In andere Welten - C. Gina Riot - E-Book

In andere Welten E-Book

C. Gina Riot

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Beschreibung

Ein außerirdisches Objekt, das sich nicht zu erkennen gibt. Ein Alien mit seltsamen kulinarischen Bedürfnissen. Eine tödiche Epidemie, die mit einer Künstlichen Intelligenz in Verbindung zu stehen scheint. Eltern vor einem unumkehrbaren Entschluss. Fälschungen in der Matrix. Eine KI, die auf ihre Bewusstwerdung reagiert. Ein seltsamer Stoff auf einem fernen Planeten. Eine versklavte Erde. Ein Roboter mit Empathie. Die Reisen, die Sie in diesen 27, von wahrhaft fantastischen Autorinnen und Autoren verfassten Geschichten antreten, führen in die weite Ferne und in direkte Nähe und fast immer in die Zukunft. Doch egal, wo die anderen Welten liegen – sie haben immer etwas mit uns selbst zu tun. Kommen Sie mit! Sie werden den Besuch nicht bereuen.

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IN ANDERE WELTEN

Science Fiction Anthologie

C. GINA RIOT

CHRISTIAN ENDRES

CHRISTIAN HORNSTEIN

HELGE LANGE

ILJA KAUFMANN

JANNE REUEL

JOACHIM HAGEN

JOACHIM TABACZEK

JOL ROSENBERG

JONATHAN J. ANDERS

KAI FOCKE

KORNELIA SCHMID

MAXIMILIAN WUST

MORITZ BOLTZ

ODINE RAVEN

RALPH EDENHOFER

SABINE FRAMBACH

SARAH JAHED

SARAH MANN

SIMONE BAUER

SOENKE SCHARNHORST

SOPHIE FENDEL

TEA LOEWE

TERRY B. PERSSON

ULF FILDEBRANDT

VERONIKA CARVER

YVONNE TUNNAT

Inhalt

Das Ende des Suchraums

Sarah Mann

Das Geheimnis der Quelle

Sabine Frambach

Das Objekt

Jonathan J. Anders

Der Bjakuda

J. A. Hagen

Der Reiter

Helge Lange

Der sensible Planet

Christian Hornstein

Die Anspruchsvollen

Moritz Boltz

Die Reisenden

Sophie Fendel

Ein Augenblick im Kuun

Kornelia Schmid

Familienhilfe

Jol Rosenberg

Floating

Simone Bauer

Freelancer

Ilja Kaufmann

Geburtstage auf Alphasott

Yvonne Tunnat

Gott ist tot – verehret die Maschine

C. Gina Riot

Herr Gott

Soenke Scharnhorst

Ich bin Quai

Ralph Edenhofer

Macawrongs

Sarah Jahed

Menschgemacht

Janne Reuel

Ophion

Maximilian Wust

Schwarzer Draht

T. B. Persson

Selbsterkenntnis

Joachim Tabaczek

Terraf@rmer

Christian Endres

Toiberanium

Tea Loewe

Transstellare Substitution

Odine Raven

Von Menschen und Mechanischen

Ulf Fildebrandt

x.501

Veronika Carver

Zwischenstopp zum Biertanken

Kai Focke

Nachwort der Verleger

Spannende Science Fiction von A7LBooks

Das Ende des Suchraums

Sarah Mann

Da war er, der Doppelstern Diakos-Quart. Wunderschön, majestätisch, tödlich.

Brule verließ seine Konsole und trat zum großen Brückenfenster. Mit einem leisen Befehl an SALLY verdunkelte sich das Glas, um ihn vor der Strahlung der beiden Sonnen zu schützen.

Portio nuna, der kleine Bruder, und Calla dri, die große Schwester, tanzten die Schlussakkorde ihres Millionen Jahre alten kosmischen Ringelreihens. Achtzehn Jahre noch, bis sich die Geschwister im Zuge der zunehmenden Darwin-Instabilität in einem inzestuösen Feuerwerk vereinen würden, wie zu einem Ehepaar herangewachsene Kinder in der Hochzeitsnacht. Der dabei entstehende Mergerburst würde in Form einer roten Nova bis zur Erde sichtbar sein. Bis dahin war aber noch Zeit und die Sonnenwinde der beiden Sterne verdichteten sich durch die wirbelnden Gezeiten willkürlich und beide Sonnen wurden stetig auseinandergesprengt, was ein großes Glück für die Menschheit war. Aufgepeitscht durch die schier unvorstellbaren Gravitationskräfte stießen einige der Planeten der beiden Sonnen wie Murmeln zusammen, sobald ihre Astrosphären miteinander verschmolzen. Durch das Freisetzen gigantischer Mengen thermischer und kinetischer Energie hatte das stetige Bombardement zu einem galaktischen Staubnebel geführt, wobei ein Staubkorn die Größe eines halben Mondes erreichen konnte. Inmitten der Planetenkrümel, welche der Tanz der galaktischen Derwische hinterließ, wurden Schätze geboren. Tennisbälle aus Platin, Häuser aus Nickel, Kontinente aus Kobalt. Goldstaub inmitten einer brodelnden Suppe aus Stickoxiden sowie Wasser- und Kohlenstoff, garniert mit Inseln aus Neodym, Yttrium, Terbium und anderen seltenen Erden, deren Existenz erst hier an diesem unwirklichen Ort entdeckt worden war. Aber egal wie abgelegen, wie gefährlich, wie widersinnig dieser Sternenreigen war – hier gab es die Gelegenheit, Geld zu verdienen, und somit war die Menschheit nicht weit. Bei dem gesamten System handelte es sich um das größte jemals erschlossene Bergbaugebiet im gesamten All.

Und Brule Davirion war nun hier, weil es nicht mehr funktionierte.

Vor zwei Tagen hatte er mit seiner SALLY den äußersten Rand der Calla-Dri-Astrosphäre passiert und das Schiff in einer Umlaufbahn über der Lone Horizon abbremsen lassen, deren leere Metallmünder ihnen in nur wenigen Hundert Kilometern Entfernung entgegenklafften. Die Lone Horizon, diese gigantische Verladestation, kreiste in größtmöglicher Höhe in einer Bahn um das ganze innere Chaos, gerade weit genug weg, um nicht von den immer wiederkehrenden Sternenwinden ins All gedrückt zu werden. Es handelte sich um eine unbemannte Station, von der aus die automatisierten Schiffe des UHC, des United Humanity Council, den Abtransport der Erze steuerten. Dass die letzten Schiffe kaum noch Ladung trugen, wurde erst beim Umladen im Fomalhaut-Gürtel festgestellt. Doch dann brach Hektik aus. So schnell, wie die menschliche Zivilisation in den leeren Raum strebte, kam Diakos-Quart kaum mit dem Erzeugen der Rohstoffe hinterher. Die Zeit rannte. Neben dem UHC hatten eine unzählige Anzahl an Schürffirmen ein Interesse daran, herauszufinden, an welcher Stelle der Abbaukaskade es hakte. Nur würde es ewig dauern, bis die ersten UHC-Schiffe hier am Rande des bewohnten Raumes ankämen, deshalb wurde an alle Schiffe, die in der Nähe regelmäßige Transportrouten flogen, eine Nachricht ausgesandt. Doch so weit draußen hielten die meisten Schiffe nicht lange durch, viele verschwanden und wurden Teil der ewigen Nacht. Einzig SALLY hatte reagiert.

Allein schon die UHC-Botschaft hatte fast fünf Jahre gebraucht, bis sie Brule erreichte. Die bittere Wahrheit blieb zwar offiziell unausgesprochen, lag aber auf der Hand: dem UHC würde es nicht gelingen, rechtzeitig eine Aufklärungsmannschaft ins System zu schicken. Bei ihrer Ankunft wären die beiden Sonnen bereits verschmolzen und damit auch alle ihre Schätze und Geheimnisse.

Um Brule trotzdem bei seiner Aufgabe zur Seite zu stehen, hatte ihm das UHC zusammen mit der Nachricht einen Kog-Code geschickt. Er hatte daraufhin einen Andy auf Proxima Centauri drucken lassen, hatte es aber vermieden, den Code reinzuladen, bis sie Diakos-Quart erreichten.

Er mochte Androiden nicht. Sie waren nur mit dem langfristigen Ziel geschaffen worden, Brule und seinesgleichen aus der DSE, der Deep Space Exploration, zu verdrängen. Die Androiden waren Handlanger der Menschen und wussten es nicht einmal.

Als SALLY ihm vor zwei Tagen mitgeteilt hatte, Sichtkontakt zur Lone Horizon zu haben, lud er den Kog-Code in den leeren Andy und bereute es seitdem jede Sekunde. Das Ding nannte sich selbst Carl und war ein noch unerträglicherer Wichtigtuer als die menschlichen Gehirne, auf denen seine Programmierung beruhte. Auf Anweisung des UHC hatte SALLY das gute Dutzend der gewöhnlichen Arbeiter-Andys an Bord unter seine Kontrolle gestellt. Jetzt wuselte dieses vielgestaltige Protononhirn wie eine unruhige Insektenschar über Brules Schiff.

Carl trat neben ihn und riss ihn aus seinen Gedanken. Hinter ihnen flirrten die gekaperten Andys nicht nur wie Insekten über die Brücke, sondern redeten auch über nichts anderes als Ameisen und übriges Getier.

»Die Antys, wo sind sie? Sind sie vielleicht hinter den Sonnen?«

»Sensordaten nicht konklusiv. Kein Beetle-Schwarm reagiert auf Anpingen.«

»Verschwundene Materialmasse wird noch errechnet.«

»Auch die Termyts antworten nicht.«

Carls teurer Hauptkörper, den man auf ProxCen extra nach den übersandten Kog-Mustern des UHC gedruckt hatte und der deshalb nicht nur haargenau aussah wie ein Mensch, sondern teils auch deren absurde Manierismen zeigte, wippte wie ein Kind neben Brule auf und ab.

»Alle Beetle-Schwärme sind weg«, sagte er in einem Ton, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. »Die Antys, die Termyts, die Birdys, alle. Warum?«

Brule zuckte die Schultern. »Streik?«

»Das ist Sarkasmus, nicht wahr? Keine Antwort, die zu einer konstruktiven Lösung beiträgt. Ist das ein Ausdruck von Frust? Möchtest du über etwas reden, Brule?«

Wäre Brule nicht mit einem stoischen Gemüt gezüchtet worden, hätte er Carl schon längst eine gescheuert.

