Karlheinz A. Geißler
Lob der Pause
Von der Vielfalt der Zeiten und der Poesie des Augenblicks
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© 2012 oekom verlag, MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Waltherstraße 29, 80337 München
Lektorat: Dr. Manuel Schneider (oekom e.V.) Herstellung, Layout, Umschlaggestaltung: Ines Swoboda, oekom verlag
Umschlagabbildung: Auguste Renoir, Ausschnitt aus »Frau mit Sonnenschirm« © picture-alliance/akg-images
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-86581-395-4
Es ist an der Zeit, …
KAPITEL 1
Lebst du schon oder sparst du noch: die Zeit?
Freundin fürs Leben
Zeit ist Zeit ist Zeit …
KAPITEL 2
Von der Vielfalt der Zeiten
Versöhnte Verschiedenheit
Verstaubte Zeiten auf dem Dachboden des Lebens
KAPITEL 3
»Jetzt aber mal langsam!« – Die Langsamkeit
Enthetzen statt Entschleunigen
Geduld und Gelassenheit
KAPITEL 4
»Play it again!« – die Wiederholung
Rhythmus als »Erinnerung nach vorne«
Rituale: Alleen des Zeitlichen
KAPITEL 5
»Please hold the line!« – das Warten
Warten als Strafe
Vom Glück des Wartens
KAPITEL 6
»Der Zwischenraum hindurchzuschaun« – die Pause
Pausen: Leuchttürme des Daseins
Pausenlosigkeit und ihr Preis
KAPITEL 7
Poesie und Politik – Zeiten des Dazwischen
Die Sonntage des Lebens
Wider die Beschleunigung der Beschleunigung
KAPITEL 8
Vom Unbehagen in der Zeitkultur – zeitpolitische Perspektiven
KAPITEL 9
»Worte sind schön, aber …« – Zehn Angebote für die Zeit nach der Lektüre dieses Buches
Leben Sie nicht eine, leben Sie viele Zeiten
Das Schnelle ist nicht immer gut, das Langsame nicht immer schlecht
Warten kann sich lohnen
Pausen sind keine überflüssigen Zeitlöcher
Umwege erhöhen die Ortskenntnisse
Beschleunigung und Flexibilität brauchen Stabilität
Zeit nicht überall und immer in Geld verrechnen
Nicht alle gesparte Zeit in neue Beschleunigung investieren
Vertreiben Sie die Langeweile nicht!
Leben und arbeiten Sie rhythmisch
Und noch etwas:
Literatur
Bildnachweis
Es ist an der Zeit, …
... dass Sie sich über Ihren Umgang mit Zeit einmal ein paar Gedanken machen, wenn Ihnen Folgendes passiert:
Sie kehren nach einem stressigen Arbeitstag abends in Ihre Wohnung zurück und schalten vor dem Licht den Fernseher an.
Sie kehren wieder mal von einer Ihrer vielen Geschäftsreisen zurück und vermissen, als Sie sich ins Bett legen wollen, das Schokoladentäfelchen auf Ihrem Kopfkissen.
Sie stehen ratlos am Bahnhof und rufen im Büro oder bei Ihrer Frau an, um sich zu erkundigen, wohin die Reise gehen soll.
Sie bereiten das Abendessen vor. Das Telefon klingelt. Sie greifen zum Telefon, rühren damit die Sauce um und halten den Kochlöffel ans Ohr.
Ihre Sekretärin oder gar Ihr Chef ruft Sie regelmäßig bereits frühmorgens beim Zähneputzen an, um Ihnen die anstehenden Termine des Tages durchzugeben.
Sie verwechseln das Signal des Eierkochers mit dem Klingeln Ihres Telefons oder suchen beim Läuten der Kirchenglocken Ihr Mobiltelefon.
Der letzte Blick am Abend und der erste am Morgen gilt dem Display Ihres Organizers, nicht jedoch Ihren schlafenden Kindern.
Irgendetwas ist immer nicht zu tun.
Kapitel 1Lebst du schon oder sparst du noch: die Zeit?
Freundin fürs Leben
Die Zeit ist für die Menschen das, was das Wasser für die Fische ist. Sie schwimmen in ihrem Element, ohne sich Gedanken zu machen, worin sie sich eigentlich bewegen. Der Mensch jedoch hat, im Gegensatz zu den Fischen, die Fähigkeit, darüber nachzudenken. Und es lohnt sich, der Selbstverständlichkeit »Zeit«, der wir unsere Existenz verdanken, die uns das Leben schenkt (es uns aber auch wieder nimmt), zumindest hin und wieder gedanklich nachzuspüren. Tut man dies, verliert man rasch die Uhr aus dem Auge und dem Sinn. Was bereits andeutet, dass die Uhr offenbar etwas ganz anderes ist als die Zeit.
