In den Fesseln von Bermuda - Michelle Reiter - E-Book

In den Fesseln von Bermuda E-Book

Michelle Reiter

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Beschreibung

Michelle träumt davon, Autorin zu werden. Doch obwohl sie schon seit Wochen von der Idee für ein Manuskript gefesselt ist, hat sie noch keinen einzigen Satz zu Papier gebracht. Um ihre Schreibblockade zu überwinden, entschließt sie sich zu einer Reise nach Kuba, die abrupt über dem Bermudadreieck endet. Der Flugzeugabsturz, der eigentlich ihren Tod hätte bedeuten müssen, bringt Michelle in eine andere Welt und in die Nähe eines Mannes, der gleichermaßen ihr Retter und Henker zu sein scheint. Denn im Angesicht eines nahenden Krieges muss Michelle erkennen, dass Leandro bereit ist, jeden zu töten, der sein Volk zu bespitzeln versucht. Ihr bleibt nur eine Chance, um zu überleben: Sie muss Leandros Vertrauen gewinnen und ihm beweisen, dass ihr Zusammentreffen das Schicksal seines Volkes wenden kann.

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Über den Autor

Michelle Reiter ist das Pseudonym einer jungen, österreichischen Autorin. Sie ist sehr naturverbunden und lebt mit ihrer Familie, in einer ländlichen Gemeinde. Schon sehr früh entdeckte sie ihre große Leidenschaft für Fantasy-Romane.

Mit „In den Fesseln von Bermuda“ entführt sie ihre Leser in eine düstere Fantasy-Welt.

Unsere Träume können wir erst

dann verwirklichen,

wenn wir uns entschließen,

erst einmal daraus zu erwachen.

Josephine Baker

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Epilog – Zwei Jahre später

Kapitel 1

»Darf es für Sie vegetarisch oder Huhn sein?« Verwirrt schaute ich vom Laptop auf und begutachtete die Stewardess, die mich mit aufgesetztem Lächeln fragend anstarrte. Sie war viel zu stark geschminkt und ihr Haar straff zum Knoten zusammengefasst.

»Vegetarisch bitte.«

Ich befand mich auf dem Weg nach Kuba und musste mir selbst eingestehen, dass mein Puls schneller schlug, je näher das Bermudadreieck rückte. Obwohl genau der Mythos rund um Bermuda der Hauptgrund war, warum ich diese Reise unternahm. Kopfschüttelnd legte ich das Sandwich beiseite und widmete mich wieder dem Laptop und meiner Biografie. Diese schrieb ich eigentlich nur zur Ablenkung und nicht, um sie ernsthaft einem Verlag zuzuschicken.

Mein Name ist Michelle Reiter, ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und lebe schon mein ganzes Leben lang in einem kleinen Ort namens Birgitz in Österreich. Es ist nicht so, dass ich mich hier nicht wohlfühle, es ist mein Zuhause, aber leider hat genau das auch seine Schattenseiten. Als Kind träumte ich davon, Abenteuer zu erleben, in einer anderen Welt zu landen. Natürlich glaubte ich nie wirklich daran, aber ich war und bin eine Träumerin. Dieser Umstand bewegte mich bald zum Schreiben. Ich liebe es, wie in den Geschichten normale Menschen zu Helden heranwachsen, wie sich die Figuren füreinander aufopfern und ihr Leben riskieren.

Na ja zurück zu mir … Ich träumte davon, Autorin zu werden. Geschichten wie Herr der Ringe, Harry Potter oder Chroniken der Unterwelt zu schreiben. Geschichten, die Menschen bewegen und mitreißen.

Doch das Leben nimmt leider nicht immer die Wege, die man sich erhofft. Stattdessen wurde ich Buchhalterin.

Wie gesagt, das Leben geht oft eigenartige Wege. Im Laufe der Zeit stumpfte ich immer mehr ab. Einst fühlte ich mich frei wie ein Vogel und sprühte vor Ideen. Doch der Alltag und die Enttäuschungen auf meinem Weg, schienen das Feuer in mir erloschen zu haben. Das einzige, das mir immer noch wirklich Freude schenkt, ist das Reisen. Andere Länder zu erkunden, die Schönheit der Natur zu bewundern.

Aber die Reise nach Kuba trägt einen anderen Grund. Nachdem ich vor einigen Jahren das Schreiben an den Nagel hängte, kam mir plötzlich, während ich bei der Arbeit saß, die Idee, für eine komplett neue Geschichte. Doch als ich versuchte, sie tatsächlich niederzuschreiben, konnte ich meine bereits Jahre andauernde Schreibblockade nicht überwinden. Aber etwas in mir trieb mich, nicht von dieser Idee abzulassen. Und genau deshalb sitze ich jetzt hier.

Wenn das jemand liest! Ich musste über mich selbst lachen. Als ich den herablassenden Blick meiner Sitznachbarin bemerkte, wurde mir klar, dass ich laut aufgelacht haben musste. Ich zuckte amüsiert mit den Schultern und mein Blick fiel auf die kläglichen Stichwörter.

Hauptfigur Anastasia überfliegt das Bermudadreieck, wobei es zu Turbulenzen kommt

Flugzeug stürzt ab, sie treibt im Wasser

wird von einem Fremden gerettet

findet heraus, dass sie in einem anderen Universum gelandet ist

Was machte ich hier eigentlich?

Wütend über mich selbst klappte ich den Laptop zu. Schloss die Augen, rieb meine pochenden Schläfen und versuchte, den Kopf frei zu bekommen.

Dabei musste ich eingeschlafen sein, denn wenig später weckte mich der knisternde Lautsprecher unsanft.

»Hier spricht ihr Pilot, leider kann es über dem Bermuda zu starken Turbulenzen kommen. Deshalb bitten wir Sie, die Toiletten nicht mehr aufzusuchen und angeschnallt sitzen zu bleiben, bis die Anschnallzeichen wieder erlöschen.«

Nervös rutschte ich auf dem Sitz hin und her. Das durfte jetzt nicht wahr sein! Eigentlich lag es nicht in meiner Natur, so ängstlich zu sein. Natürlich gab es unzählige Geschichten über das Bermudadreieck und Wurmlöchern. Aber wirklich daran geglaubt hatte ich nie. Der Sinn dieser Reise lag einzig darin, mir Inspiration zu holen und am Strand von Kuba das Grundgerippe des Buches zu schreiben.

Als das Flugzeug durch das erste Luftloch steuerte, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Nervös presste ich die Augen zusammen. Von Minute zu Minute wurde es schlimmer, die Maschine erfassten unbarmherzige Windströmungen. Langsam brach mir der Schweiß aus und ich konnte die Augen nicht mehr geschlossen halten. Panisch schaute ich aus dem Fenster, vor dem sich dunkle Wolken türmten und Regen gegen die Scheibe peitschte.

In diesem Augenblick erlosch das Licht im Flugzeug, augenblicklich war es stockdunkel. Der Sturm schien mit dem riesen Vogel aus Metall Ping Pong zu spielen.

Ich fühlte, wie die Maschine nach vorne kippte. Verbissen gruben sich meine Fingernägel in die Lehne. Unbeschreibliche Angst durchflutete mich in einem Ausmaß, das ich noch nie zuvor erlebt hatte. Rote Punkte tanzten vor meinen weit aufgerissen, ins Dunkel starrenden Augen. Ich hatte nie zuvor wirklich darüber nachgedacht, zu sterben. Sonderbar, wie angesichts des nahen Todes plötzlich alles klar vor Augen erschien. All jene, die mir etwas bedeuten. Alles, was ich erlebt und erreicht hatte, und besonders das, was ich noch nicht geschafft hatte. Wie ein Film im Schnelldurchlauf lief mein Leben vor meinem geistigen Auge ab. In diesem Moment wurde mir deutlich bewusst, dass ich die letzten Jahre meines Lebens vergeudet hatte und ich schwor mir, sollte ich das hier überleben, alles anderes zu machen.

Die Geschwindigkeit der rasant abstürzenden Maschine nahm zu. Mir brach kalter Schweiß aus, wie aus weiter Ferne hörte ich meine hektischen Atemzüge. Ich wollte schreien, doch aus meiner Kehle drang kein Laut. Den anderen Passaschieren schien es genauso zu ergehen, niemand gab auch nur einen Laut von sich. Es war, als wäre ich allein. Wasser schoss es mir durch den Kopf, wir fliegen gerade über Wasser. Warum ich in diesem Moment ausgerechnet daran dachte, wusste ich nicht. Ich kratzte meine ganze Selbstbeherrschung zusammen und tastete mit zittrigen Finger unter den Sitz. Mühsam zerrte ich die Weste heraus und streifte sie über. Blind in der Dunkelheit und mit bebenden Fingern schaffte ich es dennoch, die Weste zu schließen. Angeblich sollte diese sich bei Wasserkontakt von selbst aufblasen.

