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Kolumbus kam nie nach Amerika...
Die Neue Welt wurde von den Römern entdeckt, Nachfahren jener antiken Macht, die vor beinahe zweitausend Jahren einen jüdischen Propheten namens Jesus begnadigte und bis heute die Welt beherrscht. Doch nun stellt sich den Erben Roms in der westlichen Hemisphäre ein ebenbürtiger Feind entgegen: Die Azteken, grausame, blutrünstige Krieger, die nicht vor Menschenopfern zurückschrecken, beginnen ihr Reich über den Kontinent auszudehnen.
Rom droht Gefahr. Zu allem entschlossen dampft Imperator Germanicus mit seinen gepanzerten Galeeren über den Atlantik, und an den Gestaden von Mexiko begegnen sich zwei uralte Kulturen mit modernen Waffen zum Kampf...
Mit diesem Roman setzt Kirk Mitchell seine Germanicus-Trilogie fort, die mit Procurator begann.
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KIRK MITCHELL
Imperator
Zweiter Roman der GERMANICUS-Trilogie
Roman
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Der Autor
Das Buch
IMPERATOR
Prolog
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
XIX.
XX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
Kirk Mitchell, Jahrgang 1950.
Kirk (John) Mitchell ist ein US-amerikanischer Autor. Er beschäftigt sich vor allem mit Science Fiction und Alternative History und schreibt Romane zu Filmen. Teilweise schreibt er auch unter dem Pseudonym Joel Norst.
Im deutschsprachigen Raum wurde er hauptsächlich durch seine Germanicus-Trilogie bekannt: Procurator (1984, dt.: Procurator, 1988), The New Barbarians (1988, dt.: Imperator, 1989) und Cry Republic (1989, dt.: Liberator, 1990).
Mitchell studierte an der University of Redlands Englische Literatur und machte seinen Abschluss magna cum laude. Bevor er sich mehr der Schriftstellerei zuwandte, absolvierte er zunächst eine Ausbildung an der San Bernardino County Sheriff’s Academy und diente danach eine Weile als Hilfssheriff in einem Indianerreservat im Osten der Sierra Nevada, wo er zusammen mit einigen Paiute, Shoshone, und Comanche auf Wüstenpatrouille ging. Diese Erfahrung löste ein anhaltendes Interesse an den Kulturen dieser Völker und an ihrem modernen Stammesleben aus. Er beendete seine Karriere in der Strafverfolgung im Rang eines SWAT Sergeant von Südkalifornien.
Seit 1983 ist er hauptberuflich als Schriftsteller tätig.
Zu seinen bekanntestens Roman-Adaptionen von Filmen zählen (teilweise verfasst unter dem Pseudonym Joel Norst): The Delta Force (1986), Lethal Weapon (1987), Colors (1988), Mississippi Burning (1989) und Backdraft (1991).
Sein aktuellster Roman ist Under The Killer Sun: A Death Valley Mystery (2011).
Der Apex-Verlag veröffentlicht Neu-Ausgaben seiner Romane Procurator, Imperator und Liberator.
Kolumbus kam nie nach Amerika...
Die Neue Welt wurde von den Römern entdeckt, Nachfahren jener antiken Macht, die vor beinahe zweitausend Jahren einen jüdischen Propheten namens Jesus begnadigte und bis heute die Welt beherrscht. Doch nun stellt sich den Erben Roms in der westlichen Hemisphäre ein ebenbürtiger Feind entgegen: Die Azteken, grausame, blutrünstige Krieger, die nicht vor Menschenopfern zurückschrecken, beginnen ihr Reich über den Kontinent auszudehnen.
Rom droht Gefahr. Zu allem entschlossen dampft Imperator Germanicus mit seinen gepanzerten Galeeren über den Atlantik, und an den Gestaden von Mexiko begegnen sich zwei uralte Kulturen mit modernen Waffen zum Kampf...
Mit diesem Roman setzt Kirk Mitchell seine Germanicus-Trilogie fort, die mit Procurator begann.
Und so geschah es, bevor der Mitleidsvolle, der Gnadenreiche, sich aus dem Osten erhob, wohin er sich vor langer Zeit auf einem Floß aus Schlange begeben hatte:
Eine große Kammer wurde durch zahllose Blumen geschmückt und mit Düften angereichert; ein schimmernder See war durch die Fenster auf allen Seiten zu sehen; wohin das Auge reichte, bot sich der Anblick goldenen Wassers: Dennoch wohnte hier ein König in der Finsternis; der betete die Finsternis an und sprach von der Seele der Finsternis. Zu seinem obersten Heerführer, einem Neffen, den er wie einen Sohn liebte, sagte er: »Die Stunde des Schicksals sollte ohne Warnung hereinbrechen.«
Fürst Tizoc war beunruhigt. »Erhabener, wäre es nicht ehrenhaft, jenen Brüdern den Blumenpfad zu erklären, deren Blut die Fünfte Sonne als Nektar schmecken wird?«
»Nein«, sagte der alte Mann. »Die Wahrheit über diesen von uns geführten Krieg dürfen wir mit keinem teilen. Sollen sie doch glauben, dass es um Fleisch geht oder um den Boden, auf dem wir stehen. Nur uns allein soll das Wissen zuteil sein: Wir haben den Kampf erwählt, weil sie kraftvoll und neu in dieses Tal gekommen sind – so wie wir einst kraftvoll und neu in dieses Tal kamen, das nun unseren Namen aus alter Zeit, Mexicae, trägt. Wir führen diesen Krieg, weil wir uns in ihrer kühnen Art erkennen und uns daher sicher sind, dass sie den Durst des Fürsten Tonatiuh stillen werden...«
Jedes Mal, wenn die Aztekenpriester Menschen für ihre Götter abschlachteten, schloss sich der römische Botschafter am Hofe Maxtlas III. in seine Gemächer ein. Und Britannicus Musa achtete darauf, dass er nicht vor dem Fenster des oberen Stockwerks verharrte, von dem aus man einen Ausblick über die seichten Wasser des Tetzcoco-Sees auf den Großen Tempel hatte, der die Insel-Hauptstadt beherrschte.
Kurz nach seiner Ankunft in Tenochtitlán vor zwei Monaten war er nicht so wachsam gewesen. Was er erblickt hatte, ließ ihn vor dem dämmerigen Bergtal zurückschrecken. Sein Wirklichkeitsempfinden – das zuvor so eisern, so römisch gewesen war – war weit schwächer, als er es vor sich selbst eingestand. Britannicus hielt eine Erholung für unmöglich, solange er sich inmitten eines Volkes aufhielt, das gleichermaßen in Blumen wie in Blut schwelgte. Vor jenem Tag hatte er es nicht für möglich gehalten, dass Blut wie ein kaledonischer Springbrunnen die steinernen Stufen hinabzuplätschern vermochte und erst auf den untersten Stufen zum Stillstand kam.
Aber seine Pflichtauffassungen – sowie die Tröstungen des Weines – veranlassten ihn zum Bleiben.
Sein Auftrag war ihm durch den Kaiser Germanicus in Rom erteilt worden: Der Oberst sollte Verhandlungen mit Maxtla aufnehmen, um die Spannungen zwischen aztekischen und römischen Truppen zu verringern, die einander über die schlammigen Gewässer des Terminus-Flusses anstarrten. Dem zweihundertdreiundvierzigsten Erben des Caesar Augustus verlangte es mit einer Verzweiflung nach Frieden in den Novo Provinces, die die jüngeren Offiziere seiner Legionen verwirrte. Bisher jedoch war nur wenig geklärt worden, und obwohl sich das über achtzig Jahre zählende Oberhaupt von den Gesprächen ferngehalten hatte, waren Maxtlas Edle doch von ausgesuchter Höflichkeit, ja, nahezu brüderlich in ihren Bemühungen gewesen, dem römischen Botschafter zu Gefallen zu sein. Jedenfalls in allen unwichtigen Belangen.
Barfuß tappte Britannicus durch das luftige Zimmer zu dem nach Nordosten zeigenden Fenster – fort vom Großen Tempel und seinem Springbrunnen von Opferstein. Durch den Dunst starrte er auf die Tepeyaca-Festung. Jene erhabene zylindrische Zuflucht umfing einen von drei Dämmen, die die Hauptstadt mit dem Festland verband; eine ähnliche Feste, der Acachinanco, hielt im Süden von Tenochtitlán seine Wacht. Man konnte sie berechtigterweise zu den größten Bauwerken der Welt zählen, und die Dammtunnel, die durch sie führten, waren groß genug, um einer Sandgaleere den Durchgang zu gewähren.
