In Deiner Zeit - Mia Montague - E-Book

In Deiner Zeit E-Book

Mia Montague

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Beschreibung

Teil 1 der Romantasy-Trilogie, die die Grenzen der Zeit und des Herzens überwindet und eine Geschichte erzählt, die die Götter selbst beobachten! Die lebenslustige Studentin Helena erwacht, nach einer wilden Partynacht, am Neujahrsmorgen plötzlich an einem fremden Ort. Zwar befindet sie sich noch immer in Rom, allerdings über 2000 Jahre früher, zur Zeit Cäsars. Doch mit Minikleid und Stilettos durch das antike Rom zu ziehen ist, trotz eines Hauchs göttlicher Magie, gar nicht so ungefährlich. In dieser Welt voller Intrigen trifft Helena auf den geheimnisvollen Flavius, einen verschlossenen, aber furchtlosen Centurio des Römischen Reiches und schafft es einen Blick hinter seine undurchdringliche Fassade zu erhaschen. Mutig versucht sie nun ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und reißt dabei auch Flavius mit, sich von seiner eigenen dunklen Vergangenheit zu befreien. Noch während die Schicksalsgöttinnen ihre Fäden knüpfen, entfaltet sich eine zarte Liebe, die gegen die Wirren der Zeit und die Verschwörungen des antiken Roms kämpfen muss. Und letztlich bleibt die Frage: Trennen sie die Jahrtausende oder verbindet sie ihre Liebe?

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Inhaltsverzeichnis

I Helena

II Helena

III Helena

IV Helena

V Helena

VI Flavius

VII Helena

VIII Helena

IX Flavius

X Helena

XI Helena

XII Helena

XIII Helena

XIV Flavius

XV Helena

XVI Helena

XVII Helena

XVIII Flavius

XIX Helena

XX Helena

XXI Helena

XXII Helena

XXIII Helena

I

Helena

Klatsch! Ein Gefühl, als wäre ich vom Zehnmeterturm gesprungen und hart aufs Wasser aufgeschlagen. Zumindest stellte ich es mir so vor, denn natürlich würde ich nie von einem Zehnmeterturm springen. Auch nicht vom Dreier oder Einer. Eigentlich würde ich nie ins Wasser springen, solange es nicht unbedingt sein musste.

Ich konnte nur mit Mühe atmen. Um mich herum herrschte tiefe Schwärze. Was war gerade passiert?

Dann war es plötzlich vorbei. Geräuschvoll sog ich die kühle Luft ein. Ich öffnete die Augen, stützte mich auf die Unterarme und sah mich um. Tropfen liefen mir über die Stirn, meine blonden Haare waren klatschnass. Aber hier war kein Pool. Stattdessen lag ich im Gras und es regnete wie aus Eimern.

Ich befand mich in einem fremden Garten. Genauer gesagt in einem quadratischen Innenhof, der sehr gepflegt wirkte. Zwei Meter weiter stand ein Springbrunnen, in dem es durch die Wassermassen des Regens wie verrückt plätscherte. Die Sonne ging gerade unter. In dem dämmernden Lichtschein erkannte ich, dass auf der rechten Seite ein paar Stufen in einen antiken Säulengang führten, der an den Seiten des Gartens entlanglief und ihn umschloss.

Genau diese Stufen lief nun ein älterer Mann, in weißer Kleidung, durch den Regen herunter und direkt auf mich zu. Ich kannte ihn nicht. Er fuchtelte wild mit den Armen.

»Komm schnell ins Haus, Mädchen! Was tust du denn hier draußen? Du holst dir ja den Tod.« Er fasste mich am Arm und versuchte mich hochzuziehen. Allerdings wirkte er so zerbrechlich, dass ich aus meiner Erstarrung erwachte und mich selbst hochstemmte.

»Danke! Es geht schon«, murmelte ich und folgte ihm auf seine Geste hin in Richtung des Hauses. Nachdem ich im Trockenen angekommen war, setzte bei mir die gnadenlose Erkenntnis ein, dass ich vollkommen ahnungslos war, wo ich mich hier befand. Vor allem aber, war mir völlig rätselhaft, wie ich hierhergekommen war. Mein Kopf fühlte sich schwer an und schmerzte bei jedem Gedanken, den ich zu fassen versuchte. Es war ein Gefühl, als wäre hinter meiner Stirn ein dichter, schwarzer Nebel und es gelang mir nicht ihn zu durchdringen.

Der Alte lief zielsicher voran und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Im Inneren war es dunkel, doch im Schein der Lampe, die der alte Mann trug, erkannte ich wie kunstvoll die Wände mit antiken Bildern bemalt waren. Fast wie in einem Museum. Und der Boden war aus farbenprächtigen Mosaiken gelegt. Wir gingen an mehreren Türen vorbei, bis er in einen kleinen Raum abbog und ich ihm folgte.

»Entschuldigen Sie, aber können Sie mir bitte verraten, wo wir hier sind?«, nutzte ich die Chance, als er endlich stehenblieb. Doch er ignorierte meine Frage.

»Bitte warte hier, ich bin gleich zurück!« Er zeigte auf eine Art Sofa und verließ dann den Raum. Es gab kein Fenster. Auf einem kleinen Tisch stand nur eine Öllampe, die den Raum spärlich beleuchtete. Der Eigentümer schien viel Wert auf eine hochwertige, antike Einrichtung zu legen. Das Sofa entsprach eher einer hölzernen Bank mit reichlich Ornamenten verziert und erinnerte mich durch das erhöhte Kopfteil an eine Chaiselongue. Die Wände waren großflächig mit Landschaften, ähnlich der Toskana, bemalt.

Noch immer war mir nicht klar, warum ich hier war und so stark die Orientierung verloren hatte. Wo war ich zuletzt gewesen? Woran konnte ich mich noch erinnern? Ich rieb mir die schmerzenden Schläfen.

Lauter werdende Schritte auf dem Gang rissen mich aus meinen Gedanken. »Sie hat kaum etwas an, mein Herr. Wir wussten nicht, was wir mit ihr tun sollen. Wenn Ihr wünscht, können wir sie auch rauswerfen?«, hörte ich den alten Mann sagen.