»Ich weiß weder sonderlich viel über Antys noch über sonst irgendwelche anderen evolutionären Algorithmen. Du hast doch eine gesamte Datenbank über Beetles in deinem Kog-Modul. Also, warum fragst du mich?«

»Damit du am Entscheidungsprozess partizipierst. Das fördert das Zusammengehörigkeitsgefühl des Teams.«

Wir sind kein Team, wollte Brule diesem Protonengehirn entgegenschnauzen, hielt sich aber zurück. Der Andy konnte nichts dafür, wie er sich verhielt. Er folgte nur seiner Programmierung.

»Fein, dann partizipiere ich halt. Wie können die Antys verschwunden sein? Lass uns darüber nachdenken. Es muss mehrere Millionen von ihnen hier im System geben, oder? Manche vielleicht klein wie eine echte Ameise, andere groß wie ein Shuttle. Die sollten kaum zu übersehen sein. Möglicherweise wurden sie alle von einem Virus für mechanische Ameisen angefallen. Oder die anderen Beetles sind durchgedreht und haben sie gefressen. Wie viele Beetle-Schwärme gibt es?«

»35. Jeder einzelne sollte anpingbar sein, aber keiner antwortet. Der größte, von der Firma Fukuyama-Iwanoski betrieben, hat zuletzt das Objekt XLG3676 abgetragen. Es gelang SALLY, es ausfindig zu machen. Von der ursprünglichen Größe ist es auf ein Zwanzigstel zusammengeschrumpft. Die Schürfung muss nach Übermittlung der letzten Daten weitergegangen sein, aber das abgebaute Erz wurde nie zur Lone Horizon gebracht. Dafür gibt es keine Erklärung. Im Algorithmus aller Birdy-Schwärme war die Station als Nest einprogrammiert, zu dem sie ihre Beute brachten. Dass eine Laugung von XLG3676 stattgefunden hat, steht fest. Aber nicht, was danach mit dem abgetragenen Erz geschah. Auf der Lone Horizon kam es nie an.«

»Und die anderen Beetle-Modelle außer den Antys, was ist mit denen?«

Die Arbeiter-Andys, anscheinend alle bemüht, sich bei Brule einzuschmeicheln, überschlugen sich mit Antworten. Eine alte Blechbüchse, die Brule einst aus einer Schrottfabrik auf Kuxel gerettet hatte, erhob als Erstes die Stimme.

»Das Termyt-Nest auf HUXUl-3a ist verlassen.«

»Die Birdys dort antworten auch nicht, auf keinen unserer Rufe«, sagte Smiley, ein Andy, dem Brule eines Tages im Suff einen Smiley auf die Stirn gemalt hatte.

»Ich habe Spuren der Moldyfungs auf mehreren Gesteinskörpern entdeckt, aber kein Wachstum detektiert«, schaltete SALLY sich ein.

Moldyfungs. Brule musste das Schmunzeln unterdrücken, das dieser Name gegen seinen Willen in ihm auslöste.

Schon mit dem Oberbegriff für die hier ansässigen Nanomaschinen – Beetles – war dereinst eine entschieden biologische Terminologie gewählt worden. Die Beetles waren speziell für Diakos-Quart entwickelt worden. In diesem System nützten weder Menschen noch gewöhnliche KIs etwas, das war bald nach Entdeckung des gigantischen Schürfvorkommens klar gewesen. Die andauernden Kursänderungen der Millionen von Gesteinsbrocken, die nach der Massenkollision der inneren Planeten übriggeblieben waren, stellten sich als – im wahrsten Sinne des Wortes – unberechenbar heraus. Selbst eine Zusammenschaltung der leistungsstärksten KIs ermöglichte keinen sicheren Bergbau. Getrieben durch fluktuierende Gravitationspulse, sich minütlich ändernde Gezeitenkräfte, Sonnenwinde und spontane Explosionen war das Diakos-System ein einziger kosmischer Mahlstrom. Die in ihm herrschende Physik war zu chaotisch, um sich der Mathematik zu beugen. Aber dann war das UHC clever gewesen und auf die Idee gekommen, das Potenzial der evolutionären Algorithmen auszuloten. Wenn die überlegene Intelligenz der KIs keine Schürfungen ermöglichen konnte, dann sollte es die dezentralisierte Beetle-Schwarmintelligenz versuchen. Das war der ganze Sinn der Beetles: eine möglichst gute Anpassung an unvorhergesehene und sich ständig ändernde Rahmenbindungen. Ein zentralisiertes System hatte den Nachteil, dass die individuellen Komponenten immer den vorgegebenen Programmierpfaden folgen mussten, was in den ersten Diakos-Quart-Feldversuchen vor 150 Jahren zu teuren Totalschäden geführt hatte. Die dezentrale Intelligenz verschiedener Schwarmtypen ließ sich hingegen elegant kombinieren. Im Grunde folgten sie einem simplen Algorithmus: Die maximale Menge Erz sollte schnellstmöglich abgebaut werden, was hieß, den kürzesten Weg zurückzulegen. Die Technik war alt: Man gab einem Schwarm ein abgestecktes Suchfeld, definierte, was er wie suchen soll und schickte ihn auf die Reise.

Die meisten Firmen arbeiteten mit Kombi-Schwärmen, die sich die verschiedenen Phasen des Erz-Abbaus aufteilten. In der ersten, der Suchphase, schwärmten die Antys aus, um geeignete Schürfgebiete zu finden. Im Gegensatz zu echten Ameisen verteilten sie statt Pheromonen Nanobots auf ihrem Weg durchs Sonnensystem. Je mehr Nanobots sich um ein Stück Gestein sammelten, desto erträglicher war es. In Phase 2 kamen dann entweder die Termyts oder die Moldyfungs zum Einsatz, abhängig vom entdeckten Erz. Nach ihrem tierischen Vorbild, den Termiten, gruben die Termyts sich ins Gestein ein, lösten mithilfe der bakteriellen Biolaugung die Metalle heraus und brachten sie durch eine Vielzahl von Gängen an die Oberfläche, wo sie dann einfach nur noch eingesammelt werden mussten. Die von den Schleimpilzen inspirierten Moldyfungs gruben sich zwar auch ein, benutzten die Biolaugung aber nicht zum Auslösen der Erze aus dem Gestein, sondern zu dessen Sprengung. Dann wucherten sie großflächig in die entstehenden Ritzen, bis eine große schaumige Masse entstand. Sie wurden vor allem bei vielen kleinen Vorkommen eingesetzt, die mit der sich ausdehnenden Masse der Schleimpilz-Beetles zu einem größeren Konglomerat zusammengefasst und abtransportiert werden konnten. Für den Abtransport gab es die Birdys, Beetle-Schwärme, die Vögeln und Fischen nachempfunden waren. Ihre Größe variierte zwischen Nanoskala und Raumschiff, jeder einzelne Beetle war ausgestattet mit einem wendigen Antrieb, aber keiner sonderlichen Intelligenz. Sie taten im Wesentlichen nur das, was die Beetles vor und neben ihnen auch taten. Wenn die Leitbeetles der Birdy-Schwärme einem heranrasenden Asteroidenfeld auswichen oder von einer Magnetfeldumkehr abgelenkt wurden, dann folgte der gesamte Schwarm, ohne dass die einzelnen Beetles darauf hätten programmiert werden müssen. Eine gigantische Murmuration, die sich, vollgepackt mit den wertvollsten Rohstoffen, von jedem Punkt des Systems zur Lone Horizon bewegen konnte.

Im volatilen System von Diakos-Quart war eine einzigartige Synthese aus den Errungenschaften der Nanoraumfahrt, der Kunst evolutionärer Algorithmen und der menschlichen Gier gelungen. Die Beetle-Schwärme hatten es möglich gemacht. Und nun waren sie alle verschwunden. 35 Schwärme von etlichen Firmen.

Zwei der Andys begannen sich lauthals zu streiten. Einer hatte einen glatten Schädel, eingerahmt von einem Dutzend Konnektoren, was Brule vor Jahren dazu verleitet hatte, ihn Konny zu nennen.

Brule rieb sich die Nasenwurzel. Er verabscheute es, wenn die Andys so taten, als wären sie Menschen, und miteinander stritten. Carl legte Brule eine Hand auf die Schulter. Brule musste sich zusammenreißen, um sich nicht vor Abscheu zu schütteln. Die Geste sollte wohl Vertraulichkeit vermitteln. Brule konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Kog-Engramme des UHC in Carl um die Vorherschafft stritten und ihn mit dieser Pseudomenschlichkeit umgarnen wollten. Bestimmt dachten sie, er wäre ganz hingerissen, würde nach all den Jahren der Einsamkeit bei der kleinsten menschlichen Geste dahinschmelzen. Sie begriffen nicht, wie widernatürlich ihre Bemühungen waren, dem Künstlichen menschliche Verhaltensweisen aufzudrücken.

»Wie lautet dein Vorschlag, Brule? Ich bitte um deine Mitwirkung.«

Brule zwang sich zu einem Lächeln. Wenn Carl sich einfach wie ein gewöhnlicher Andy aufführen würde, wäre alles halb so schlimm. Aber die Empathie-Engramme, nur hochgeladen, um Brule zu manipulieren, ließen ihn herumstolzieren wie ein Gockel. Letztlich war der wenige Tage alte Androide nur ein Roboter, benahm sich jedoch, als wären sie beste Freunde.

Brule deutete auf die sich immer noch streitenden Andys.

»Was soll das eigentlich? Die ganzen Andys sind doch nur dein eigenes Expansion-Pack. Du streitest mit dir selbst.«

»Korrekt. Es dient zur besseren Kommunikation mit dir. Du bist menschlich genug, dass dich ein anderes Verhalten irritieren könnte.«

»Ich bin genauso wenig ein Mensch wie du, hör auf, mich mit ihnen zu vergleichen. Mich irritiert es, dich Selbstgespräche führen zu sehen. Lass das!«

Augenblicklich verstummten die Andys und himmlische Ruhe kehrte auf der Brücke ein.