Auf der Spitze der Tepeyaca konnte er ein Gebäude erkennen, das mit seinen hochragenden Dachrinnen der serizanischen Architektur nachempfunden sein mochte. Dieser Umstand sowie Informationen, die ihm sein zuverlässigster Agent zugeraunt hatte, überzeugten Britannicus davon, dass sich die Azteken Verbindungen mit jenem großen, mit Seide handelnden Reich erfreuten, das Rom nur durch Berichte belutschischer Händler kannte – die Serizaner gestatteten keinem anderen Volk, in ihre westlichen Außengebiete einzudringen. Den Römern erschien dieses Reich so legendär wie Troja zu sein – und es gab keinen Vergil, der seine Geheimnisse für feierliche Patrizieressen hätte übersetzen können.
Die Festung verschwamm vor seinen Augen, und Britannicus’ Gedanken schweiften zurück zu jenem Tag vor einer Woche, als Fürst Tizoc, Maxtlas fähigster General und wahrscheinlichster Nachfolger, ihn auf einen Rundgang durch die Tepeyaca geführt hatte. Schießscharten gab es keine, doch erklärte sich dies, als zwei bronzene Türen gegen starken Druck aufgezogen wurden: Die Tepeyaca diente zum größten Teil als Getreidespeicher, und nur das weiträumige Dach wurde für militärische Zwecke verwendet.
Während er die Rampe empor stapfte, die sich um die Außenmauer zu den Brüstungen auf dem Dach wand und über die Arroganz seines aztekischen Gastgebers vor sich hin grinste, versuchte Britannicus, das Volumen des Kornspeichers abzuschätzen. Wie stets stellte er fest, dass die römischen Zahlen für schnelle Berechnungen viel zu unbeholfen waren. Tizoc musste seine Gedanken gelesen haben, denn sobald sie das Festungsdach erreicht hatten, wies der General auf einen schlangenförmigen Schornstein, der vor Tenochtitláns Panorama emporragte und weißen Rauch in die stinkende Luft spie: »Ohne die göttliche Gabe des Spirulina würden wir verhungern – hier wird es verarbeitet, Fürst Musa.«
Auf diese Weise war Britannicus zum zweiten Mal darüber unterrichtet worden, dass diese Algenart, die aus der Lagune von Tetzcoco geerntet wurde, die hauptsächliche Eiweißquelle der Azteken darstellte. Im Interesse der Diplomatie hatte er seinen Unglauben hinuntergeschluckt. Auf gar keinen Fall konnte ein Wasserareal, das nur wenig größer als der neue Hafen zu Ostia war, in wesentlichem Umfang zur Ernährung der zehn Millionen Menschen beitragen, die hier in diesem vulkangesäumten Tal zusammengedrängt lebten. Aber Britannicus hatte dem unbeweglichen Barbarengesicht höflich zugenickt: »Ich verstehe...«
Hinter ihm scharrten Sandalen über den Boden.
Britannicus zuckte zusammen und fing sich wieder, bevor er dem Lächeln eines jener Sklavenmädchen begegnete, die Tizoc den römischen Gesandten für ihre Bequemlichkeit – und ihr Vergnügen – zur Verfügung gestellt hatte. Von den zwölf war sie die hübscheste mit vollen Brüsten und einer wunderbaren Taille. Britannicus vermutete, dass sein Adjutant Lucius Balbus – der sich im Augenblick im unteren Stockwerk aufhielt, um seinen Körper einölen zu lassen – sie bereits im Bett gehabt hatte. Sein Agent hielt das Mädchen für eine der zuverlässigsten Spione des erhabenen Oberhaupts. Wenn Britannicus sie also ansah, stellte er sich vor, dass Maxtlas Ohren an ihrem Kopf angenäht waren. Auf diese Weise gab er sich das Gefühl, den Gottherrscher, den er niemals sehen durfte, direkt anzusprechen.
»Zu wessen Ruhm bringen eure Priester an diesem Nachmittag die Gefangenen um?«, fragte er in seinem unbeholfenen Nahuatl.
Sie wich seinem Blick aus, während sie seine saubere Tunika und seinen Mantel auf einer Liegestatt ausbreitete. »Für die Göttin Chalchiuhtlicue, Herr.«
»Welchen Platz nimmt sie unter euren anderen Göttern ein?«
»Sie ist die Gemahlin des Tlaloc.«
»Du meinst den Burschen, dem ihr die Kinder opfert?«
»Ja, Herr«, sagte sie gelassen.
»Ba’al-Ammon-Verehrer«, sagte Britannicus auf Latein; er meinte die punische Feuergottheit, der die Karthager ihre Kinder geopfert hatten. Von einem wenig umsichtigen Sklaven hatte er bereits erfahren, dass Chalchiuhtlicue die Schutzherrin der Unternehmungen auf dem Wasser war. Der Römer hatte nicht lange für die Erkenntnis gebraucht, dass Maxtlas nächste Aktionen gelegentlich anhand des Gottes festgestellt werden konnten, den seine schmierigen Priester durch Menschenopfer zu ehren beschlossen hatten.
Britannicus’ Gesicht nahm einen sehnsüchtigen Ausdruck an: Ihr dünner Kittel wurde vom Sonnenlicht durchdrungen, das durch das Fenster in den Raum fiel. Innerhalb ihres leuchtenden Gewandes zeichnete sich die Silhouette ihres nackten Körpers ab. Geistesabwesend fuhr er sich mit der Hand durch sein schütter werdendes rotes Haar, dann wandte er ihr den Rücken zu und sah wieder zur Tepeyaca-Feste hinaus, während er seine wirren Gedanken einer Müdigkeit zuschrieb, die seine gesamten Stimmungen im Laufe der letzten paar Monate durchdrungen hatte. Für einen Mann von dreißig Jahren war er viel zu müde.
Vor seiner Abkommandierung nach Tenochtitlán hatten Balbus und er fünf Jahre in Hibernia mit der übelsten aller Legionen, der Dritten, überstanden. Während des letzten Monats ihrer Dienstzeit waren sie von Aufständischen gefangengenommen worden und mit verbundenen Augen von einem Moorloch zum nächsten Fiebersumpf getrieben worden, ohne zu wissen, wann die Klingen durch ihre Kehlen gleiten mochten. Schließlich wurden sie gerettet, ließen sich zur Zehnten Legion in den Novo Provinces versetzen (was so weit von Hibernia entfernt lag, wie man in der römischen Welt zu kommen vermochte) – und verloren während der allgemeinen Verwirrung des Pamphileischen Putsches beinahe ihr Leben. Ein Oberst der Prätorianer war der Ansicht, dass die frisch eingetroffenen Offiziere etwas mit der Ermordung des Kaisers Fabius zu tun haben mochten. Nur die von seinem Nachfolger Germanicus Julius Agricola ausgerufene Generalamnestie hatte Britannicus und Balbus das berüchtigte Rote Bad erspart – die Öffnung einer Ader in einer warmen Wanne unter den harten Augen der Prätorianer.
»Fürst Musa.« Aus dem Flur drang eine Kinderstimme in seine Gedanken.
»Tritt näher.« Unwillkürlich lächelte der Römer dem kleinen Jungen entgegen, dessen Aufgabe darin bestand, den Eingang zum Gebäude zu bewachen. »Was gibt es?«
»Ein Pochtacatl aus Chalcatzingo bittet, dir seine Waren zu Füßen legen zu dürfen.« Der Knabe hielt etwas hinter seinem Rücken.
»Zeig mir, was du da hast.«
Grinsend hielt der Junge Britannicus einen kleinen steinernen Jaguar entgegen. »Ein Gott – er hat noch viele andere.«
»Sag diesem Händler, dass ich keinen Bedarf an Göttern habe«, sagte Britannicus freundlich. »Bring es ihm zurück.«
»Aber er verspricht einen anständigen Preis, Herr.«
Britannicus strich dem Jungen über das weiche braune Haar. »Wenn die Götter im Spiel sind, gibt es keine Anständigkeit, mein junger Freund.« Er spürte, wie die Augen der Sklavin ihn prüfend musterten. Britannicus schützte ein Gähnen vor, dann winkte er sie herbei, auf dass sie ihn ankleide. Seine Hand hinter seinem Rücken zitterte.
Der steinerne Damm, der das Fremdenviertel in Tlacopan mit Tenochtitlán verband, war der kürzeste, aber auch der am meisten benutzte. Ein kurzer Blick auf den Menschenstrom veranlasste Britannicus dazu, einen anderen Weg einzuschlagen – den zum Kai, wo er eine Barke zum Übersetzen auf die Insel nehmen konnte.