»Wir werden sehen!«, antwortete eine jüngere, aber dennoch tiefe und rauchige Stimme. Sie verursachte mir Gänsehaut am ganzen Körper. Ein großer Mann betrat nun den Raum, gefolgt von dem Älteren.

Mir stockte der Atem. Dieser Mann war wohl der schönste, den ich je gesehen hatte. War das hier wirklich gerade real? Eigentlich war ich nicht der Typ, der körperlich so auf gutaussehende Männer reagierte. Doch bei seinem Anblick fegte ein Feuer durch mich hindurch - ein heißer, dennoch angenehm reizvoller Schmerz.

Die Hitze erreichte meinen Kopf. Meine Wangen mussten glühen, aber das fiel bei diesem geringen Lichtpegel hoffentlich nicht auf.

Er war groß, füllte den gesamten Türrahmen auch in der Breite aus. Unter seinem weißen Shirt zeichneten sich deutlich die muskulösen Arme und der durchtrainierte Oberköper ab. Seine Haare waren tiefschwarz und lockten sich wild auf seinem Kopf. Er hatte feine, aber markante Gesichtszüge, die ihn ein wenig arrogant wirken ließen. Aber besonders zogen mich seine Augen an. Sie waren türkisgrün und blitzten mich auf eine herablassende Weise an.

Nicht nur ich hatte seinen Körper gemustert, auch sein Blick glitt nun von oben bis unten über mein Äußeres. Erschreckt stellte ich fest, dass mir mein dünnes Partykleid durch die Feuchtigkeit eng am Körper klebte und kaum etwas verhüllte. Intuitiv schlang ich meine Arme um meinen Oberkörper, um mich nicht ganz so nackt zu fühlen und versuchte ihn trotz meiner Unsicherheit selbstbewusst anzusehen.

Er erwiderte meinen Blick und sah mir fest in die Augen.

»Mit wem habe ich das Vergnügen?« Sein Blick durchbohrte mich tief ins Innerste und ich stellte überrascht fest, dass ich die ganze Zeit den Atem angehalten hatte.

»Ich ... ich bin Helena«, stotterte ich nach Luft ringend und versuchte vergebens etwas Haltung zu bewahren, während er mich so durchdringend ansah.

»Helena? Und weiter? Was tust du in meinem Haus? Wie bist du hier hereingekommen?«, fragte er schroff. Seine Stimme hatte sich zu einem tiefen Grollen gewandelt und seine Augen funkelten dunkel.

Ich hatte durchaus Verständnis für seine Verärgerung. Immerhin war ich plötzlich in seinem Garten aufgetaucht. Aber so bedrohlich, wie er sich vor mir aufgebaut hatte und mich kritisch dabei musterte, empfand ich als übertrieben.

»Ich heiße Helena De Luca. Es tut mir leid, ich war wohl auf dem Weg nach Hause und ... habe irgendwie einen Filmriss. In welcher Straße sind wir hier?«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, während ich sprach und wirkte nun nicht mehr so argwöhnisch, sondern vielmehr mitleidig. Endlich verstand er, dass ich nicht geplant hatte ihn auszurauben!

Leider täuschte mich mein Gefühl, denn er schien nicht vorzuhaben mir zu helfen. »Frag Lucius, ob sie zu seiner versoffenen Truppe gehört, denn eine Dame ist das sicher nicht. Ansonsten setze sie vor die Tür, Tiberius!«, brummte er den alten Mann an, während er sich umwandte, um den Raum zu verlassen. »Und störe mich nicht weiter, ich muss den Schlaf der letzten sieben Jahre nachholen.«

»Ja, mein Herr. Natürlich!«, antwortete Tiberius ihm mit gesenktem Kopf.

»Was soll das heißen? Können Sie mir nicht wenigstens ein Taxi rufen? Ich habe mein Handy verloren!«

Sichtlich irritiert drehte der gutaussehende Typ den Kopf leicht zu mir zurück. Seine dunklen Locken und sein markantes Profil ließen ihn in dem schwachen Licht wie eine lebende Statue wirken. Meine Augen waren von dem Bild, das er bot, magnetisch angezogen und ich schaffte es nicht, sie wieder abzuwenden.

Unsere Blicke trafen sich. Sofort entbrannte ein Glühen in meinem Bauchraum und verteilte sich sekundenschnell wie züngelnde Flammen durch meinen ganzen Körper. Fast schien es, als ob er ein ähnliches Empfinden hatte, denn er stockte kurz. Ein betörender Glanz huschte über seine Augen und ließ die Flammen in mir neu auflodern.

Doch dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und wandte sich komplett ab, während er vor sich hinmurmelte. »Du hast zu viel getrunken. Geh nach Hause und versuch dein Leben in bessere Bahnen zu lenken.«

Das war nun wirklich frech! Es stand ihm nicht zu, mich zu verurteilen. Zumal er sich als Mein Herr ansprechen ließ.

»Das versuche ich ja gerade. Nur müsste ich dazu wissen, wo ich hier bin!«, schrie ich ihm voller Wut hinterher.

Tiberius kam auf mich zu, packte mich grob am Arm und zog mich wieder hinaus in den Gang. Die Behandlung hier war unterirdisch. »So kannst du nicht mit ihm reden, Mädchen«, raunte er mir zu. Aus seiner Sicht hätte ich vermutlich ein Eure Majestät anfügen sollen.

»Ist es zu viel verlangt mich kurz ans Telefon zu lassen? Oder mir zumindest einen Stadtplan in die Hand zu drücken?«

Verwirrt blickte er mich von der Seite an, dann zog er die Augenbrauen hoch und führte mich um die nächste Ecke. Laute Stimmen und Gelächter dröhnten zu mir.

Als er mich durch die Tür schob, bot sich mir ein atemberaubendes Bild. Ich stand in einem opulenten Raum, der mit antiken Statuen und kostbaren Teppichen geschmückt war. Wie in einem historischen Film lagen überall verteilt auf bequemen Liegen, Männer und Frauen in aufwändigen, fließenden Gewändern, mit Weinkelchen in den Händen.

