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Der 18-jährige Fritz wird nach seiner Ausbildung beim RAD und der Wehrmacht an die Ostfront zur Heeresgruppe Nord geschickt. Dort muss er ums Überleben kämpfen. Viele seiner Kameraden sieht er sterben. Er selbst wird lebensbedrohlich verletzt. Doch das ist noch nicht das Ende seines Weges ... Packend und schonungslos erzählt Arno Sauer von den wahren Erlebnissen seines Vaters Fritz. Wie seine Freunde wollte er niemals ein Held sein und erfuhr dennoch am eigenen Leib, was Krieg wirklich bedeutet. Die jungen Soldaten waren mit unfassbarem Leid konfrontiert, den Tod stets vor Augen. Seine Geschichte ist nicht zuletzt ein beeindruckendes Plädoyer für den Frieden.
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Seitenzahl: 320
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Für Vater, dessen Erlebnisse mich zu diesem Buch immer wieder ermutigten. Für alle nachkommenden Generationen, welche ein Recht auf Wahrheit über das damalige Zeitgeschehen besitzen.
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen 4. erweiterten Auflage 2021
© 2021 Edition Förg GmbH, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Lektorat: Dr. Helmut Neuberger, Ostermünchen
Satz: Carmen Oberlechner, Rosenheim
Titelfoto: © Bundesarchiv, Bild 183-H26353, Fotograf: Erich Borchert
Bildnachweis: Alle Fotos im Innenteil stammen aus dem Privatarchiv von Arno Sauer
eISBN 978-3-475-54904-5 (epub)
Worum geht es im Buch?
Arno Sauer
In der Hölle der Ostfront
Kampf ums Überleben. Der Schrecken der Ostfront. Mit 18 Jahren wird Fritz nach der Ausbildung beim RAD und der Wehrmacht an die Ostfront zur Heeresgruppe Nord geschickt. Dort wird er mit den Schrecken des Krieges konfrontiert. Ohne Erfahrung kämpfen er und seine Kameraden ums Überleben. Viele von ihnen werden auf dem Schlachtfeld verwundet oder sterben. Auch Fritz wird lebensbedrohlich verletzt. Doch selbst dann hat das Grauen für ihn noch kein Ende. In einem bewegenden Zeitzeugenroman schildert der Autor Arno Sauer die wahren Erlebnisse seines Vaters Fritz.
Inhalt
Vorwort
Im RAD-Musterlager Gau Moselland
Stellungsbefehl zur Wehrmacht
An die Ostfront zur 132. Infanteriedivision
Der Weg ins Ungewisse
Keine Hoffnung auf Wiederkehr
Mein bester Freund
Mein Traum zerplatzt
Im Lazarettzug zurück ins Reich
Genesungsbataillon Saarburg Lothringen
Versetzung nach Thorn an der Weichsel
Im Panzersturmregiment erneut zur Ostfront
Den Untergang vor Augen
Flucht und Gefangenschaft
Der Weg nach Hause
Wiederaufbau
Nachwort
Vorwort
Seit Jahrzehnten bewahre ich die Schilderungen und Berichte in meiner Erinnerung, die mein Vater mir während meiner Kindheit und Jugend bei zahllosen sonntäglichen Waldspaziergängen über seine Kriegserlebnisse und Jugendzeit vermittelt hat. Oft nicht freiwillig, sondern auf mein Bitten hin erzählte er – manchmal nur bruchstückhaft, je nach Bedürfnis und Verfassung aber auch sehr ausführlich und stundenlang – über Erlebnisse, die ihm damals widerfahren sind, Ereignisse und Erfahrungen, die ihn bewegten, bedrückten und verfolgten. Heute weiß ich, dass ihm neben seiner unermüdlichen, anstrengenden Arbeit als Friseurmeister im eigenen Geschäft auch mein Interesse an seinen Erlebnissen geholfen hat, die schlimmen Erinnerungen und Traumata seiner Jugend zu verarbeiten.
Es scheint mir nun an der Zeit, über das damalige Geschehen zu berichten, wo unermessliches Leid und Unheil geschehen ist. Einschneidende Erlebnisse wie diese dürfen nicht in Vergessenheit geraten, und so will ich objektiv davon erzählen, wie es in diesen Schicksalsjahren einst war und wie es der damaligen Jugend ergangen ist.
Obwohl auf dem Büchermarkt über die Zeit der Weimarer Republik, das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg unzählige Publikationen existieren, soll dieser authentische Zeitzeugenbericht das Leben der Jugend und der Menschen allgemein zu dieser Zeit aus der damaligen Sicht neutral und ungeschminkt wiedergeben. Oftmals, besonders nach Fortschreiten der Zeit, wurde diese Epoche im Positiven wie auch im Negativen verfälscht, verklärt und auch manipuliert in beide Richtungen dargestellt. Deshalb möchte ich zur geschichtlichen Erinnerung und Bewahrung stellvertretend für eine ganze Generation die Erlebnisse eines Jungen aus der vorderen Eifel wiedergeben. So, wie die damalige Zeit von Millionen anderen Menschen gleichen Alters im Deutschen Reich geteilt, erduldet, ertragen, gelebt und bewältigt werden musste. Kindheit, Jugend, Berufsausbildung, Arbeitsdienst, Soldat sein in einem unseligen, grausamen Krieg – ein Schicksal, das Tausende Menschen ähnlich erlebt haben – schildert dieser biografische Zeitzeugenbericht.
Es war eine Jugend, die aufgrund ihres Idealismus und Leistungswillens, ihrer Begeisterungsfähigkeit, Innovationen, Gutgläubigkeit und Sitte, ihres Anstands und Respekts geprägt war. Es war eine Generation, die diese Jugendzeit anders erlebte, erfahren und ertragen musste. Schlimmer und grausamer, härter und aussichtsloser, niederschlagender und enttäuschender, entbehrungsreicher und leidensfähiger als viele andere, nachfolgende Generationen. Eine Jugend guten Glaubens, die um ihre Jugend betrogen, verraten und missbraucht wurde. Sie hatten trotzdem den Mut und den Glauben an das Gute und an ein friedliches, besseres Leben nie aufgegeben.