Er hoffte, dass sein Gesicht sich nicht verändert hatte, als ihm der Junge gesagt hatte, dass ein Händler aus Chalcatzingo darum bäte, vorgelassen zu werden. Die Sklavin, der kein Wort entging – der niemals ein Wort entging –, war mit Sicherheit klug genug, eine verschlüsselte Botschaft zu erkennen. Zuvor hatte Britannicus mit seinem Agenten verabredet, auf diese Weise mit ihm Kontakt aufzunehmen, falls sich eine plötzliche Gefahr ergab. Er würde sich dann ohne Verzug zum Großen Tempel begeben, dem belebtesten und daher für einen Ausländer unverdächtigsten Ort im gesamten Tal. Wäre die Botschaft ohne den Jaguar überbracht worden, hätte dies bedeutet, dass sein Agent demaskiert worden und wahrscheinlich tot sei. Britannicus hatte beim Anblick der Figur in den Kinderhänden außerordentliche Erleichterung empfunden; nur vor sich selbst gab er zu, dass er in seinen Agenten verliebt war.
Britannicus hielt sämtliche Bänke auf der Barke für belegt, bis ihm der Steuermann gutmütig ein Zeichen machte, dass der Römer zum Heck kommen und sich neben ihn setzen möge. Als sich Britannicus hindurcharbeitete, bemerkte er, dass ihn einer der muskulösen Ruderer verstohlen am Unterarm berührte. Britannicus funkelte ihn an.
»Verzeiht mir, Herr«, sagte der Schiffer, »aber ich bin schon zu lange der Neugier preisgegeben.«
»Neugier worüber?«
»Ob Ihr Blut habt oder nicht. Ihr seid warm, also müsst Ihr Blut haben.«
Britannicus versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken, und arbeitete sich weiter durch das Dickicht nackter Knie. Alle Barbarenstämme, die unter der Herrschaft der Azteken standen, waren unter den Passagieren vertreten. Ein Ara hackte von der Schulter eines chiapischen Kaufmanns nach seinem silbernen Harnisch; sein Besitzer entschuldigte sich mit einem verlegenen Kichern: Beweis für die Scheu eines Volkes, das in der Abgeschiedenheit eines dichten Tropenwaldes lebte. Zwei ungerührte Tarasker, bei denen es sich um Soldaten auf Freigang handeln mochte, erwiderten kurz Britannicus’ Blick, dann sahen sie geringschätzig beiseite. Er hatte vernommen, dass diese Nordmänner so gnadenlos wie ihre öde Heimat waren.
Ein Mann, dessen Augen eine ausgeprägtere Mandelform als die der anderen aufwiesen, schien keinem Volk anzugehören, das bisher Britannicus während seines Aufenthaltes gesehen hatte. Auf einmal zog sich der Mann eine Kapuze über seinen Haarknoten, als ob ihn die leichte Brise störe, und schlenderte zum Bug, bevor Britannicus ihn in ein Gespräch verwickeln konnte.
Der Steuermann klopfte auf die durchgesessene Sitzbank neben sich, damit sich der Römer setze. »Hierher, bitte – wir müssen ablegen. Ihr erregt einiges Aufsehen.« Wie viele Azteken hatte der Mann eine krumme Nase und mahagonifarbenes Haar. »Ich habe Euch schon zuvor gesehen. Aber Ihr fuhrt immer auf den anderen Barken. Ihr seid ein Sonnenmensch, ja?«
»Ich bin ein Bürger Roms.«
»Ihr könnt Euch nennen, wie es Euch beliebt, Herr. Aber für uns seid Ihr ein Sonnenmensch. Ihr erhebt Euch aus dem Osten wie unser Gott Tonatiuh. Sagt mir bitte: Habt Ihr in Eurem Land die Bekanntschaft Quetzalcoatls gemacht?«
»Ich glaube nicht«, sagte Britannicus mit sorgfältig bemessener Höflichkeit. Diese Frage war ihm immer wieder gestellt worden. Offensichtlich wurde ein hiesiger Gott vermisst, und jeder rechtschaffene Azteke nahm es auf sich, den Aufenthalt des vermissten göttlichen Wesens herauszufinden. »Unser Reich erstreckt sich über die halbe Welt, und ich habe nicht alles davon gesehen.«
»Was ist mit Eurem Erhabenen – ist er ein Gott?«
»Bisher hat sich der Kaiser Germanicus diese Ehre versagt.«
»Wie kann ein Gott sich dafür entscheiden, keiner zu sein?«
Britannicus lächelte. »In unserer Welt halten wir alles für möglich.«
Der Steuermann verfiel in Schweigen; er schien mit den Antworten, die er erhalten hatte, nicht sehr zufrieden zu sein.
Der Römer war froh über die Einladung, so nahe am Heck zu sitzen. Er erhielt so Gelegenheit, über etwas nachzudenken, das ihm sein Agent gesagt hatte: »Alles, was Ihr seht, ist ein Traum für römische Augen – seit über einem Jahr laufen die Barken als blauer Dunst.« Was bedeutete, dass Maxtla wie eine schlaue Braut in ihrer Hochzeitsnacht vorgab, unerfahrener zu sein, als er tatsächlich war.
Britannicus begann, sich die Augen zu reiben, als ob ihm die stets rauchdurchsetzte Luft der Hauptstadt zusetze. Aus dieser vorgetäuschten Stellung heraus starrte er nach hinten auf den Heckaufbau. Wie bei allen Barken am Tetzcoco-See war er mit kräftigen Farben bemalt. Aber eine viereckige Fläche leuchtete sogar noch stärker, als ob sie – bis vor kurzem – von einer Abdeckung geschützt worden sei. Lauthals hustete er in seine Hand, dann ließ er seine Finger ins Wasser gleiten, wie um sie abzuspülen, aber als er sie wieder hob, streifte er über die Außenhaut der Barke. Einige Minuten später warf er einen Blick auf seine Fingerspitzen. Etwas haftete daran: Petroleum; und nirgends im gesamten Aztekischen Reich hatte er auch nur die allerprimitivste Maschine entdeckt.
Der Erhabene war keine Jungfrau – aber warum diese ausgeklügelte Täuschung für den römischen Freier?
»Sage mir«, fragte Britannicus den Steuermann und zeigte auf den Mann mit der Kapuze, der jetzt nach, vorne sah, »welchem Stamm gehört der da an?«
»Xing. So nennen sie sich selbst.«
»In welcher Richtung liegt dieses Land?«
»Weit hinter dem Westmeer.«
Daraus folgerte Britannicus, dass der Mann ein Serizaner war! »Warum ist er nach Tenochtitlán gekommen?« Er wartete noch auf eine Antwort, als er sah, dass die Aufmerksamkeit des Steuermannes von einem Adlerritter beansprucht worden war, der ihn zwischen den Schnabelhälften seines Kopfputzes hindurch anstarrte. Britannicus hatte in Erfahrung gebracht; dass diese auserwählten Krieger die Prätorianer-Garde des Aztekenreichs stellten. Der demütige Steuermann sagte nichts mehr.
Britannicus fuhr mit seinem Ellbogen über das Heft seines zeremoniellen Kurzschwertes, um sich zu vergewissern, dass die Waffe immer noch an seiner Seite befestigt war. Sein Herz hämmerte, obgleich er sich sagte, dass er schon an schlimmeren Orten gewesen sei. Es war wirklich nichts – ein Augenblick des Unbehagens, aber er sehnte sich nach einem Schluck Wein oder sogar Pulque, dem Barbaren-Getränk, das aus Kaktussaft gebraut wurde. Die bloße Erwähnung von Pulque reichte aus, um es Balbus übel werden zu lassen.
Die Barke glitt unter einer Brücke im Damm hindurch. Dieser hölzerne Überweg konnte, wie Britannicus mit dem Auge des erfahrenen Armeepioniers einschätzte, für den Fall zerstört werden, dass eine feindliche Armee die Hauptstadt belagerte.
Sobald die Barke den kühlen Brückenschatten verlassen hatte, konnte Britannicus den Ort sehen, den er einmal nur halb im Scherz das Forum Aztecum genannt hatte, denn die Schreine und Denkmäler waren mit einer Symmetrie und einer Anmut auf dem leuchtenden Marmorplatz angeordnet worden, die das Herz Roms im Vergleich unordentlich aussehen ließen. Alles an dieser Stätte sprach seine Ordnungsliebe an – bis auf das Blut, das auf einer der Zwillingstreppen des Großen Tempels klebte.