Einige tanzten leichtfüßig zur Melodie, die von Musikern in einer Ecke des Raumes gespielt wurde, während andere in angeregte Gespräche vertieft schienen. Die Atmosphäre war durchdrungen von einer sinnlichen und freizügigen Energie. Viele der anwesenden Frauen waren nur leicht oder halb bekleidet und in lustvolle Spielereien miteinander vertieft.

Es musste sich um eine Mottoparty handeln. Und zwar um eine wirklich Kostspielige. Die Dekadenz der antiken römischen Gesellschaft war perfekt getroffen.

Tiberius näherte sich unterwürfig einem Mann auf einer Liege und flüsterte ihm etwas zu. Schon drehte dieser sich zu mir um und ich erkannte die gleichen markanten Gesichtszüge, wie ich sie gerade zuvor gesehen hatte.

Er erhob sich leicht schwankend und kam, mit einem Weinkelch in der Hand, auf mich zu. Er hatte zwar starke Ähnlichkeit, aber ihm fehlte eindeutig diese durchdringende Ausstrahlung seines Verwandten.

Aus seinen hellgrünen Augen blinzelte er mich schelmisch an und ich stellte fest, dass diese bei weitem nicht die Tiefe aufwiesen, wie ich sie eben noch gesehen hatte. Ich konnte nicht erkennen, ob seine schwarzen Haare sich auch lockten, denn sie waren sehr kurz geschnitten. Er war ebenfalls groß, aber weniger muskulös gebaut.

»Die Dame hat sich verlaufen? Was für ein Glück, dass sie nun die richtige Tür gefunden hat.« Er prostete mir zu.

»Du kannst nun gehen«, raunte er Tiberius zu, ohne den anzüglichen Blick von mir zu nehmen, mit dem er meinen immer noch durchnässten Körper unverhohlen musterte.

Tiberius verschwand daraufhin und schloss die Tür hinter sich. Ich fühlte mich plötzlich allein.

»Mein Bruder weiß solche Vergnügungen nicht zu schätzen«, flüsterte mir der Mann zu und näherte sein Gesicht dabei viel zu sehr meinem. Dabei stieg mir ein durchdringender Geruch nach Wein in die Nase, der in mir leichte Übelkeit auslöste.

Plötzlich überkam mich das ungute Gefühl, dass ich an diesem Ort besser nicht bleiben sollte. Ein dumpfes Rauschen in meinen Ohren begann, das mich schon einige Male auf gefährliche Situationen hingewiesen hatte. So wie damals, als mir dieser unheimliche Kerl, in dem Tunnel unter der U-Bahn, immer näher rückte. Ich hatte mir daraufhin geschworen, mich in Zukunft mehr auf meine Intuition zu verlassen.

»Wir wurden uns noch nicht vorgestellt. Ich bin Lucius, der Gastgeber dieser fantastischen Zusammenkunft. Wie ist dein Name, meine Schöne?«, riss er mich aus meinen Gedanken.

Dabei nahm er meinen Arm, zog mich mit sich durch die Menge und legte mir dann seinen um die Taille. Panik durchfuhr mich, als mein Blick immer mehr, ins Liebespiel vertiefte Menschen sah. Dies war eine richtige Orgie.

»Ich … ich sollte wieder gehen«, stammelte ich leise und versuchte mich seinem Griff zu entziehen.

»Na, willst du denn nicht meinen politischen Erfolg mit mir feiern? Ich denke, ich habe mir eine Wertschätzung für meine harte Arbeit verdient.«

»Welcher Erfolg?«, fragte ich ihn irritiert, während ich mich bemühte ihn weiter auf Abstand zu halten. Ich hatte nicht mitbekommen, dass zurzeit irgendwelche politischen Wahlen in Rom stattfanden, war aber auch nicht sonderlich an Politik interessiert.

»Meine Wahl zum Volkstribun natürlich, meine Liebe! Das ist schließlich der erste Schritt auf dem Weg zum Konsul.« Seine Stimme schäumte fast über vor Stolz.

Ich hörte kaum zu, suchte stattdessen nach einer Möglichkeit schnellstens den Raum und dann dieses Haus zu verlassen. Dann brauchte ich nur noch ein Taxi auf der Straße zu finden, das mich schnellstmöglich zur Jugendherberge zurückbrachte.

Als seine Hand immer tiefer rutschte und meinen Po erreichte, war es genug. Ich schlug sie abrupt weg und bahnte mir einen Weg durch die Menge der Gäste. Kaum hatte ich die Tür erreicht, stürmte ich den langen Korridor entlang und versuchte mich daran zu erinnern, von wo wir gekommen waren. Verdammt! Dieses Haus war viel größer, als ich gedacht hatte.

Schon hörte ich Schritte hinter mir. Als ich mich umsah erkannte ich, wie Lucius leicht torkelnd um die Ecke bog. Wo war bloß der Ausgang? Es waren keine Motorengeräusche von der Straße zu hören. Vor mir lag nur dieser lange Gang, mit Türen auf beiden Seiten und kleineren Abzweigungen von Zeit zu Zeit.

»Wie ich diese kleinen Spielchen liebe. Du hast keine Chance mir zu entkommen!«, säuselte Lucius hinter mir. Mein Herz schlug schnell und meine Ohren rauschten laut. Verzweifelt eilte ich zur nächsten Tür, die vor mir auftauchte, und stürmte in das Zimmer.

»Du schon wieder! Du solltest doch längst verschwunden sein!«, fauchte mich nur Sekunden später eine raue Stimme an, die ich zu meinem Entsetzen bereits kennengelernt hatte. Stocksteif blieb ich stehen. So ein Mist!

Schon erhob sich eine große Gestalt, hinter einem gigantischen, antiken Schreibtisch. Im Schein der Öllampe registrierte ich den Mann von vorhin. Er musste Lucius‘ Bruder sein. Angst überkam mich, denn hier in diesem Zimmer war ich den beiden vollkommen ausgeliefert. Schon stand Lucius mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht im Türrahmen.