Kein anderes Land der Erde hatte nach so einem langen Krieg, der schrecklicher und grausamer war als alle Kriege jemals zuvor, in seiner Gesamtheit dermaßen zerstört am Boden gelegen wie Deutschland. Das Fatale daran war, dass dieser unselige Krieg von deutschem Boden ausging und nach fast sechs Jahren dort wieder im totalen Untergang endete. Ein Neubeginn erschien aussichtsloser denn je, schwerer als in jedem anderen vom Krieg heimgesuchten Land der Erde. Tausende Städte, Dörfer, Industrieanlagen, Straßen, Brücken, Kirchen, Schulen und Krankenhäuser waren zerstört. Fünf Millionen Soldaten waren gefallen oder galten als vermisst, rund 600 000 Frauen, Kinder und alte Menschen fielen den unzähligen Bombenangriffen zum Opfer, bis zu zwei Millionen kamen auf ihrer Flucht ums Leben. Mehr als 13 Millionen Menschen wurden aus ihrer einstigen Heimat in den deutschen Ostgebieten vertrieben.
Die überwiegende Anzahl dieser Menschen hat nicht aufgegeben, nicht resigniert und Deutschland nicht verlassen. Dies gilt auch für die armen vertriebenen Menschen und Familien aus Ost- und Westpreußen, Pommern, Schlesien, Böhmen, Mähren und anderen deutschsprachigen Regionen, die sich in Mittel- und Westdeutschland niederließen. Sie alle sind geblieben, um Deutschland wieder aufzubauen und nach vorne zu schauen. Um Deutschland in eine gute und bessere Zukunft zu führen, trotz unsagbar schwerem rückblickendem und bleibendem Leid vieler Beteiligter und Betroffener.
Dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten zu erkennen, dass Krieg nicht nur das Schlimmste für die jeweils betroffenen Menschen bedeutet, sondern dass solche furchtbaren, tragischen Ereignisse mit allen Konsequenzen verhindert und bereits im Vorfeld vermieden werden müssen.
Es war meine Absicht, die damalige Zeit wiederzugeben, wie sie wirklich war, ohne zu beschönigen oder zu verdammen, ohne zu verherrlichen oder zu richten. Alle Beschreibungen, auch in Einzelheiten, entsprechen den Tatsachen. Personennamen wurden überwiegend und original bis auf wenige vergessene Namen beibehalten. In Einzelfällen, dort wo es erforderlich schien, wurden Namen geändert, um Betroffenheit Angehöriger zu vermeiden.
Fritz war erst 21, als der schrecklichste Krieg aller Zeiten zu Ende ging und er wie so viele Hunderttausend andere Heimkehrer gezeichnet an Körper und Seele das große Glück hatte, der Hölle entronnen zu sein, um noch einmal die schöne Heimat zu sehen und nach Hause zu kommen. Die Ereignisse und das Erlebte verfolgten ihn sein ganzes Leben in zahlreichen Angst- und Albträumen, die im Laufe der Jahre und Jahrzehnte weniger wurden. Die schrecklichen Bilder jedoch ließen seine Gedanken nie mehr richtig los und verfolgten ihn bis an sein Lebensende.
Im Krieg gibt es niemals Gewinner, nur Verlierer. Nichts geht über Frieden und ein friedliches Miteinander der Völker aller Nationen und deren unterschiedlichsten Religionen.
Im RAD-Musterlager Gau Moselland
An einem wunderschönen Frühlingsmorgen nach einem langen, harten Winter 1940/41 brachte mich der Zug an die luxemburgische Grenze. Beim Hinausschauen aus meinem 3. Klasse-Abteil, ausgestattet mit unbequemen, harten Holzbänken, konnte ich die herrliche Landschaft bewundern, die in voller Blütenpracht an mir vorbeizog.
Einige Tage zuvor hatte ich, vier Wochen nach Abschluss meiner Friseurlehre, den Einberufungsbefehl zum RAD (Reichsarbeitsdienst) erhalten. In dem amtlichen Schreiben wurde mir mitgeteilt, dass ich ein Jahr lang im »Musterlager Gau Moselland« in Irrel an der luxemburgischen Grenze eingesetzt werden würde und zu dem aufgeführten Termin dort pünktlich zu erscheinen hätte. Ich packte also am Vorabend neben einigen persönlichen Dingen die wenigen Utensilien, die in dem »Einladungsschreiben« aufgeführt waren, in einen kleinen alten Koffer, verabschiedete mich am nächsten Morgen schweren Herzens von Mutter und meinen Brüdern und marschierte zu unserem Bahnhof.
Die Bahnfahrt führte anfangs auf vertrauten Wegen über Mayen, wo ich die Berufsschule besucht hatte, weiter über Daun, Gerolstein, Kyllburg, Bitburg bis nach Irrel. So fuhr ich mit 17 Jahren zwar kostenlos, aber mit einem mulmigen Gefühl der Ungewissheit quer durch unsere schöne Eifel einem Ziel entgegen, das ich mir nicht ausgesucht hatte und das ich auch nicht aufsuchen wollte.
Mit jedem Kilometer, der mich weiter von zu Hause entfernte, wuchs in mir ein eigenartiges Unbehagen, gemischt mit Heimweh. Da halfen auch die guten Schmalzbrote nichts, die mir Mutter noch im letzten Augenblick eingepackt hatte und die ich nun mit mäßigem Appetit verdrückte. Viele Gedanken, Erinnerungen und Episoden meiner noch nicht allzu großen Vergangenheit liefen wie in einem Film an mir vorbei.
Ich 1940 während der Friseurlehre
Ich erinnerte mich an meine kurze Jugendzeit und an so viele schöne und traurige Begebenheiten, etwa den frühen Verlust meines Vaters, der mich auf all meinen Wegen nur in meinen Gedanken und in meinem Herzen begleiten konnte. Mit erst 17 Jahren musste ich mich den Anforderungen des Regimes im Kriegsalltag stellen, und die waren hart. Lamentieren, ausheulen und herumjammern lag uns fern, Unbotmäßigkeit konnte sogar das Leben kosten. Es blieb nur, den Blick nach vorne zu richten, hellwach zu bleiben und dabei im wahrsten Sinne des Wortes die »Flöhe husten zu hören«, wie das schöne Sprichwort lautete. Es war überlebenswichtig, sich auf spontane Situationen ohne Angst einzustellen, ohne gleich zu resignieren.
Während ich durch das monotone Fahrgeräusch der Eisenbahnwaggons über vergangene Begebenheiten vor mich hin grübelte, musste ich schmunzelnd an eine Geschichte zurückdenken, die dank meines Bruders Karl im letzten Moment zu meinen Gunsten entschieden worden war. War mir Karl bei unseren rivalisierenden »Böckchen-Kämpfen« draußen im Hof oder in der Scheune in jungen Jahren stets unterlegen gewesen, so hatte ich im fortgeschrittenen Alter jenseits der 14 gegen ihn keine Chance mehr. Karls enorme Körperkräfte luden nicht mehr zu einem Kräftemessen ein.