Plötzlich durchzuckten mehrerer Blitze die Dunkelheit. Panisch warf ich einen Blick zu meiner Nebensitzerin, doch sie starrte apathisch auf den Bildschirm vor sich. So als würde dort noch immer ihr Film laufen. Dass der Bildschirm längst schwarz war, schien sie nicht zu bemerken. Ich wollte sie anschreien, dass wir abstürzten und wie sie dabei nur so ruhig bleiben konnte, doch noch bevor ein Laut meine Kehle verließ, verstummten urplötzlich die Turbinen, die zuvor noch laut und kräftig gegen das Unwetter angekämpft hatten. Ich verlor endgültig die Nerven und griff entgegen jeder Vernunft zum Gurt, um ihn zu öffnen. Im Bestreben irgendetwas zu tun, schreiend davon zu stürmen, ergab nichts einen Sinn.

Dann hob es mir den Magen hoch, wie bei einer Achterbahn, in der die Fahrgäste nach der ersten Anhöhe scheinbar schwerelos in die Tiefe stürzten. Ich hatte Achterbahnen schon immer verabscheut, doch das übertraf alles. Ich wurde brutal aus dem Sitz geschleudert, im selben Moment riss ein großes Stück aus der Wand des Flugzeuges und ich wurde von dem gewaltigen Sog aus dem Flugzeug gerissen. Wie ein Blatt, das vom Gewittersturm herumgewirbelt wurde.

Unerträglicher Schmerz explodierte in meinen Gliedern, bis ich glaubte, bei lebendigem Leib in tausend Stücke gerissen zu werden. Bevor mein Bewusstsein sich endgültig verabschiedete, sah ich, dass sich etwas unter mir spiegelte. Dann war da nichts mehr außer unendliche Dunkelheit.

Kapitel 2

Heiß, es war viel zu heiß! Langsam brach die Erinnerung über mich herein. Das Unwetter, der Absturz, das Gefühl der Hilflosigkeit, wie mein Körper durch die Luft geschleudert wurde. Mühsam versuchte ich, die Lage zu sondieren.

Mein ganzer Körper kribbelte unangenehm, das Schlimmste jedoch war mein Gesicht. Es brannte fürchterlich und der schreckliche Druck in meinem Kopf, von dem das nagende Schwindelgefühl stammen musste, war unerträglich. Grelles Licht schien durch meine geschlossenen Augenlider. Ich blinzelte benommen und ließ meinen Blick über die Umgebung schweifen.

Nichts als Wasser um mich herum, Wasser soweit das Auge reichte. Erneut stieg Panik in mir hoch. Das Adrenalin schoss durch meine Glieder und vertrieb die schwarzen Punkte, die durch mein Blickfeld tanzten. Ich war allein! Vom Horizont strahlte unbarmherzig die Sonne ihre sengende Hitze auf meinem ungeschützten Kopf. Verzweifelt begann ich, um Hilfe zu schreien!

Meine Rufe verklangen, doch abgesehen davon, dass ich bald keine Stimme mehr hatte, geschah nichts. Die Angst tobte wie ein wildes Tier in meiner Brust.

Wie lange trieb ich schon im Wasser?

Wo waren die anderen, wo war das Flugzeug?

Konnte es sein, dass ich die einzige Überlebende war und niemand wusste, wo ich mich befand?

Wie lange würde ich durchhalten?

Bereits jetzt spürte ich den beißenden Drang nach Wasser. Was für eine Ironie, von Unmengen Wasser umgeben und doch zu verdursten.

Wenigstens war die Schwimmweste beim Absturz nicht beschädigt worden und hatte sich tatsächlich von selbst aufgeblasen, sonst wäre ich bereits ertrunken. Allerdings handelte es sich hierbei nur um geringen Trost. Obwohl ich eigentlich nicht wirklich wissen wollte, was unter mir sein Unwesen trieb, tauchte ich den Kopf unter Wasser, um ihn abzukühlen. Ich zwang mich, die Augen unter Wasser offen zu lassen, doch ich sah nur das unendliche Blau des offenen Meeres, kein Grund zu erkennen. Stattdessen stellte ich fest, dass die Jeans am linken Unterschenkel zerrissen und meine Haut mit tiefen Schnitten übersät war. Auch durch das schwarze T-Shirt zog sich ein langer Riss. Irgendwo unterhalb der Weste musste eine Wunde klaffen, aus der Schlieren roten Blutes drangen, die sich mit dem Meereswasser vermischten.

Mit distanziertem Interesse starrte ich darauf, als wäre es nicht mein eigener Körper. Ich konnte nichts von den Wunden spüren, nur den beunruhigenden Druck im Kopf. Doch darüber wollte ich jetzt nicht nachdenken. Beklommen starrte ich, nachdem ich kurz auftauchte um Luft zu holen, in die scheinbar unendliche Tiefe. Ich mochte mir gar nicht vorstellen, wie viele Meter sich unter mir befanden und was …

Weiter war mein Gehirn nicht im Stande zu denken, denn in einiger Entfernung bildete sich meine Horrorvorstellung leibhaftig ab. Etwas Graues blitzte verschwommen auf, mein Herz pochte. Zuerst hoffte ich, dass meine vom Salzwasser brennenden Augen mir einen Streich spielten, aber das graue Ungetüm wurde immer größer, je näher es in zügigem Tempo kam. Wie die sprichwörtliche Maus in der Falle starrte ich dem Tod entgegen. Verschwommen konnte ich die großen messerscharfen Zähne des Hais erkennen. Ich glaubte zu erkennen, wie er mich mit seinen kleinen, dunklen Augen fixierte. Am liebsten hätte ich die Augen zusammengepresst, um nicht mit ansehen zu müssen, wie er mich angriff. Bilder von Haiattacken und zerfleischten Körpern drängten sich in meine Gedanken. Von diesen Bildern im Kopf beherrscht, versuchte ich, dem sich näherndem Tier zu entkommen, doch in meiner Panik bewegte ich mich kaum von der Stelle.

Plötzlich streifte mich etwas von hinten, reflexartig zuckte ich zurück. Pfeilschnell schoss es an mir vorbei dem Hai entgegen. Angestrengt versuchte ich zu erkennen, was sich vor meinen Augen abspielte. Doch die Bewegungen des Wesens waren so schnell, dass nur etwas silbern aufblitzte, und schon umgab mich scharlachrotes Wasser. Ich zog den Kopf aus dem Wasser und schnappte keuchend nach Luft.

Mein Herz setzte einen Schlag aus, als das Etwas, das mich gerettet hatte, aus dem Wasser in die Höhe schoss. Es packte mich mit einer fließenden Bewegung um die Taille und riss mich empor. Mein Magen krampfte schmerzhaft, alles drehte sich, die Welt schien Kopf zustehen.

Nach einigen Sekunden ließ das Schwindelgefühl ein wenig nach und ich begriff, dass wir uns in der Luft befanden. Eine menschliche, kräftige Hand hielt mich umklammert, gleichzeitig hörte ich das Geräusch von Flügeln, die sich gleichmäßig auf und ab schwangen. Das letzte, das ich wahrnahm, waren meine langen dunkelbraunen Haare, die im Wind wehten. Dann spürte ich, wie erneut die Bewusstlosigkeit nach mir griff.

Als würde ich vom Grund eines Sees langsam aus den tiefen Fluten emporsteigen, so fühlte es sich an, wieder das Bewusstsein zu erlangen. Ich hatte Angst davor, die Augen zu öffnen.

Was würde mich dieses Mal erwarten?

Das Gefühl, in einem Alptraum gefangen zu sein, aus dem es kein Erwachen gab, erschien mir immer plausibler. Regungslos versuchte ich, etwas von der Umgebung aufzunehmen, und stellte fest, dass ich mich noch immer am Meer befand. Das leise, beständige Rauschen des Wassers verriet es mir. Früher hatte ich diesen Klang geliebt, doch jetzt war ich mir dessen nicht mehr sicher. In einiger Entfernung hörte ich Geräusche von Tieren, vermutlich irgendwelchen Vogelarten und ich spürte den Sand unter meinen Fingern. Verstohlen öffnete ich meine Lieder einen Spaltbreit.

Bei dem Anblick, der sich mir bot, stockte mein Atem. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas so Vollkommenes gesehen. Die Szenerie erschien wie aus einem überirdischen Gemälde.

Schneeweißer Sandstrand. Vor mir klares azurblaues Wasser. Die ganze Umgebung in warmes orangerotes Licht getränkt. Der rote Feuerball am Horizont küsste bereits das Wasser und würde bald vollends verschwinden.

Obwohl dieser Anblick alleine schon umwerfend gewesen wäre, war es nicht das, was mich stocken ließ. Am Rand des Wassers stand eine einsame Gestalt, die sich in die Landschaft einfügte wie in einem Märchen.

Menschlicher Körper, goldbraune Haut, bekleidet mit nur einer Art kurzer Hose aus braunem Leder. Den Kopf umgaben mittellange dunkelblonde Haare. Die Gestalt kehrte mir den Rücken zu, aus dem zwei in allen Blautönen schimmernde Schwingen ragten.