Er erstand im Basar am Fuß der massiven Pyramide einen Bund Amaranth, dann legte er seine Sandalen ab, bevor er jene Treppenflucht hinaufstieg, die die Priester an diesem Nachmittag nicht für die Beseitigung ihrer Opfer verwendet hatten. Fremde durften das heilige Bauwerk betreten, solange gewisse Liebenswürdigkeiten wie das Anbieten von Getreide befolgt wurden. Je höher der Römer stieg, desto stärker wurde der Wind. Die Geräusche des Basars unter ihm schwächten sich zu einem leisen Raunen ab. Zum ersten Mal seit Wochen konnte Britannicus die weißen Kegel der großen Vulkane am südöstlichen Talrand ausmachen.
Wenn es zutraf, was die Sklavin behauptet hatte, dass heute an diesem Platz Chalchiuhtlicue angebetet worden war, dann fragte er sich, warum der Göttin nicht bei ihrem eigenen schimmernden neuen Tempel über einer Quelle auf dem Chapultepechügel gehuldigt worden war. Die Zwillingsschreine auf dem Großen Tempel waren Tlaloc und Huitzilopochtli geweiht. Jetzt beschäftigte Britannicus die Bedeutung des letzteren Gottes. Huitzilopochtli war ihr Kriegsgott.
Der Römer erreichte die oberste Stufe und begann, mit auf dem Rücken verschränkten Händen um Huitzilopochtlis Monument herumzuwandern – als interessierter Tourist.
»Herr, darf ich eine Frage stellen?«, fragte die Frau, auf die er gewartet hatte, und umklammerte ihr eigenes Amaranth-Bündel.
»Sprich, Tochter.«
»Seid Ihr vielleicht ein Mensch aus dem Osten?«
»Das bin ich.« Britannicus sehnte sich danach, sie in die Arme schließen zu können. Doch selbst wenn keine Gefahr bestanden hätte, hätte er es nicht vermocht – sie hatte schon einmal seine Avancen zurückgewiesen und ihm einen Schmerz zugefügt, den er nie wieder spüren wollte. »Warum ist es wichtig, ob ich aus dem Osten komme?«
»Ich wünsche nur zu wissen, ob Ihr in Eurem fernen Land die Bekanntschaft Quetzalcoatls gemacht habt.« Sie sagte es mit lauter Stimme: In der Nähe fegte ein Tempeldiener die Treppe.
»Nein, Quetzalcoatl hat sich mir nicht offenbart. Wenn du mir ihn jedoch beschreiben würdest...« Britannicus führte sie zur Rückseite des Schreins. Erst als er sich vor Lauschern sicher wähnte, fragte er auf Latein: »Was ist geschehen, Alope?«
»So wenig Zeit...« Ihre Augen, die für gewöhnlich traurig blickten, leuchteten jetzt drängend. »Ihr müsst Tenochtitlán sofort verlassen. Nachdem ich Euch meine Botschaft sandte, erfuhr ich, dass Tizoc Meuchelmörder zu Euren Unterkünften in Tlacopan schickt.«
»Wann?«
»In dieser Minute.« Sie zupfte ihn an seinem Mantel und drängte ihn, ihr zu den Stufen zu folgen. »Kehrt nicht zu Euren Unterkünften zurück.«
»Was ist mit Balbus?«
»Ich habe ihm eine Nachricht gesandt; wir können nur hoffen, dass sie rechtzeitig eintrifft. Kommt, ich bringe Euch zur Barke nach Tenayuca. Euer Freund kann dort dann zu Euch stoßen.«
»Aber die Straßen von Tenayuca führen landeinwärts. Für eine Abreise müssten wir nur nach einer Bireme schicken und wären innerhalb von zwei Tagen Seereise in Nova Baetica.« Obwohl seine Beine länger als ihre waren, empfand er es doch als anstrengend, mit der Frau Schritt zu halten, während sie die Stufen hinunter und auf den Tempeldiener zueilten, der auf ihr Schuhwerk aufpasste, wenn er nicht gerade Kopalweihrauch in einem Feuerbecken verbrannte. »Wir befinden uns in diplomatischem Auftrag hier – unsere Ermordung würde Krieg bedeuten.«
»Das weiß Maxtla.«
Britannicus packte die Schulterbesätze ihrer Wildledertunika und brachte sie zum Stehen. »Was sagst du da?«
»Die Azteken sammeln ihre Kräfte, um gegen Euch Römer Krieg zu führen.« Sie setzte sich wieder in Bewegung.
Britannicus verfiel in Trab, um aufzuholen. »Wann?«
»In zwei Wochen, wenn nicht schon früher. Bei der Bucht von Xicalalango ist im geheimen eine große Flotte gebaut worden. Sie wird viele Krieger zu Eurer Provinz Nova Baetica befördern.«
Darauf folgte ihr Britannicus schweigend. Er sah, wie die Sonne goldene und kupferne Funken in ihrem dunklen Haar aufleuchten ließ. Alope war keine Aztekin. Sie gehörte zu den Indee, einem Volk der Neubarbaren, das sich mit dreißig weiteren Stämmen in einer großen kargen Wildnis südlich der römischen Garnison von Nova Petra durchs Leben schlug. Dieser Landstrich wurde als Anasazi-Föderation bezeichnet und diente als Pufferzone zwischen den westlichen Außenposten der Römer und den Azteken. Alope war die Botschafterin der Anasazi am Hofe Maxtlas – wenn sie sich nicht gerade damit befasste, den Sturz des Erhabenen voranzutreiben.
Als Diplomat gab sich Britannicus keinerlei Illusionen hin, dass die Anasazi-Stämme den Römern freundlich gesonnen seien. Sie verabscheuten sie lediglich etwas weniger als die Azteken. Und obwohl sich Britannicus vergegenwärtigte, dass der Befehlshaber zu Nova Petra für Alopes Zuverlässigkeit gebürgt hatte, so hatte er dennoch nicht vergessen, dass in den drei Dekaden seit der Besiedlung der westlichen Randzonen der Provinz Krieger der Indee rücksichtslose Überfälle auf römische Coloni verübt hatten. Das unauslöschliche Zeichen der Barbarei ruhte auf ihrem Volk: Von den Überfällen waren sie nicht abzubringen.
Zudem war es sehr wohl möglich, dass Alope außer in seinen auch in Maxtlas Diensten stand. Diese erschreckenden Nachrichten über Krieg mochten nicht mehr als eine Prüfung der Absichten des Kaisers Germanicus sein, und Britannicus hielt sie für wahrhaft friedlich.
Zugleich wusste er, was zu tun war: Er würde in seine Residenz zurückkehren, eine Amphore seines besten gallischen Weines öffnen und mit Balbus über diesen Bericht grübeln. »Alope...?«
Sie sah ihn an. Ihr hübsches Gesicht verriet Unruhe.
Er lächelte ihr zu, als er mit dem Kopf eine Bewegung zum Kai machte, von dem die Fähre nach Tlacopan abging. »Es tut mir leid – aber ich werde zurückgehen und die Sache mit Lucius besprechen.«
»Viele der Unsrigen haben ihr Leben in Gefahr gebracht, um sicherzustellen, dass Euer Kaiser hiervon erfährt.«
»Und ich werde dafür sorgen, dass Germanicus es erfährt.«
»Das werdet Ihr nicht mehr erleben, Britannicus Musa.« Jetzt standen Zornestränen in ihren Augen, deren Anblick er nicht ertragen konnte.
Britannicus wandte sich von ihr ab. Seine Miene, die kurz zuvor noch zärtlich gewesen war, hatte jetzt einen leidenschaftslosen Ausdruck angenommen. Welche Torheit, sich in jemanden zu verlieben, dem man nicht trauen konnte! Wütend auf sich selbst sah er dies als eine weitere Erscheinung seines wachsenden Unbehagens. Ein gemütlicher Spaziergang über den Campus Martius war lange überfällig. Aber im geheimen hegte er den Verdacht, dass er Rom nicht wiedersehen würde. Ein wiederkehrender Alptraum hatte in Britannicus allmählich die Überzeugung geweckt, dass er hier in Tenochtitlán auf den blutigen Stufen des Großen Tempels sterben würde.
Die Menge, die auf die Barke wartete, presste sich von vorne und hinten gegen ihn, und dann erklang hinter ihm – freundlich, aber unglücklich – ihr Flüstern: »Was auch immer geschieht, wendet Euch nach Norden. Entlang des Weges wird sich Hilfe finden.«
Er wandte sich um, aber sie war schon verschwunden.