Ich weiß noch gut, dass Mutter sich eines Tages darüber beklagte, dass die Hühner in der Scheune kaum noch Eier legen würden, und sie führte den Verlust in erster Linie auf einen Marder zurück. Nach vielen Wochen wurde der Marder schließlich gefasst, doch er hatte nur noch zwei Beine und hieß mit Vornamen Karl. Der junge und schnell wachsende Knabe verspeiste heimlich und unentdeckt seit Langem an manchen Tagen zehn bis zwölf Eier, indem er sie einfach roh aussaugte. Er hatte angeblich immer Hunger, und der süße Eidotter schmeckte ihm besonders gut. Es waren aber nicht nur die vielen Eier, sondern auch unsere stets frische Kuhmilch, der zusätzliche Speck und der Extralöffel Schmalz beim Mittagstisch, die dazu führten, dass Karl so kräftig wurde. Ich wiederum mochte kein Fett, sodass mein Anteil auf dem Teller meines Bruders landete. Aber gewiss spielten auch die Erbanlagen und vor allem die schwere körperliche Arbeit von klein auf in unserem landwirtschaftlichen Betrieb eine nicht unwesentliche Rolle.
Nun, warum ich das erwähne? Es trug sich an einem Nachmittag zu, dass ich wieder einmal auf dem Sportplatz meinem Hobby nachging und mit anderen Jungs Handball spielte. Das ging so lange gut, bis auf einmal zwei etwas ältere Mitspieler meinen Ball klauen wollten, weil sie mir meine überlegene Technik neideten und sich über ein verlorenes Spiel ärgerten. Als sie damit abhauen wollten, gerieten wir uns heftig in die Wolle, wobei meine Chancen sehr schlecht standen. Noch während der Streiterei und angesichts meiner Hilferufe lief ein anderer Mitspieler zu uns nach Hause und rief unseren Karl, der seinem Bruder Fritz zu Hilfe eilte. Obwohl die beiden Gegner deutlich älter waren als er, mischte er sie ohne Probleme auf, sodass ich noch einmal glimpflich mit ein paar Kratzern davonkam und auch meinen geliebten Handball aus dem Getümmel retten konnte.
Die quietschenden Bremsen der Dampflokomotive beim Einfahren in den Bahnhof von Bitburg holten mich aus meinen Gedanken zurück in die Realität. Nun war es nicht mehr weit, und ich sah den auf mich zukommenden Ereignissen optimistisch entgegen. Ich möchte nicht behaupten, dass ich darin eine erfreuliche neue Herausforderung sah, nach der ich mich gesehnt hätte. Ganz im Gegenteil wäre ich nur zu gerne bei Mutter zu Hause geblieben und als frisch gebackener Geselle meinem Beruf nachgegangen. Jedoch waren in dieser Zeit alle aus meinem Jahrgang und den älteren Jahrgängen irgendwo weit weg unterwegs, eingezogen zur Wehrmacht, in der militärischen Ausbildung oder bereits an der Front.
Ich nahm diese neue Herausforderung an und machte mich gemeinsam mit vielen anderen Kameraden meines Alters, die ich bereits auf der Hinfahrt im Zug kennengelernt hatte, auf den Weg. Wir alle hatten den gleichen Marschbefehl, und so marschierten wir gemeinsam vom Bahnhof in Irrel los, um zum festgesetzten Zeitpunkt durch das Tor an der Wache des RAD-Lagers Gau Moselland einzuziehen.
Nach kurzer Einweisung und dem Empfang von Uniform, Ausrüstungsgegenständen und dem berühmten Spaten, dem Symbol des Arbeitsdienstes, bezogen wir Quartier in einer der zahlreichen Baracken. Auf jeder Stube waren zwanzig Mann in zehn Doppelbetten untergebracht. Einen Spind teilten wir uns zu zweit.
Von nun an war täglich morgens um 5 Uhr Wecken angesagt, und dies erfolgte mit lautem Geschrei. Schon am ersten Tag begannen wir mit dem Frühsport. Anschließend ging es im Laufschritt mit freiem Oberkörper über den Appellplatz zu den Waschräumen. Danach stand Stuben- und Revierreinigen auf dem Plan, wobei man uns in kürzester Zeit eindeutig und unmissverständlich vermittelte, was zu tun war. Danach ging es zum Frühstück, das ständig sehr mager ausfiel, was zur Folge hatte, dass der Hunger unser ständiger Begleiter war.
Daran änderte auch die um 9 Uhr anstehende zweite Frühstückspause nichts, denn es gab meist nichts mehr, das wir noch hätten frühstücken können. Nur gelegentlich gab es noch ein paar trockene Brotscheiben, die vom Frühstück übrig waren, und wir verschlangen sie gierig.
Am zweiten Tag stand die medizinische Untersuchung zur Diensttauglichkeit an, und es waren alle tauglich. Auch einige luxemburgische Kameraden meines Jahrganges, die nur wenige Kilometer entfernt auf dem anderen Ufer des Flüsschens Sauer zu Haus waren, leisteten hier mit uns gemeinsam Arbeitsdienst. Diese Jungs waren verständlicherweise noch weniger begeistert als wir, und auch bei uns war die Motivation eher bescheiden. Ich fand allerdings die luxemburgische Sprache mit ihrem singenden Tonfall angenehm. Da wir auch Dialekt, das sogenannte Moselfränkisch, sprachen, konnten wir uns untereinander recht gut verständigen.
Die medizinische Untersuchung führte ein Unterarzt im Range eines Leutnants durch, und sie war schnell vollzogen. Größe, Gewicht, einmal bücken, noch ein paar Eintragungen, fertig.
Anschließend begann der allgemeine Dienst, der über Monate hinweg immer in ähnlicher Form ablief. Frühsport gab es an jedem Tag und bei jedem Wetter. Manchmal stand Sport auch noch ein zweites Mal am Nachmittag oder Abend auf dem Plan. Das spielte mir voll in die Karten, denn ich liebte den Sport und konnte mein Hobby auf diese Weise auch im Reichsarbeitsdienst weitestgehend zufriedenstellend ausüben.