Der Mensch ist gegenüber der ihn umgebenden Natur in vielerlei Hinsicht einzigartig. So ist er unter allen Lebewesen das einzige, das Zeit spart. Jedenfalls ist er der Meinung, das nicht nur tun, sondern sich auch leisten zu können. Wären Tiere in der Lage, Zeit zu sparen, dann wäre das Teil ihres genetischen Programms. Menschen hingegen haben die Freiheit, sich bewusst fürs Zeitsparen zu entscheiden. Doch tun sie dies mit Vorliebe erst, seitdem sie die mechanische Uhr erfunden und zu ihrer Zeitgottheit erklärt haben. Der Mensch kann Zeit sparen, aber er kann es auch sein lassen; kann es so oder auch anders machen. Tiere sind zweckgesteuert, Menschen dagegen zielorientiert. Einfacher gesagt: Würden Affen Zeit sparen, wären sie Menschen.
Doch betrachtet man das, was bei den umfangreichen Zeitsparanstrengungen der Menschen herauskommt, wundert es schon ein wenig, dass sie dafür so viel Zeit aufwenden. Die Realität nämlich zeigt immer wieder, dass die Klagen, »zu wenig Zeit« zu haben, mehr und mehr »unter Zeitdruck« zu stehen, in dem Maße zunehmen, wie Zeit gespart wird. Goethe bereits wies darauf hin und warnte: »Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr.« Da liegt die Frage nahe: Könnte es nicht sein, dass wir mehr Zeit hätten und weniger unter Stress litten, wenn wir uns das ständige »Zeitsparen« – sparen würden? Die Frage muss auch deshalb gestellt werden, weil wir sicher sein können, dass Zeit täglich aufs Neue nachkommt, und zwar in exakt der Menge, die Tag für Tag vergeht. Erstaunlich auch sind Aufwand und Leidenschaft, mit denen wir versuchen, Zeit zu »gewinnen«, um sie anschließend wieder zu »vertreiben«.
»Jeder Tag ist vierundzwanzig Stunden lang«, hat der Kabarettist Wolfgang Neuss einmal klug festgestellt, »aber unterschiedlich breit.« Für Zeitsparer ist er stets gleich breit und deshalb immer zu kurz. Zeitsparer nämlich organisieren die Zeit, sie leben sie nicht, weil sie sie nicht erleben. Sie bringen ihr Leben nur hinter sich. Gespart werden kann schließlich nur ungelebte, qualitätslose, also unqualifizierte Zeit. Die aber ist so nutzlos wie sinnlos. Zeitsparer verstehen offenbar so viel von der Zeit und ihren Qualitäten wie der Kuckuck von der Uhr. Zeit leben hingegen heißt, sie in ihrer qualitativen Vielfalt, in ihren bunten Formen zu leben. Das bedeutet konkret, auch die Zeitformen zu (er)leben, die keinen Preis, wohl aber einen Wert haben: die abgebremsten Zeiten des Pausierens, des Wartens, der Wiederholungen und des Langsamen. Wenn zeitsattes und zeitreiches Leben heißt, möglichst viele schöne Augenblicke zu sammeln, dann kann man dies nicht schnell und man kann es auch nicht durch Zeitsparen erreichen. Denn wer Zeit spart, spart keine Zeit, sondern Leben.
Bei dem französischen Philosophen Paul Valéry finden wir eine Erklärung, warum das Zeitsparen und der vermeintliche Fortschritt, der hierdurch ermöglicht wurde, die Menschen nicht lebensfroher gemacht haben: »Fast die gesamte Praxis ist dem Messen unterworfen. Das Leben, ohnehin schon zur Hälfte unterjocht, abgesteckt, in Reih und Glied gebracht und unterworfen, kann sich kaum noch der Zeitpläne, Statistiken, Messvorgänge und der quantitativen Präzisierung erwehren, deren Entwicklung seine Vielfalt immer mehr einschränken, seine Ungewissheit mindern, seinen Verlauf sicherer machen, länger, maschinenhafter.«
Was Valéry anspricht, ist die Tatsache, dass jene Zeitformen und Zeitqualitäten, die sich dem Uhrzeitmaß verweigern und sich nicht dem »Imperium der Zahl« (Valéry) unterwerfen, in immer größerem Maße abgewertet, belächelt und vielfach auch diskriminiert werden. Unter Druck geraten sind dabei, wie wir in diesem Buch sehen werden, an vorderster Stelle die Langsamkeit, das Wiederholen, das Warten und die Pause. Der stiefmütterliche Umgang mit diesen Zeitqualitäten hat sie zu einem Überleben in einer Art »Niemandsland« verdammt.