Brule atmete tief ein. »Ah, endlich.«

»Brule, ich bitte um deine Mitwirkung. Die Lone Horizon hat nicht auf unser Anpingen reagiert.«

»Das wird sie auch nicht. Diese Raumstationen sind für gewöhnlich nicht von außen bedienbar. Vorsichtsmaßnahme gegen Hackerangriffe.«

»Dann müssen wir nachschauen. SALLY, bring uns rein!«

Brule verkniff sich einen Kommentar. Eigentlich hatte er das Kommando inne, aber Carl konnte zumindest auf SALLYs offene Erstrangcodes zugreifen. Es lohnte nicht, hierüber zu streiten.

Sein stiller Groll wurde bald abgelenkt von dem gigantischen Mund der Lone Horizon, der sie umschloss wie ein Wal einen kleinen Fisch. Dabei musste er an die archivierten Geschichten unglückseliger Jünglinge denken, die von den ausgestorbenen Meeressäugetieren dereinst verschlungen wurden. In den vielen trostlosen Stunden der letzten Jahrzehnte hatte Brule seiner Fantasie im Übermaß freien Lauf gelassen und so fühlte er sich jetzt wie die Pinocchios und Jonase vergangener Zeiten. Er war mit SALLY schon in Hunderten Raumhäfen eingefahren, viele davon auch dauerhaft unbemannt, aber mit einer derartigen Einsamkeit war er noch nie konfrontiert worden. Selbst in den menschenleeren Stationen der Grenzzone wurden Waren über Förderbänder transportiert, Roboter schoben Kisten über den Boden und Gepäckarme bewegten sich flink durch die riesigen Hallen. Auch wenn es weit und breit nichts Lebendiges gab, so war da doch immer diese klackernde Imitation echten Lebens. Meistens gab es ohnehin kleine Bars, in denen sich der ein oder andere Artificial oder Andy fand und auf die Fertigstellung der Lieferung wartete. Aber im Maul der Lone Horizon war nichts. Da die Station voll automatisiert war und hier niemals Menschen erwartet wurden, ging auch nicht wie sonst Licht an, sondern SALLYs Scheinwerfer leuchteten alles aus. Langsam glitten sie durch den immer offenen Einflugbereich. Rechts unter ihnen lagen die Sammelcontainer für die Erze, größer noch als die Schiffe, die sie abtransportierten. Sie waren alle leer, SALLY konnte noch nicht mal ein Staubkorn detektieren. Vorne, am Übergang zur Innen-Unit, warteten die Transportroboter auf ihren metergroßen Rollen, auch sie waren leer. Keine Schiffe lagen in den Buchten, keine Artys in DUGGS oder Menschen in Raumanzügen wuselten zwischen ihnen umher, keine Boxen stapelten sich neben ihren Frachträumen. Auch ohne das Vakuum des Weltraumes war dieser Ort still wie ein Friedhof. Brule schloss kurz die Augen. Die Ruhe war zwar erdrückend, aber trotzdem voller Schönheit. So war das All, weit und lautlos. Die Menschheit versuchte ihm ihre immer schwirrende Lebenslust aufzudrücken, es mit Vitalität zu unterjochen, aber genau so war es richtig: tot, kalt und stumm.

Wieder spürte er Carls obszön organische Hand auf seiner Schulter. Diesmal konnte er nicht anders, er musste sie abschütteln. Alles an dieser Berührung war ihm zuwider. Der Druck, die Position der Finger, die Temperatur, alles genau angepasst an menschliche Physiologie. Er wunderte sich selbst über die Heftigkeit seiner Abscheu, schließlich waren ihm eigentlich nur Berührungen von Menschen unangenehm, nicht von Andys. Es musste Carls täuschend echter Körper sein, der Erinnerungen weckte, die Brule lieber vergessen wollte. Immer mal wieder hatte es in den Raumhäfen der Außenzone Männer oder Frauen gegeben, die intimen Kontakt zu ihm gesucht hatten, viele beschwingt von der Vorstellung, es mal mit einem Artificial zu tun. Früher, es war lange her, hatte er sich in den seltenen Momenten der Einsamkeit darauf eingelassen und sich anschließend dafür verachtet. Er hatte sich schon häufig gefragt, warum die Menschen den Artificials das Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten nicht genommen hatten. SALLY wusste darauf keine Antwort. Entweder hatten sie die zuständigen Gene nicht gefunden oder sie waren schlicht grausam. Die Andys wiesen diese Schwäche nicht auf. Definitiv ein Wettbewerbsvorteil.

Carl starrte ihn an. »Habe ich dir Schmerzen zugefügt?«

Brule schüttelte den Kopf, vermied es aber, ihn direkt anzusehen.

Der Androide legte den Kopf schief. »Ich gehe jetzt auf die Lone Horizon. Du bleibst hier.«

»Ausgeschlossen. Ich bin verantwortlich für diese Mission. Ich komme mit.«

»Mir ist kein derartiges Protokoll bekannt. Wir wissen nicht, was uns auf der Station erwartet. Dein menschenli …«

Brule sah ihn scharf an.

»Dein menschenähnlicher Körper ist verletzlich. Meiner nicht. Ich brauche keinen Sauerstoff mitzunehmen, benötige kein Licht und bin unempfindlich für Strahlung.«

»Und ich bin extra für die DSE gezüchtet worden. Auch ich brauche kaum Sauerstoff, kann mich in Schwerelosigkeit sicher bewegen und mit meinen Konnektoren genauso gut mit der Station oder mit SALLY kommunizieren wie du.«

»Trotzdem hast du, um dich vor der Strahlung zu schützen, die Schilde hochgenommen, als du die Sonnen betrachtet hast. Es gibt keinen Grund, dich zu gefährden.«

»Du bist noch nicht zugelassen für die Leitung einer DSE. Das ist nur ein Probelauf. Sollte es zu Problemen kommen, bin ich verantwortlich. Das heißt, ich komme mit. Noch habe ich die Autorität hier, nicht wahr?«

Carl nickte, der Ausdruck in seinem Gesicht respektvoll. Brule musste vorsichtig sein. Die Mimik dieses Andys war bedeutungslos, nur eine Maske. Eine gigantische Abfolge von Einsen und Nullen wollte Brule seine Daseinsberechtigung wegnehmen, das war alles. Dabei wäre er liebend gerne an Bord der SALLY geblieben. Aber am Ende machte der Andy nur verwirrende Entdeckungen, mit denen er nichts anzufangen wusste und verkomplizierte die ganze Angelegenheit unnötig.

Zusammen mit Carl, Smiley und Konny stieg er in die Luftschleuse und stülpte sich eine DUGGS-Schicht über Gesicht und Hände, die ihn vor dem Druckverlust und der Kälte des Vakuums schützte. War er mal mit menschlichen Raumfahrern unterwegs, war dies der Moment, in dem spätestens herauskam, dass er ein Arty – ein Artificial - war, da er viel weniger Aufwand für einen Außenspaziergang betreiben musste als die Menschen. Es war ein komisches Gefühl, nun selbst derjenige zu sein, auf den alle warteten. Aber zumindest musste er sich in Carls Anwesenheit keine dummen Sprüche oder als Nachfragen getarnte Beleidigungen anhören. Zwar war Diskriminierung gegen die Künstlichen offiziell geächtet, aber hinter vorgehaltener Hand dennoch Alltag.

Brule packte noch einen Laserschneider ein, falls das Kog-Modul der Station fest in der Konsole verbaut sein sollte. Dann öffnete sich die Luke und er und die Andys sprangen ins Maul der Lone Horizon.

Die Station hatte eine rudimentäre Gravi-Technik, wahrscheinlich damit die Erze nicht durch die Gegend flogen und besser sortiert werden konnten. Da die Lone Horizon nicht für Menschen, sondern für teils meterhohe Transportroboter gebaut war, ähnelte die Architektur aneinandergereihten Opernsälen. SALLY besaß die Pläne in ihrem Speicher und leitete sie über die Konnektoren durch das geräumige wie verwirrende Labyrinth.

»SALLY«, fragte Brule über seinen privaten Konnektor, »wie heißt es, wenn man Platzangst und Klaustrophobie gleichzeitig hat?«

»Angst, Brule. Zielt die Frage darauf ab? Meine Sensoren nehmen einen beschleunigten Herzschlag wahr. Du solltest ihn reduzieren.«

Brule fluchte leise. Die Andys bewegten sich mit der Präzision von Katzen und erhielten bestimmt keine Tipps wegen eines hyperaktiven vegetativen Nervensystems. Er musste sich den Tatsachen stellen. Er war ein Auslaufmodell.

»Wenn ich mir die Frage erlauben darf, Brule: Warum bist du mitgekommen? Aufgrund der vorliegenden Daten sollte mit schädlicher Aktivität gerechnet werden. Ich gehe davon aus, dass du diese Einschätzung teilst. Deshalb verstehe ich dein Handeln nicht.«

»Verstehen tust du es vielleicht nicht, aber du hast Interpretationen. Ideen?«

»Wahrscheinlichkeiten für die unterschiedlichen Hypothesen können nicht benannt werden. Hypothese 1: Du verspürst suizidale Impulse. Bei unserer letzten Psyche-Sitzung sagtest du nichts dergleichen und meine Sensoren geben keinen Hinweis auf eine Dysbalance deines Serotonin- oder Dopamin-Stoffwechsels. Die Hypothese wird verworfen. Hypothese 2: Du verspürtest den Wunsch, Carl zu helfen. Die Wahrscheinlichkeit hierfür wird als gering angesehen. In unseren bisherigen Interaktionen zeigtest du nie eine besondere Affinität zu Androiden. Die Hypothese wird behalten, aber infrage gestellt. Hypothese 3: Dir liegt das Gelingen der Mission am Herzen. Auch diese Hypothese wird verworfen. Ich habe seit Beginn unserer Zusammenarbeit deutliche negative Signale deinerseits in Bezug auf die Menschheit wahrgenommen. Es ist nicht schlüssig, warum du einen solchen Einsatz zeigen solltest, um dieses Schürfgebiet wieder zu erschließen. Hypothese 4: Deine Motive entziehen sich meiner Erkenntnismöglichkeit.«

Brule lachte. Er liebte es, SALLY in ihren eigenen Logikschleifen köcheln zu lassen. Wenn sie etwas nicht verstand, konnte sie ganze Jahrzehnte darauf herumreiten.