Mit einem Kameraden beim RAD im Gau Moselland in Irrel
Weiterhin gab es täglichen Unterricht. Dazu gehörten selbstverständlich Mathematik, Deutsch, Erdkunde, Völkerkunde und Musik, aber auch Elemente der nationalsozialistischen Weltanschauung wie Rassenkunde. Wir bekamen aber auch eine Sanitätsausbildung und wurden in theoretischer Waffenkunde und Geländekunde geschult. Dann erfolgte eine Art militärischer Grundausbildung, bei der uns militärische Verhaltensweisen und exaktes Marschieren beigebracht wurden. Nachdem wir einige Lieder eingeübt hatten, marschierten wir auch mit Gesang. Hinzu kam das Exerzieren mit dem Spaten, das sich nicht viel vom späteren Exerzieren mit dem Karabiner 98, dem Standardgewehr der Wehrmacht, unterschied. Dazu mussten wir morgens auf dem Exerzierplatz antreten, den Blick nach Osten gerichtet. Wenn sich die aufgehende Sonne beim Präsentieren in 240 blank geputzten Spaten spiegelte, bot sich ein grandioses Schauspiel. Welche Absicht man mit diesem Drill verband, war auch insoweit unübersehbar, als wir mit dem Spaten tagtäglich an dem in dieser Region zu errichtenden Westwall mit seinem verzweigten Graben- und Bunkersystem zu arbeiten hatten. Schaufeln, graben, pickeln, Erdbewegungen durchführen, betonieren und so weiter. Wir mussten hier eine äußerst anstrengende Arbeit verrichten. Dabei mutete man uns diese körperlichen Strapazen bei permanent durchschnittlicher und, wie bereits erwähnt, nicht immer ausreichender Verpflegung zu.
Sport und Formalausbildung sah ich immer als willkommene Abwechslung an, und auch die extrem harte Ausbildung drückte nicht auf die Stimmung. Ganz im Gegenteil war die Stimmung unter uns gleichaltrigen Jugendlichen den Umständen entsprechend wirklich gut.
Man lernte schnell, kleine Freiheiten zu genießen und sich zu drücken oder gar auszuklinken, wenn sich eine günstige Gelegenheit bot. Wir machten auch die Erfahrung, dass der Zusammenhalt mit der Schwierigkeit der Anforderungen wuchs. Wir lernten rasch, in brenzligen Situationen füreinander einzustehen. Dabei war es unerheblich, aus welcher sozialen Schicht die Kameraden stammten und welchen Berufen sie nachgingen. Ob Bäcker, Metzger, Friseur, Maler oder Schmied, ob Schuster, Schornsteinfeger, Maurer oder Zimmermann, ob Dachdecker, Schreiner, Landwirt, Hilfsarbeiter oder Abiturient – man respektierte einander ohne jegliche Vorurteile. Das war der Garant für unsere Kameradschaft. Das Miteinander schweißte uns zu einer eingeschworenen Mannschaft zusammen, besonders dann, wenn der Ausbildungsdruck und die von uns erwarteten Leistungen hoch waren. Dieser Geist der Kameradschaft sollte sich später auch in den schlimmsten Situationen an der Front immer wieder bewähren.
In der Regel konnte sich jeder auf jeden blind verlassen, bis auf einige ganz wenige Sonderlinge, wie sie mir auch während des Krieges zwar nicht oft, aber immer mal wieder in manchen Lebenslagen begegneten. Komische Käuze, die einfach anders waren als die anderen. Darunter gab es Burschen, die extrem auffielen, die unsauber und wasserscheu waren, beim Stuben- und Revierreinigen durch Drückebergerei glänzten oder die Toiletten in einem fürchterlichen Zustand verließen, beim Spind-Aufräumen oder bei der Anzugskontrolle patzten oder die Kameradschaft in egoistischer Weise unterliefen.
Leidtragende waren dann natürlich in manchen Fällen wir alle. Früheres Wecken um 4 Uhr oder 3 Uhr, längerer Dienst am Abend, Ausgangsverbot am Wochenende und der Verlust sonstiger Vergünstigungen waren die Folge kollektiver Bestrafung. Dementsprechend war es durchaus möglich, dass nach irgendwelchen unliebsamen Gegebenheiten des Nachts bei der betreffenden Person der sogenannte »Heilige Geist« erschien und mit mehr oder weniger drastischen Strafmaßnahmen dazu beitrug, dass die Disziplin besser gewahrt wurde. Das war nicht unbedingt mit großen Schmerzen verbunden, obwohl etwa das Abschrubben der schwarzen Stiefelcreme im Genitalbereich schon eine nicht unerhebliche Rötung verursachte. Aber wie gesagt, diese Kameraden bildeten eine seltene Ausnahme.
Je mehr man uns in den ersten Wochen einer strengen, oft demütigenden Ausbildung unterzog, desto lebensbejahender erhoben wir uns anschließend, gestärkt an Körper, Geist und vor allem Selbstbewusstsein. Unserer Leistungs- oder auch Leidensfähigkeit in dieser eingeschworenen Kameradschaft wohl bewusst, konnten uns auch unangenehme Situationen nicht erschüttern, wie wir sie mit manch einem gehässigen Ausbilder immer wieder erlebten.
Sogenannte »Schweinepriester« gab es immer wieder, aber sie waren nicht die Regel. Im Allgemeinen erfuhren wir im Lager eine disziplinierte, strenge, aber auch menschenwürdige und anständige Behandlung. Ich traf nette Menschen sowohl unter den Ausbildern als auch unter den Kameraden. In Paul Seidenfuß, einem Metzgergesellen aus Koblenz, der am selben Tag mit mir eingezogen worden war, fand ich einen verlässlichen Freund. Wir hatten viel Spaß zusammen und gingen gemeinsam durch dick und dünn.
Nach zwölf Wochen lockerte sich der Dienst insoweit, als wir, wenn nicht kurzfristig wegen irgendwelcher neuen Parolen und Aktionen Ausgangssperre angeordnet wurde, Sonn- und Feiertagsfreigang erhielten. So erkundeten wir Irrel, die nähere Umgebung mit den Irreler Wasserfällen an der Prüm und spazierten schon mal die wenigen Kilometer Richtung Luxemburg. An der ehemaligen Reichsgrenze erreichten wir über die Staatsstraße die alte Grenzbrücke aus Stein, die uns über den Fluss Sauer bis hinein in das beschauliche Städtchen Echternach in Luxemburg führte.
Paul Seidenfuß und ich in der Gneisenau-Kaserne Koblenz im April 1942.