»Ich habe gesagt, ich will von deinen Eskapaden verschont bleiben. Musst du mich mit deinen Spielereien ständig belästigen?«, schnauzte ihn sein Bruder an, während er mich am Arm packte und grob zu Lucius zerrte.

»Verzeihung, wir sind gleich wieder verschwunden«, säuselte dieser und zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Die Kleine steht offenbar auf Katz-und-Maus-Spielchen.« Lucius zuckte theatralisch mit den Schultern und griff nach meiner Hand.

»Nein!« Ruckartig entzog ich ihm meinen Arm »Bitte!«, wandte ich mich an Lucius‘ Bruder, der mir der Vernünftigere von beiden schien. Zumindest war er nicht betrunken. »Ich will nur dieses Haus verlassen.«

Überrascht blickte er mich aus seinen türkis leuchtenden Augen an und das feurige Kribbeln in meinem Bauch begann von neuem.

Verdammt! Das war jetzt wirklich unpassend.

Er nickte knapp. »Du hast es gehört! Hau ab und lass sie in Ruhe«, sagte er in autoritärem Ton in Lucius‘ Richtung.

»Aber Flavius, das kannst du nicht machen. Du hast nicht zu entscheiden, was ich auf meinem Fest veranstalte!«, antwortete dieser nun deutlich kleinlauter.

»Doch, natürlich kann ich. Es ist mein Haus!«

»Du kannst nicht nach Jahren hier auftauchen und dich auf einmal als Herr ...«

»Genug! Sie will nicht. Du findest doch sicher eine andere, die sich freiwillig so erniedrigt, es mit dir zu treiben«, unterbrach er Lucius abrupt. »Ich bringe sie jetzt zur Tür und du verschwindest wieder zu deiner Gruppe von Hurenböcken!«

Lucius kniff die Augen zusammen, warf mir noch einen abschätzigen Blick zu und verließ mit finsterem Gesichtsausdruck den Raum.

Als seine Schritte verklungen waren, drehte ich mich zu Flavius um und bedankte mich beschämt.

Er nickte mir wortlos zu, setzte sich wieder hinter den Schreibtisch und begann etwas zu schreiben.

»Wo ... wo ist denn nun der Ausgang?«, fragte ich irritiert von seinem Verhalten. Sein Blick blieb weiter auf das Papier vor ihm gerichtet. Schrieb er etwa mit einer Feder?

»Ich bringe dich gleich hin. Lass mich nur noch den Gedanken zu Ende bringen, sonst fange ich gleich wieder von vorn an.«

Ich nickte zufrieden und setzte mich auf die gepolsterte Liege an der Wand. Ich ließ meine Hand über den roten, samtigen Stoff gleiten. Sie war herrlich bequem und wunderschön bestickte Kissen lagen darauf.

Vorsichtig blickte ich hinüber zu Flavius, der vertieft in seine Arbeit schien. Die Öllampe beleuchtete sein Gesicht auf eine sanfte Weise, sodass sein Gesicht harmonisch und malerisch aussah. Die Locken hingen leicht in sein Gesicht und verliehen ihm etwas Verwegenes und Wildes. Mein Blick glitt hinab zu seinen breiten Schultern. Er war sicher richtig stark. Bestimmt war er ein Model, so wie er aussah. Hatte ich überhaupt schon einmal einen so gutaussehenden Mann gesehen?

Verlegen wandte ich meinen Blick wieder ab und ließ mich erschöpft auf die weichen Kissen sinken.

II

Helena

Ich erwachte von dem Geräusch leiser Schritte. Was hatte ich da für einen fürchterlichen Traum gehabt? Aber er war auch irgendwie schön gewesen! Ich lächelte in mich hinein, Flavius‘ Bild vor Augen, während ich mich noch einmal umdrehte.

Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich ins Bett gekommen war. Nicht einmal daran, wie ich zurück in die Jugendherberge gelangt war.

Wir hatten ins neue Jahr hineingefeiert, am Platz vor dem Kolosseum, Mina, Jule und ich. Hatten extra unsere Sparkonten geplündert, um uns nach dem letzten, anstrengenden Jahr an der Uni etwas Freiheit zu gönnen und ausgelassen zu feiern. In Rom, der ewigen Stadt. Ein Traum, den ich schon so lange hegte und der nun endlich in Erfüllung gegangen war.

Mein Kopf schmerzte, ich musste viel zu viel getrunken haben und hatte mir wirres Zeug eingebildet. Woran konnte ich mich noch erinnern? Der Countdown auf der großen, leuchtenden Anzeige: 3 ... 2 ... 1 ... Frohes Neues Jahr!Nein, eigentlich nicht. Denn von diesem Moment an war meine Erinnerung schwarz!

Ängstlich öffnete ich ein Auge. Da war er. Der mächtige Schreibtisch aus dunklem Holz stand immer noch da, wie ich ihn aus meinem Traum im Kopf hatte.

Mist! Es war also kein Traum. Langsam raffte ich mich auf und sah mich im Raum um. Er war viel größer, als ich gestern in der Dunkelheit gedacht hatte. Nun schienen durch ein kleines Fenster erste Sonnenstrahlen und erhellten den hinteren Teil des Zimmers, der von einem großen, massiven Holzbett, ausgefüllt wurde. Es war eine Art Himmelbett, mit vier Holzpfosten und einem bestickten Baldachin. Meine Aufmerksamkeit war allerdings weniger auf das Bett als auf das, was darin lag, gerichtet: Flavius!

Ich konnte nicht umhin, leise ans Bett zu schleichen und den schlafenden Menschen darin zu betrachten. Er sah noch genauso schön aus, wie in meiner Erinnerung von gestern Nacht. Nur wirkte er jetzt im Tageslicht irgendwie realer. Er lag auf dem Bauch, sein Gesicht entspannt zur Seite geneigt.

Ich musste lächeln und bemerkte, wie albern ich mich benahm. Schnell wandte ich mich ab, strich meine zotteligen Haare glatt und öffnete leise die Tür.