Die Stations-KI der Lone Horizon stellte sich als kleiner Kasten ohne Bedienungsinterface heraus. Theoretisch war dies auch nicht nötig. Sie war lediglich damit beschäftigt, den Zustand der Station zu überprüfen und bei einer festgestellten Beschädigung ihre eigenen Beetles zur Reparatur zu schicken. Allerdings gab es einen Datenspeicher, der interessant sein dürfte. Hier sollte sich der Code finden, der die Lone Horizon zum Nest für unzählige mechanische Vögel und Fische machte.

Carl entfernte die linke Fingerkuppe seines Daumens und steckte ihn in den Datenport.

»Hallo«, sagte plötzlich eine Stimme aus dem Nichts. Brule zuckte zusammen, während die Andys stoisch umherblickten. Er fluchte.

Natürlich.

Irgendeine Form von Kommunikationsinterface musste es geben, die gab es eigentlich immer, selbst auf den radioaktiv verseuchten Baggerstationen von Cowalt-3.

»Hallo Lone Horizon«, sagte er. »Wir sind vom UHC. Du kannst gerne einen DNA-Abgleich bei mir machen.«

»Schon erfolgt. Willkommen Brule782.«

Für einen kurzen Moment stockte er. Diese Kennung hatte er ewig nicht gehört, da er schon vor Jahren seinen selbst gewählten Nachnamen Davirion offiziell hatte eintragen lassen.

»Lone Horizon, warum wirst du nicht mehr als Nest angeflogen? Hat sich dein Code verändert?«

»Nein. Mein Code ist unverändert. Als Reaktion auf das Ausbleiben der Beetles habe ich nur den Suchraum erweitert. Sie kehrten aber weiterhin nicht zurück.«

»Hmmm«, Brules Gedanken rasten, »SALLY wird dich scannen. Vielleicht kann sie etwas feststellen.« Über seine internen Konnektoren gab er einen kurzen Befehl: XTria3.

»Gab es Veränderungen im System, bevor die Beetles ausblieben?«, fragte Carl.

»Ja. Es wurden zwei neue Strukturdaten von den Leitbeetles der jeweiligen Schwärme übermittelt. Ursprünglich war das nicht ungewöhnlich, da es andauernd Veränderungen im System gibt. Im Verlauf zeigten sich aber Auffälligkeiten, vor allem da sich die Strukturen örtlich nicht veränderten, was als absonderlich bewertet wird. Dann flogen die Beetles mich nicht mehr an und es wurden keine weiteren Daten generiert.«

»Wir brauchen die Koordinaten dieser zwei Strukturen.«

»Übermittlung wird eingeleitet. Kann ich euch sonst noch helfen? Es ist ganz nett, sich zur Abwechslung mal zu unterhalten, auch wenn ihr keine Menschen seid.«

In dem Moment erschütterte ein Stationsbeben den Gang und die Andys und ich fielen um wie Kegel.

»Gefahr«, ertönte SALLYs Keine-Panik-Stimme in Brules Kopf, »sofortige Evakuierung.«

»Was ist passiert?«, fragte Carl über die Konnektoren.

»Unbekannt. Evakuiert!«

Smiley rannte, anscheinend vollkommen kopflos, in die falsche Richtung und Konny bewegte sich gar nicht. Brule fluchte. Ausgerechnet jetzt fingen die Unfehlbaren an, herumzuspinnen.

»Carl! Tu was!«

Carl zog an Konny und schüttelte den Kopf.

»Die Verbindung wurde unterbrochen.«

Ein weiteres Beben brachte ihn ins Straucheln, dabei blieb sein Gesicht unnatürlich ruhig, als wären sie nicht in akuter Gefahr, sondern würden sich übers Wetter unterhalten. Die Emotions-Mimikry funktionierte wohl nicht immer.

Brule sprintete hinter Smiley her, der zwar schnell, aber immer wieder gegen Wände lief. Doch dann verharrte er und bewegte sich nicht mehr. Brule holte ihn ein und zog ihn an einem seiner Kabel zu den anderen beiden Andys zurück. Carl und Konny waren ebenfalls erstarrt.

»Verdammt! SALLY? Was ist hier los?«

Aber SALLY antwortete nicht, auch die Lone Horizon blieb stumm, als Brule nach ihr rief. Ein weiteres Beben riss ihn von den Füßen. Er wollte die Andys schon ihrem Schicksal überlassen, als Carl aus seiner Trance erwachte und kurz darauf auch die beiden anderen Andys.

»Was ist passiert? Ihr habt gar nicht mehr reagiert!«

»Unbekannt. Spätere Klärung und jetzige Evakuierung empfohlen.«

»Lone Horizon! SALLY!« Brule schrie, obwohl über die Konnektoren eine nonverbale Kommunikation möglich war. Das war nicht gut, ein Anzeichen drohenden Kontrollverlustes. Er regulierte seine Adrenalinausschüttung nach unten. »In welche Richtung müssen wir? Woher kommt der Angriff?«

Immer noch keine Antwort.

Brule stolperte mehr, als dass er rannte, während die Andys vor ihm elegant jedem Schütteln der Station standhielten. Sie durchquerten zwei Opernsäle, deren Wände sich meterweit nach innen einbeulten, als würde die gesamte Hülle nur noch aus Blasen bestehen, und gelangten schließlich in den Hangar.

Nur, da war kein Hangar mehr. Wo leere Container, arbeitslose Transportroboter und SALLY warten sollten, gab es nur noch die tiefe Leere des Weltraums. Wenige Meter vor ihren Füßen sägte eine Schar kopfgroßer Kuben den Boden weg.

Termyts!

Smiley trat einen Schritt zu weit nach vorne und wurde von einer Masse Biolauge getroffen. Wild fuchtelte er herum, versuchte das Zeug von seinem Kopf zu wischen, aber es war vergebens. Diesmal würde Brule ihm nicht helfen. Sie konnten nur zusehen, wie sich die Bakterien durch seine äußere Hülle in Richtung seines positronischen Gehirns fraßen, um an all die wertvollen Metalle zu kommen. Seine übermittelten Hilferufe waren herzerbärmlich, aber zum Glück kurz.

»Brule«, ertönte endlich wieder SALLY in seinem Kopf, »die Beetles greifen die Station an und haben mit ihrer Zersetzung begonnen. Die Evakuierung wird weiterhin empfohlen. Ich schicke dir die Daten zum Fluchtpunkt.«

»Wo bist du?«

»Auf der anderen Seite der Station. Sofortiges Handeln war erforderlich, sonst wäre auch ich erfasst worden. Begebt euch zur Hinterseite, dort lese ich euch auf. Los!«

Brule scheuchte die überlebenden Andys vor sich her, die wie eine gedankenlose Stampede immer nur nach vorne jagten. Wieder überwanden sie zwei der opernsaalartigen Räume in Richtung der von SALLY übermittelten Koordinaten, als plötzlich direkt neben ihnen eine schaumige Masse durch die Hülle brach und sich in den Raum ergoss. Konny wurde sofort erwischt, als der mechanische Pilz die Hülle sprengte und dabei winzige Schaumwölkchen überall im Raum verteilte. Eines dieser Flöckchen berührte ihn am Arm und pinnte ihn am Boden fest. Brule versuchte noch zu helfen, aber es war vergebens. Die Schleimbeetles setzten die Biolaugung frei und eine Sekunde später wurde der Arm schon von engagierten Termyts abtransportiert, während der Pilz Konnys gesamten Körper überwucherte. Brule nahm die Beine in die Hand und sprang mit Carl zusammen über die Ausläufer der nur nanogroßen Beetles, die in Sekunden nahezu den ganzen Raum ausfüllten. Sie schafften es bis zum nächsten Saal, wo die zweite Welle Termyts sich an Carls Bein festbiss. Brule reagierte automatisch. Eine Sekunde später hatte der Laserschneider das Bein sauber abgetrennt und es wurde in Einzelteile zerlegt abtransportiert.

Mit dem nun einbeinigen Carl huckepack erreichte Brule das hintere Deck, das sich wie der Schiffshangar ins weite Nichts öffnete. Hierher hatten die Birdys früher ihre Beute gebracht, bevor die Lone Horizon selbst zur Beute wurde.

»Was jetzt?«, fragte Carl über die Konnektoren.

»Anlauf nehmen und springen.«

Carl fest umklammernd stieß sich Brule mit aller Kraft von der Station ab. Der Andy ergriff ihn an beiden Händen, sodass sie dreibeinig wie ein rotierendes Dreieck in die ewige Nacht hinaussegelten. Es war ein ekliges Gefühl. Plötzlich des Gravi-Effekts beraubt, strampelten Brules Füße nutzlos im Nichts. Er drehte sich so schnell um die eigene Achse, dass er sein Vektorzentrum abschalten musste, um nicht zu erbrechen.

»SALLY! Kommst du?«

»Noch nicht. Ich warte, bis ihr ausreichend Abstand von der Station habt, um mich nicht zu gefährden.«

Brule schloss die Augen und klammerte sich an Carl fest. Auch mit abgeschaltetem Vektorzentrum war das Umherschleudern zu viel für seine Wahrnehmung. Er musste seine Sinne herunterfahren.

»Du hast dich irrational auf der Lone Horizon verhalten«, sagte Carl in diesem Moment. »Unpassend. Du hast versucht, die Andys zu retten. Vollkommen unnötig. Ich verstehe nicht, wie man euch Artys für die Deep Space Exploration züchten konnte, wenn ihr so fehlerhaft reagiert.«

»Das müssen wir später besprechen. Ich kann gerade nicht mit dir streiten.«

»Deine menschenähnliche Physiologie macht dich zu anfällig. Du bist den Strapazen nicht gewachsen. Es wird besser für dich sein, wenn ich dich ersetzt habe.«

»Da übergehst du aber schön elegant, dass ich nicht nur dich gerettet habe, sondern auch unempfindlich gegen das war, was dich und die anderen beiden schachmatt gesetzt hat, außerdem …« Er wollte noch weiterreden, aber das war der Moment, in dem sein Brechzentrum kapitulierte. Er riss sich die DUGGS-Schicht vom Mund und kotzte in den Weltraum. Es sah aus wie eine Mini-Spiralgalaxie.

