutes Leben: „Naturschutz am eigenen Selbst“. Dahinter ist die Einsicht: Wo man sich als Gemeinschaftswesen mit der Natur empfindet, wo Innen und Außen übereinstimmen, wo ich also Resonanz erfahre mit meiner eigenen Körperlichkeit, dort fühle ich mich auch am wohlsten: So bin ich, und so darf ich auch sein: wenn ich meinen eigenen Rhythmus spüre und lebe.
Man kann Glück tatsächlich im Nichtstun finden. Kann sich auf den Rücken legen und den Wolken nachschauen. Im Schauen erfahren wir den Augenblick – und vergessen wir die Zeit. Die Wolken ziehen. Bewegung ist auch am Himmel. Ruhe auch auf Erden. Ruhe als Lebendigkeit, die mit der Sehnsucht in Berührung ist. Wenn es himmlisch ruhig ist – in uns und um uns herum: ein Vorschein der Seligkeit.
„Lest nicht die ,Times‘, sondern die Ewigkeiten“, dieser Satz von Hansjürgen von der Wense besagt: Es gibt mehr als die Tagesaktualität. Unsere Zeit ist begrenzt. Daher verlockt das vorliegende Buch, auch diese anderen Dimensionen wahrzunehmen: Endlich ohne Hast leben. Urlaub machen von der Hektik. Ruhige Aufmerksamkeit und Neugierde konzentrieren auf das, was lebendig hält, was dem Leben Farbe gibt. Seis am Himmel über uns. Oder in der U-Bahn, neben uns. Ankommen und da sein. Einfach leben.
DIE ZEIT IST BLAU
DIE ZEIT IST BLAU
KANN ABER AUCH GRÜN SEIN
AM MITTWOCH IST SIE GRÜN
UND AM SONNTAG IST SIE BLAU
UND AM DONNERSTAG IST SIE ROT
FREITAG IST SIE GELB
MONTAG IST KEINE ZEIT
AM DIENSTAG IST ZEIT WEISS
– DUNKLES WEISS
(LOU KOCH, 6 JAHRE)
(GOETHE)
Angezogen wie ein Straßenmusikant begab sich der weltberühmte amerikanische Geiger Joshua Bell im Januar 2007 zur morgendlichen Rushhour mit seinem Instrument im Geigenkasten in eine der am stärksten frequentierten U-Bahn-Stationen Washingtons. Er packte dort seine Stradivari aus und begann im Getümmel der ein- und aussteigenden Fahrgäste Bachs „Chaconne in d-Moll“ zu spielen. Völlig unbeeindruckt von den Klängen, und ganz offensichtlich taub für die herrliche Musik, hasteten die Passagiere an dem großartigen Hörerlebnis vorbei. Erst der 64. Passant veringerte sein Lauftempo, hielt kurz inne und warf Bell ein paar Cent in den vor ihm aufgeklappten Geigenkasten, um umgehend weiterzueilen. Nach 43 Minuten, Bell hatte sein Geigenspiel an dem ungewöhnlichen Ort soeben beendet, waren mehr als tausend Passanten an ihm und seiner Musik vorbeigehastet. Nur ganz wenige hatten ihre Schritte verlangsamt und sind für einen kurzen Moment stehengeblieben. Im Geigenkasten befanden sich gerade mal 32,17 Dollar.
Ein mutiges, zur Nachdenklichkeit aufforderndes Experiment. Die Tür zum Paradies, zum Zaubergarten der Musik, steht offen, und nur ganz wenige nehmen die Einladung an. Mit routiniertem Tunnelblick und wenig aufnahmebereitem Gehör hasten sie durchs Leben und ihren Alltag, ignorieren und verpassen dabei das nahe liegende und ihnen nahe gekommene Schöne. Sie hören nichts, sie sehen nichts, sie fühlen nichts. „Wegen der Ungeduld“, so der an dieser Ignoranz verzweifelnde Franz Kafka in seinem Tagebuch, „sind die Menschen aus dem Paradies vertrieben worden, wegen der Ungeduld kehren sie auch nicht zurück.“
Eindrucksvoll hat der Stargeiger Bell mit seinem Experiment demonstriert: Kafka hatte Recht. Wer stets nur hastet und nicht auch innehält, hat keinen Blick für seine Um- und Mitwelt, überhört das Naheliegende, bekommt die Schönheiten dieser Welt nicht zu Gesicht und auch nicht zu Gehör.
Den Hauch der Dinge, den Atem derer, die einem nahestehen, den spüren nur die Zeitgenossen, die sich abwartend, zögernd und langsam Stück für Stück annähern, die geduldig zuhören, sich interessiert zuwenden und gelassen reagieren. Nur ein solches den Dingen und den Sinnen zugewandtes Zeitverhalten lässt Gerechtigkeit, Gewissenhaftigkeit und Verantwortungsbewusstsein, aber auch Schönheit und Genuss zur Entfaltung kommen.