Als hätte das Wesen meinem Blick gespürte, drehte es sich langsam um. Unfähig die Augen abzuwenden, starrte ich es an. Selbstsicher, mit geschmeidigen Bewegungen kam die Gestalt, bei der es sich zweifellos um einen Mann handelte, auf mich zu. Ich rührte mich nicht von der Stelle, starrte nur weiterhin auf den muskulösen Oberkörper, der von feinen weißen Linien gezeichnet war. Die größte Narbe zog sich quer über die Brust. Er hatte etwas Bedrohliches, Dunkles an sich, das mich einschüchterte.

Als sein Schatten auf mich fiel, wünschte ich mir, nicht mehr aufgestützt auf meinen Ellbogen im Sand zu liegen, sondern stattdessen möglichst schnell zu fliehen. Ich konnte es mir nur schwer erklären, doch die Dominanz und selbstverständliche Autorität, die er ausstrahlte, war beinahe zum Greifen. In meiner Nervosität sprudelten plötzlich, in einer Stimme, die mir selbst fremd klang, viel zu schrill und hysterisch, mehrere Fragen gleichzeitig heraus.

»Bin ich tot? Bist du ein Engel? Wo bin ich hier?«

Gebieterisch hob er die Hand und begutachtete mich von oben bis unten. Ich spürte seinen Blick am ganzen Körper, wie die tastenden Pfoten einer Katze. Schließlich blieb der Blick seiner Augen, die dieselbe azurblaue Farbe hatten wie der Ozean, wenn die Sonne ihn erstrahlen ließ, an meinem hängen.

»Was ist ein Engel?«

Seine Stimme genauso stahlhart wie sein Körper. Gebannt von den Schwingen, die so groß waren, dass sie beinahe den Boden berührten, verfolgte ich jede seiner Bewegungen. Der Mann musste mindestens einen Meter achtzig oder neunzig groß sein, obwohl das aus meiner Position schwer einzuschätzen war. Als ich nichts erwiderte, sagte er mit etwas freundlicherer Stimme: »Wir befinden uns auf den Inseln von Loreno. Und nein, du scheinst nicht tot zu sein.«

Hysterisch lachte ich auf, der wollte mich wohl verarschen. Sofort veränderte sich seine Mimik und sein im Gegensatz zum restlichen makellosen Körper kantiges Gesicht wirkte herablassend.

»Woher kommst du?«

Ruckartig sprang ich auf und wollte einige Meter zwischen mich und den Fremden bringen. Doch der bewegte sich so schnell, dass ich ihm unmöglich folgen konnte. Schon im nächsten Augenblick hatte er mich gedreht und die Hände grob hinter meinen Rücken gerissen. Er hielt meine Handgelenke, die sofort schmerzhaft zu pulsieren begannen, mit unglaublicher Kraft umklammert, sodass ich aufschrie.

Die nächsten Worte hauchte er mir warnend ins Ohr: »Keine schnellen Bewegungen! Sonst muss ich davon ausgehen, dass du mich angreifen möchtest. Was aufgrund deines schwachen Körpers nicht ratsam wäre.«

Sein warmer Atem in meinen Nacken ließ mich vor Angst schaudern. Mühsam versuchte ich meine Atmung wieder in den Griff zu bekommen und erwiderte so ruhig wie möglich: »Warum sollte ich dich angreifen? Ich hab keine Ahnung, wo ich bin und was passiert ist. Gerade eben saß ich noch im Flugzeug nach Kuba, dann stürzen wir ab …« Meine Stimme begann sich zu überschlagen. »Dann werde ich von diesem Hai angegriffen, verliere schon wieder das Bewusstsein, schließlich steht ein Wesen vor mir, mit Flügeln und erzählt mir, ich bin keine Ahnung wo …«

Plötzlich drehte er mich wieder zu sich, sodass ich ganz nah vor ihm stand. Automatisch hielt ich die Luft an und mein Redefluss wurde zum Glück gestoppt.

»Ich habe weder eine Ahnung, was ein Flugzeug ist, noch wo Kuba liegt!«

Fassungslos starrte ich in die markanten Augen.

»Ich … ich …« stammelte ich wie eine Idiotin. Aber dann – so unglaublich es auch klingen mochte – fiel es mir wie Schuppen von den Augen:

Hauptfigur Anastasia überfliegt Bermudadreieck, wo es zu Turbulenzen kommt

Flugzeug stürzt ab, sie treibt im Wasser

wird von einem Fremden gerettet

findet heraus, dass sie in einem anderen Universum gelandet ist

Konnte das tatsächlich möglich sein?

Und wenn es so war, warum hatte ich nur noch nicht weitergeschrieben? Dann wüsste ich, was zu tun wäre.

Jetzt verlor ich endgültig den Verstand!

Wenn es eine Geschichte von mir wäre, dann … Oh Gott …

Bevor ich darüber nachdachte, sprudelten die Worte aus meinem Mund: »Lass mich raten, ihr befindet euch im Krieg, habe ich recht?«

Misstrauisch kniff der Fremde die Augen zusammen, wobei sich zwei steile Falten bildeten.

»Ich frage dich ein letztes Mal: Woher kommst du und wie ist dein Name? Wenn du nicht sofort antwortest, muss ich davon ausgehen, dass du ein Spitzel des Feindes bist, der sich einen Weg in unsere Reihen erschleichen möchte. Ich würde dich auf der Stelle töten!«

Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als sein Griff um meine Oberarme zunahm. Wenn in seinen Augen nicht so ein gefährliches Funkeln gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich wieder hysterisch aufgelacht. Ungeduldig zog er die Stirn in Falten. Als ich weiterhin schwieg, zuckten seine Oberarmmuskeln und schon wurde meine Wange in den Sand gepresst. »Anastasia!«, rief ich instinktiv. »Mein Name ist Anastasia!« Ich war selbst irritiert, warum ich nicht meinen wirklichen Namen nannte.

»Anastasia« flüsterte er, sein Mund nur Zentimeter von meiner Wange entfernt. »Und was machst du hier?« Seine Stimme wirkte bei den letzten Worten fast lieblich, wäre da nicht der sarkastische Unterton gewesen.

»Ich bin nur zufällig hier gelandet, ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.« In meiner Verzweiflung ergriff mich plötzlich schreckliche Einsamkeit. Die Heldin in meinem Roman würde dem Fremden tapfer entgegentreten, würde sich wehren, würde wenigstens versuchen, sich aus dem Griff zu befreien. Doch ich war keine Heldin aus meinen Geschichten, ich war feige, lag einfach da, unternahm nichts und stammelte vor mich hin wie eine Idiotin.

»Und wenn ich dir das nicht glaube?« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Es gibt keine Zufälle, ich glaube nur an Bestimmung.«

Das Gewicht seines Körpers verschwand, woraufhin ich mich langsam umdrehte. Er streckte mir doch tatsächlich seine Hand entgegen. Irgendetwas schien ihn davon überzeugt zu haben, dass ich keine Bedrohung darstellte, denn nun hielt er seine Schultern locker und ungezwungen. Unsicher griff ich nach der ausgestreckten Hand. Er zog mich mit solchem Schwung hoch, dass ich schwankte. Endlich das Gleichgewicht gefunden, grinste er mich arrogant an.

»Leandro.«

Ratlos runzelte ich die Stirn.

»Leandro, mein Name.«

Darauf erwiderte ich nichts, heftete nur rasch den Blick auf seine Hand, die die meine noch immer festhielt. Aber jetzt nicht mehr grob, sondern fast zaghaft als hätte er … Leandro … beschlossen, dass ich eine zerbrechliche Ware wäre, die er nicht zu fest anpacken durfte, da sie sonst zu Bruch ginge. Schließlich löst er seine Hand von meiner, fuhr mit dem Finger unter mein Kinn und zwang mich so, ihm in die Augen zu sehen.

»Wofür du bestimmt bist, wird sich noch herausstellen. Aber sei gewiss, dass ich dich keine Sekunde aus den Augen lasse.« Unsicher erwiderte ich seinen bohrenden Blick und hatte das Gefühl, dass er meine Gedanken lesen konnte.

»Ist das eine Drohung?«

Er lächelte süffisant.

»Nennen wir es ein Versprechen. Eines, das ich so schnell in dein Todesurteil umformen kann, dass du nicht einmal Engel sagen kannst – was auch immer das ist – solltest du mich hintergehen.«

Ich schluckte. Mühsam versuchte ich, den Instinkt, einfach loszustürmen, zu unterdrücken.

»Als Erstes müssen wir die Insel nach möglichen Feinden erkunden und uns einen Unterschlupf für die Nacht suchen. Hier ist es nicht sicher.«

Mir entfuhr ein leises Murren.