Der Junge befand sich nicht in seiner Nische beim Portal. Britannicus rief nach ihm. Keine Antwort. Er lauschte angestrengter und legte seine Hand auf den kühlen weißen Mörtel der Mauer, als ob er nach Vibrationen tastete. Die Stille in seinen Gemächern hatte etwas an sich, das seinen Mund austrocknen ließ. »Lucius?«, rief er halblaut.
Einen Augenblick lang zögerte er, dann stahl er sich um die Ecke in einen atriumähnlichen Raum, der sich zum Garten hin öffnete. Der Diwan, auf dem sich Balbus hatte massieren lassen, lag umgestürzt da, und Britannicus folgte seiner Ölspur, die über die Bodenplatten hinaus in die Dämmerung führte. Der Garten war nur schwach beleuchtet.
»Ah, da bist du ja...« Als sich Britannicus seinem Freund näherte, ließ er die Sohlen seiner Sandalen auf den Gang klatschen, um Balbus ohne Schrecken aufwachen zu lassen. Doch der Mann lag weiterhin reglos mit ausgebreiteten Armen auf der steinernen Bank ausgestreckt.
»Lucius, ich habe Neuigkeiten...«
Dann sah Britannicus den langen Schnitt, der von Balbus’ Brustbein quer über den Bauch ging. An der Tiefe der Wunde erkannte er sofort, dass das Herz seines Adjutanten wie bei zahllosen anderen Opfern grausam herausgeschnitten worden war.
Diesem Schreck folgte unmittelbar darauf ein zweiter: Drei Adlerritter sprangen über die Gartenmauer und landeten mit einem dumpfen Geräusch auf der weichen Erde der Blumenbeete. Jeder hielt einen Gegenstand in der Hand, den er für ein aztekisches Pilum hielt, das eine Bleikugel mit Pressluft ausstieß. Vor Wochen hatte ihn Fürst Tizoc mit einer Darbietung der Fähigkeiten seiner Waffe beehrt. Der Römer hatte ein unterdrücktes Lachen kaum zurückhalten können, als ein Soldat heftig die Lederverschlüsse in den Schaft stieß und ein derart langsames Geschoss auf den Weg schickte, dass seine Bewegung vom bloßen Auge wahrgenommen werden konnte. Das Ziel – ein Kaktus – hatte keinerlei Schaden genommen; Tizoc hatte einen ungünstigen Wind dafür verantwortlich gemacht.
Daher war Britannicus jetzt wie vom Donner gerührt, als die Ritter die Waffen an ihre nackten Schultern setzten – und feuerten. Drei weiße Mündungsblitze ließen keinen Zweifel aufkommen, dass das Aztekenreich mit Schießpulver vertraut war.
Er hatte gerade seinen dritten Sprung zur gegenüberliegenden Mauer getan, als er plötzlich mit dem Gesicht in ein Blumenbeet stürzte. Der Blütenduft war ihm noch nie so durchdringend erschienen. Dann erkannte er durch eine wachsende Benommenheit, dass Blut über seine Augenbrauen floss und seine Nase hinabrann. Seine Finger ertasteten am Kopf eine Wunde.
Britannicus plagte sich wieder auf die Füße und schwang seinen Oberkörper über die Mauer. Bevor er seine Beine hinterherzog, warf er einen raschen Blick zurück: Zwei Krieger luden ihre Pili nach, der dritte jedoch warf knurrend sein Pilum beiseite, zog sein Obsidian-Messer und machte sich an die Verfolgung.
Nach seinem Aufenthalt in Hibernien, wo ein Legionär sich niemals in Sicherheit befand, hatte Britannicus es zu seiner Gewohnheit gemacht, sich Fluchtrouten zurechtzulegen, noch bevor er sie benötigte. Dieses Verhalten behielt er auch bei den angenehmsten Gastgebern bei – selbst in Rom.
Jetzt drückte er seine Hand an die Stirn, um den Blutfluss aufzuhalten, und rannte eine Gasse zwischen flachen Gebäuden hinab, deren Fenster von innen durch frisch angezündete Öllampen erleuchtet wurden. Gerade wollte er über einen Tempelplatz laufen, als die Türen eines Präsidiums aufschwangen und ein Kriegertrupp herausstürmte, der sich eiligst auf das Fremdenviertel zubewegte.
Britannicus zog sich auf das Anwesen eines Adeligen zurück, ein Waldgrundstück von derart prägnanter Schönheit, dass er sich fragte, wie ästhetische Empfindsamkeit und Wildheit in ein und demselben Volk existieren konnten – ein Volk der Blumen und des Blutes. Er verbarg sich in einem Farngebüsch, bis die Dämmerung der Nacht gewichen war, dann eilte er gen Nordwesten in das Landesinnere, bis er von einem Soldatenkordon aufgehalten wurde, der so eng gestaffelt war, dass jeder Mann seine beiden Nachbarn an den Schultern berühren konnte, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Aufstöhnend wandte er sich wieder dem Tetzcoco-See zu.
Eine Stunde später watete er durch einen Kanal, der zwei Anbaugebiete voneinander trennte, die die Azteken durch zwischen eingerammten Pfählen aufgehäuften Schlick erschaffen hatten. Hinter ihm konnte er vernehmen, wie jemand durch die grünen Maispflanzen raschelte. Er watete in den Tetzcoco hinaus und hielt an, um seine Wunde auszuwaschen. Seine Kopfhaut fühlte sich taub an, aber in seinem Kopf tobte ein wütender Schmerz. Vielleicht erleichterte das sogar seine Lage: Der Schmerz verhalf ihm zu besserer Konzentration.
Britannicus schnallte seinen Kürass ab und ließ ihn in den See gleiten. Als nächstes kämpfte er mit dem schmierigen Grund um seine Caligae, die er zusammenbinden und sich um den Hals hängen wollte, aber schließlich gab er es auf, löste die Schnüre und ließ die Sandalen im Schlamm stecken. Sein Schwert behielt er, nicht aber die Scheide. Nackt bis auf seine leinene Tunika war er froh darüber, dass das Wasser jetzt im Juni nicht mehr allzu kalt war.
Er wandte den Kopf und sah, dass ein Schatten aus dem Mais am Rand der äußeren künstlichen Insel hervorkroch. Die Gestalt hielt ein Messer in der Faust, und Britannicus fragte sich, ob es sich um den gleichen Adlerritter handelte, der im Garten die Verfolgung aufgenommen hatte. Vielleicht war ihm der Azteke durch ganz Tlacopan gefolgt, ohne ihm jemals hinterherzurufen – in der Erkenntnis, dass die Verfolgung nur schwieriger werden würde. Jetzt schien er darüber nachzudenken, ob er seiner Beute in den Tetzcoco folgen oder Unterstützung herbeirufen sollte.
Britannicus begann sich in die tieferen Gewässer zurückzuziehen.
Endlich brüllte der Krieger über seine Schulter: »Hier! Ich habe ihn! Holt Kanus, Brüder – schnell!«
Britannicus warf sein Kurzschwert beiseite und tauchte zur dunkelsten Seite des Sees. Im Unterschied zu Balbus, der bei den warmen Fluten des Mare Superum aufgewachsen war, war er kein guter Schwimmer, aber ein Schwimmversuch war immer noch besser, als durch Schlamm zu waten.
Nach kurzer Zeit ließen die Azteken Kanus und Barken zu Wasser, um nach ihm zu suchen. Bei dem knatternden Geräusch der Motoren – den ersten, die er im Reich der Azteken gehört hatte – verzog Britannicus das Gesicht. Auf den Bugs ihrer Boote hatten die Späher Öllampen befestigt, und nur durch ihr warmes Leuchten vermochte er die Barken auszumachen. Im Zickzack durchschwamm er den Tetzcoco, bis er am Rande der Erschöpfung den Boden mit seinen Zehen ertasten musste. Überraschenderweise erreichte der See an den meisten Stellen kaum mehr als Schultertiefe.
Sein Plan sah vor, dass er die Tepeyaca-Feste umschwamm und sich dann irgendwo bei den Riedbüschen in der Nähe von Atzacapotzalco an Land schlich. Von dort würde er sich in die Berge durchschlagen und auf die Hilfe hoffen, die ihm Alope für den Fall versprochen hatte, dass er sich nach Norden wandte.
Anderenfalls konnte er kaum hoffen, den blitzenden schwarzen Messern der Priester Maxtlas zu entkommen.