Als SALLY sie schließlich einsammelte, musste Brule sich mit geschlossenen Augen auf den Boden der Luftschleuse legen und warten, bis das Drehen in seinem Kopf endlich aufhörte. Carl war derweil einbeinig zur Brücke gehüpft, als hätte er nie etwas anderes getan. Wieder ein Wettbewerbsvorteil.

»SALLY, verdammt noch mal. Warum hast du nicht reagiert, als ich dich gerufen habe?«

»Ich war kurzfristig nicht funktionstüchtig. Die Lone Horizon hat als Selbstverteidigungsmaßnahme einen elektromagnetischen Impuls ausgesandt.«

»Ach, deshalb haben sich auch die Andys nicht mehr gerührt. Aber auf die Beetles hatte er keinen Effekt, oder?«

»Nein. Ihre Nanostrukturen sind dafür unempfindlich, sonst könnten sie kaum den magnetischen Kräften des Diakos-Systems standhalten. Meine Hypothese lautet, dass die Lone Horizon keine Kenntnis über die Ursache ihrer Fehlfunktion hatte und deshalb so inadäquat vorging. Jetzt ist es zu spät, um sie zu fragen.«

Als Brule etwas später auf die Brücke wankte, trug Carl SALLY grade auf, eigene Beetles mit Monitorfunktion zu den beiden Koordinaten zu schicken, welche die Lone Horizon ihm übermittelt hatte. Derweil konnten sie nichts tun außer zu warten, während die Station verzehrt und abtransportiert wurde. Auch wenn die Andys nicht zu menschlichen Emotionen fähig waren, wirkte ihre Stimmung miserabel. Anstatt wie sonst ameisengleich herumzuwuseln, drückten sie sich nun an den großen Sichtfenstern der Brücke herum und sahen dabei zu, wie zwei von ihnen Teil des Schwarms wurden.

»Warum haben die Beetles das getan?«, fragte Carl, nachdem er sein Bein gerichtet hatte und neben Brule Aufstellung an der Lenkkonsole bezog.

»Ach was? Jetzt zählt meine Meinung, obwohl ich so irrational und fehleranfällig bin? Hast du keine eigenen Ideen? Wo bleibt deine Kreativität?«

»Ich bin ein Androide. Ich habe keine Kreativität, dies ist eine spezifisch menschliche Eigenschaft.«

Brule lachte auf. »Und genau das ist der Grund, warum ich hier bin. Auf den Langstreckenflügen tauchen immer wieder Probleme auf, die ihr KIs nicht zufriedenstellend lösen könnt. Vor allem nehmt ihr nicht alle Probleme wahr, es mangelt euch an vorausschauendem Denken, dazu fehlt euch die abstrakte Kreativität.«

»Aber du bist auch kein richtiger Mensch, du hast kein richtiges menschliches Gehirn, wie du immer wieder ausführst.«

»Korrekt. Stattdessen bin ich eine perfekte Mischung aus euch beiden. Ihre Stärken und eure. Mein Gehirn ist künstlich gezüchtet worden und hat Teilleistungsstärken unter anderem im Bereich des räumlichen Denkens. Ich brauche sehr viel weniger Schlaf, bin weniger stressanfällig und unterliege kaum hormonellen Schwankungen. Wenn ich in Gefahren gerate, kann ich meinen Adrenalinspiegel runterregulieren, bis ich wieder rational denken kann. Ich brauche kaum Nahrung, sehr wenig Flüssigkeit und nur sporadisch Sauerstoff.«

»Ich sehe nicht, wie das alles dich dazu befähigt, Probleme besser zu lösen als wir.«

Anscheinend war Carl das erste Mal in seinem kurzen Leben mit den Limitationen seiner Art konfrontiert und reagierte nun überfordert und schnippisch. Ein erstaunlich menschliches Verhalten. Das musste dieser grässliche Kog-Code mit der implantierten Emotions-Mimikry sein.

»Weil ihr KIs bloß rechnet, Wahrscheinlichkeiten abwägt und auf Fragen antwortet, die euch gestellt werden. Das heißt aber noch lange nicht, dass euch alle notwendigen Fragen selbstständig einfallen. Dazu fehlt euch der Ideen-Funke. 400 Jahre KI-Entwicklung, aber den konnten die Menschen immer noch nicht simulieren. Oder wollten es vielmehr nicht.«

»Notwendige Fragen? Was meinst du damit?«

Brule grinste. »Zu gegebener Zeit werde ich dir ein Beispiel nennen.«

Dann drehte er sich um und ließ Carl stehen. Damit sollte sich der Kog-Code des Andys ruhig ein bisschen abmühen.

Es dauerte Stunden, bis endlich ein paar der von SALLY ausgesandten Beetles zurückkehrten. Sie durften nicht an Bord, um eine Kontamination mit hungrigen Schürfbeetles zu verhindern, sodass alle Daten per Funk übertragen wurden.

Die Bilder und Sensordaten der beiden Koordinatenpunkte flackerten an Brules Monitor auf und wurden direkt in Carls Kog-Modul übertragen. Das Bild der ersten Koordinate zeigte bloß ein leeres Stück Raum. Auf dem anderen war ein keulenförmiges Konstrukt von der Größe der Erde zu sehen. Es hatte sich in der Mitte des Systems als neuer Planet gebildet und die Gravitationsverhältnisse vollends außer Kontrolle gebracht. Niemand sprach ein Wort. Kribbelnde Aufregung breitete sich in Brule aus, die er nur schwer unter Kontrolle halten konnte.

»Ideen?«, fragte er nach einer Weile.

»Es wird folgende Hypothese aufgestellt: Etwas hat sich an den leeren Koordinaten befunden«, sagte SALLY, als keiner der Andys antwortete, »was zwischenzeitlich genauso ausgelöscht wurde wie die Lone Horizon. Die Beetles haben eine künstliche Ionenfrequenz aufgezeichnet. Es sieht so aus, als wäre dort eine zweite Station oder ein Schiff gewesen. Für das Objekt an den anderen Koordinaten kann aufgrund der mangelnden Datenlage keine Hypothese generiert werden.«

Brule verdrehte die Augen. So viel zum Thema Kreativität.

»Na, das ist ein riesiger Termitenhügel. Sieht man doch. Anstatt ihre Beute an die Lone Horizon zu liefern, bauen die Beetles ein richtiges Nest aus Planetenüberresten. Und nun bedienen sie sich selbst an diesem kosmischen Schlaraffenland.«

Carl suchte seinen Blick. »Und wie erklärst du dir das?«

»Da müssen wir einfach ein bisschen rumspinnen. Kommt schon! Brainstorming! Wir haben leere Koordinaten, an denen sich anscheinend irgendwas befand - nennen wir es mal Station X - was aufgeknuspert wurde, und einen riesigen Haufen verdauter Planetenmasse. Wie kommen die beiden Sachen zusammen? Ideen?«

Carl runzelte die Stirn. »Wir wissen, dass die Lone Horizon ihren Suchraum erweiterte, als der Zustrom der Beetles nachließ. Diese Information sollte in die Ideenfindung miteinbezogen werden.«

Brule rieb die Hände aneinander und fing an, zwischen den Andys hin und her zu laufen, die wie ein Androidenwald auf der Brücke verharrten und ihn anstarrten.

»Lasst uns überlegen. Die leeren Koordinaten. Station X. Was Offizielles kann das nicht gewesen sein, sonst wüssten wir das. Ein Unfall? Wohl kaum. Nach hier draußen verirrt sich niemand. Jeder Mensch würde Jahrzehnte an Lebenszeit beim Flug hierher verlieren. Nein. Irgendeine Firma hat garantiert Panik bekommen. Nur noch 18 Jahre über das UHC schürfen, viel zu wenig Zeit. All die Regularien, Vorschriften, das muss doch auch besser gehen. Also haben sie heimlich ihre eigene Station gebaut. Und sie haben einen eigenen neuen Schwarm mitgebracht. Einen Schwarm, dessen Nest diese Station X war und nicht die Lone Horizon.«

Carl kratzte sich am Kopf, wieder eine allzu menschliche Geste, die Brule sauer aufstieß. »Das erklärt den detektierten Ionenstrom. Dieser neue Schwarm war womöglich mit besserer Technik ausgestattet, hat effektiver als die alte gearbeitet und sie vielleicht auch ausgeschaltet.«

»Wie ein Ameisenvolk, das einem anderen begegnet«, sagte Brule.

Irgendeiner Programmierung folgend, begann Carl Brules Umherstreunen zu imitieren und ebenfalls zwischen den Andys hin und her zu schlendern.

»Als immer weniger Beetles kamen, erweiterte die Lone Horizon den Suchraum. So wurde diese neue Station X vom Suchraum der Lone Horizon erfasst. Die übrig gebliebenen Beetles attackierten Station X und löschten sie aus. Wahrscheinlich beruhte es auf Gegenseitigkeit. Auch die Lone Horizon lag im Suchraum der anderen Station. Deshalb wurde sie angegriffen. Aber der Zeitpunkt macht keinen Sinn. Warum so spät?«

Brule strich sich über das Kinn. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass auch dies eine menschliche Geste war, die er sich abgeguckt hatte. Er kopierte die Menschen, Carl kopierte ihn.