Kein Zweifel, es wird zu schnell gelebt. Die Gischt der Beschleunigung durchnässt noch die am besten geschützten Stellen unserer Zeitzivilisation. Die weniger werdende Zahl derer, die sich Kinder leistet und sich dann auch noch Zeit für sie nimmt, muss mit Benachteiligungen im Berufsleben und bei der Karriere rechnen. Zeitnot, Hetze und Zeitdruck befriedigen den Zeitgeist. Sie sind der Ausdruck von Tatkräftigkeit, Vielbeschäftigtsein und Beliebtheit. Die in unserer Gesellschaft zu vergebenden Prämien bekommen die Hurtigen und die Eiligen, die Fixen und Gestressten. Sie werden bewundert und als Repräsentanten einer erfolgsverwöhnten Elite verehrt. Der eilige Geist der Zeiten bejubelt das Schnellsein in vielerlei Formen und Ausprägungen. Besonders hat es ihm das schnelle Geld angetan. „Die Welt wartet nicht auf uns“, verkündet die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache. „Die Zeit drängt, die Zukunft wartet nicht auf Langsame“, lautet das aggressive Credo von Finanzinstituten. An den Sonnenstrahlen des ihnen zugeschriebenen Prädikats eines „Überfliegers“ wärmen sich die, die auf schnurgeradem Weg mit dem schnellsten Fortbewegungsmittel ihre Ziele in möglichst kurzer Zeit erreichen. Was sie bei ihrem Parforceritt durch die vielfältigen Zeitlandschaften jedoch verpassen, was ihnen fremd bleibt, sind die wohltemperierten Oasen der Zeit, die kleinen Schauer des Zeitenglücks, die Zeitgärten des Wohlgeschmacks und die klangvollen Obertöne der Zeit. Sie allein sorgen dafür, dass man Zugang zu den blühenden Gärten paradiesischer Gelassenheit findet und in ihnen verweilen darf.
Das Buch, das Sie in Händen halten, ist eine Einladung zur Langsamkeit. Um sie annehmen zu können, müssen Sie die offen stehende Tür finden. Das gelingst Ihnen jedoch nur, wenn Sie langsam werden und Acht geben, von den Schnellen nicht abgedrängt, überrannt, überrumpelt oder zur Seite geschoben zu werden.
Es ist gerade einmal 200 Jahre her, dass der große französische Staatsmann Talleyrand einen Verhandlungspartner, der es eilig hatte, mit den Worten ausbremste: „Hast und Unruhe kennen wir nicht ... denn es ist albern.“ Hätte Talleyrand heute – ein ungewöhnlich langes Leben unterstellt –, wo es uns nicht schnell genug gehen kann, im politischen Geschäft noch etwas zu sagen, käme er zu kaum mehr etwas anderem, als sich unentwegt diese und ähnliche Albernheiten zu verbitten. Auch müsste er, was ganz und gar nicht seiner Art entsprach, recht laut werden, um Gehör zu finden. Würde er, was nicht allzu wahrscheinlich ist, wahrgenommen, dann könnte er mit Sicherheit nicht mit allzu großer Resonanz rechnen. Vorbei die Zeiten, in denen Oscar Wildes Diktum, die Eile gehöre zu den lächerlichsten aller Lächerlichkeiten, noch Wirkung erzielen würde.
Vom Aussterben bedroht ist auch der Gentleman, der – schlecht eingedeutscht – zum „Ehrenmann“ gemacht wurde. Mit seinem Verschwinden hat sich nicht nur der ruhig-gelassene Blick auf die Dinge und auf das Geschehen verflüchtigt, sondern zugleich auch die Empfehlung in englischen Benimmbüchern: „A gentleman will walk but never run“.
Etwas verwunderlich ist das schon, waren doch – die Schulbücher hüllen sich nicht ohne Grund darüber in Schweigen – in annähernd allen Hochkulturen die Geduld, die Gelassenheit, die Beharrlichkeit, vor allem aber auch die Langsamkeit prestigeträchtige Zeichen von Würde, Klugheit, Souveränität und Selbstachtung. Langsamkeit war, ganz anders als heute, häufiger Zeichen eines souveränen Umgangs mit Zeit als ein Indiz für die Unfähigkeit, schnell zu sein.
Nicht nur die Zeitgenossen Talleyrands hatten, wie wir aus Berichten wissen, ein akzeptierendes Verhältnis zur Langsamkeit. Auch die Gelehrten der Antike schätzten neben der vita activa, einer aktiven Daseinsgestaltung, das beschaulich, besinnliche Leben, das ihnen von den Göttern gemachte Geschenk der Muße. In der dem aktiven Leben ansehensmäßig gleichgestellten vita contemplativa – heute vom Schnee des Vergessens zugedeckt – sah man bis zum Beginn der Moderne eine nicht minder sinnvolle und attraktive Form der Daseinsgestaltung. Die Gelehrten im alten Griechenland haben viel und gründlich über Sinn und Gehalt der Muße nachgedacht, zumal diese für sie eine der elementaren Grundlagen des gesellschaftlichen/staatlichen Zusammenhaltes darstellte.