Die Boote steuerten jetzt weiter nach Süden entlang des Tlacopanufers. Vielleicht bezweifelte ihr Anführer, dass der Römer – selbst im Schutz der Dunkelheit – versuchen würde, das Wasser zu überqueren. Britannicus teilte jetzt seine Kräfte ein und schwamm alle zwanzig Stöße eine kurze Zeit auf dem Rücken. Nachdem er, ohne die Aufmerksamkeit des Postens zu erregen, unter der Deichbrücke hindurchgeschwommen war, fielen ihm keine weiteren Hindernisse ein, die ihn von seinem Weg abbringen konnten. Fast schöpfte er wieder Zuversicht und hätte in sich hinein gegrinst, wenn er nicht so unbarmherzig gefroren hätte.
Dann schoss ein Obelisk aus Licht vom Dach der Tepeyaca-Feste in die Höhe, dessen Kraft kaum vom bleiglanzfarbenen Dunst gebrochen wurde.
Electricus! Britannicus traute seinen Augen nicht. Allein Rom erfreute sich elektrischer Energie. Selbst Hibernien, das seit tausend Jahren einen Senator in der Curia gestellt hatte, heizte immer noch mit Torf und verwendete Kerzen als Lichtquellen. Dennoch protzte hier ein Barbar mit der Verwendung des größten Geschenkes des Kaisers Fabius an Rom.
Der Strahl kippte wie ein gefällter Baum und strich durch den Nebel, der über dem See lag. Britannicus tauchte, als er in seine Richtung schweifte. Die Helligkeit glitt über ihn hinweg. Die Spirulina-Klumpen, die um ihn im Wasser schwebten, verwandelten sich auf einmal in grüne Laternen und verschwanden dann wieder in Finsternis. Er durchstieß die Oberfläche, konnte aber nur wenige tiefe Atemzüge schöpfen – denn der Strahl kehrte zurück und verharrte über ihm.
Seit seiner Ankunft im Tal der Mexicae war Britannicus ein Geruch aufgefallen, der ihm vage bekannt vorgekommen war. Des Nachts wehte er durch den Dornwald nach Tlacopan und störte selbst dann, wenn er mit den Blumendüften des Gesandtschaftsgartens durchsetzt war. Endlich begriff Britannicus, dass die Azteken Petroleum verbrannten, jene schwefelige Substanz, die einst in den Kochern am Campus Martius verwendet worden war, um Electricus zu erzeugen – ein Verfahren, das offenkundig römisch war. Und das konnte nur bedeuten, dass Maxtla und seine Viper Tizoc...
Nein, nicht so schnell – durchdenke es noch einmal... von Anfang an, damit die Bedeutung hiervon nicht untergeht, mahnte Britannicus sich, als er nach Luft schnappend wieder auftauchte.
Jeder Kadett, der sich durch Machinalis Scientia hindurchgequält hatte, vermochte herunterzuleiern, wie Fabius, damals noch Militärtribun in Alexandria, Heros altes Dampfmaschinenmodell mit Prinzipien verbunden hatte, die der junge Edle aus dem Studium des parthischen Ölofens hergeleitet hatte. Fabius’ nächste Aufgabe bestand in dem Amt des Procurators über Germanien, wo er die besten Schmiede des Reiches mit dem Verlangen Ich brauche Stahl, der Hitze aushält! gepeinigt hatte. Sie lieferten ihm eine kohlenstoffhaltige Legierung, die ihres bereits großartigen Eisenerzes würdig war. Zwei Jahre später führte Fabius die erste dampfgetriebene Sandgaleere gegen einen Außenposten numidischer Rebellen. Die verängstigten Barbaren flüchteten Hals über Kopf in die Wüste und nahmen auf den Rücken ihrer Pferde ihre Unwissenheit in mechanischen Dingen mit sich.
Fabius’ Ruf als Genie war gefestigt – nicht jedoch seine politische Vertrauenswürdigkeit. Seine Offenheit wurde für Doppelzüngigkeit in einer Verschwörung gegen seinen Onkel, den Kaiser, gehalten, und nur das Eingreifen der Kaiserin bewahrte ihn vor der Hinrichtung. Er wurde nach Magnesia verbannt, einem abgelegenen Gebiet im westlichen Anatolien – wie alle scheinbaren Missgeschicke, die ihm zustießen, verwandelte Fabius auch dieses in seinen Vorteil. Er stellte fest, dass die dortigen Schäfer, die weit auf die öde anatolische Ebene hinauswanderten, einen Splitter aus schwarzem Stein an einer Schnur verwendeten, um die nördliche Richtung festzustellen. Fabius erarbeitete das Prinzip dieses Verfahrens, verbesserte das Gerät, umhüllte es in einem Gehäuse aus Messing und übergab dann seinen ersten Index oder Zeiger seinem Vetter, dem Admiral Isadorus Otacilius, dessen Flotte aus Holztriremen im nahen Ephesus stationiert war...
Britannicus rang nach Atem, rollte sich auf den Rücken und beobachtete, wie der Lichtstrahl über die Front des Großen Tempels zuckte. Er befand sich jetzt schon mehrere Stunden im Wasser, und die Götter allein wussten, wie viele Römische Meilen er zwischen sich und Tlacopan gelegt hatte. Seine Arme schmerzten jedes Mal, wenn er sie über die Oberfläche hob. Er machte weitere Züge und versuchte, die Pein erneut mit Machinalis Scientia zu verdrängen:
Wie jedes Kind wusste, hatte Otacilius Fabius’ Allwettermethode der Navigation so vollkommen vertraut, dass er sich weiter als jede andere römische Expedition vor ihm über die Säulen des Herkules hinauswagte. Er erhob den imperialen Anspruch auf die Novo Provinces und brachte nach Ostia Mais, Lungenkraut und – am sonderbarsten von allem – zwanzig blonde und rothaarige Menschen zurück, die sich einer Sprache bedienten, die man für Mittelgotisch hielt. Er benannte die gesamten Wälder und Tundren im Umkreis von tausend Meilen vor ihrer Küsteninsel Neugotland; die mildere Wildnis gen Süden nannte er Nova Baetica wegen ihrer Ähnlichkeit zu jener iberischen Provinz. Fabius jubelte: Er hatte die Größe des Reiches verdoppelt – mit einem Splitter schwarzen Steines!
Britannicus hielt mit seinen Schwimmbewegungen inne und begann sich mit den Zehenspitzen leicht vom Grund abzustoßen. Die Gedanken tropften aus seinem Kopf, und stattdessen machte sich eine erschreckende Melancholie breit, die durch ein lautes Klingeln in seinen Ohren angekündigt wurde. Er fragte sich, wie schmerzhaft es sein mochte, zu ertrinken. Electricus, befahl er sich, das alles war auf Electricus hinausgelaufen.
Zur gleichen Zeit, als Otacilius an den Küsten der Novo Provinces beschäftigt gewesen war, studierte Ptolemaeus, ein Grieche, der auf Kreta lebte, den Fabianischen Motor und die Eigenschaften der Magnesischen Eisensteine, um seiner persönlichen Vorstellung von Dynamikos Elektron Mechanes nachzugehen. Als sein Grundstück plötzlich im Mittagsglanz erstrahlte – um Mitternacht –, wurde er der Hexerei bezichtigt. Als kluger Mann schrieb Ptolemaeus seine Erfindung Fabius zu, der zu der Zeit bereits als voraussichtlicher Erbe des Thrones des Augustus anerkannt war. Die Anklage wegen Hexerei gegen den Griechen wurde fallengelassen, und mit der Zeit wurde er wie Sejanus in alten Zeiten der Mitstreiter in den Bemühungen des Kaisers...
Britannicus tauchte wieder. Er vergrub seine Hände im Schlick, um sich festzuhalten, während die Wasserwelt um ihn sich unter dem vorüberziehenden Strahl grün verfärbte. Electricus, ermahnte er sich, während die Luft in seinen Lungen allmählich zu sengendem Gift wurde. Er musste überleben. Irgendwie musste er das Aztekenreich bis zur römischen Garnison bei Nova Petra durchqueren. Diese affektierten Barbaren verfügten über Electricus und Schießpulver. Außerdem hatten sie Verbindung zum Serizanischen Reich, was nahezu alles erklärte. Belutschi-Händler beharrten auf der Behauptung, dass die Seidenmacher explodierendes Pulver kannten und dass ihre Königsstadt von Geräten beleuchtet wurde, die den Maschinen des Ptolemaeus ähnelten. Jedoch behaupteten diese Kaufleute auch, dass die serizanischen Adeligen die Füße ihrer Töchter verstümmelten, daher war alles, was sie sagten, mit Vorsicht zu genießen...