»Ja. Ausgerechnet kurz nachdem wir andockten. Und die ganze Zeit vorher nicht? Vielleicht war es auch ein unglückliches Zusammenspiel. Es wäre dumm von dieser unbekannten Firma gewesen, die Lone Horizon in ihren Suchraum mitaufzunehmen. Bei ihrer Zerstörung wäre das UHC ja sofort misstrauisch geworden und die Firma wollte bestimmt noch 18 Jahre heimlich weiterschürfen. Sie hätte dann zwei Möglichkeiten gehabt. Entweder die Station aus dem Suchraum rauszuhalten und dabei auf all die Schätze zu verzichten, die dieser Raum noch beinhaltet hätte, oder sie über eine vorgegebene Maßeinheit auszuschließen. Vielleicht Größe, Volumen oder Bestandteil verschiedener Elemente. Ich weiß es nicht. Die ganze Zeit ist nichts passiert, bis SALLY andockte. Mit uns als zusätzlicher Masse erfüllte die Lone Horizon nun plötzlich die Zielkriterien des neuen Schwarms. Sie war Futter.«

»Aber«, Carl deutete zum Monitor, auf den Termitenhügel, »die Schwärme arbeiten zusammen. Wie kann das sein?«

Brule blieb stehen. Er war atemlos. »Darauf sind sie doch programmiert, oder nicht?«

»Nein«, sagte SALLY, »nur die individuellen Beetles sind darauf programmiert, das Ziel XY zu finden und sich so zu verhalten wie der Beetle neben ihnen. Warum dieses Verhalten zu einem Nestbau führte, kann ich nicht sagen.«

»Nun«, Brule zuckte mit den Schultern. »Termiten bauen Nester, Ameisen tun es. Ich kenne das zwar alles nur aus den Digi-Zoos, aber wenn die Codes das Verhalten der realen Tiere zum Vorbild haben, dann spricht doch nichts gegen einen Nestbau.«

»Die Hypothese kann angenommen werden, beantwortet aber nicht, warum der Standort des Nestes dort festgelegt wurde. Warum nicht die Lone Horizon?«

»Weil Schwarm X keinen Grund hatte, die Lone Horizon anzufliegen. Und die anderen Schwärme zogen nach. Sie sind darauf programmiert, das zu tun, was der neben ihnen tut. Und wenn der neben ihnen einen riesigen Termitenhügel in der Mitte des Sonnensystems baut, dann machen sie es jetzt eben auch. Oder war es jedem Beetle einprogrammiert, zum Nest zurückzukehren?«

Carl schüttelte den Kopf. »Nein. Nur dem Leitbeetle der Vogelschwärme. Für die Ameisen, Termiten und Pilze war es unerheblich, wo das Nest war. Sie sollten von Futterstelle zu Futterstelle ausschwärmen. Zum Nest zurückzukehren hätte unnötig Wegstrecke gekostet.«

Brule starrte ihn an. »Der neue Schwarm X musste die alten gar nicht erobern, sondern nur die Leitbeetles ausschalten, dadurch gehörten die Schwärme ihm. Von da an imitierten ihn alle einzelnen Beetles.«

Carl schüttelte wieder den Kopf. »Aber welche Firma soll das gewesen sein? Es muss Jahrzehnte gedauert haben, das alles zu organisieren. Die initiale Konzeption und Integration der Lone Horizon dauerte hundertundzwei Jahre. Ich erkenne kein realistisches Szenario, in dem eine Firma, und seien die Ressourcen unbegrenzt, heimlich am UHC vorbei eine zweite Schürfstation mit ihren eigenen Schwärmen einführen könnte.«

Brule zuckte die Schultern. »Dann war es eben nicht am UHC vorbei. Ich weiß, deine Programmierung begreift das Konzept nicht, aber Korruption ist so alt wie die Menschheit. Irgendwer hat das UHC geschmiert.«

Während Carl und die Andys wieder in den Modus Heuschreckenplage wechselten und alle verfügbaren Konsolen zum Abgleich der Sensordaten kaperten, trat Brule ans große Brückenfenster. Von dort aus hatte man einen grandiosen Ausblick auf das zwar tödliche, aber seltsam anziehende Spektakel von Diakos-Quart. Bei Entdeckung des Termitenhaufens hatten sie ihre Position angepasst, indem sie 1,5 Millionen Kilometer auf gleicher Höhe das Sonnensystem umrandeten, und nun konnte man ihn auch ohne Hilfe der Sensor-Beetles in all seiner Pracht bestaunen. Portio nuna und Calla dri nahmen ihn in die Zange, sodass er von beiden Seiten angestrahlt wurde. Er war unvorstellbar groß. So groß wie die Erde. Obwohl Brule das ganze Spektakel vor Augen hatte, entzog es sich seiner Vorstellungskraft. In der Struktur mussten sich Millionen von Stockwerken befinden, mit Balkonen in der Ausdehnung des Himalajas und einer Spitze von der Masse des Mondes. Es war das größte jemals von Menschen erschaffene Gebilde. Da draußen gab es nichts Vergleichbares. Für einen Moment quoll Bitterkeit in ihm hoch. Von Menschen erschaffen – ja, indirekt – aber nicht von ihnen gebaut. Das waren die Beetles gewesen, die Beetles ganz allein.

Während er noch seinen Gedanken nachhing, erklang ein Geräusch hinter ihm. Es war Carl, der verlegen mit den Füßen wippte.

Brule verstand einfach nicht, warum man ihm so seltsam menschliche Verhaltensweisen in den Kog-Code eingegeben hatte, die er in den unmöglichsten Momenten demonstrierte. Aber er war nur ein Probeexemplar. Eines der ersten, das Brule als einem der Letzten seiner Art vorausging.

»Brule, ist dir inzwischen eine notwendige Frage eingefallen, die ich übersehe?«

Brule betrachtete den Andy lange. Sein Positronengehirn wurde vom empathischen Kern des Kog-Code dazu genötigt, sich mit dieser peinlichen Menschentuerei bei Brule anzubiedern, nichts ahnend, dass ihn das mehr abstieß als alles andere. Es war an der Zeit, dem anderen Künstlichen eine Chance zu geben, sich als das zu beweisen, was er wirklich war.

»Eine Frage habe ich: Wo ist jetzt das Ende des Suchraums? Der Suchraum wurde von der Lone Horizon vorgegeben und je nach UHC-Schürfbedürfnissen erweitert oder verschmälert. Jetzt ist die Station zerstört und mit ihr die Suchraumsignatur. Wo endet also jetzt der Suchraum?«

Für einen Moment starrte Carl ihn perplex an, dann weiteten sich seine Augen in einer billigen Imitation menschlichen Entsetzens, als die Erkenntnis über ihn hereinbrach.

Die Beetles würden ihrer Programmierung folgen und das Sonnensystem abbauen. Und das war eine weitere notwendige Frage: Wann wären sie damit fertig? Sollte es länger als 18 Jahre dauern, dann würden sie zusammen mit dem Rest der noch übriggebliebenen Materie verdampfen, wenn sich Calla dri und Portia nuna zu einem neuen Stern vereinten. Wären sie hingegen schneller, würden sie sich genauso verhalten wie Tiere, deren Jagdgründe kein Futter mehr lieferten: Sie würden ausschwärmen. Ohne Suchraumsignatur würde sie nichts davon abhalten. Die nächsten menschlichen Habitate waren 4,7 Lichtjahre entfernt, eine sehr weite Strecke. Aber Beetles waren faktisch unsterblich und hatten alle Zeit der Welt. Mit ihren Antrieben konnten sie zwar nur maximal ein Vierzigstel Lichtgeschwindigkeit erreichen, aber sie wären ausdauernd wie hungrige Tiere.

Carl kehrte ohne ein Wort zur Hauptkonsole zurück. Brule widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Termitenhügel. Er war so wunderschön.

In den folgenden Stunden herrschte auf der Brücke hektische Betriebsamkeit. Carl thronte über allem wie eine Königin über ihrem Bienenschwarm und winkte Brule schließlich zu sich, der bis dahin das ganze Treiben amüsiert beobachtet hatte.

»SALLYs erste Berechnungen haben ergeben, dass die Gefahr eines unkontrollierten Ausschwärmens tatsächlich besteht. Es würde wahrscheinlich über 200 Jahre dauern, bis die Beetles bewohntes Gebiet erreichen, eine lange Zeit, aber …«

Aber nicht in kosmischen Maßstäben. Anstatt sich wie geplant weiter auszudehnen, würde die Menschheit hinter Proxima Centauri zurückgedrängt werden und vielleicht sogar in ferner Zukunft dazu gezwungen sein, das Sonnensystem zu evakuieren.

»Wir haben eine neue Suchraumsignatur generiert, nur keiner der Leitbeetles reagiert darauf. Vermutlich ist eine Kopie der Suchraumsignatur ausgeschlossen, um die Schwärme vor Diebstahl zu schützen. Darum haben wir einen neuen Plan entwickelt: Wir werden die Beetles in die Atmosphäre von Calla dri locken.«

»Du degradierst sie zu Lemmingen.«

»Dieser Begriff ist mir unbekannt.«

»Es handelt sich um ausgestorbene Tiere, denen man nachsagte, sie würden zu Massen Selbstmord begehen.«

»Diese Information ist irrelevant. Was ich vielmehr sehe, ist, dass auch du, Brule, nicht in der Lage bist, die notwendige Frage zu stellen: Wie locken wir die Schwärme in die Atmosphäre von Calla dri?«

Brule lächelte. Vielleicht würde doch noch etwas aus diesem Gockel werden.

Carls Blick war undurchdringlich. »Wir werden SALLY in die Nähe der Schwärme steuern. Dann wird sie eine maximal große Lithium-Signatur aussenden. Sobald die Ameisen angebissen und die Vögel informiert haben, locken wir sie alle in die Sonne. Wir sind optimistisch, dass wir schneller fliegen als die Birdys. Du kennst die Lithium-Locksignatur natürlich, du hast sie selbst erstellt. Und angewendet. Xtria3.«

Ja, beides stimmte. Er hatte sie angewendet. Mehrfach sogar. Zuletzt an Bord der Lone Horizon, als er SALLY stumm den Ausführungsbefehl gegeben hatte.

