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Stille ist vom Aussterben bedroht. Überall wird besprochen, diskutiert, geredet. Wir checken schon vor dem Aufstehen unsere E-Mails, der Weg zur Arbeit wird begleitet von unserer Musik-Playlist. Doch Lärm und innere Unruhe sind ungesund, machen uns unproduktiv und belasten unsere Beziehungen. Höchste Zeit, zur Ruhe zu kommen – denn Stille ist eine wahre Zauberkraft, die unser Wohlbefinden und unsere Leistungsfähigkeit verbessern kann. In diesem Ratgeber zeigt der Psychologe und Hochschullehrer Dr. Christoph Augner, welche Vorteile die Stille bietet und wie man sie nutzen kann, um gelassener zu werden, sich besser zu konzentrieren, körperlich und mental gesünder zu werden und die innere Balance wiederzufinden.
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Seitenzahl: 187
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Einleitung
Warum wir Ruhe vermeiden
Was wir verlieren
Einfühlungsvermögen und Hilfsbereitschaft
Chronische Hyperaktivität
Konzentrationsfähigkeit
Erlebnisfähigkeit
Erfüllende Beziehungen
Verlust von Privatheit
Wie sehr uns die Unruhe schadet
Warum wir die Ruhe brauchen
Ruhe bedeutet auch innere Ruhe
Ruhe als Lebenskompetenz
Ruhe macht uns produktiver
Ruhe lässt uns bessere Entscheidungen treffen
Ruhe hält uns gesund
Die Ruhe kultivieren
Alte Meister der Ruhe
Die eigene stille Umwelt gestalten
Lebensbereiche verbinden
Innere Ruhe bringt Klarheit
Allein sein und schweigen können
Ruhe ist Konzentration
Impulse für mehr Gelassenheit
Ruhe lernen, Ruhe nutzen
Entrümpeln
Schweigen
Rausgehen
Mit sich sein
Vergeben
Biedermeiern
Schlafen
Schreiben
Genießen
Notfallset Ruhe
Zum Schluss
Dank
Tipps zum Weiterlesen
Quellen
Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Zivilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Tätigen, das heißt die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört deshalb zu den notwendigen Korrekturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in großem Maße zu verstärken.
Friedrich Nietzsche, Philosoph, 19. Jh.
2009, es ist ein schöner Januarnachmittag in New York. Kapitän Chesley B. Sullenberger und sein Co-Pilot machen den mit 150 Passagieren besetzten Airbus für einen Inlandsflug startklar. Nichts deutet auf eine drohende Katastrophe hin. Umso größer ist der Schock: Im Steigflug kollidieren Vögel mit dem Flugzeug. Beide Triebwerke fallen aus, eine Horrorvorstellung für jeden Piloten.
„Ich hatte so viel Angst wie noch nie in meinem Leben“, wird Sullenberger später sagen. Dennoch verfällt er nicht in Panik oder in eine Schockstarre. „Das Erste, was wir tun mussten, war, uns zur Ruhe zu zwingen“, analysiert er Jahre nach dem Ereignis. Dann ging es darum, die Disziplin zu haben, das Wichtigste zu tun und alles andere zu ignorieren. Ruhig bleiben, Fokus auf die Prioritäten, Aufgabe für Aufgabe durcharbeiten.
Sullenberger und sein Copilot Jeffrey Skiles prüfen rasch die verbleibenden Optionen. Ihnen ist klar: Eine Rückkehr zum Flughafen La Guardia wird scheitern. Die Flugsicherung bietet per Funk die Landung auf einem nahegelegenen Flugplatz an. „We are gonna be in the Hudson“, hört man Sullenberger auf dem Mitschnitt des Funkverkehrs sagen. Der Mitarbeiter am Boden ignoriert diese Aussage und spricht weiter von der Notlandung am Flughafen. Später wird er sagen, er wollte nicht wahrhaben, was er da gehört hat. Kapitän Sullenberger hat entschieden, das Flugzeug auf dem New Yorker Hudson River zu landen – im Wasser. Das riskante Manöver gelingt, alle Passagiere können gerettet werden, wie durch ein Wunder wird kaum jemand schwerer verletzt. Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Flugzeug auf einem der herbeigefahrenen Boote, nachdem er sich zweimal vergewissert hat, dass alle die Unglücksmaschine verlassen haben.