Ich schaute auf den Flur hinaus, den entlang gerade zwei Männer kamen. Einer stützte den anderen, der offenbar noch etwas mitgenommen von letzter Nacht war.

»Salve!«, grüßte er mich mit einem entschuldigenden Nicken, während sie an mir vorbeigingen.

Was sollte man darauf sagen? Diese Leute nahmen ihre Kostümpartys offenbar ziemlich ernst. Vielleicht war es auch eine Art Rollenspiel. So etwas war doch mittlerweile ziemlich verbreitet, ob Fantasy oder vergangene Epochen wie die Wikingerzeit oder das Mittelalter.

Auf jeden Fall schienen die beiden das gleiche Ziel wie ich zu haben: Den Ausgang. Ich folgte ihnen mit genügend Sicherheitsabstand. Das Haus wirkte nun tatsächlich gar nicht mehr so unübersichtlich wie bei Nacht.

Kaum hatten meine Vorgänger die große, hölzerne Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen lassen, war auch ich herausgeschlüpft. Kalter Wind blies mir ins Gesicht. Verärgert bemerkte ich, dass ich nur in meinem dünnen, kurzen Kleid draußen auf der Straße stand und meinen Mantel offenbar auf der Silvesterparty vergessen hatte.

Was für ein heftiger Filmriss war das bloß? Wahrscheinlich hatte mir jemand K.O.- Tropfen ins Glas gefüllt, denn so etwas war mir noch nie zuvor passiert.

Mehr als einen leichten Kater am Morgen, nach durchgefeierten Nächten, hatte ich sonst nie gehabt. Und eigentlich hatte ich meine Drinks gestern auch nie aus der Hand gegeben.

Ich schlang die Arme zitternd um meinen Oberkörper und versuchte mich zu orientieren. Diese Gegend kam mir nicht bekannt vor.

Wir hatten in den vergangenen Tagen die meisten Sehenswürdigkeiten in Rom abgeklappert, aber diese waren alle eher im Zentrum der Stadt gewesen. Diese Umgebung musste außerhalb liegen, ja schien bereits ländlich zu sein, denn es fuhren weit und breit keine Autos. Es war weder Motorenlärm noch das typische, nervöse Hupen, das ich sonst überall in der Stadt wahrgenommen hatte, zu hören.

Die Straße bestand aus einer Art Kopfsteinpflaster und die Häuser ringsherum waren alle sandsteinfarben und mit antiken Säulen gesäumt. Es schien eine wohlhabende Gegend zu sein, denn die Häuser entlang der Straße waren alles Villen, imposant und gut gepflegt. Die Fenster und Türen waren aufwendig verziert und die Fassaden mit Statuen und Fresken geschmückt. Sämtliche Dächer waren einheitlich mit roten Ziegeln gedeckt. Auf beiden Seiten der Straße, standen hohe Zypressen und Platanen.

Die Straße selbst war mit kunstvollen Mustern aus farbigem Stein verziert. Zu meiner Verwunderung war in ihrer Mitte ein erhöhter Bereich angelegt, der für die Fußgänger bestimmt zu sein schien. Der restliche Teil der Straße wurde von Wagen und Reitern genutzt.

Insgesamt herrschte reges Treiben, denn viele Menschen waren mit Handkarren oder Pferdewagen, auf denen Obst und Gemüse geladen waren, unterwegs.

»Verzeihung, können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Kolosseum komme?«, fragte ich eine Frau mittleren Alters, die gerade mit einem großen Korb an mir vorüberging.

Wenn ich erstmal beim Kolosseum war, würde ich den Weg schon allein zurück zur Herberge finden. Die beiden Mädels machten sich sicher große Sorgen um mich. Ein schrecklicher Gedanke flackerte in mir auf. Was, wenn ihnen das Gleiche zugestoßen war und sie nicht so glimpflich aus der Sache herausgekommen waren wie ich? Ich wurde immer nervöser.

Die Frau musterte mich nur schweigend, rümpfte die Nase und blickte an mir vorbei, während sie die Straße weiter hinablief.

Leider schien das generell die Art zu sein, hier mit Hilfesuchenden umzugehen, denn auch zwei weitere Passanten ignorierten mich und meine Frage.

Na schön, dachte ich mir, dann folge ich einfach der Richtung, in die die meisten von ihnen laufen.

Am Ende der Straße traf ich auf einen großen Marktplatz. Die Geschäfte waren bereits in vollem Gang. Überall standen Händler mit verschiedensten Waren, darunter Früchte, handwerkliche Kunstgegenstände wie antike Vasen, Gewürze, Stoffe und vieles mehr.

Dieses bunte Gewirr mit den unterschiedlichsten Gerüchen faszinierte mich. Früher war ich gern auf historische Weihnachtsmärkte gegangen und das Ganze erinnerte mich stark daran. Hier bauten die Menschen gerade einen antiken römischen Markt auf. Ich musste unbedingt später noch einmal wiederkommen.

Was mich allerdings weiter beunruhigte, war dieses dumpfe Rauschen im Ohr, das ich bereits am Abend zuvor gespürt hatte und das mittlerweile zu einem richtigen Stürmen in meinem Kopf herangewachsen war.

Irgendetwas stimmte nicht. Nirgends waren die Hochhäuser der Vorstadt zu sehen, keine Mopeds, nicht einmal eine einzige Person spielte am Handy. Sonst daddelte doch mindestens jeder zweite am Smartphone, machte Selfies, insbesondere vor dieser beeindruckenden Kulisse.

»Was ist das hier für eine Veranstaltung?«, fragte ich den nächstbesten älteren Herrn, der gerade stehengeblieben war, um meine Kleidung zu begutachten. Als ob er besser angezogen war, mit seinem weiten sackartigen Gewand.

»Der Markt?« Mir war nicht klar, ob das nun auch eine Frage oder die Antwort sein sollte.

»Ja, ich meine, ist das so eine Neujahrsveranstaltung? Ein historisches Fest?«

Der Mann sah mich verdutzt an, aber ging immerhin nicht gleich weiter. Im Gegenteil, er schien die Gelegenheit zu nutzen, meinen kaum bekleideten Körper noch ausgiebiger zu betrachten.