An Tagen ohne Ausgang nutzte ich immer die Gelegenheit, zusätzlich Sport zu treiben. Auch machte es mir Spaß, einigen Kameraden mit einem neuen, frisch erlernten und für diese Zeit äußerst modernen Fassonschnitt die Haare zu stylen. In der Praxis hieß das damals: an der Seite ganz kurz, oben lang und zurückgekämmt. Das galt damals als besonders chic, und jeder wollte natürlich dem Schönheitsideal entsprechen – besonders wenn im Ort eine Tanzveranstaltung stattfand, die wir in Uniform besuchten, wobei wir es genossen, dass uns so manches BDM-Mädel verstohlene Blicke zuwarf und auf ein Auffordern zum Tanz wartete. Niemand von uns wäre damals auf die Idee gekommen, mit Glatze oder einem Millimeter-Haarschnitt herumzulaufen, wie ihn die russischen oder amerikanischen Soldaten trugen. Das sah in unseren Augen unvorteilhaft und hässlich aus. Denn so liefen damals in Deutschland nur Strafgefangene oder alte Männer umher. Doch diese minimalistische Haartracht ereilte viele von uns in späteren Jahren, soweit sie das Glück hatten, den Krieg zu überleben, und das Pech in alliierte Kriegsgefangenschaft zu geraten. Doch an diese Möglichkeit dachte damals, in der ersten Jahreshälfte 1941, niemand von uns. Keiner ahnte, was uns noch bevorstand.
Unser Kamerad Franz Färber nutzte seine freie Zeit in anderer Art und Weise. Er war ein wirklich begnadeter Hobbymaler und wusste Gesichter ausgesprochen naturgetreu wiederzugeben. So zeichnete er einige von uns in Form einfacher Bleistiftskizzen. Das lange Stillhalten musste ich ertragen, und mein Porträt entstand in zwei Sitzungen mit ausgiebiger Zigarettenpause.
Am 22. Juni 1941 begann unter dem Decknamen Unternehmen »Barbarossa«, benannt nach dem deutschen Kaiser Friedrich I. Barbarossa, der Angriff der deutschen Wehrmacht auf Russland. Die Operation erfolgte von Ostpreußen im Norden bis in die Karpaten im Süden mit drei Heeresgruppen, zwei Luftflotten und 2,5 Millionen Soldaten.
Wir erfuhren es durch unsere Ausbilder im Unterrichtsraum und reagierten mit betroffenem Schweigen. Es gab keine Freudenbekundungen und keine »Hurra«-Rufe, hatten wir doch nicht damit gerechnet, dass die militärische Führung den bereits bestehenden zahlreichen Kriegsschauplätzen einen weiteren hinzufügen würde. Was würde das für uns bedeuten? Warum musste das sein? Welchem Zweck sollte dieses waghalsige, gar wahnwitzige Abenteuer dienen? Wir konnten uns keinen Reim darauf machen, nicht mit 17 Jahren hier im RAD Lager unweit der luxemburgischen Grenze. Diese äußerst bedenkliche Neuigkeit konnten wir nur stillschweigend zur Kenntnis nehmen. Aber wir spürten, dass dieser Gegner in einer anderen Liga spielte als wir es bisher kannten, dass etwas sehr Bedrohliches auf uns zukam. Wir verfolgten in den nächsten Tagen und Wochen wie gebannt die von Euphorie und Siegeszuversicht getragenen Meldungen im Rundfunk und in der Presse. Die Siegesmeldungen überschlugen sich.
Als der deutsche Angriff im Herbstschlamm erstmals ins Stocken geriet und durch den besonders frühen und starken Wintereinbruch einige Wochen später kurz vor Moskau schließlich ganz zum Erliegen kam, erhielten wir nach acht Monaten Dienstzeit im RAD kurz vor Weihnachten zehn Tage Urlaub. Auf diesen Tag hatten wir alle seit Langem sehnsüchtig gewartet, und ich kann es gar nicht beschreiben, welche Glücksgefühle in uns aufstiegen, als wir in Irrel den Zug bestiegen, um zum ersten Mal nach so langer Zeit nach Hause zu fahren. Die wenigen Briefe, die ich von Mutter erhielt, konnten mir mein Heimweh nicht nehmen und die Heimat nicht ersetzen. Jetzt war es endlich so weit, endlich!
Paul und ich wollten natürlich zusammen im gleichen Zug fahren und wählten die Verbindung über Trier-Ehrang, anschließend über Wittlich und dann entlang der lieblichen Mosel, vorbei an Cochem bis Koblenz. Der Winter hatte die Landschaft komplett mit Schnee bedeckt, und wir genossen die vorbeiziehende romantische Winterlandschaft des Moseltales in einem beheizten 2. Klasse-Waggon.
Es war bereits die dritte Kriegsweihnacht, und entsprechend mager fielen auch die Geschenke aus. Apfelsinen und andere Südfrüchte gab es schon lange nicht mehr, und Kaffee, Mehl, Zucker und auch Schuhe sowie vieles mehr bezog man bereits rationiert über Lebensmittelmarken. Es ging ruhig zu in unserem tief verschneiten Dorf. Das Leben im Ort schien still zu stehen. Arbeiten im Freien konnten wegen der extrem kalten Witterung und des starken Schneefalls nicht verrichtet werden. Private Autos gab es nicht mehr, und so fuhren auch keine über die Reichsstraße. Kleinere Kinder freuten sich auf das Schlittenfahren. Wir aber waren mit dem 17. Lebensjahr schlagartig keine Kinder mehr.
Wir hatten viel Zeit zum Nachdenken, und meine Gedanken schweiften oft in meine Kinder- und Jugendzeit ab.
Fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs wurde ich als dritter Sohn der Bäuerin Antoinette Sauer (geborene Quirbach, 1883) und des Landwirts und Kartoffelhändlers Josef Sauer, am 22. Dezember 1923 in Bassenheim bei Koblenz im Rheinland geboren und in der katholischen Pfarrkirche St. Martin auf den Namen Friedrich Gottfried getauft.
Der Name Gottfried stammte von meinem Patenonkel, einem Bruder meiner Mutter. Seitdem ich zurückdenken kann, wurde der Name Friedrich eigentlich nie ausgesprochen, sondern ich war ausschließlich der Fritz, oder »dat Fritzje«, wie man hier im moselfränkischen Dialekt sagt.