Warum eigentlich sparen wir Zeit, wo die Zeit es doch so gut mit uns meint?! Sie ist unsere treueste Freundin, begleitet sie uns Menschen doch von der Geburt bis zum Tod. Gute, besonders aber so treue Freundinnen lädt man doch zu sich ein, verwöhnt sie und bemüht sich um sie, versucht sie näher kennen, vielleicht sogar lieben zu lernen! Was aber tun die Menschen mit ihrer Freundin »Zeit« stattdessen? Sie schubsen sie herum, wie die Post es mit Weihnachtspaketen macht: Mal lassen sie die Zeit liegen, verlieren sie, dann wieder finden sie sie, stopfen sie voll oder vertreiben sie wie einen Hund, der Anstalten macht, an die Haustüre zu pinkeln. Mit Vorliebe aber managen und organisieren die Menschen die Zeit, sie sparen und nutzen sie, und hin und wieder werden sie von ihr so in Rage gebracht, dass sie versuchen, sie »totzuschlagen« – zumal dies mörderische Tun von der Justiz nicht verfolgt wird. Doch auch diejenigen von uns, die vor ihr zu fliehen versuchen, scheitern. Denn vor der Zeit kann man nicht fliehen, da gelingt keine Flucht. Man kann ihr nun mal nicht entkommen. Und so bleibt nur eins – sie zu nehmen, wie sie ist. Tut man das, wird man bald (und bitte nicht: »zeitnah«) feststellen, dass sie abwechslungsreicher, bunter und erheblich freundlicher zu den Menschen ist, als die zu ihr.
Zeit ist Zeit ist Zeit …
»Was ist die Zeit?« – Alle wissen es, doch keiner kann es erklären. Vielleicht sollte man sich deshalb mit der Einsicht zufriedengeben, die der Mathematiker Lambert in einem Brief vom 13. Oktober 1770 an Immanuel Kant, der sich gerade über die Tiefen und Untiefen der Zeit Gedanken machte, mitteilte: »Die beste Definition wird wohl immer die sein, dass Zeit Zeit ist.« Das ist trivial, zirkulär und irgendwie hilflos. Es läuft auf die Begriffsbestimmung hinaus: »Zeit ist das, was wir haben, während wir tun, was wir machen.« Auch nicht sehr überzeugend – und weiter bringt diese Definition auch niemanden. Etwas klüger (wirklich nur etwas) machen die Auskünfte von Vertretern verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Physiker halten die Zeit für »eine hartnäckige Illusion« (Einstein), Existenzphilosophen nennen sie »das Sein zum Tode« (Heidegger), Theologen sehen in ihr »den Anlauf zur Ewigkeit«, Psychologen ein »Empfinden ohne Sinnesorgan«, Sozialwissenschaftler erkennen in ihr ein »Mittel, um Ordnung im Rahmen des Vergänglichen« zu schaffen, Ökonomen behaupten gar, »Zeit ist Geld« und daher auch ein wichtiger »Rohstoff«, und manch ein Politiker sieht in der Zeit nichts anderes als das Maß für eine Legislaturperiode. Wie soll man diese unterschiedlichen Bedeutungsinhalte in einer einheitlichen, allgemeingültigen Begriffsbestimmung zusammenbinden?
Rettung findet man auch nicht bei den Germanisten. Die nämlich behaupten, die Zeit sei ein »einsilbiges Wort«. Das ist zwar richtig, aber nicht allzu aussagekräftig. So drängt sich einem die Erkenntnis auf, dass die »Zeit« ein verzwicktes Rätsel ist und bleibt. Auf die Frage »Was ist die Zeit?« lässt denn auch Thomas Mann in seinem Roman Der Zauberberg antworten: »Ein Geheimnis – wesenlos und allmächtig.« Und weil das so ist, glauben zwar alle, dass sie wüssten, was Zeit ist, doch sobald man nachfragt, hat jeder eine andere Antwort. So ist das mit allen großen Rätseln der Welt, zu denen die Zeit allein schon deshalb gehört. Und während wir uns bemühen, dieses Rätsel zu lösen, müssen wir erleben, dass die Fragen immer größer werden und die Antworten immer kleiner. Verzichten wir also auf eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Zeit und folgen wir dem Ratschlag des Philosophen Ludwig Wittgenstein, unlösbare Fragen nicht weiter lösen zu wollen, um stattdessen von ihnen geheilt zu werden.