Ich schlang die Arme noch enger um meinen Brustkorb. »Wo sind wir hier? Gibt es irgendwo einen Stadtplan? Ich möchte zurück ins Zentrum.«

»In welches Zentrum? Das ist die Via Clementia und dort das Forum Hollitorium.« Er zeigte auf den Marktplatz. »Da drüben liegt der Tempel des Apollo, siehst du? Dahinter triffst du auf das Campus Martius.« Er deutete auf die Häuserreihe hinter dem Forum, über der sich eindeutig die Säulen einer Tempelanlage erhoben.

»Danke«, murmelte ich und setzte mich in Bewegung. Die Reste des Apollotempels hatten wir uns, bei einer unserer Stadttouren, in den letzten Tagen angesehen.

Ich erinnerte mich genau. Er war gleich neben dem Marcellustheater und dahinter lag das Marsfeld, auf dem früher große Volks- oder Heeresversammlungen stattgefunden hatten. Ich lief immer schneller bis sich vor mir die großen korinthischen Säulen des eindrucksvollen Tempels erhoben.

Moment, war das der gleiche Tempel? In meiner Erinnerung waren gerade einmal drei Säulen des antiken Bauwerks erhalten geblieben. Hier bot sich mir eine völlig andere, irreale Szenerie. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und tauchte die Säulen und antiken Statuen, rund um den Tempel, in helles Licht.

Dieser Tempel war komplett erhalten! Menschen in hellen, weiten Gewändern eilten geschäftig daran vorbei, andere unterhielten sich auf dem Vorhof in Grüppchen, wieder andere legten Blumen an die Stufen des Tempels und knieten nieder.

Überwältigt sah ich mich weiter um und wagte es kaum zu atmen. Das eindrucksvolle Theater, das sich in unmittelbarer Nähe hätte befinden müssen, war nicht da. Das Marsfeld hingegen schon. Es war der gleiche Ort, an dem ich bereits vor ein paar Tagen gestanden hatte.

Immer deutlicher wurde nun meine Vorahnung, dass es sich hier nicht um ein historisches Fest oder vielleicht ein Filmset handelte. Auch würde niemand hinter einer Ecke hervorspringen und ein Verstehen Sie Spaß -Schild hochhalten. Ich hatte einen Kloß im Hals, meine Beine zitterten und ich fühlte, wie Tränen in mir aufstiegen. War ich verloren in einer anderen Zeit?

III

Helena

Ich lief noch den ganzen Tag sinnlos umher, versuchte mich zu orientieren und einen Überblick von der Stadt zu bekommen. Ich hatte Passanten gefragt, in welchem Jahr wir uns befanden, aber konnte mit der Antwort nichts anfangen. Natürlich sagten sie mir nicht: »Wir haben das Jahr 60 vor Christus!« Sie folgten schließlich einem alten Kalender, von dessen Umrechnung ich keine Ahnung hatte.

Ich versuchte mein Wissen über die Geschichte des alten Roms, das ich irgendwann im Verlauf meines Studiums gesammelt hatte, hervorzuholen. Leider hatte mich dieses Thema bislang nicht allzu sehr interessiert und so war ich, im Laufe meines Geschichtsstudiums, nur zu den Pflichtveranstaltungen der Alten Geschichte gegangen und hatte mich eher auf das Neuere Zeitalter konzentriert.

Trotz des Ärgers über mich selbst und die Situation, hatte ich nun neue Erkenntnisse gewonnen. Ich war definitiv im alten Rom, allerdings in einem Rom ohne Kolosseum, Kaiserforen und ohne die meisten der, in heutiger Zeit bekannten, Sehenswürdigkeiten. Und ich war in einer Zeit, in der Jesus noch nicht gelebt hatte. Ich war in Rom noch vor der Kaiserzeit.

Die Sonne war kurz vorm Untergehen und meine nackten Beine mittlerweile starr vor Kälte. Meine Füße spürte ich kaum noch. Kein Wunder, ich war den ganzen Tag in hohen Stilettos unterwegs gewesen und das auf überwiegend Kopfsteinpflaster. Damit mein schwarzes, kurzes Kleid nicht für allzu viel Aufsehen sorgte, hatte ich mir ein altes, zerfledertes Tuch umgelegt, das ich hinter einem der Marktstände gefunden hatte. Es war fürchterlich dreckig, aber schützte mich zumindest auch etwas vor dem kalten Wind.

Nicht zum ersten Mal saß ich heute in einer Straßenecke zusammengekauert auf dem schmutzigen Boden und weinte leise vor mich hin. Ich hatte niemanden, war vollkommen allein. Ohne Geld, ohne Kleidung und ohne Unterkunft. Wahrscheinlich würde ich auf der Straße schlafen müssen und jämmerlich erfrieren. Und das, ohne meine Freunde und Familie noch ein letztes Mal zu sehen. Warum hatte das Schicksal mir das angetan? Warum ich? Warum passierte so etwas überhaupt? Eine Zeitreise! Das gab es doch nur in der Literatur oder im Film.

Etwas Hartes traf mich am Kopf. Ein angeknabberter Apfel! Ernsthaft? Ein Mann mit grauen Haaren und langem Bart nickte mir mitleidig zu, während er weiter die Straße entlang schlenderte. Tagsüber hatte ich aus einem Brunnen getrunken, aber ich merkte nun, wie sehr mein Magen vor Hunger knurrte. Angeekelt biss ich in den Apfel. Würde ich den Rest meines Lebens von Essensabfällen fremder Menschen leben müssen?

Ich konnte das nicht einfach so akzeptieren und mich selbst so bemitleiden. Vielleicht wurde ich jeden Moment einfach wieder zurück in meine Zeit geschleudert? Ich gehörte hier nicht her und das würde die Zeitenverwaltung schon merken. Wenn es so etwas überhaupt gab. Aber irgendwer oder -was musste schließlich für meinen Schlamassel verantwortlich sein und es wieder hinbiegen. So lange würde ich durchhalten und mein Leben in die Hand nehmen.

Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen ab und schaute mich zwischen den Menschen um. Es gab jemanden, den ich hier kannte. Mehr oder weniger. Und er hatte mich sogar auf seinem Sofa schlafen lassen. Und eine Decke über mich gelegt. Ich lächelte in mich hinein. Das hätte er nicht getan, wenn er ein totaler Mistkerl wäre.

Flavius! Ich würde zu seinem Haus gehen und ihn bitten, noch eine Nacht bleiben zu dürfen. Morgen früh würde ich dann weitersehen. Allerdings war da auch sein schleimiger Bruder. Was soll‘s? Ich hatte sowieso keine andere Wahl. Ich streckte meine verfrorenen Beine aus, schaffte es aufzustehen und setzte mich stolpernd in Bewegung.

Das Haus wiederzufinden war nicht so schwer. Ich hatte die gesamte Gegend am Nachmittag genügend erkundet, um mich mittlerweile einigermaßen zurechtzufinden.

»Ja? Ihr wünscht?« Tiberius öffnete die Eingangstür einen Spalt und streckte seinen Kopf heraus. »Oh!«, stockte er dann. Immerhin schien er mich zu erkennen.

»Salve!«, versuchte ich mich den Sitten hier anzupassen. »Ich möchte zu Flavius. Ist er zu Hause?«

Er musterte mich kritisch, als ob er unschlüssig wäre, was er nun tun sollte. Er schien mit sich zu hadern.

»Bitte!«, schob ich in zuckersüßem Ton nach. »Ich habe die letzte Nacht hier verbracht und möchte ihn etwas fragen.«

Tiberius lief rot an und senkte verlegen den Blick. Dann öffnete er die Tür etwas weiter und gab mir ein Handzeichen einzutreten.

»Warte hier!«, sagte er, als er die Tür hinter uns wieder schloss und deutete dann in einen Raum, gleich links neben der Tür. Brav ging ich hinein und fand mich in einem hübschen, kleinen Wohnraum wieder, mit wunderschönen Landschaftsmalereien an den Wänden und einer Gruppe aus bequem aussehenden Liegen in der Mitte des Raumes. Ich ließ mich auf einer nieder und überschlug die Beine, um etwas sittsamer auszusehen.

Ich durfte das Gespräch jetzt nicht vermasseln, sonst saß ich gleich wieder auf der Straße. Schnell strich ich meine Haare mit den Fingern glatt und wischte mir über das Gesicht. Nach diesem Tag war an meinem Aussehen aber vermutlich nichts mehr zu retten. Schon näherten sich Schritte. Ich schaute aufgeregt zur Tür und nahm wahr, wie sich mein Herzschlag unweigerlich beschleunigte.

Er stand im Türrahmen. Groß und erhaben, seine Haare waren entzückend verwuschelt und verliehen ihm etwas Freches. Sein Gesicht hatte feine, elegante Züge, die eine gewisse Hochmut widerspiegelten. Sein Kinn war glattrasiert und markant konturiert. Wie alt er wohl war? Vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig? Seine Haut war leicht gebräunt von der Sonne. Er trug eine helle Tunika mit kurzen Ärmeln, die den Blick auf seine muskulösen Oberarme freigaben. Damit war er legerer gekleidet als die meisten Römer, die ich tagsüber auf den Straßen gesehen hatte. Sie hatten meist eine Toga umgelegt. Aber er war hier ja bei sich zu Hause.

»Antwortest du auch?«, riss mich seine Stimme aus meinen Gedanken. Ich zuckte zusammen.

Was? Oh, er hatte etwas gefragt? Verdammt! Warum hatte ich mich nicht besser auf dieses Gespräch vorbereitet? Sein Blick fixierte mich ungeduldig.

»Ja, natürlich«, begann ich. »Erstmal vielen Dank, dass ich hier übernachten durfte, das war sehr freundlich.« Ich versuchte es mit einem strahlenden Lächeln, aber seine Miene zuckte nicht. Na schön, dann einfach raus damit! »Ich frage mich, ob es wohl möglich wäre, dass ich noch eine Nacht bleibe?« Vorsichtig sah ich ihm in die Augen. Bei meinen Worten verengten sie sich finster, was ihre leuchtende Farbe nicht weniger eindrucksvoll erscheinen ließ.

»Warum sollte ich das erlauben? Ich kenne die Freunde meines Bruders kaum und möchte auch nichts mit ihnen zu tun haben. Wenn du es dir anders überlegt hast, kannst du ihn fragen. Vielleicht ist er nicht nachtragend und lässt dich heute in sein Bett!«, erwiderte er in spöttischem Ton.

»Nein!«, stieß ich entrüstet hervor. »Wir sind nicht befreundet. Ich kenne ihn überhaupt nicht und möchte ihn ehrlich gesagt auch nicht weiter kennenlernen.«

Er hob eine Augenbraue.

»Es ist nur so, dass ich keine andere Schlafmöglichkeit habe. Ich kenne hier niemanden und es ist draußen extrem kalt.«

»Dann zieh dir etwas Vernünftiges an. Du bist kaum bekleidet. Wenn ich alle Obdachlosen hier einlasse, weil ihnen kalt ist, wäre mein Haus bis unters Dach voll.« Er hielt einen Moment inne, bevor er sich wieder Richtung Flur drehte.

Ich fühlte wieder Tränen in mir aufsteigen. Sie brannten hinter meinen bereits gereizten Augenlidern. Er würde mich hier nicht übernachten lassen. Warum auch? Ich würde auch keinen Wildfremden einfach in meine Wohnung lassen. Was hatte ich mir dabei nur gedacht? Ich senkte den Kopf, um zu vermeiden, dass er meine Tränen sah.

»Trotzdem, vielen Dank!«, murmelte ich leise, als ich mich an ihm vorbei zur Haustür drückte. Der kalte Wind schlug mir ins Gesicht und raubte mir den Atem, als ich sie hinter mir ins Schloss zog. Wohin nun? Gab es hier irgendeine Unterkunft für Arme? Ich überquerte die Straße, denn ich wollte nicht länger so erbärmlich vor seinem Haus herumlungern. In meiner Situation war es praktisch unmöglich mir noch etwas Würde zu bewahren. Es sollte mich nicht im Geringsten interessieren, was dieser Fremde von mir hielt.