»Als wäre ich bei dir sicher.«

Sein Kopf fuhr herum, die Augen zu engen Schlitzen zusammengekniffen. Um meine Angst unter Kontrolle zu bekommen, wich ich seinem Blick aus und begutachtete stattdessen die Flügel. Sie schienen aus glatten, seidigen Federn zu bestehen, ähnlich eines Pfaus, aber bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass sie von einem leichten Flaum überzogen waren. Zu meiner Überraschung verkniff er sich die Bemerkung, die ihm offensichtlich auf der Zunge lag und befahl nur: »Folge mir.«

Er befestigte sein Schwert, dessen Griff aus Holz war und in einer aus starkem Leder gefertigten Scheide steckte, mit Lianen um die Hüfte. Anschließend streifte er sich den Bogen, der neben dem Schwert im Sand gelegen hatte, mit samt dem Köcher, der aus Knochen bestand, über die Schulter.

Mühsam schluckte ich mein Unbehagen beim Anblick der Waffen hinunter und folgte ihm ohne Widerworte. Bei jedem Schritt zeichneten sich seine beträchtlichen Rückenmuskeln deutlich ab und die Schwingen folgten geschmeidig den Bewegungen. Mir fiel auf, dass sein Rücken von Verletzungen verschont geblieben sein musste, zumindest ließ dies die makellose Haut erahnen. Abgesehen von der Hose trug er nur Sandalen, die vermutlich ebenfalls aus Leder gefertigt waren.

Bald wurde das Gestrüpp dichter und ich konnte ihn nicht länger mustern, da die unwegsame Vegetation all meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

»Warte kurz hier«, unterbrach Leandro sein schweigsames Vorangehen nach einer Weile. Ohne ein weiteres Wort breitete er die Flügel aus und erhob sich mit atemberaubender Eleganz gen Himmel. In ungläubigem Staunen starrte ich ihm mit offenem Mund hinterher.

Erst nachdem er zwischen den gummiartigen Pflanzen verschwunden war und mich alleine zurückließ, nahm ich die Geräusche des Dschungels wahr. Das Zirpen unzähliger Käfer, das Gezwitscher der Vögel. Plötzlich bewegte sich einer der Palmwedel unmittelbar neben mir. Erschrocken sprang ich in die entgegengesetzte Richtung, ein hektisches Rascheln folgte, woraufhin die Blätter wieder verstummten.

Erneut raschelte es hinter mir, hektisch wirbelte ich herum und zuckte sogleich zurück, als Leandro dicht vor mir stand. Mit abschätzigem Blick drückte er mir eine geöffnete Kokosnuss in die Hand. Erst jetzt, da ich die Milch darin sah, bemerkte ich, wie unsagbar durstig und hungrig ich war. Wie lange mein letzter Schluck Wasser her war, geschweige denn die letzte Mahlzeit, wusste ich nicht. Gierig trank ich die dickflüssige Milch, danach reichte er mir eine zweite Hälfte. Ich kippte auch deren Inhalt rasch hinunter, ehe Leandro wortlos weiterging.

Mein Magen gab ein dankbares Knurren von sich und ich fühlte mich gleich ein wenig besser. Mittlerweile hatte ich jegliche Orientierung verloren, dazu kam, dass das Gelände anstieg, je weiter wir vordrangen. Ich war bereits auf meinen vergangenen Reisen durch den Dschungel gewandert, doch dabei hatte ich den Weg, der extra für Touristen gemacht wurde, nie verlassen. Mitten durch das Gestrüpp zu wandern, war beileibe kein Spaziergang. Obwohl Leandro sein Schwert gezückt hatte und Lianen und Ranken so gut es ging zerschnitt, schien es fast unmöglich für mich, hindurch zu kommen. Ich hatte Glück, dass meine Turnschuhe, die ich im Flieger getragen hatte, unversehrt blieben. Immer wieder mussten wir kleine Sümpfe umgehen, einmal kamen wir an einem Fluss vorbei, an dem wir kurz haltmachten, um zu trinken. Ein peinliches Gespräch folgte, da ich dringend aufs Klo musste – wobei die Bezeichnung hinter den Busch hier besser gepasst hätte. Erleichtert schüttete ich mir das kühle Flusswasser ins Gesicht und wusch mir ein wenig meine Hände und Füße. Dabei spürte ich die ganze Zeit über seinen bohrenden Blick auf mir lasten.

Lange gönnte er mir jedoch keine Pause. Bald waren meine ohnehin schon verletzten Unterschenkel von den dornenbesetzten Ranken vollkommen zerkratzt. Meine Hose bis über die Knie zerrissen und die Wunde an der Hüfte pochte schmerzhaft. Das einzig Positive war, dass sich die Wunden von der langen Zeit im Salzwasser bereits langsam schlossen und vermutlich keine Infektion zurückbleiben würde. Mit distanziertem Interesse stellte ich fest, ein wenig abgenommen zu haben, was die Frage aufwarf, wie lange ich bewusstlos im Wasser getrieben hatte. Da ich vor und während des Fluges nichts gegessen hatte, dazu war ich zu aufgeregt gewesen, schätzte ich, dass meine letzte Mahlzeit zwei bis drei Tage her war. Wehmütig erinnerte ich mich an das Sandwich im Flugzeug, das ich leider nicht angerührt hatte. Mit meinen einen Meter fünfundsechzig wirkte ich so, vor allem gegenüber diesem Mann, noch zierlicher. Gerade als das Gefühl zusammenzubrechen übermächtig wurde, lichtete sich das Gestrüpp und wir waren von Felsen umgeben. Leandro steuert direkt auf eine Öffnung im Fels zu, woraufhin mir ein erleichtertes Seufzen entschlüpfte. Als wir die kleine Höhle erreichten, sagte er knapp: »Ruh dich aus.«

Da meine Füße mich ohnehin nicht mehr trugen, sank ich einfach auf den feuchten Boden. Obwohl das Gestein mir schmerzhaft in die Schultern drückte, schlief ich auf der Stelle ein.

Ich stöhnte laut auf, als ich erwachte. Mein Rücken und meine rechte Schulter schmerzten, wobei das nur die vorrangigsten Schmerzen waren. Eigentlich tat mein ganzer Körper weh. Ein Blick sagte mir, dass Leandro noch schlief.

Es dämmerte bereits, sodass ein schwacher Lichtschein ins Innere der Höhle fiel. Ohne einen ersichtlichen Grund dafür finden zu können, ergriff mich eine plötzliche Panik. Mit einem Mal wollte ich nur fort.

Vorsichtig rappelte ich mich auf und setzte lautlos einen Schritt vor den anderen. Am Höhlenausgang angelangt, warf ich noch einmal einen Blick zurück, vergewisserte mich, dass Leandro noch schlief. Dann rannte ich los. Egal wohin, nur fort von diesem Geschöpf. Alles war besser, als von der Gnade dieses Wesens abhängig zu sein.

In der Höhle hatte eine angenehme Kühle geherrscht, doch obwohl es noch so früh am Morgen war, schlug mir draußen feuchtschwüle Luft entgegen, die mir das Atmen erschwerte. Automatisch trugen mich meine Füße durch ein steiniges Gelände, um dem undurchdringlichen Gestrüpp zu entgehen. Doch leider endete das leicht begehbare Gebiet viel zu schnell und vor mir türmten sich schwindelerregend hohe Bäume auf, die Hunderte von Jahren alt sein mussten. Um die meisten Stämme wanden sich Schlingpflanzen, die teilweise fast den ganzen Stamm einnahmen. Zwischen den Riesen, von denen unzählige Lianen in die Tiefe baumelten, wuchsen kleinere Palmen und Farne. Erleichtert bemerkte ich, dass hier der Boden nicht so dicht überwuchert war, da dichtes Blätterdach das Tageslicht kaum hindurch ließ.

Ungeduldig strich ich mir einige verfilzte Haarsträhnen, die mir im Gesicht klebten, hinters Ohr, dann verschluckte mich der Dschungel. Um mich herum herrschte Dunkelheit. Die schwache Morgendämmerung konnte hier nicht viel ausrichten, deshalb tappte ich halb blind weiter. Einige Meter von mir entfernt vernahm ich ein Rascheln. Erschrocken zuckte ich zusammen, als ein Schwarm Papageien kreischend aufschreckte und durch das Blätterdach in die Lüfte entfloh.

Gerade als ich erleichtert aufatmen wollte, blitzten zwei gelbe Augen in der Dunkelheit auf. Gebannt starrte ich dem Etwas entgegen, langsam zeichneten sich die Konturen ab. Es handelte sich um eine große … sehr große … Raubkatze. Um genauer zu sein um einen schwarzen Panther mit der schattenhaften Zeichnung eines Leoparden.

Ohne mein Zutun, bewegten sich meine Füße und ich rannte. Jegliches rationale Denken von der alles beherrschenden Angst ausgelöscht. Panisch warf ich, während ich über Wurzeln und Farne stolperte, einen Blick über die Schulter. Völlig unerwartet stoppte der Panther und verharrte einen Augenblick angespannt. Verwirrt wendete ich mich ihm zu, dann machte das Tier kehrt und verschwand eilig im Gestrüpp.