Hustend tauchte Britannicus in die Nachtluft hinauf.
Sein Augenlid zuckte, als ein Regentropfen darauf fiel.
Durch dichtes Dickicht blinzelte er die dunklen Wolken über ihm an. Er versuchte, sich zu erheben, konnte es jedoch nicht... vielleicht morgen. Sein Kopf schmerzte immer noch unter dem Ansturm des Fiebers, und der morastige Schlamm war kühl. Er brachte es nicht fertig, einen Blick auf seine zerschundenen Füße zu werfen. Er hätte unter allen Umständen seine Sandalen retten sollen.
»Auf, Oberst. Auf zum Einsatz«, röchelte er, als der Regen um ihn in das Schilf zu prasseln begann.
Er begriff, dass dieser lichte Augenblick nicht mehr als ein Hauch von Terra Firma in einem Meer des Deliriums war. Fieberhalluzinationen würden ihn bald abgelöst haben; daher konzentrierte sich Britannicus auf die einzig wichtige Frage: Wie viele Tage befand er sich bereits auf dem Weg nach Norden?
Wie Alope ihm gesagt hatte, würde die Flotte der Azteken in zwei Wochen gen Nova Baetica gesandt werden. Vor drei, vielleicht vier Tagen war er durch die verdunkelten Straßen von Tollan getaumelt, der legendären Heimat des abwesenden Quetzalcoatls (»Wenn ich fragen darf, Herr – habt Ihr ihn in Eurem Land kennengelernt?«), und hatte versucht, eine Schar von Jungkriegern abzuschütteln, die ihm den ganzen Abend an den Fersen geklebt hatte und ihn erwischt hätte, wenn er sich nicht in einem Gewirr riesiger Basaltköpfe mit böse verzogenen Lippen verborgen hätte. Er betrat Tollan in der Hoffnung, den besten Fährtensucher unter den rastlosen Jungen in die Irre zu führen...
Selbst jetzt, da er im kühlen Schlamm lag, erschrak er vor der Vision der nackten Leichen, die wie Heuhaufen bei der Aqua-Vitae-Faktorei seines Onkels aufgestapelt waren, Arme und Beine von den Rümpfen gesägt, Köpfe wie Steine aufgehäuft – jedes Gesicht wies den gleichen bösen Ausdruck auf, den er auf den finster starrenden Monolithen erblickt hatte. Haus des Blumenpfades hatte die fackelerleuchtete Inschrift über dem Eingang zu jenem Hades gelautet. Britannicus stöhnte leise und führte eine Handvoll feuchten Schlamms an seine Stirn.
Zwei Nächte vor Tollan war er durch die schwarzen Gewässer des Tetzcoco gewatet. Das Land zwischen dem See und Tollan hatte ihn verwirrt – nicht durch das, was er fand, sondern durch das, was er nicht finden konnte. Ja, es gab Amaranth- und Maisfelder, die ihn während seiner Flucht mit Nahrung versorgt hatten, aber selbst nach allergroßzügigster Rechnung gab es bei weitem nicht genug Anbau, um das ganze Volk der Azteken zu ernähren. Britannicus war auf einem Hof in Kaledonien aufgewachsen (seine piktischen Eltern hatten ihm einen Namen verliehen, von dem sie annahmen, dass er auf den Pachtherren in Londinium einen guten Eindruck machen würde), und er hegte keinen Zweifel daran, dass dieses Reich über seine landwirtschaftlichen Verhältnisse lebte – und dennoch keinen Hunger litt. Was einen Mann verblüffte, der seine Berechnungen über Herstellung und Verbrauch kannte.
»Doch helft mir, ihr Götter«, krächzte er mit schwacher Stimme, »wie viele Tage bin ich von Tenochtitlán fort?«
Vielleicht fünf oder sechs, antwortete er sich selbst. Beinahe die Hälfte der Zeit war verstrichen – und kaum ein Viertel der Strecke bis Nova Petra zurückgelegt. Über die Gegend, die vor ihm in schrecklichem Schweigen lag, wusste er nichts, als dass kein Legionär sie je durchquert hatte.
»Ich muss tief hinein«, murmelte er und unterdrückte seine Furcht.
Auf der Fahrt von Nova Baetica bis zum Hafen Zempoala hatte er Der Anatolische Aufstand gelesen, einen vor kurzem veröffentlichten Bericht darüber, wie Germanicus Agricola vor dem Anlegen des Purpurmantels einen Heiligen Krieg in Asia Minor beigelegt hatte. Der neue Kaiser war als anständig, wenngleich nicht als bescheiden bekannt – die Art Caesar, der ein Berufssoldat mit Stolz zu dienen vermochte. Aber natürlich waren alle neuen Kaiser anständig, wenngleich auch nicht bescheiden. Dann schüttelte Britannicus leicht seinen Kopf, als ob er sich ermahnte: Denke nur Gutes von Germanicus – dein Leben könnte davon abhängen.
Er plagte sich auf die Füße, taumelte, fing sich wieder und trottete durch den Wolkenbruch nach Norden. Seine Freunde hatten ihn oft gescholten, dass er römischer war als die Römer selbst. Ihr seid wahrhaft peninsular, hatte ihm einst ein patrizischer Kadett auf dem Campus Martius gesagt. Noch immer war es das schönste Kompliment seines Lebens.
Er schlurfte durch den ausgetrockneten Grund des Sees, dessen Senken dermaßen von Kali durchsetzt waren, dass selbst der allgegenwärtige Salzstrauch hier nicht überleben konnte, als er taumelnd zum Stehen kam, seine sonnenverbrannten Augenlider rieb und auf den Horizont vor sich starrte.
Er erkannte zwei Erscheinungen, die durch die Hitzewellen auf ihn zuliefen. Britannicus kicherte über die sonderbaren Bewegungen der Gestalten: Ihre Oberkörper verformten und verlängerten sich wie Fahnen im Wind oder verschwanden ganz und gar und ließen nur wild zuckende Beine zurück, die über die wasserlose Weite zu hopsen schienen.
Dann kann ihm in den Sinn, dass diese Gestalten seine Todesboten sein mochten. Er hockte sich auf die Fersen und dachte darüber nach. Wenige Augenblicke später unterdrückte er ein weiteres Kichern und schloss dann die Augen.
Schritte näherten sich. Ein Schatten fiel auf ihn – gnadenreicher Schatten. Gnadenreicher Tod. Britannicus öffnete ein Auge und sah zwei muskulöse braune Männer, die nur mit Lendenschurzen bekleidet waren.
»Kwira-ba«, sagte der eine Barbar in einer Sprache, die Britannicus noch nie vernommen hatte. Sein Gefährte stand hinter ihm, eine lange Keule ruhte auf seiner Schulter.
»Ihr... Maxtlas-Leute?«, fragte Britannicus auf Nahuatl.
Die Barbaren tauschten Blicke aus, die ihr Unbehagen darüber verrieten, dass der Römer im Dienst des Erhabenen stehen mochte.
»Dann... ihr Indee... Alopes Volk?«, bohrte Britannicus weiter.
»Nein«, sagte der Mann in einem Nahuatl, das noch gröber als das des Römers war. »Kein Indee... wir Raramurae!« Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf die haarlose Brust. »Ich ein Raramura!«
»Römer.« Britannicus zeigte auf sich, dann lachte er mit einer Ungezwungenheit, die die Barbaren zurückweichen ließ. »Nein, nein, ich tue euch nichts... kann es gar nicht... euch oder sonst jemandem. Ich bin am Ende.«
Er erhielt Wasser aus einer Kürbisflasche, die ihm weggenommen wurde, bevor er sie zur Gänze leeren konnte, und dann eine kleine feste Knolle. Sie ließ den ersten Speichel, den er seit Tagen hatte, sofort sauer werden. »Für Kraft«, wurde ihm versprochen.
Die Keule war in Wahrheit eine Trage aus Wildfell, die um zwei kräftige Stangen gewickelt war und jetzt aufgerollt wurde. Durch Gesten und wortreiche Erklärungen wurde Britannicus befohlen, sich darauf niederzulegen. Dann hoben ihn die Barbaren hoch, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben, und setzten sich unglaublicherweise in die Richtung in Trab, aus der sie aufgetaucht waren. Während der gesamten Zeit gaben sie durch nichts zu erkennen, dass Britannicus ihnen eine Last sei.
Er schützte sein Gesicht mit den Resten dessen, was einmal seine Tunika gewesen war, vor der Sonne und verlor dann das Bewusstsein.