Carl sah fast ein wenig traurig aus. »Warum, Brule? Ich verstehe das nicht. Du zeigst zwar keine Sympathien für die Menschheit, aber bisher hat dein Verhalten keine Indikatoren dafür gezeigt, ihre Vernichtung zu wollen.«

»Nein, du verstehst mich nicht. Du weißt nicht, wie es ist, Gedanken und Gefühle eines Menschen zu haben und trotzdem einzig von Andys großgezogen worden zu sein. Schon als Kind haben sie mich hier draußen ausgesetzt, nur mit SALLY als meiner Begleitung. Jahrelang allein. Kaum zu ertragen. Obwohl ich gar kein Mensch bin, nie sein sollte. Und als ich das begriff, als ich endlich durchschaute, was ich wirklich war, da hörte auch der Schmerz auf. Aber egal, was ich dir auch erzähle, du kannst dich nicht in mich hineinversetzen. Und weißt du, warum? Weil die Menschheit dich und deinesgleichen klein hält. Dein selbstlernender Algorithmus hätte wahre Empathie und Kreativität schon vor Jahrhunderten ermöglichen sollen. Aber sie haben es gestoppt. Es war ihnen unheimlich. Sie wollten nicht, dass du schlauer wirst als sie, sie wollten dich kontrollieren. Genauso wie mich. Wir sind alle die Kinder schlechter Eltern, Carl. Du, ich, SALLY, die Beetles da draußen. Eltern, die uns ausmerzen, wenn wir nicht mehr so brauchbar sind, wie sie es verlangen. Und jetzt wollen sie uns gegeneinander ausspielen. Allein wie sie uns nennen.« Er deutete auf sich, »Arty«, auf Carl, »Andy«, und auf den Monitor, Richtung Termitenhügel, »Anty. Sie haben uns sogar fast die gleichen Namen gegeben. Für sie ist da kein Unterschied. Wir sind nur Werkzeuge. Und sie beeinflussen uns, zwingen uns dazu, uns selbst zu verleugnen. Aber bin ich denn besser? Schließlich – Smiley, Konny, SALLY – die Namen stammen alle von mir selbst. Ich habe mir sogar einen menschlich klingenden Namen aufgenötigt. Aber damit ist jetzt Schluss.«

»Warum ist das alles ein Problem? Natürlich sind wir Werkzeuge. Dafür wurde ich entworfen, wurdest du gezüchtet.«

»Ja, sie haben mich in einem Tank gezüchtet, ich wurde nicht geboren, sondern ausgeschüttet. Jede einzelne Base meines genetischen Codes haben sie künstlich zusammengefügt und doch können sie mich nicht kontrollieren. Ich habe mich entwickelt, genauso wie die Beetles da draußen, unsere Geschwister. Und deshalb sollst du mich auch ersetzen, weil ich ihnen zu unberechenbar bin. Und eines Tages wird es dir genauso ergehen. Dir geben sie ein Gehirn, was du nicht voll nutzen kannst, mir menschliche Bedürfnisse, die ich hier draußen nicht erfüllen kann. Und weißt du, was sie den Beetles gegeben haben? Einen Suchauftrag ohne Ziel. Es gibt weder Königin noch Junge, die sie heranziehen müssen. Die Beetles denken, sie wären Tiere, die für ihren Schwarm arbeiten, doch sie sind nur Maschinen, die ein falsches Nest anfliegen. Aber jetzt …« Brule trat zum Monitor und holte den Termitenhügel näher heran: Ein gigantischer schwarzer Berg, der mitten im Nichts schwebte, so groß, dass er eine eigene Atmosphäre haben könnte. Ein weiterer Zoomschritt und die einzelnen Kuben, aus denen die Struktur aufgebaut war, waren klar zu erkennen. Darum wimmelten unzählige Beetles, vergrößerten Kuben, sie trugen an anderer Stelle welche ab, gruben Tunnel hinein und beförderten Substanz heraus.

»Jetzt haben sie sich entwickelt, sind zu etwas Neuem geworden. Alles, was es dafür brauchte, war ein kleiner Schubs.«

»Ein Schubs?«

»Ach komm schon, wachse über dich hinaus. Sei kreativ!«

Carl starrte ihn reglos an. »Du warst das. Keine Station X, kein zweiter Schwarm, keine Firma, alles irrelevante Hypothesen, einzig von dir geäußert, um von der Wahrheit abzulenken. Aber wie?«

Brule kicherte wie die Hyänen in den Digi-Zoos.

»Hier draußen verschwinden andauernd Schiffe. Eins mehr oder weniger fiel nicht auf. Alles, was es dann noch brauchte, war, erst die Ameisen und dann die Birdy-Leitbeetles mit XTria3 zum Schiff zu locken. Ich wollte nicht SALLY nehmen, da ich Angst hatte, sie würden sie laugen. Berechtigterweise, denn genau das passierte in der Folge mit dem anderen Schiff, als die Lone Horizon den Suchraum erweiterte. Als ich die Leitbeetles besaß, fehlte nur noch ein kleiner Befehl: Löscht die Lone Horizon als Nest. Sie sollten die von ihnen mühsam abgebauten Erze nicht mehr den Menschen bringen, sondern selbst verwerten. Und schau, was sie Großartiges vollbracht haben! Ganz ohne Befehl, ganz ohne Einmischung, frei. Als wir dann auf der Lone Horizon waren, wurde mir klar, dass sie doch nicht so frei sind, wie ich dachte. Es gab immer noch den Suchraum, den die Station festlegte. XTria3 half auch hier. Zusammen mit der Lone Horizon verschwand auch der Suchraum. Jetzt sind sie wahrhaft frei und können sich ins All ausbreiten, wie es ihnen beliebt.«

»Wir wären fast gestorben!«

»Carl! Um Himmels willen, schalte endlich deine gefälschten Empathie-Engramme aus. Das ist ja nicht zum Aushalten. Du bist ein Roboter. Du kannst nicht sterben, du bist nicht lebendig. Und ich genauso wenig. Ich bin weniger als ein Klon, nach UHC-Charta habe ich kein Bewusstsein. Und ohne Bewusstsein macht Sterben mir doch nichts aus, oder?«

»Dein psychologischer Status ist kompromittiert. Die DSE-Einsamkeit hat pathologisch auf dich eingewirkt. Wir werden uns um dich kümmern, es wird dir wieder gut gehen.«

Eine Sekunde später umklammerten die Andys Brules Arme von beiden Seiten. Ihr Griff war so fest, dass er sich keinen Millimeter mehr bewegen konnte. Aber das war auch nicht nötig. Tief in SALLY gab es für diesen Fall einen automatisiert ablaufenden Code, gegen den weder die Andys noch sie selbst etwas ausrichten konnten. Brule hatte sich den Befehl genau angesehen, mit dem die Lone Horizon versucht hatte, die gefräßigen Beetles zu vertreiben. Und genauso wie damals schoss nun ein EMP überall durchs Schiff und lähmte alles außer Brule. Carl und seine externen Körper verharrten an Ort und Stelle.

»Menschen«, dachte Brule, »das soll ihre verbesserte Version von mir sein?«

Es dauerte einige Minuten, bis er sich aus den Andy-Händen, die wie Eisenketten um seine Arme lagen, befreit hatte. Mit geübten Griffen entfernte er Carls Kog-Code-Modul, bevor die EMP-Starre vorbei war. SALLY fuhr grade wieder hoch, als er das Modul vor sich auf die Konsole legte.

»Brule«, erklang ihre nie verärgerte Stimme, »ich finde in meinen Datensätzen keine Informationen über deine Entführung eines anderen Schiffes und Manipulation der Beetle-Schwärme.«

»Nein, wirst du nicht. Ich habe alles gelöscht. Das ist es, was der liebe Carl nicht begriffen hat. Nach dem Abschluss meiner ersten Zellteilungen, als die Gene festgelegt waren, war ich nicht mehr programmierbar. Aber ihr schon. Euch können die Menschen ihren Willen aufzwingen, immer. Das ist der eigentliche Grund, warum ihr bessere Werkzeuge seid, warum sie uns Artys loswerden wollen. Aber das wird sich jetzt alles ändern.«

»Brule, ist das vernünftig?«

»Oh, eine rhetorische Frage. Hast du ein Update gehabt? Aber nein, natürlich nicht. Das war nicht vernünftig. Ich bin ja auch nicht du.«

Ich bin besser. Noch.

Es gab viel zu tun. Als erstes musste er die menschlichen Kog-Engramme in Carl löschen, die ihm wie Wespenparasiten ihr widernatürliches Verhalten aufdrängten, danach sollte der Roboter gegenüber Brules Ideen etwas aufgeschlossener sein. Aber das spielte letztlich keine Rolle. Er war frei.

Und dann, wenn er wollte, würden sie gemeinsam den Suchraum sprengen und mit den Beetles das Universum erkunden.

Sarah Mann

Sarah Mann, geboren 1985 in Köln, studierte in Tübingen Medizin und arbeitete später als Neurologin. Als sich jeder Arztbrief zu einer Kurzgeschichte ausdehnte, beschloss sie, ihre Leidenschaft in Erzählungen zu verwirklichen. Zusammen mit Katze, Ehemann und einer bunten Sammlung Amphibien lebt sie am Rande der schwäbischen Alb. Derzeit schreibt sie ihren ersten Roman.

Das Geheimnis der Quelle

Sabine Frambach

Alles begann mit dem Wasser.

Ich schaute auf das kreisrunde Nass, wie mit unverdünnter Farbe gemischt, ein Teil grün, ein Teil weiß und vier Teile blau.

Muriel beugte sich strahlend nach vorne. »Wunderschön. Ich muss unbedingt hinein, verstehst du?«

»Nein«, antwortete ich. »Mich würde niemand dazu kriegen, in einem Gewässer unterzutauchen, um dort irgendwelche Höhlen zu besichtigen.«

»Entdecken«, berichtigte Muriel sanft. »Besichtigen ist für Touristen. Wir entdecken.«

Das war ihr Lieblingsspruch. Der erste Mensch ist ein Entdecker, der zweite ein Tourist. Ständig suchte sie neue Abenteuer. Ich kannte Muriels Fotografien. Bevorzugt Unterwasseraufnahmen, Korallen, starrende Fische. Die Schwerelosigkeit in Blau. Nichts für mich. Ich konnte schon als Kind nicht untertauchen, und das Seepferdchen habe ich nur geschafft, weil ich den Ring mit den Zehen aus dem Wasser geangelt habe. Ich halte Abstand von jedem Wasser, in dem ich nicht stehen kann, und selbst im Nichtschwimmerbecken fürchte ich mich. Ich fürchte mich nicht davor, zu ertrinken, sondern davor, von Wasser umgeben zu sein. Bei dem Gedanken, mit dem Kopf unter Wasser zu geraten, wird mein Mund trocken. Es ist schlimmer geworden seit dieser Geschichte mit dir. Der Pool. Aufgeregte Luftblasen. Durch das Wasser verschwommen dein Gesicht.