Erst als die Raubkatze fort war, fühlte ich die bedrohliche Präsenz in meinem Rücken und wusste, wer da hinter mir stand. Jede Faser meines Körpers schrie danach, erneut zu fliehen, doch ich kämpfte dagegen an und zwang mich, stehen zu bleiben. Adrenalin pulsierte durch meinen Körper und meine Hände zitterten unkontrolliert. Er würde mir nicht verzeihen, es als Verrat deuten und mich jetzt hier auf der Stelle töten.

Gerade als mein Instinkt zu fliehen erneut drohte die Oberhand zu gewinnen, spürte ich ein eigenartiges Kribbeln in meinen Fußsohlen. Als würden Hunderte von Ameisen darüber krabbeln, und einen Moment später hatte ich die Kraft, mich ihm zu stellen, mich meinem nahenden Tod zu stellen.

Uns trennten nur wenige Meter, sein ganzer Körper gespannt wie eine Bogensehne, seine Augen funkelten dunkel in der langsam heller werdenden Morgendämmerung.

»Was mache ich jetzt mit dir?«, fragte er mit eisig ruhiger Stimme.

Das Kribbeln in meinen Fußsohlen nahm zu und ich schleuderte ihm die Worte brutal entgegen: »Warum hast du mich nicht von dem Hai zerfetzen lassen, wenn du mich so oder so töten willst?«

Über seine harte Mine huschte kurz ein überraschter Ausdruck, doch schon im nächsten Augenblick blieb nichts als die Maske zurück. Er erinnerte mich an eine Schlange, kurz bevor sie zustieß und ich wusste, er würde mir nicht verzeihen, dass er wegen mir, auch wenn es noch so kurz war, die Fassung verloren hatte.

»Das war mein erster Fehler.« Ein bösartiges Lächeln breitete sich über sein makelloses Gesicht aus. »Aber keiner, der sich nicht schnell beheben ließe.«

Bevor ich auch nur Zeit gehabt hätte zu schreien, spürte ich den Arm um meine Taille und schon trennten uns viele Meter vom Boden. Die Bäume, die mir zuvor so riesig erschienen waren, wirkten jetzt nur noch winzig. Das grüne Blätterdach des Dschungels sauste in rasender Geschwindigkeit an uns vorbei und schon funkelte das azurblaue Wasser des Meeres unter mir, das trügerisch friedlich unter den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne glitzerte. Verzweifelt versuchte ich, nach Luft zu schnappen, doch kein Sauerstoff gelangte in meine Lungen.

»Leb wohl, Anastasia«, hörte ich seine Stimme durch das Brausen des Windes. Dann war da nichts mehr, das mich vor dem Absturz bewahrte und ich fiel. Die Wasseroberfläche raste mir entgegen und ich stellte fest, dass ich doch noch genug Luft zum Schreien hatte.

Ich rollte mich zur Kugel zusammen und presste die Augenlider zu so fest ich konnte. Versuchte mich vor dem Schmerz zu wappnen, der nun folgen würde. Folgen musste.

Stattdessen packte mich etwas und bremste den Fall vehement ab. Ich riss die Augen auf und sah die Wasseroberfläche knapp unterhalb meines Gesichtes, dann wurde mein Körper wieder in die Lüfte gerissen. Mein Magen schien sich verabschiedet zu haben, denn er reagierte gar nicht mehr. Mein Sichtfeld verschwamm und erst nach einigen Sekunden begriff ich warum. Ich weinte, hemmungslos von Schluchzern geschüttelt. Alles, was ich verschwommen sehen konnte, waren Wasser, Sand, blaue Schwingen, die über mir schlugen, die kräftige, verhasste Hand, die mich hielt. All das glitt an mir vorbei, als würde es mich nichts angehen, als sähe ich nur als Außenstehende zu.

Sanft setzte er mich auf Händen und Knien am Strand ab. Doch meine Glieder zitterten so heftig, dass ich es nicht schaffte, in dieser Stellung zu bleiben. Kraftlos sank ich im Sand zusammen. Als eine Hand meine Schulter berührte, zuckte ich zusammen. Zu meiner Überraschung zog er sie zurück. Ich kroch fort, fort von dieser Hand, die mich erst rettete und mir dann Leid zufügte.

Bald verließen mich meine letzten Kräfte und ich rollte mich wieder zu einer Kugel zusammen. In der Hoffnung, wenn ich mich nur klein genug machte, von diesem Ort zu verschwinden. Von IHM zu verschwinden.

»Anastasia«, sagte Leandro vorsichtig, von seiner Arroganz war nichts mehr zu hören. Langsam hob ich meinen Kopf und entdeckte Leandro in respektvollem Abstand. Bestürzt sah ich den kräftigen, schwer einzuschätzenden Mann, im Sand sitzen. Die Hände in den Haaren vergraben. Er wirkte verloren.

Sobald er bemerkte, dass ich ihn anstarrte, sprang er mit seiner üblichen Geschmeidigkeit auf. Von seiner gerade noch sichtlichen Zerbrechlichkeit war nichts mehr zu sehen. Wieder blieb nur eine Maske zurück. Langsam ging er auf mich zu, allerdings lag darin nun nichts Bedrohliches.

»Ich hätte das nicht tun sollen. Es ist nur so, in meiner Welt wird Verrat und Respektlosigkeit mir oder unserem Anführer gegenüber mit dem Tode bestraft. Wenn ein Anführer Schwäche zeigt, wird er gestürzt!« Er nahm einen tiefen Atemzug.

»Und jetzt kommst du. Schwach, verletzlich …« Er stockte kurz, dann fügte er fast wütend hinzu: »Du verwirrst mich!«

Mein erster Impuls war, in anzuschreien, aber ich spürte, wie meine Wut bereits verrauchte und erwiderte stattdessen schwach: »Du verwirrst mich auch.«

Leandro sagte für eine ganze Weile nichts mehr. Ich konnte spüren, dass er nicht wusste, wie er mit mir umgehen sollte. Schließlich setzte er sich mit dem Rücken zu mir in den Sand und starrte regungslos auf das Meer hinaus. Der Panther hatte Angst vor ihm und er war mit Sicherheit ein exzellenter Kämpfer, aber eine weinende Frau überforderte ihn. Die Erkenntnis brachte mich zum Schmunzeln. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und mochte gar nicht wissen, wie ich aussah. Meine dunklen Haare hingen in struppigen Strähnen herab, von meiner Kleidung war nicht besonders viel übrig und jetzt hatte ich auch noch verquollene Augen. Dennoch rappelte ich mich auf und ging in großem Bogen langsam auf Leandro zu, immer darauf bedacht, mich nicht schnell zu bewegen, da er mir den Rücken zukehrte. In gebührendem Abstand setzte ich mich zu ihm. Sofort fuhr sein Kopf herum und er starrte mit seinen bohrenden Augen in die meinen. Doch ich ließ meinen Blick über seinem Körper gleiten. Die Haut glänzte goldbraun in der aufgehenden Sonne und war von einem leichten Schweißfilm überzogen. Im Gegensatz zu meinen waren seine Unterschenkel nur mit wenigen Kratzern übersäht und sein halblanges Haar nur leicht zerzaust. Doch das stand ihm so gut, als wäre es gewollt. Schließlich blieb mein Blick an seinen Flügeln haften, dessen Enden im Sand lagen. Sie schimmerten vom hellsten bis zum dunkelsten Blau. Fasziniert betrachtete ich, wie die verschieden Farben ineinanderflossen, als hätte man sie mit einem Pinsel verwischt.

»Warum starrst du mich an?«

Verlegen schüttelte ich den Kopf, schaute rasch auf meine Hände, die in meinem Schoß lagen und beschloss, auf die Frage mit einer Gegenfrage zu antworten: »Was machst du jetzt mit mir?«

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit den Schultern zuckte.

»Eigentlich gibt es nur zwei Optionen. Du bist unerlaubt in unser Territorium eingedrungen. Also musst du mit mir kommen oder …« Er verstummte. Etwas in seiner Stimme zwang mich, ihn anzusehen. Doch er hielt den Blick starr aufs Wasser gerichtet.

»Oder?«, fragte ich nervös, obwohl ich die Antwort schon erahnte. Er zog eine seiner dichten Augenbrauen hoch.

»Oder ich muss dich töten.« Nun richtete er seine azurblauen Augen wieder auf mich. Tief in meinem Inneren wusste ich es. Trotzdem hörte ich das Blut in meinen Ohren rauschen, ein bitterer Geschmack breitete sich in meinem Mund aus, obwohl er sich keinen Millimeter rührte. Mit zittriger Stimme brachte ich heraus: »Und was wirst du tun?«

In eisiger Ruhe blickte er erneut aufs Meer hinaus.

»Dich zu töten wäre das Einfachste.« Das Rauschen nahm zu, weshalb mir seine folgenden Worte fast entgangen wären. »Ich gebe dir eine Chance.« Eindringlich wandte er sich mir zu. »Lasse es mich nicht bereuen!«

Erleichtert nickte ich. Vielleicht war es naiv, aber ich glaubte ihm.