Mein ältester Bruder Hans, richtig mein Halbbruder, war Jahrgang 1908 und lebte mit meiner Mutter zehn Jahre mehr schlecht als recht allein, einquartiert bei Mutters Bruder Onkel Johann, nachdem ein junger Mann aus dem vier Kilometer entfernten Saffig meine Mutter geschwängert und trotz Eheversprechen hatte sitzen lassen, um in die USA zu gehen.
Als mein Vater Josef Sauer (geb. 1880) nach vier Jahren Krieg an der Westfront 1918 mit drei Orden dekoriert, deren Bedeutung mir später leider nicht mehr bewusst war, unversehrt nach Hause kam, heiratete er alsbald meine Mutter und adoptierte den kleinen Hans. Er gab ihm nicht nur seinen Namen, sondern behandelte ihn stets wie seinen eigenen Sohn. Dabei wurde bereits sehr früh festgelegt, dass Hans als Erstgeborener, wie es im Rheinland, aber auch in den meisten Gegenden Deutschlands üblich war, später einmal unseren landwirtschaftlichen Betrieb weiterführen sollte.
Mein zweiter Bruder Peter wurde im November 1920 geboren, und im Mai 1925 brachte Mutter mit immerhin schon 42 Jahren meinen dritten Bruder Karl zur Welt. In unserem Dorf gab es viele Familien, die den gleichen Familiennamen führten wie wir, und sie alle bekamen bis auf wenige Ausnahmen nur männliche Nachkommen, sodass meine Eltern, die gern auch ein kleines Mädchen gehabt hätten, auch mit Blick auf das fortgeschrittene Alter meiner Mutter, beschlossen, keine weiteren Kinder in die Welt zu setzen. Dabei spielten natürlich auch wirtschaftliche Aspekte eine nicht unerhebliche Rolle. Nach dem verlorenen Krieg war es in den Jahren der Weimarer Republik, die geprägt waren von Inflation und Arbeitslosigkeit, vielen Menschen nicht möglich, eine große Familie auch nur ausreichend zu ernähren, geschweige denn, diese mit den Dingen auszustatten, die für eine normale Lebenshaltung erforderlich sind.
Bestanden die Familien nach der zweiten Reichsgründung 1871 im aufstrebenden Kaiserreich noch aus durchschnittlich sechs bis zwölf Kindern, sank dieser Wert nach dem Ersten Weltkrieg etwa auf die Hälfte, wobei der Geburtenrückgang zum Teil durch die geringere Kindersterblichkeit kompensiert wurde. Denn nicht nur die Medizin, sondern auch das Sozialsystem machten nach der Jahrhundertwende zum Teil revolutionäre Fortschritte. Vor allem besserten sich die hygienischen Verhältnisse, und damit sank auch die Zahl der Sterbefälle durch Infektionen drastisch.
Meine Eltern hatten beide je sieben Geschwister, was mir eine Riesenanzahl von Cousins und Cousinen bescherte, mit denen man natürlich schön spielen konnte. Eine besondere Ausnahme war hier wiederum Onkel Peter Paul, ein Bruder meines Vaters. Die Familie wohnte einige Häuser weiter ebenfalls in unserer Straße. Ihr zur gleichen Zeit und in identischer Größe gebautes Haus Nr. 12 beherbergte allerdings ein paar Seelen mehr. Hier gab es noch eine richtige Großfamilie mit elf Kindern, sechs Jungen und fünf Mädchen. So gab es in unserem Dorf neben Weihnachten, Fastnacht, Ostern und Kirmes auch zahlreiche kleinere Familienfeiern, die sich aber hinsichtlich des finanziellen und kulinarischen Aufwands in sehr bescheidenen Grenzen bewegten.
Überhaupt war in unserem Dorf dank der vielen Kinder auf den zumeist noch unbefestigten Straßen, in Gärten, Wiesen, Feldern oder in unserem schönen Wald immer etwas los. Und so zogen und stromerten wir, wenn Vater uns nicht gerade aufs Feld mitnahm, bereits vor unserer Einschulung in die Volksschule durch Dorf und Gemarkung, immer auf der Suche nach Entdeckungen, einer interessanten Abwechslung, nach Abenteuern oder auch nur nach irgendetwas Essbarem. Von Mai bis Oktober wussten wir stets, wo es die ersten Erdbeeren, Himbeeren und Kirschen bis hin zu den letzten Brombeeren, Pflaumen, Birnen, Nüssen und Äpfeln gab.
Unweit von unserem Haus in der Von-Oppenheim-Straße Nr. 1 befand sich die gut ausgebaute asphaltierte Reichsstraße. Diese führte von Koblenz kommend über Metternich, Rübenach, Bassenheim, Ochtendung, Mayen, vorbei am Nürburgring, der 1927 fertig gestellt wurde, weiter über Blankenheim, Schleiden, Monschau bis nach Aachen. Hier konnten wir natürlich ab und an durchfahrende Autos bestaunen, welche in späteren Jahren bei den großen Eifelrennen, insbesondere beim Großen Preis von Deutschland, vermehrt durch unseren Ort fuhren. Aber Automobile waren damals noch eher selten.
Die Reichsbahn war das gängige Transportmittel, und so wurde die Reichsstraße in der Regel mehr von Pferde und Ochsengespannen, einigen Lkws und fahrenden Händlern, Kesselflickern und Korbflechtern, fahrendem Volk und sonstigen Gesellen benutzt. In dieser Zeit bewältigte man noch viele Reisen zu Fuß, und so wanderten unsere motorsportbegeisterten Dorfbewohner per pedes die 41 Kilometer zum Großen Preis auf dem Nürburgring, wo sich damals so namhafte Hersteller wie Autounion, Mercedes Benz, Alfa Romeo, Bugatti und Ferrari harte Kämpfe lieferten.