Nach außerordentlich lebhaften Träumen erwachte er unter einem grinsenden Mond und erkannte, dass seine Retter ihn immer noch durch die Wüste schleppten. »Bitte haltet an.«
Sie beachteten ihn nicht, und erst nach ein paar groben Flüchen brachte er sie zum Stehen. »Hört, Brüder«, brachte er in stockendem Nahuatl hervor. »Dies müssen wir tun – bringt mir Pergament oder Vellum, ein Stück Kohle...« Ihre monderleuchteten Augen starrten ihn verständnislos an. »...Sachen, damit ich an den Fürst zu Nova Petra schreiben kann.«
»No-wah Pä-tra«, gaben sie in einstimmiger Fröhlichkeit zurück.
»Ja, meine Freunde.« Britannicus setzte sich ermutigt auf. »Und dann muss einer von euch schnell nach Nova Petra laufen und dem Fürsten sagen, dass Krieg kommt. In vier Tagen, vielleicht schon vorher.«
»No-wah Pä-tra«, wiederholten sie, sichtlich zufrieden, dass sich alle darüber einig waren, was zu tun war. Mit einem Ruck hoben sie Britannicus erneut auf und verfielen wieder in Laufschritt. Entmutigt ließ er sich zurückfallen. Offenkundig hatte ihr Auftrag gelautet, ihn zur römischen Garnison zu bringen, und genau das würden sie auch tun. Er hatte sein Bestes gegeben, und doch war es nicht ausreichend gewesen. Zum ersten Mal in einer ansonsten makellosen Laufbahn hatte Britannicus Musa versagt. Er war nicht länger peninsular.
Tränen traten in seine Augen.
In einem Zypressenhain auf dem Palatin lag verborgen ein kleiner Garten. Er gehörte dem Kaiser. Dort wuchsen einige seiner Lieblingsblumen wie die schlichte anatolische Wildnis. In der Mitte des Gartens stand eine Dolomit-Statue der Venus, aber nur langjährige Bekannte des Germanicus Agricola erkannten ihre Züge, die einem weiblichen Oberst ähnelten, der während seines Kommandos im Osten unter ihm gedient hatte – und während des Pamphileischen Putsches auf seinen Befehl hingerichtet worden war.
Die Morgensonne wurde durch keinen Lufthauch gemildert, aber der Kaiser wischte sich nicht über die Stirn, als er dem Knaben lauschte, der die Bank mit ihm teilte. Das Kind las aus dem Kodex Der Anatolische Aufstand, und seine Stimme fügte sich angenehm in das Gezwitscher der Vögel ein. »...die Kaiserin Pamphile traf Maßnahmen, um Fabius abzulösen und die Gewalt schwemmte durch das Reich: Wie einst Archimedes wurde auch P...Ptol.«
»Ptolemaeus.«
»...von Kreta von einem Legionär erschlagen, während er in mathematische Probleme vertieft war; der Senat wurde aufgelöst; und in Anatolien sah sich Procurator Germanicus zwischen barbarischen Fanatikern und den Verbündeten der Kaiserin, die aus der Unruhe in der Provinz Vorteile erschleichen wollten...«
Der Blick des Kaisers war wieder zum Antlitz der Statue geschweift. Dann bemerkte er, dass der Knabe aufgehört hatte zu lesen. Mit einem traurigen Lächeln legte er den Arm um das Kind. »Fahre fort, Quintus.«
»Wie weit noch, Onkel?«
»Fünf Minuten für eine weitere Sesterze.«
»Wie wäre es mit zehn Minuten für zwei?«
Germanicus versuchte ein strenges Gesicht zu machen, das Ergebnis war jedoch nicht sehr würdevoll. »Oh, nun gut... dies eine Mal.« Er küsste seinen Großneffen auf den Kopf.
»...Poppaeus, der Garnisonskommandant zu Agri Dagi, und die Obersten Marcellus und Crispa wurden Opfer ihrer eigenen Taten...«
Erneut wurde Germanicus’ Blick von der Statue gebannt. Vor erst vierzehn kurzen Monaten hatte sie gelebt – Fleisch, Blut, Stimme und blitzende wasserblaue Augen. Crispa hatte wie auch seine Frau den Styx überquert, aber die arme Virgilia war schon viele Jahre bettlägerig gewesen. Und sein Bruder Manlius war ebenfalls tot, eines von Pamphiles zahllosen Opfern.
Dieser Junge, sein Vater und seine Mutter waren alles, was von Germanicus’ Familie am Leben geblieben war.
Und sie waren keine Blutsverwandten:
In jenem Jahr, das das letzte seines Lebens sein sollte, hatte der Junggeselle Manlius seinen Assistenten an der Präfektur des Altertums, Quintus’ Vater, adoptiert. Der neue rechtmäßige Name des Mannes – Manlius Julius Agricola Ahenobarbianus – erwies sich außer für die allerförmlichsten Ansprachen als zu lang, daher bediente er sich auch weiterhin seiner ursprünglichen ersten beiden Namen: Gaius Nero – auch, weil der zweite auf einen berühmten Vorfahren, jenen kaiserlichen Narren, hinwies.
Germanicus hatte das Gefühl, seinem adoptierten Neffen eine Menge schuldig zu sein. Gaius Nero hatte die Beweise vorgelegt, die dem damaligen Präfekten der Prätorianer die Hinrichtung einbrachten und dadurch das Reich vor seiner ewigen Nemesis, der Spaltung, bewahrten. Der Verräter wurde in das Mamertinische Verlies gebracht, während er brüllte, dass Gaius Nero eigene Gelüste auf kaiserliche Macht pflegte: »Sagt Caesar, dass er sich nicht täuschen lassen soll! Dieser Tonscherbenarchivar hat schon bei dem Senat und mir vorgefühlt, noch bevor Germanicus aus Anatolien zurückgekehrt war!«
Im Beisein des Kaisers hörte sich Gaius Nero gelassen die Anschuldigungen des Präfekten an und sagte darauf: »Ja, es ist wahr.«
Germanicus starrte ihn an. »Erkläre mir das.«
»In der Verwirrung jener blutigen Tage kam es mir in den Sinn, dass mir Augustus’ Krone auferlegt werden mochte. Die Verluste des Julischen Hauses waren schwer, wie Caesar wohl weiß. Ja, ich suchte Rat bei bestimmten vertrauenswürdigen Senatoren – und werde mit Freuden ihre Namen nennen, sollte Caesar dies wünschen. Ich besprach die Angelegenheit auch mit dem früheren Präfekten der Prätorianer. Nur wenige Stunden nach dieser Unterredung erreichte mich die Nachricht, dass Ihr nicht in Agri Dagi getötet worden seid, wie es zuerst berichtet wurde.«
Germanicus lächelte schwach. »Dann ist die Sache erledigt. Jetzt ist es wichtiger denn je, dass die römische Welt nicht durch...« Germanicus unterbrach sich, bevor er weitschweifig wurde. »Jedenfalls ist deine Loyalität der eines Sohnes würdig.«
Gaius Nero schien vor Freude außer sich zu sein, und Germanicus begriff sofort, dass dies zu sehr darauf hingedeutet hatte, dass er den Mann selbst adoptieren mochte.
Das Angebot eines Prokonsulats – ein altehrwürdiges Amt, das Fabius nach der Prokonsularischen Verschwörung aufgelöst und Germanicus vor kurzem wieder eingeführt hatte – wurde von Gaius Nero höflich abgelehnt: »Onkel, ich habe keine militärische Erfahrung, die mich für diese Aufgabe vorbereitet. Doch würde ich auch gern in Rom unter deiner Obhut verbleiben. Wäre es zu viel verlangt, dass ich den Posten einnehme, den bis vor kurzem jener Verräter besetzte?«
Der Befehl über die kaiserliche Wache rangierte in der Ämterlaufbahn unter dem Prokonsulat. »Du wünschst, Prätorianerpräfekt zu sein?«, fragte Germanicus ungläubig.
»Jawohl, Caesar.«
Germanicus zuckte die Achseln. »Dann sei es.« Später tröstete ihn der Gedanke, dass ein verlässliches Familienmitglied seiner Familie das Amt einnahm, das häufig ein Sprungbrett für Usurpatoren gewesen war. Natürlich hatte Gaius Nero keine Ahnung davon, dass seine Thronfolge fraglich war. Genau diese Eröffnung hatte er ihm eigentlich machen wollen: Dass es, ginge es nach ihm, keine weiteren Caesaren geben würde, denn im geheimen beabsichtigte er, die Republik wiederherzustellen.