Schräg gegenüber zweigte eine kleine Gasse ab, da würde ich erstmal in der Dunkelheit verschwinden und mir überlegen, wie es weiterging. Ich lief die schmale Gasse entlang, bog in eine weitere ab und fühlte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Mit einem Schlag war die ganze Verzweiflung wieder da, stärker als zuvor. Meine einzige Chance auf Hilfe war vertan. Aber was hätte ich noch tun sollen? Ich konnte ihn wohl kaum auf Knien anbetteln, mich bleiben zu lassen. Ich kannte diesen Menschen kaum. Ebenso gut hätte ich an jedem anderen Haus anklopfen können. Die Geräusche der Stadt verklangen allmählich, ich hörte nur noch das laute Rauschen meines Blutes in den Ohren, das mir versuchte mitzuteilen, wie gefährlich die Lage für mich war, während ich ziellos weiterlief.

Plötzlich tauchten aus einer engen Seitengasse zwei finstere Gestalten vor mir auf. Sie trugen Kapuzenmäntel, die ihre Gesichter in Dunkelheit hüllten. Hastig presste ich mich an eine Hauswand. Vielleicht reagierte ich gerade über und die Männer wollten einfach nur völlig harmlos nach Hause gehen. Ich klammerte mich an den Gedanken. Mein Bauchgefühl signalisierte mir etwas anderes. Ich hielt die Luft an.

Hatten sie mich etwa entdeckt? Ihre Schritte kamen näher. Ich erstarrte vor Schreck. Panisch überlegte ich, wohin ich flüchten konnte. Doch es war längst zu spät. Ihre schnellen Schritte donnerten über den Steinboden und mein Fluchtinstinkt setzte viel zu langsam ein.

Die beiden Männer erreichten mich, bevor ich die Lage begreifen und entkommen konnte. Einer der Männer packte grob meinen Arm und zwang mich stehenzubleiben. Sein Gesicht blieb im Schatten, aber seine Worte waren drohend und unmissverständlich fordernd. »Los, her mit deinem Geld und anderen Wertsachen!« Ich bekam vor Angst kein Wort heraus. Mein Mund war vor Angst vollkommen ausgetrocknet und mein Herz hämmerte qualvoll gegen meinen Brustkorb.

Die zweite Gestalt nahm mir währenddessen das schäbige Tuch ab und starrte dann auf meine Kleidung hinab.

Diese Reaktion war ich mittlerweile gewohnt, schließlich sah man hier nicht oft jemanden in einem schwarzen Minikleid. Die beiden Kerle schauten sich verdutzt an. Ich nutzte diesen Moment, riss mich los und rannte hinein in die Dunkelheit. Dummerweise hatte ich meine schmerzenden Füße vergessen. Nachdem ich meine Stilettos vor ein paar Straßenecken aufgegeben und einfach irgendwo stehengelassen hatte, stachen sich nun lauter kleine Steinchen in meine Fußsohlen hinein.

Schon hatte mich einer der Männer erreicht und riss mich schmerzhaft zu Boden. Mein Kopf schlug auf den Boden auf begann heftig zu pochen. Ich schrie und trat um mich, aber es war niemand da, der mir helfen konnte oder wollte. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich weitere Schatten einfach an mir vorbeilaufen. Wahrscheinlich froh, dass es sie nicht selbst erwischt hatte. Überfälle wie dieser waren hier sicher an der Tagesordnung, denn niemand wagte sich einzumischen. Hart traf mich die Erkenntnis, dass ich völlig hilflos war. Meine Brüder waren unerreichbar weit entfernt. Ich war ganz allein.

Während ich weiter versuchte mich gegen meine Angreifer zu wehren, merkte ich, wie sie zunehmend wütender wurden, da ich keine Wertsachen bei mir trug. Tatsächlich hatte ich meine silberne Kette mit dem H-Anhänger, genau aus diesem Grund, schon im Laufe des Tages abgenommen und mir in den BH gesteckt.

»Dann nehmen wir eben dich, wenn du uns sonst nichts bieten kannst«, zischte mir einer der Angreifer ins Ohr. Er hielt meine Handgelenke schmerzhaft fest. Der andere machte sich währendessen an meinem Kleid zu schaffen.

Ich schrie immer lauter, hoffte, dass doch noch irgendeine Hilfe kommen würde. Mein Herz schlug schneller, Todesangst machte sich in meinem ganzen Körper breit. War das mein Ende? Würde ich irgendwo in einer dunklen Gasse Roms vergewaltigt und abgestochen werden? Über zweitausend Jahre bevor ich geboren wurde?

Entmutigt schloss ich die Augen, versuchte in Gedanken aus dieser Hölle zu entfliehen. Ich hörte, wie an meinem Kleid gezerrt wurde und es schließlich riss, spürte den heißen, stinkenden Atem der Männer auf meiner Haut. Ihre Hände glitten über meinen Körper und ich fühlte, wie diese ungewollte Berührung in mir solche Panik auslöste, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Die Angst breitete sich in meiner Brust aus und lähmte mich. Meine Arme und Beine waren zittrig und so schwer, dass ich sie nicht mehr kontrollieren konnte. Mein Gesicht war nass vor Tränen, aber die Männer ließen nicht von mir ab. Ich wimmerte verzweifelt vor mich hin.

Aus dem Nichts heraus riss etwas einen der Angreifer von mir los. Ruckartig öffnete ich die Augen. Er wurde weit von mir weggeschleudert und flog gegen eine Hauswand. Schon war der zweite Angreifer dran, der mit einem harten Kinnhaken umgehauen wurde. Schnell rappelte ich mich auf, versuchte in der Dunkelheit die Umrisse meines Retters zu erkennen. Der schmale Lichtschein der Öllampe am Ende der Gasse reichte nur bedingt zu uns.

»Los, steh auf!«, rief mir eine tiefe Stimme zu. Sie kam mir bekannt vor. Seine Hand streckte sich mir entgegen.