Wenn wir somit auch nicht wissen, was Zeit eigentlich ist, so können wir doch sagen, was wir mit dem, was wir »Zeit« nennen, Tag für Tag so tun. Mit »Zeit« füllen wir die Leere, vor der uns graut. Mit »Zeit« schaffen wir Gewissheiten und Ordnung im Rahmen des Vergänglichen. Doch es ist nicht die »Zeit«, die wir dabei messen, es sind Veränderungen, Dynamiken, Prozesse, die wir »Zeit« nennen. Für Hegel war die Zeit »angeschautes Werden«, also der Modus des Übergehens von einem Zustand in einen anderen. Dieser Übergang vom Zustand A in den Zustand B ist es, den wir messen und »Zeit« nennen. Mit der Uhr und ihren sich bewegenden Zeigern veranschaulichen wir diesen Vorgang. Die Uhr misst also nicht die »Zeit«. Sie ermittelt und berechnet Strecken, Veränderungen, die von Zeigern zurückgelegt werden, und die wir, je nach Länge, mit unterschiedlichen Begriffen belegen. Je nach Zeigerverlauf sprechen wir von ganzen, halben oder viertel Stunden und von Minuten und Sekunden. Gäbe es keine Veränderungen, würden wir nicht von Zeit und auch nicht über Zeit reden. Nur weil sich in dieser Welt und in uns selbst etwas verändert, reden wir von »Zeit«, kennen wir sie überhaupt.
Mit dem Begriff »Zeit« und den Maßen dieser Zeit tun die Menschen das, was sie auch mit anderen Begriffen machen, nämlich Ordnung schaffen. Sie stülpen der Welt und dem, was sich in ihr bewegt, Kategorien der Ordnung über, die, weil sie von Menschen geschaffen sind, auch ganz anders aussehen könnten, die früher anders aussahen und sich auch heute noch nicht auf der ganzen Welt gleichen. Es gibt also nicht nur eine Zeit, die Zeit der mechanischen Uhr. Es gibt auch eine Zeit vor der Erfindung der mechanischen Uhr und es sieht heute so aus, als gäbe es auch eine nach und neben der Uhrzeit.
Ganz anders als unser »uhrenmäßiger« Umgang mit Zeit funktioniert unser Zeitempfinden. Die Zeit des Menschen, so Marcel Proust, ist elastisch. »Die Leidenschaften, die wir fühlen, dehnen sie aus, die, die wir erregen, ziehen sie zusammen und Gewohnheit füllt den Rest aus.« Das Zeiterleben unterscheidet sich grundlegend von dem, was die Uhr an Zeit anzeigt. Die Zeitempfindungen und die Zeiterfahrungen bilden und entfalten sich in enger Abstimmung mit jenem Geschehen, an dem man teilnimmt, dessen Teil man ist. Tut sich nichts oder passiert nur wenig, erlebt man den Zustand, für den wir das Adjektiv »zeitlos« erfunden haben. Wir behaupten in solchen Momenten, die Zeit sei »stehen geblieben«. Wird eine Situation als unangenehm empfunden, vergeht die Zeit gewöhnlich zu langsam. Man versucht solche Situationen daher zu vermeiden, und wenn sich das nicht machen lässt, sie zumindest zu verkürzen. Ganz anders hingegen das Zeiterleben in glücklichen Augenblicken. In einem solchen Moment würde man die Zeit gerne »anhalten«, sie so lange wie möglich genießen. Glück hat keine Zeit, denn alles Glück will Ewigkeit.
Da das Leben endlich ist,könnte ich allen Grund zur Eile haben, doch weil das Leben endlich ist,habe ich keinen Grund zur Eile.
(György Konrád)
Kapitel 2Von der Vielfalt der Zeiten
Versöhnte Verschiedenheit
Geht’s um Zeit, dann geht’s ums Leben. Wie wir die Zeit leben, so leben wir unser Leben. Wenn wir heute davon sprechen, »die Zeit rase«, dann leben wir heute schneller denn je. Je schneller wir jedoch leben, umso mehr rennen wir hinter der Zeit (sprich: hinter dem Leben) her. Und da wir dieses Spiel immer weiter, immer hektischer betreiben, drängt sich die Frage auf: Ticken wir eigentlich noch richtig? Und bevor wir noch ein wenig schneller werden, um eilig nach einer Antwort zu suchen, empfiehlt sich eine Besinnungspause, in der wir nachdenken, ob es uns nicht besser ginge, wenn wir das Tempo nicht immer noch mehr verschärfen, sondern das Zeitleben bunter, vielfältiger und abwechslungsreicher machen würden.