Nach einer Weile ging ein Ruck durch seinen Körper, als hätte er sich gewaltsam von seinen Gedanken losgerissen. »Wir müssen weiter. Ich habe den Auftrag, noch zwei weitere unserer Inseln auf feindliche Übernahme zu überprüfen. Wir werden ohnehin mindestens zwei Tage später eintreffen als geplant, was zur jetzigen Zeit des Unfriedens eigentlich nur einen Grund haben kann …«

Fragend schossen meine Brauen nach oben.

»Tot zu sein!«

»Wenn es so gefährlich ist, warum bist du dann allein unterwegs?«

Ein eigenartiges Lächeln umspielte seinen Mund. »Ich bin nicht allein aufgebrochen, ursprünglich waren wir zu sechst. Auf halbem Weg trennten wir uns, da es zu viel Zeit in Anspruch nahm, alle Inseln gemeinsam zu erkunden. Danach waren wir zu dritt, doch Naoel und Sharon starben bei einem Angriff der Sanarie. Ich war der Einzige, der überlebte. Das alles geschah an dem Tag, bevor ich dich fand. So gesagt verdankst du diesem Umstand dein Leben. Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätten wir die folgende Insel bereits erreicht.«

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Beide Männer, die mit ihm unterwegs gewesen waren, waren jetzt tot.

»Das beruhigt mich ungemein«, erwiderte ich sarkastisch. Verwirrt betrachtete er mich, dann sagte er: »Wir müssen jetzt aufbrechen.« Mit diesen Worten stand er auf und reichte mir seine Hand. Nervös ging ich zu ihm und legte meine zaghaft hinein. Er umfasste mit der freien Hand meine Hüfte, ein eigenartiges Gefühl erfüllte mich. Doch noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, drehte sich die Welt und ich war wieder hoch in der Luft. Dieses Mal war es anders, sein Griff um meine Taille nicht mehr grob, sondern behutsam und ich spürte, dass ich keine Angst mehr hatte, dass ich mich sogar beschützt fühlte.

»Das klare Wetter verschafft uns großen Vorteil, die Sicht ist hervorragend, so kann ich mögliche Feinde sehr früh ausmachen. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, bei solchen Bedingungen angegriffen zu werden, sehr gering.« Ich nickte, dankbar darüber, dass er mich beruhigen wollte. Obwohl es mich verwunderte, warum es ihn plötzlich kümmerte. Zum ersten Mal ließ ich den Blick bewusst umherschweifen und spürte, wie ich es zu genießen begann. Den warmen Wind, der mir ins Gesicht blies und meine Haare flattern ließ. Ich sog den wunderschönen Anblick des azurblauen Wassers, das an den tiefen Stellen dunkel schimmerte, in mich auf. Immer wieder konnte ich auch Korallen in der gleißenden Sonne unter der Oberfläche aufblitzen sehen. Fasziniert nahm ich jedes Detail auf, ließ mich von dem Ausblick berauschen. Das konnte ich schon immer wie kein anderer. Die meisten Menschen sahen die Schönheit der Natur nicht wirklich, sie schauten zwar hin und machten Fotos, aber das Wunder direkt vor ihren Augen sahen sie nicht. Die Kraft der Farben, die unerschöpfliche Energie des Lebens.

Obwohl ich wusste, wie kindisch es Leandro erscheinen musste, konnte ich nicht anders als die Hände auszustrecken. Freudig schrie ich meine Begeisterung hinaus und begann herzhaft zu lachen. Ein vollkommener Augenblick, in dem ich mich frei wie ein Vogel fühlte. Egal was noch auf mich zukommen mochte, jetzt gerade war alles perfekt. Strahlend blickte ich zu Leandro hoch, der mich entgeistert anstarrte. Sein verwirrter Ausdruck im Gesicht brachte mich nur noch mehr zum Lachen.

Für meinen Geschmack viel zu schnell zeichnete sich am Horizont eine neue Insel ab, die der letzten zum Verwechseln ähnlich sah. Als meine Füße wieder Boden berührten, schwankte ich und ließ mich daher noch immer kichernd auf den Rücken in den Sand sinken. Leandro starrte mich unverhohlen an.

Irgendwann wandte er sich doch ab und schoss wieder dem Himmel entgegen. Gebahnt sah ich zu, wie er über die Baumwipfel flog, bis ihn der Regenwald, der hier auf jeder Insel zu wachsen schien, verschluckte. Es dauerte einige Zeit, bis Leandro mit fünf Kokosnüssen in den Armen balancierend zurückkehrte. Wortlos schnitt er eine nach der anderen mit seinem Schwert auf. Wobei mir die Frage in den Sinn kam, wie sie die Klingen hier schmiedeten und woher das Material kam. Ich hatte nicht den Eindruck, dass hier irgendwo Eisen vorkam, allerdings kannte ich mich diesbezüglich nicht wirklich aus. Mit dankbarem Lächeln nahm ich die Nuss entgegen und während sich der süßliche Geschmack in meinem Mund ausbreitete, entkam mir ein Seufzer. Leandro musterte mich misstrauisch, hielt mir jedoch wortlos eine Banane, die ich zuvor nicht gesehen hatte, hin. Er runzelte die Stirn, trank dann aber seine Milch wortlos aus. Ich bedankte mich, fragte mich aber langsam, wie ich dauerhaft von Bananen und Kokosnüssen bei Kräften bleiben sollte.

Eine Zeitlang schaute er mich an, bis er sich schließlich dazu durchrang, laut auszusprechen, was ihm durch den Kopf ging.

»Warum bist du eigentlich vor dem Panther und vor mir davongelaufen? Ich meine, dir muss doch klar gewesen sein, dass du keine Chance hattest, zu entkommen.« Meine Antwort bestand zunächst nur aus einem Schulterzucken. »Ich weiß nicht. Ich war noch nie zuvor in so einer Situation. Ich versuchte einfach instinktiv zu fliehen. Da ich körperlich nicht besonders stark bin, scheint das die einzige Überlebenschance zu sein.«

Er legte zweifelnd die Stirn in Falten. »Abgesehen davon, dass ich nicht verstehen kann, wie du feige den Rückzug antreten kannst, bist du schrecklich langsam. Fliehen? Damit hast du nicht den Hauch einer Chance. Du machst dich gleichzeitig zum Opfer und weckst in deinem Gegenüber den Jagdinstinkt, egal ob es nun der Panther ist oder ich.«

Ich ließ mir Zeit mit der Antwort, gedankenverloren wiegte ich den Kopf hin und her. Schließlich erwiderte ich: »In diesem Moment kann ich nicht rational denken, ich reagiere nur.« Er bedachte mich mit intensivem Blick. »Bist du schon auf die Idee gekommen, dass du vielleicht über dich hinauswachsen könntest, dass du stärker sein könntest, als du glaubst? Wenn du dich der Gefahr stellst und dich nicht von deinem Instinkt, wie du es nennst, leiten lässt. Stelle dich deinen Ängsten und du wirst vom Gejagten zum Rivalen. So werden wir erzogen. Egal welche Übermacht uns gegenüber steht, wir kämpfen, wir sind Krieger! Auch wenn es unseren Tod bedeutet, der Rivale kann uns zwar das Leben nehmen, aber nicht unseren Stolz und unsere Ehre.«

Schweigend starrten wir uns an. Nach einer Weile räusperte er sich. »Diese Insel wurde nicht von Feinden belagert, morgen können wir weiterziehen. Die letzte Insel ist am weitesten entfernt und die schönste unseres Reiches. Eigentlich lebten dort Viele unseres Volkes, aber alle wurden nach dem Angriff in die Festung evakuiert.« Seine Muskeln spannten sich während dieser Worte an und eine einzelne Falte bildete sich zwischen seinen Augen. Er versuchte sichtlich, die Wut zu unterdrücken. Als ihm bewusstwurde, wie intensiv ich ihn musterte, glätteten sich seine Züge und zurückblieb erneut nur die verschlossene Miene.

Kopfschüttelnd fragte ich: »Gibt es niemanden, dem du vertraust? Bei dem du einfach du bist?« Kurz flackerte wieder dieser überraschte Ausdruck über sein Gesicht.

»Vertrauen ist Schwäche«, erwiderte er schlicht und beendete damit das Gespräch. Er machte eine schnelle Bewegung auf mich zu. Sofort schoss der panische Instinkt durch meine Glieder. Ich sprang ruckartig zurück, selbst überrascht über meine Reflexe. Leandro hielt mitten in der Bewegung inne. »Ich bin ein Mann von Ehre und kein Monster. Wenn ich dich töte, dann sicher nicht aus dem Hinterhalt!« In seiner Stimme schwang Verärgerung mit. Mit zittriger Stimme antwortete ich: »Du verlangst Vertrauen von mir, obwohl du genau das gerade selbst als Schwäche bezeichnet hast?« Zum ersten Mal sah ich seine Mundwinkel belustigt zuckten.