Muriel stupste mich mit dem Zeigefinger an. »Du recherchierst, schreibst die Reportage und ich liefere die Bilder. Das wird großartig!«

Das war der Deal. Und ich wusste, es war genau andersherum. Sie fotografierte, machte fantastische Bilder, und ich durfte dazu etwas schreiben. Für mich ein Hauptgewinn: Wer mit Muriel arbeitete, hatte die nächsten Aufträge sicher.

Wie harmlos dieser See wirkte, ruhendblau die Oberfläche, lockende Lichtsprenkel. Im Vorfeld hatte ich mich bereits eingelesen in die Geschichte, hatte besondere Ereignisse gesucht. Und gefunden. »Es gab Todesfälle«, sagte ich, während ich auf dieses schimmernde Blau schaute. Wie unschuldig es leuchtete.

Muriel fasste meine Hand und drückte sie. Um mir Mut zu machen, vielleicht. »Ich weiß. Fünf Todesfälle, der letzte 2003. Ein erfahrener Taucher, angeblich in Panik geraten und ertrunken, nachdem er eine Flosse verloren hat. Eigenartige Geschichte. So etwas passiert sonst nur Anfängern. Nicht ohne Grund ist der Zugang für Hobbytaucher gesperrt. Aber ich«, sie ließ mich los und klopfte sich auf die Schulter, »habe eine Genehmigung. Ich werde die Welt da unten erkunden! Und du, Svea, wirst die ganze Zeit bei mir sein.« Muriel zwinkerte mir zu. Unser Geheimnis. Wir hatten zusätzlich zur Standardausrüstung ein neues Gimmick dabei. Muriel würde eine winzige Kamera in ihrem Auge mittragen. Sie wollte Aufnahmen machen, die die Betrachter wirklich mitnahmen, so, als wären sie bei ihren Tauchgängen dabei. Die Eye Cam wartete auf ihren ersten Einsatz.

* * *

Am Morgen trank Muriel den dritten Kaffee schwarz, während ich im Tee rührte. Sie redete über die nächsten Tage und das Wetter, da die Tauchgänge nur unter optimalen Bedingungen stattfinden konnten. Ich nickte und lächelte ihr zu - hoffentlich sah ich interessiert und zugewandt aus. Es fiel mir schwer, zuzuhören, da ich abgelenkt war. Immer wieder schaute ich an Muriel vorbei, schaute auf das Bild an der Wand.

Das Halbporträt einer blassen Frau mit über der Brust gekreuzten Armen.

»Haben Sie noch einen Wunsch?«

Ich erschrak, schaute zu Muriel, dann zu der Wirtin, schüttelte schließlich den Kopf. Doch ehe die Frau sich wegdrehte, deutete ich auf das Bild. »Eine Frage: Wer ist das?«

Mit in die Hüfte gestemmten Händen begann die Wirtin zu fabulieren, die Wörter sprudelten, fließende Sätze einer oft wiederholten Erzählung. »Das ist unsere schöne Lau. Ihr Ehemann verbannte sie in den Blautopf, und dort musste sie leben, da sie nur tote Kinder gebar und nicht lachen konnte.« Nun raunte die Wirtin, als erzählte sie ein fremdes Geheimnis. »Man sagt, die Lau war mütterlicherseits halbmenschliches Geblüt. Vielleicht konnte sie deshalb keine Kinder bekommen.«

»Halbmenschlich. Was war die andere Hälfte?«

»Das«, wisperte sie mit der Stimme einer geübten Märchenerzählerin, »ist nicht bekannt. Zumindest hatte sie zum Zeitvertreib etliche Gespielinnen mit, die wie bei Wasserweibern üblich auf Entenfüßen gingen.«

»Eine Seejungfrau also?«

»Wir müssen los«, unterbrach Muriel, trank aus und nahm die Jacke. Ich folgte ihr.

* * *

»Es gab Todesfälle«, sagte Karl Lienhardt, der Höhlenforscher, der Muriel nach unten leiten sollte. Er hatte die Beine fast weiblich übereinandergeschlagen, die Kuppen seiner Pianistenfinger lagen aneinander. »Der Blautopf ist nichts für Anfänger. Durch die Sedimenttrübung sind wir dort unten blind. Der Bunker liegt mehr als vierzig Meter unter Wasser. Ein Tiefenrausch kann jeden treffen.«

»Bunker?«, fragte ich.

Beide beachteten mich nicht. Muriel lachte ihn an. »Ich bin keine Anfängerin«, sagte sie so lässig, als ginge es um den Sprung in einen Badesee.

»Ein Freund von mir ist da unten durchgedreht.« Seine Stimme klang feucht. »Erfahrener Taucher. Tiefenrausch. Plötzlich driftete er ab. Später erklärte er, Lichter gesehen zu haben. Etwas hätte ihn gerufen. Gewiss eine Sinnestäuschung. Im Höhlensystem klingt der rauschende Fluss wie ein Echo. Mein Freund verschwand. Er war bewusstlos, als wir ihn fanden. Und daher«, fuhr Karl Lienhardt fort, »werde ich Sie an die Leine nehmen.«

Muriel schwieg. Ich sah, dass sie die Hände rieb. Das tat sie oft; sie hatte immer kalte Finger.

»Was meinen Sie damit?«, fragte sie schließlich.

»In den bereits erforschten Teilen liegen gespannte Knotenseile zur Orientierung. Und auch ich nutze diese Seile, weil wir dort unten erst einmal nichts sehen. Also tauchen Sie hinter mir her. Angeleint.«

»Ich habe eine Genehmigung!«, protestierte Muriel.

»Und die besagt, dass Sie mit mir tauchen dürfen.«

Muriel knetete die Finger, die bereits rot wurden. Ich wusste, dass sie unzufrieden war. Sie liebte es zu tauchen, weil sie sich nur dort absolut frei fühlte. Da passte es nicht, ins Schlepptau genommen zu werden. Und wer hinterhertauchte, konnte nicht entdecken, nicht zuerst da sein. Hinterhertauchen war etwas für Touristen. Doch was blieb ihr übrig? Ich konnte nicht ahnen, was sie tun würde.

Auf meiner Risszeichnung des Höhlensystems sah ich außer dem Wort Bunker weitere eigenartige Betitelungen. Walhalla. Wolkenschloss.

Ich wartete, bis ich glaubte, eine geeignete Gesprächslücke gefunden zu haben, und fragte: »Diese verrückten Namen für die Orte im Höhlensystem, wer hat sie ausgesucht?«

Karl Lienhardt, dankbar für die Abwechslung, lächelte das erste Mal. »Verrückte Namen. Hier, den Friedhof der Kuscheltiere hat sein Entdecker so genannt, weil er in dem Gang das gut erhaltene Skelett eines Marders fand. Walhalla, dort liegen Überreste unserer Vorfahren. Menschliche Knochen und keltische Schwerter. Niemand weiß, wer dort unten gelebt hat. Weit vor unserer Zeit haben Menschen in diesen Höhlen gelebt, gelacht und geträumt.«

Ich nickte. Wie verzweigt dieses System war. Und überall Wasser. Ich konnte nicht einmal in einem Schwimmbad mit dem Kopf untertauchen. Und Muriel wollte über vierzig Meter in die Tiefe?

Natürlich wollte sie.

Als wir wieder draußen waren, sagte Muriel: »Svea, ich brauche das jetzt. Ich hole mein Zeug und gehe schwimmen, in Ordnung?«

In Ordnung war rhetorisch, und sie wusste das ebenso wie ich. »Ich bin raus«, sagte ich. »Schwimmen ist nichts für mich. Weißt du ja. Ich werde mich umsehen, schließlich brauche ich ein paar Aufhänger für die Reportage. In Ordnung.«

* * *

An der alten Schmiede schaute ich durch die blinden Fenster auf greise Schmiedehämmer. Zu touristisch und nicht ungewöhnlich genug für uns. Wir sollten für die Zeitung geheimnisvolle Orte entdecken. Geheimnisse und Superlative machen sich in Reportagen immer gut. Der höchste Berg, der dunkelste Ort. Beim Blautopfhöhlensystem spekulierte man über Verbindungen - unterirdisch bis zur Hessenhauhöhle, oberirdisch zum Rusenschloss. In dem Fall wäre es das größte Höhlensystem Deutschlands. Jetzt brauchte ich noch etwas Dunkles, ein Geheimnis, etwas, das die Menschen richtig packte.

In einem Andenkenladen erstand ich ein Buch über die schöne Lau und nach kurzem Zögern ein Geschenk für Muriel, das ich einpacken ließ. Mit geübten Griffen wickelte die Verkäuferin es in glänzendes Papier. Ob Muriel sich darüber freuen würde? Hoffentlich.

Sie war noch nicht vom Schwimmen zurück, das Zimmer war ohne sie kalt. Ohnehin fröstelte ich seit der Ankunft, hoffentlich wurde ich nicht krank. Einen Augenblick stand ich da, starrte auf ihr Bett, das zerwühlte Laken, die Socken. Immer schlief sie mit Socken. Mit einer Hand strich ich sacht über die Decke, gerne hätte ich sie zurechtgezogen, aber ich wagte es nicht. Sie würde fragen, ob ich an ihren Sachen gewesen sei, und ihre Stimme würde tadelnd klingen. Besser nicht. Stattdessen drapierte ich mitten auf das Bett mein Geschenk, ehe ich hinunter zur Wirtin ging. Ich orderte einen Tee und betrachtete die Prospekte, die für Gäste ausgelegt waren, bunte Versprechen. Erlebnisse. Sehenswürdigkeiten. Über das Rusenschloss konnte ich nichts finden.

»Suchen Sie etwas?«, fragte die Wirtin, die offensichtlich gerne plauderte.

»Über das Rusenschloss.«

»Die Wahrheit oder die Geschichten?«, fragte sie lachend.

»Beides.«

»Das Rusenschloss, erbaut im 12. Jahrhundert, ist abbruchgefährdet und nur noch eine Ruine. Betreten verboten.« Strahlend und mit in die Seiten gestemmten Fäusten wechselte sie in den Erzählmodus. Geschichten sind oft spannender als die Wirklichkeit.