Ich kann mich auch noch sehr gut an ein Ereignis von ganz anderer Art erinnern. Mit gerade mal sechs Jahren, noch vor meiner Einschulung, entdeckte ich Zigeuner, die von Ochtendung her kommend durch unser Dorf zogen. Das war natürlich spannend. Diese Leute sahen anders aus, waren anders gekleidet, sprachen anders, hatten viele Kinder dabei und ein kleines zotteliges Pferd, wie wir es hier im Dorf in dieser Art noch nie gesehen hatten. Wahrscheinlich war es eine Art Pony, das ein kleines, rauchendes Häuschen auf zwei Rädern hinter sich her zog. Meine Neugierde war spontan geweckt, und Sekunden später saß ich schon in diesem Gefährt. Die Leute waren nett und lustig. Eine ältere Frau rauchte eine lange Pfeife und während des Spielens mit deren Kindern vergaß ich über einen längeren Zeitraum das Aussteigen. Zu Beginn unseres Dorfes eingestiegen, sah ich plötzlich, wie unser weit außerhalb vom Ortsrand auf der gegenüberliegenden, östlichen Seite gelegener Bahnhof an mir vorbeizog. Nun verließ mich schlagartig der Mut. Ich sprang schleunigst von dem gemächlich in Richtung Koblenz fahrenden, faszinierenden Gefährt ab. Noch im Weglaufen sah ich, dass die lustige Gesellschaft um ein paar Hühner und eine Gans gewachsen war. Die zwei Kilometer Fußmarsch zurück ins Dorf bis zu unserem Haus bewältigte ich locker und in kürzester Zeit. Zu Fuß gehen oder laufen war für uns kein Problem.
Mittlerweile hatte sich im Dorf herumgesprochen, dass das kleine »Fritzje« von den Zigeunern mitgenommen und verschleppt worden sei. Man suchte mich überall und machte sich große Sorgen. Dass ich aus Neugier selbst in den Wagen geklettert war, verschwieg ich angesichts der Schelte, die über mich hereinbrach, als ich nach Hause kam. Sogleich suchten die Eltern meine kurz geschorenen Haare nach Läusen ab, wurden aber zum Glück nicht fündig. Ich jedenfalls kam durch dieses Abenteuer bereits in sehr jungen Jahren zu meinem ersten größeren und noch dazu kostenlosen Ausflug.
Aufgrund der Tatsache, dass ich spät im Dezember 1923 geboren worden war, erfolgte meine Einschulung in die Volksschule Bassenheim erst Ostern 1930 zum Jahrgang 1923/24. Eingeschult wurde damals immer an Ostern, nicht wie heute nach den großen Sommerferien. Nach den Osterferien begann an gleicher Stelle das neue Schuljahr, sofern man nicht auf eine höhere Schule wechselte oder eine Berufsausbildung begann. Die Volksschule bestand damals aus acht Klassen, reichte also vom ersten bis zum achten Schuljahr. Wer zu leistungsschwach war und den Lernstoff nicht bewältigte, blieb sitzen und musste die Klasse einfach wiederholen.
Unsere Volksschule lag an der Saffiger Straße, unmittelbar oberhalb unseres schönen Schlossparkes. Natürlich gingen alle Schülerinnen und Schüler zu Fuß zur Schule, auch die von den umliegenden Höfen unserer Gemarkung oder den Häusern rund um unseren recht weit außerhalb des Ortes liegenden Bahnhof. Mein Elternhaus stand aber zum Glück nur 500 Meter von unserer Schule entfernt.
Kurzum, wir wohnten in einem wunderschönen, in Natur und Landschaft eingebetteten Dorf, eigentlich wie im Paradies, wäre da nicht das harte, entbehrungs- und arbeitsreiche Leben in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit gewesen. Allerdings hatte sich die Infrastruktur dank der 1904 neu erbauten Eisenbahnlinie Koblenz–Mayen–Daun–Gerolstein, an die unser Ort mit einem neuen, großen Bahnhof angebunden war, wesentlich verbessert, was auch einen bescheidenen wirtschaftlichen Aufschwung zur Folge hatte.
Allerdings war unsere landwirtschaftlich geprägte Gemeinde im Vergleich zu ihren Nachbargemeinden Ochtendung, Mülheim, Kärlich, Saffig und Kettig deutlich ärmer, obwohl die Gemarkung erheblich größer war. Neben den klassischen Handwerksberufen Bäcker, Metzger, Friseur, Hufschmied, Schreiner, Schuster, Dachdecker, Klempner oder Zimmermann, gab es im Dorf überdurchschnittlich viele Familien, die überwiegend von der Landwirtschaft lebten, und der Grundbesitz der Bauern war durchweg recht bescheiden. Das hatte einen einfachen Grund: Bassenheim stand seit dem frühen Mittelalter unter der Herrschaft der Ritter Walpot von Bassenheim, einem berühmten, einflussreichen und wohlhabenden Rittergeschlecht, das im 18. Jahrhundert in den Reichsgrafenstand erhoben wurde. Dies hatte eine aufwendige Hofhaltung zur Folge, deren Kosten von den Pächtern der verschiedenen Grundherrschaften, die sich im Besitz des Hauses befanden, getragen werden mussten. Auf diese Weise häuften die adeligen Herrschaften ein im wahrsten Sinn des Wortes fürstliches Vermögen an, während ihren Untertanen kaum das Nötigste zum Leben blieb. Dieser Reichtum ist in Bassenheim auch heute noch sehr gut an dem schönen Schloss zu erkennen, zu dem nicht nur ein großer Park und mehrere Seen, sondern auch 1000 Hektar Wald und 1000 Hektar fruchtbares Ackerland einschließlich dreier Gehöfte mit Försterei gehören.
Der Alltag für die Kinder und Jugendlichen in meinem Alter war durchweg bescheiden und arbeitsreich. Doch nutzten wir ab und an selbst erfundene Abwechslungen, die wir wiederum spannend zu gestalten wussten.
In der Regel gingen wir ganz normal tagein, tagaus in unsere Volksschule. Standen Arbeiten zu Hause oder im Feld an, mussten wir mithelfen. Ob wir dazu Lust hatten oder auch nicht, interessierte niemanden. Meistens hatten wir natürlich keine Lust und wären lieber im Dorf, im Wald, in der Flur oder auf unserem Sportplatz spielen gegangen. Mühselig war besonders die Kartoffelernte. Damals musste man diese Feldfrüchte noch mit den Händen in gebückter Haltung aufheben und die einen Zentner schweren Säcke heben, und das war für uns Kinder schon recht schwer.
Ich höre noch heute meinen Vater sagen, »Fritzje, wenn du fleißig Kartoffel ›raffst‹ (aufhebst), dann bekommst du an Weihnachten eine neue Hose«. Im nächsten Jahr waren es neue Schuhe. Ich hätte sowieso neue Hosen und Schuhe gebraucht, und ich glaube, ich hätte sie von meinen Eltern auch ohne Kartoffeln aufzuraffen bekommen.
Weihnachten war sehr feierlich, die Geschenke hingegen eher bescheiden. Unglücklicherweise hatte ich auch noch am 22. Dezember Geburtstag. So wurden die Geschenke der Einfachheit halber mit den Weihnachtsgaben zusammengelegt, wodurch sich diese leider aber auch nicht vermehrten.