»Du lernst schnell.«

Ich schmunzelte.

»Hier am Strand sind wir ungeschützt für die Nacht.« Abrupt wechselte er das Thema. »Und wenn du dich nicht wieder zu Fuß durch das Gestrüpp schlagen willst, musst du zu mir kommen.«

Das herausfordernde Funkeln seiner Augen verlieh ihm erneut etwas Bedrohliches. Dennoch bewegte ich mich langsam auf ihn zu. Wacker hielt ich seinem Blick stand, während er meine Taille umfasste und mich fest an seinem Körper drückte. Durch mein zerrissenes T-Shirt konnte ich die Hitze, die von ihm ausging, spüren. Seltsame Gefühle durchfluteten mich, gepaart mit der immerwährenden Unsicherheit vor diesem mir noch immer fremden Mann.

Adrenalin schoss durch meine Adern, als wir mit atemberaubenden Tempo senkrecht in die Höhe schossen. Wieder kicherte ich, es war fantastisch, zu fliegen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so etwas Unbeschreibliches erlebt. Bisher hatte mich meine Angst davon abgehalten, Drachen zu fliegen oder Parazugleiten, obwohl es mich seit jeher faszinierte. Weit über den Wipfeln der Bäume stoppte Leandro seinen senkrechten Start abrupt. Erst in diesem Moment realisierte ich, dass er mich während des ganzen Manövers genau beobachtete hatte.

»Dir gefällt es zu fliegen.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nickte dennoch »Dir denn nicht?« Er runzelte nachdenklich die Stirn.

»Habe nie darüber nachgedacht, es ist nützlich und macht uns zur stärkeren Spezies.« Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann drehte er uns und wir fielen wie ein Stein vom Himmel. Ich schloss die Augen und klammerte mich instinktiv an ihm fest. In dem Moment der Schwerelosigkeit gab mir sein muskulöser Körper den notwendigen Halt. Verstohlen öffnete ich die Augen einen Spalt breit und konnte gerade noch sehen, wie er einige Male kräftig mit seinen Flügeln schlug und im nächsten Augenblick landeten wir beide sanft auf unseren Füßen.

Das Adrenalin pulsierte angenehm aufputschend durch meinen Körper. Mutierte ich plötzlich zum Adrenalinjunkie? Achterbahnen kamen dem, was ich hier erlebte, noch am nächsten, doch diese hatte ich immer gehasst. Für das Gefühl jedoch, mit Leandro zu fliegen, gab es nur ein Wort: einzigartig.

Wenig später saßen wir erneut in einer Höhle, wo ich das vorangegangene Gespräch wieder aufnahm.

»Welche verschiedenen Spezies gibt es denn?«

»Wir sind Ventus, Geschöpfe des Windes. Wir zählen zur stärksten Spezies, da wir in zwei Elementen stark sind: in der Luft und am Land. Dann gibt es die Aquaticus. Sie sind die zweitstärksten, ihr Element ist das Wasser. Sie können sich aber auch mehrere Stunden an Land aufhalten, auch wenn sie dort lange nicht so gefährlich sind wie in ihrem Element. Die letzten dieser Kette sind die Terras, Geschöpfe des Landes. Sie beherrschen nur dieses eine Element. Deswegen sitzen sie mehr oder weniger auf der größten Insel unserer Welt fest.«

Bei den letzten Worten veränderte sich seine Stimme kaum merklich.

»Der Feind ist ein Terra, habe ich recht?« Eigentlich handelte es sich um eine rhetorische Frage, denn ich wusste es bereits. Nicht nur, weil sich seine Stimme verändert hatte, sondern weil ich die Geschichte, wäre es tatsächlich meine gewesen, genau so geschrieben hätte.

In meine Grübeleien versunken, bemerkte ich erst jetzt, dass in seiner Haltung etwas Lauerndes lag. Eilig rückte ich von ihm ab. Ihn einzuschätzen schien unmöglich. In der einen Sekunde fühlte ich mich wohl und geborgen bei ihm und in der nächsten konnte er nicht weit genug entfernt sein. Er erinnerte mich an diesen Panther, nur mit dem Unterschied, dass er sich noch nicht dazu entschlossen hatte, mich zu töten. Stattdessen lag in seiner Haltung ständig etwas Lauerndes und Abschätzendes.

»Woher weißt du das?«

Unsicher rückte ich noch weiter zurück. In einer fließenden Bewegung sprang er auf und näherte sich mir. Ich rappelte mich ungelenk auf und wich so weit zurück, bis ich die feuchte Höhlenwand in meinen Rücken spürte. Wie die Maus in der Falle. Dieser Mann war wie eine tickende Zeitbombe, von der man nie wusste, wann sie explodierte. Beschwichtigend hob ich die Hände. »Ich habe es nur an deiner Reaktion geahnt, wie du über die Terras gesprochen hast. Und sind es nicht immer jene, von denen man es am wenigsten erwartet?« Noch während die Worte meinen Mund verließen, wurde mir mein fataler Fehler bewusst.

»Da kann ich dir nur zustimmen!« Blitzartig schossen seine Hände vor. Schützend riss ich meine vors Gesicht. Doch kein Schlag folgte, stattdessen bröckelten rechts und links von meinem Kopf kleine Gesteinsbrocken zu Boden. Erschrocken ließ ich meine Hände sinken. Seine Fäuste waren mit solcher Wucht auf dem Gestein gelandet, dass es barst. Einmal mehr wurde mir bewusst, dass dieses Wesen mit Nichts zu vergleichen war, was mir bis jetzt begegnet war. Er wirkte eher genauso wie der Lauf der Geschehnisse. Einer meiner Geschichten entsprungen. Doch zu welchem Charakter er sich zuletzt entwickeln würde erschien mir noch nicht schlüssig. Ich ermahnte mich, so realistisch zu bleiben, wie es in meiner Situation möglich war. Das hier war keine Geschichte, ich saß nicht zu Hause mit meinem Laptop auf der Couch,- Hier ging es sich um mein Überleben. Kaum hatte ich mich selbst von dieser Tatsache überzeugt, wurde der Drang fortzustürmen wieder übermächtig.

»Lass es!«

Verwirrt starrte ich ihn an.

»Ich kann es in deinen Augen lesen, du möchtest schon wieder davonlaufen, obwohl du genau weißt, dass du keine Chance hast zu entkommen!« Jetzt klang er tadelnd. »Und mal ehrlich, wir befinden uns auf einer Insel.«

Von seiner Wut war nichts geblieben, stattdessen schien sein Zorn auf mich übergegangen zu sein.

»Das weiß ich, ich bin nicht dumm!« Überrascht über mich selbst, tauchte ich mit einer fließenden Bewegung unter seinem Arm hindurch. Anschließend flüsterte ich ihm ins Ohr. »Du kennst ihn und obwohl du eigentlich der Stärkere sein solltest, hat er dich im Zweikampf geschlagen. Deswegen reagierst du so wütend, wenn er zur Sprache kommt. Habe ich recht?« Seine Muskeln zuckten, ich konnte förmlich greifen, wie sich die Bedrohung aufbaute. Mein Übermut verflog augenblicklich und ließ mich in ängstliche Haltung zurück, warum musste dieser elende Verräter mich ausgerechnet jetzt verlassen? Leandro wirbelte herum und schon schlug mein Kopf unsanft am harten Boden auf, schwarze Punkte tanzten vor meinem Sichtfeld, zu denen sich zwei blaue gesellten.

»Wenn du kein Spitzel bist, woher weißt du dann so viel über mich?«

Ich blinzelte benommen. Leandro drückte seinen Unterarm so fest auf meine Kehle, dass ich lediglich hauchen konnte: »Weil ich dich … beobachte … Deine Maske … ist nicht ganz so lückenlos … wie du glaubst!«

Er rollte sich von mir hinunter. Erleichtert schnappte ich nach Luft und rappelte mich mühsam auf. Wortlos schüttelte er den Kopf, lehnte sich an die Höhlenwand und schloss die Augen.

Kurz Zeit später musste ich, nachdem er nichts mehr erwiderte, auch eingeschlafen sein. Denn als ich erwachte, war es tief in der Nacht. Lautlos stand ich auf und ging auf Zehenspitzen zum Höhlenausgang. Ich verbarg mich hinter einem Felsen, sodass Leandro mich nicht heimlich beobachten konnte, legte mich dort nieder, und starrte in den klaren Nachthimmel. Die Sterne funkelten unglaublich schön über mir. Kein Licht weit und breit störte die Lichter am Firmament, noch nicht einmal der Mond war in dieser Nacht zu sehen.

Gerade als mir die Lieder schwer wurden, hörte ich eiliges Flügelrascheln und musste fast lächeln. Leandro trat aus der Höhle und wollte sich gerade wütend in die Luft stoßen.