In späteren Jahren wussten wir natürlich, dass nicht das Christkind, sondern die Eltern für die Geschenke sorgten. Trotzdem spielte unser Hans weiter den Knecht Ruprecht und warf draußen vom Hof aus durch das offene Küchenfenster ein paar Hände voll Nüsse, Äpfel und auch Apfelsinen ins Haus. Dazu gab es dann die versprochene Hose oder ein paar neue Schuhe, außerdem von Mutter selbst gestrickte Socken und eine Tafel Schokolade.
Um nochmal auf die Kartoffeln zurückzukommen, möchte ich erwähnen, dass deren Anbau der Haupterwerb unseres Betriebes und somit entscheidend für unseren Lebensunterhalt war. Wie bereits erwähnt, besaßen die Bassenheimer Landwirte, bedingt durch die großen herrschaftlichen Ländereien, wenig eigenen Grund. Von dessen Ertrag mussten oft große Familien mehr schlecht als recht leben. Auch wir hatten acht Morgen eigenes Land. Das waren nur zwei Hektar und eigentlich sehr wenig. Die restlichen Morgen pachteten wir deshalb noch von der katholischen Kirche dazu.
Und weil mein Vater bereits Mitte der Zwanzigerjahre neben dem Kartoffelanbau eine Kuh, Hühner und Schweine hielt und dazu einen Kartoffelgroßhandel aufbaute, konnten wir einigermaßen auskömmlich leben und uns sogar zwei stolze Pferde leisten. Da zu der Zeit noch viele andere Bauern mit nur einem Pferd oder gar mit Ochsen und Kühen ins Feld fuhren, schätzten wir uns glücklich. Die Pferde wurden nicht nur für die übliche Feldarbeit eingesetzt, sondern auch für die Vermarktung und den Transport unserer Kartoffeln an die Kunden. Diese befanden sich überwiegend in Koblenz und Umgebung.
Das lief relativ reibungslos und wie folgt ab: Tagsüber wurden Kartoffeln geerntet und abends auf unserem Leiterwagen im Hof bereitgestellt. Florierte das Geschäft, kauften wir von anderen Bauern Kartoffeln dazu. Nachts zwischen 2 und 3 Uhr stand Vater oder mein Bruder Hans auf, spannte ein Pferd an, und ab ging die Fahrt nach Koblenz, wo man in aller Frühe eintraf. Mitten auf dem Platz »Am Plan« wurde dann an der Pferdetränke Halt gemacht. Das Pferd bekam seinen Hafersack und konnte dort seinen Durst stillen. Anschließend wurden die Kartoffeln bei den Kunden ausgeliefert, die überwiegend in der Altstadt wohnten. Verkauft wurde sowohl an die Gastronomie als auch an Privatleute.
Unser Leiterwagen ließ sich in der Länge variieren. »Kurz gestellt«, konnte man bis zu 25 Zentner transportieren. Wir erlösten für die angelieferten Kartoffeln pro Zentner zwei Reichsmark mehr als die normale Vermarktung einbrachte. Das war für uns ein enormer Verdienst von zusätzlich fünfzig Reichsmark. Nachdem sich Qualität und Zuverlässigkeit herumgesprochen hatten, wurden die Aufträge umfangreicher, und wir konnten größere Mengen liefern. Dazu wurde unser Leiterwagen »lang gestellt«, also wie bei einem Ausziehtisch auseinander gezogen. Das bedeutete, dass wir auf dem Wagen nunmehr vierzig Zentner transportieren konnten, und die zusätzlichen Einnahmen erhöhten sich somit pro Fuhre auf achtzig Reichsmark.
Für die größere und schwerere Ladung mussten jedoch beide Pferde vorgespannt werden, da ein Pferd allein den schweren Wagen nicht über den Anstieg der Koblenzer Straße bis auf die Höhe unseres Bahnhofes ziehen konnte. Von dort aus ging es zwölf Kilometer eben oder sogar leicht abschüssig bis ins Stadtzentrum. Da am nächsten Tag jedoch wieder ein Pferd für die Feldarbeit gebraucht wurde und Vater den Schlaf für die schwere Arbeit benötigte, wurde ich nachts von Hans geweckt. Ich musste ja morgens nur in die Schule!
Also stand ich mit acht Jahren um 2 Uhr in der Früh mit auf, spannte gemeinsam mit meinem Bruder die Pferde an, und ab ging die Fahrt. Nach zwei Kilometern auf der Höhe angekommen, wurde ein Pferd ausgespannt, und ich ritt auf diesem Pferd wieder zurück nach Hause. Es war für mich total spannend, so jung bei tiefster Dunkelheit allein durch die Nacht zu reiten. Außer dem Klappern der Pferdehufe hörte man in dieser einsamen Stille keine weiteren Geräusche. Allein die leuchtenden Sterne und der Mond waren in diesen Nächten unsere Begleiter. Dennoch hatte ich keine Angst. Es überkam mich eher ein erhabenes und stolzes Gefühl, weil man mir ein so kostbares Tier anvertraute. Erst in späteren Jahren wurde mir bewusst, wie konsequent uns unsere Eltern im Geist von Verantwortung und Leistungsbereitschaft erzogen hatten.
Zu Hause angekommen versorgte ich zuerst das Tier und legte mich schnell bis zum Wecken ins Bett. Natürlich musste ich nicht jede Nacht antreten. Mal war mein zwei Jahre älterer Bruder Peter an der Reihe, mal gab es keine Aufträge. Aber wenn ich Schulferien hatte, durfte ich fast immer mit den Kartoffeltransporten in die Stadt fahren. Das war für mich natürlich Spannung pur. Ich kam aus unserem Dorf hinaus in die für mich damals große weite Welt.
Schon in Rübenach und mehr noch in Metternich wurden die Häuser größer und prächtiger. Auf den schönsten und größten Villen in Metternich waren Jahreszahlen von 1908 bis 1913 zu lesen. In dieser letzten Phase vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Wirtschaft geblüht, und viele Bürger waren reich geworden. Weiter fuhren wir dann durch den Koblenzer Stadtteil Lützel mit seinen prächtigen Jugendstilhäusern, dann über die aus dem 14. Jahrhundert stammende Balduinbrücke über die Mosel in die Altstadt. Stadteinwärts erblickte man links die alte Burg und gegenüber auf der rechten Seite den Bassenheimer Hof mit der anschließenden Dominikanerkirche.