»Ich bin hier … Schließlich befinden wir uns ja auf einer Insel.« Sein Kopf fuhr herum. Bevor er irgendetwas sagen konnte, warf ich schnell dazwischen: »Wollte mir nur die Sterne ansehen. Da wo ich herkomme, kann ich sie nie so intensiv betrachten, da unzählige Lichter ihr Strahlen überdecken.« Langsam wendete ich den Blick vom Firmament ab.

»Erzähl mir davon.«

Fragend hob ich eine Augenbraue.

»Von der Welt, aus der du kommst.«

Nachdenklich wiegte ich den Kopf. »Das ist gar nicht so einfach.«

Abwartend setzte er sich neben mich. »Erzähl mir von den Flugzeugen. Und was hast du mich gefragt? Ob ich ein Engel sei? Was ist ein Engel?«

Grinsend erwiderte ich: »Na gut, ich versuch’s, aber bitte frag mich nicht nach den technischen Einzelheiten, davon habe ich keine Ahnung.«

Verwirrt zog er die Brauen zusammen, nickte aber.

Lange saßen wir so da, während er meiner Stimme lauschte. Ich erzählte ihm von unseren Städten und den Flugzeugen, von Autos und natürlich von Engeln. Diese Stelle amüsierte ihn am meisten.

»Du hast geglaubt, dass ich ein übernatürliches Wesen bin, das über euch Menschen oder wie ihr eure Spezies nennt, wacht?«

Meine Schultern zuckten, besser wusste ich es nicht zu erklären. »Dass du keiner bist, war mir dann auch schnell klar!«

Sein Lächeln wurde breiter, dabei leuchteten die ohnehin schon atemraubenden Augen hell auf. Wie das Wasser des Meeres funkelte, wenn nach einem Gewitter die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke brachen und es zu neuem Leben erweckten.

»Du solltest öfter lachen«, entschlüpfte es mir, ohne nachzudenken. Sofort bereute ich, etwas gesagt zu haben, denn sein Lachen gefror und er presste die Lippen zu einer bleistiftdünnen Linie zusammen. Um die Stimmung wieder aufzulockern, wechselte ich rasch das Thema.

Am meisten von allem schienen ihn die Flugzeuge zu interessieren. Wie sie funktionierten, doch leider konnte ich dazu nicht sehr viel beisteuern. Eine Ewigkeit später, so fühlte es sich zumindest an, hatte ich alles erzählt, was mir einfiel. Als ich verstummte, ging ein Ruck durch seinen Körper. Er meinte, dass wir schon viel zu lange getrödelt hätten und nun schleunigst weiterziehen müssten.

Es war keine Lüge, als er behauptet hatte, dass diese Strecke die längste wäre, die wir ohne Zwischenstopp durchfliegen mussten, da es keine Insel dazwischen gab. Als sich in der Ferne ein massives Gebirge abhob, größtenteils mit dem Dickicht des Regenwaldes überzogen, wusste ich, dass diese Insel anders, etwas Besonderes, war. Beim Landeanflug dämmerte es bereits. Trotzdem konnte dies die wilde Naturschönheit nicht schmälern.

In den Wipfeln der mächtigen Bäume, die den Strand säumten, waren Baumhäuser in die Astgabelungen gebaut worden. Soweit ich erkennen konnte, standen alle paar Meter Hochstände, die vermutlich für Wachposten genutzt wurden. Alles wirkte verlassen, ich fühlte mich sofort an Geisterstädte in Filmen erinnert. Zugegeben, es handelte sich hier um eine etwas andere Art von »Stadt« aber dennoch … Nicht einmal die sonst hier so typischen bunten Papageien schienen auf dieser Insel zu leben, es herrschte Totenstille. Das einzige Geräusch stammte vom Rauschen des Meeres. Ein unangenehmes Gefühl beschlich mich.

»Wollen wir nicht lieber weiterziehen?« Nervös griff ich nach Leandros Oberarm und rückte näher an ihn heran. Verwirrt blickte er auf mich herab, mir war klar, dass er mich für einen Feigling hielt, doch es war mir egal. Hier stimmte definitiv etwas nicht, eine eigenartige Aura umgab die Insel wie ein schwarzer Nebel und das lag nicht nur daran, dass sie verlassen dalag. Genauso stellte ich mir ein verfluchtes Land vor.

»Hier liegt irgendetwas in der Luft, die Insel ist tot!« Es wäre durchaus verständlich gewesen, wenn Leandro diese Worte gesagt hätte, da er die Insel von früher kannte, doch nicht er hatte gesprochen, sondern ich.

»Wie kommst du darauf? Warum sollte die Insel tot sein?« Interessiert musterte er mich. Wie ferngesteuert löste ich mich von ihm und setzte zaghaft einen Schritt vor den anderen. Wie in Trance schritt ich auf die Bäume zu. »Das, was wir sehen, ist nur noch Fassade. Die Bäume sind tot. Der Boden ausgedörrt, fruchtlos, sämtliche Lebenskraft der Erde entzogen.«

Ich hatte zwar immer schon ein besonderes Auge für schöne Landschaften gehabt, aber was hier passierte, konnte ich nicht mit den Augen erfassen, sondern nur fühlen. Mit jeder Zelle meines Körpers. Hier gab es nichts zu holen, nur den Tod. Von plötzlicher Panik ergriffen wendete ich mich Leandro zu. »Wir müssen fort von diesem Ort!«

Er musterte mich nur, als wäre ich ein besonders eigenartiges Geschöpf, schließlich ging er mit großen Schritten an mir vorbei auf die Bäume zu. Nervös lief ich ihm hinterher. Er ging so schnell, dass meine kurzen Beine Mühe hatten, ihm zu folgen. Plötzlich stoppte er so abrupt, dass ich nicht abbremsen konnte und gegen seinen Rücken prallte. In einer anderen Situation hätte ich vielleicht darüber gelacht, aber bei dem Anblick, der sich uns bot, gefror mir das Blut in den Adern. Das Gestrüpp um uns herum war verdorrt, die Stämme der Bäume ausgetrocknet und zerfressen. Einzig in schwindelerregender Höhe leuchtete das Blätterdach in saftigem Grün, als wollte es den Schein wahren und das tote Herz der Insel verbergen. Sogar das Holz der Baumhäuser erschien morsch, die meisten bereits in sich zusammengefallen und die Erde zu unseren Füßen war vertrocknet und brüchig.

»Wie lange war hier schon niemand mehr?« Meine Stimme klang rau und fremd.

»Der Angriff liegt einige Tage zurück, aber nicht so lange, dass diese Insel einen solchen Verfall aufweisen dürfte, auch wenn in der Zwischenzeit kein einziger Tropfen Regen gefallen wäre. Diese Insel hat vor dem Angriff nur so vor Leben gesprüht, jeder unseres Volkes war ihr zugetan. Sie war ein Zufluchtsort und die schönste Insel von ganz Loreno, nicht weit von hier gab es einen atemberaubenden Wasserfall. Dir hätte es gefallen! Durch den Regenwald zu streifen, den höchsten Berg zu erklimmen, gehörte bei uns zu einem Ritual. Und er wusste das!« Fassungslos schüttelte Leandro den Kopf. »Wie konnte er diesen Ort in kurzer Zeit nur so zerstören?« Etwas Feuchtes tropfte auf meine Hand. Erst nach Sekunden realisierte ich Tränen. Warum weinte ich um eine Insel, deren Schönheit meine Augen nie selbst erblickt hatten?

Regungslos starrte ich auf den Stamm vor mir, der von Schlingpflanzen befallen war. Doch selbst die Schlingpflanzen waren ausgetrocknet und porös. An einer Stelle fehlte ein Stück Holz und legte das hohle Innere frei.

Ohne darauf zu achten, ob Leandro mir folgte, ging ich weiter. Bis mein Fuß an einem Erdhügel hängenblieb. Ich taumelte und schaffte es gerade so, nicht mit dem Gesicht im Dreck zu landen. Als ich nichtsahnend auf den Erdhügel hinunterblickte, entfuhr mir ein entsetzter Schrei. Es handelte sich nicht um einen Hügel, sondern um einen Körper, den Staub und Erde bereits halb begraben hatten. Um einen Körper mit weißen Flügeln, auf denen ich stand. Hektisch sprang ich zurück und prallte gegen Leandros Brust.

»Ein gefallener Krieger«, murmelte er und schob mich beiseite, kniete neben dem Toten nieder und schloss die verdreckten, weit aufgerissenen Augen. Einen Moment verharrter er, bevor er seine Schultern straffte, wortlos aufstand und weiterging. In meinem Trancezustand gefangen, konnte ich dem sich rasch entfernenden Leandro nicht folgen.

Plötzlich blitzte es zwischen dem eintönigen Braun silbern auf. Instinktiv zuckte ich zurück, aber dennoch zu langsam für die Klinge, die durch das Gebüsch hervorschnellte und einen tiefen Schnitt quer über meinen Bauch zog. Als wäre es nicht mein eigener Körper, starrte ich versteinert auf die Wunde, aus der sofort Blut quoll. Noch nie hatte ich so viel Blut gesehen, dennoch verspürte ich keinen Schmerz.