Sullenberger wurde gefragt: „Wie konnten Sie so ruhig bleiben?“ – „Weil die Crew so ruhig war“, antwortete er. Ruhe ist ansteckend. Tatsächlich brach trotz der dramatischen Ereignisse an Bord keine Panik aus. Innere Ruhe gab „Sully“ Sullenberger die mentale Kraft, um die wichtigen Aufgaben zu erkennen und durchzuführen. Er ließ sich nicht ablenken von seiner Todesangst. Er ignorierte all die elektronischen Signale, Hinweise, Datenübermittlungen, die in einem modernen Cockpit den Routineflug erleichtern. Das alles konnte ihm in dieser Situation nicht helfen.
Sich zur Ruhe zwingen können: Sullenberger, seine Crew und 150 Passagiere verdanken dieser Fähigkeit ihr Leben. Die Macht der Ruhe zeigt sich aber nicht nur in lebensbedrohlichen Situationen, in denen Piloten oder Chirurgen Leben retten. Jeder von uns kann im normalen Alltag sein stilles Potenzial abrufen. Wer vor und während einer schwierigen Prüfung oder einer wichtigen Aufgabe fokussiert bleiben will, muss die Angst vor dem Versagen kontrollieren können, beiseiteschieben. Er muss sich zur Ruhe zwingen können.
Ein Kunde beschimpft einen Verkäufer, er ist offensichtlich außer sich, weil ihm ein defektes Produkt verkauft wurde. Der Verkäufer ist nicht verantwortlich dafür, er hat keinen Fehler gemacht. Er hätte allen Grund, ebenfalls wütend zu werden und zurückzuschreien. Er zwingt sich zur Ruhe. Er versetzt sich in die Lage des Kunden, zeigt Verständnis, weist auf Lösungsmöglichkeiten hin, macht verschiedene Angebote. Er gibt dem Kunden das Gefühl, wieder die Kontrolle zu haben. Es dauert mehrere Minuten, bis er den wütenden Mann beruhigt hat. Doch dann gibt es eine konstruktive Lösung. Am Ende verlässt der Kunde zufrieden das Geschäft. Das ist die Macht der Ruhe.
Der Arbeitstag war lang, ein Problem, das man lösen wollte, hat sich nur verschärft. Entnervt macht man sich auf dem Heimweg, grübelt über die Arbeit nach. Zu Hause gibt es gleich Streit mit dem Partner, weil man so schlecht gelaunt und geistig abwesend ist. Später wälzt man sich im Bett hin und her, an Schlaf ist trotz Müdigkeit nicht zu denken. Viele von uns kennen diese Situationen. Die Macht der Ruhe beginnt damit, sich in der Freizeit gedanklich von arbeitsbezogenen Inhalten zu lösen. Abschaltenkönnen nach der Arbeit – das ist eine wichtige Fähigkeit, die uns zur Ruhe kommen lässt. Die Fachliteratur nennt das psychological detachment. Wer zu Hause die negativen Arbeitsinhalte nicht loslassen kann, schläft schlechter, neigt eher zu Depressivität und körperlichen Problemen. Wer viel zu tun hat, kann die Müdigkeit und Erschöpfung durch das Abschalten reduzieren und seine Beziehungsqualität verbessern. Loslassenkönnen, das ist die Macht der Ruhe.
Als der römische Politiker Serenus über die großen und kleinen Unzulänglichkeiten im Leben und seine innere Unruhe klagt, gibt ihm der Philosoph Seneca eine denkwürdige Antwort. Er spricht davon, die Seelenruhe, die Gemütsruhe, die Bestandsfestigkeit der Seele wiederherzustellen. Es gehe darum, der Seele zu einem „gleichmäßigen und heilsamen Gang“ zu verhelfen, sodass sie „im besten Einvernehmen mit sich“ steht und „immer im Zustand friedlicher Ruhe“ verbleibt, „sich weder überhebend noch herabwürdigend“.
Seelenruhe ist in diesem Sinne eine innere Ruhe, die weitgehend unabhängig ist von den äußeren Wechselfällen des Lebens. Sie ist ein Zustand der mentalen Stärke, aber auch der inneren Balance. Sie verschafft Widerstandsfähigkeit in schwierigen Lebenssituationen, sie hilft aber auch, den Aufmerksamkeitsfokus auf das Wichtige auszurichten. Innere Ruhe verhindert, dass man durch äußere Reize, den Lärm und die Ablenkungen des Alltags durch den Tag getrieben wird. Sie macht uns die zeitliche Begrenztheit des Lebens, unseres Handlungsspielraums bewusst und relativiert die Wichtigkeit jener Dinge, denen wir im Alltag allzu viel Bedeutung beimessen.
Wer innerlich ruhig ist, muss nicht mehr schreien, um alles andere zu übertönen. Wer innerlich ruhig ist, sucht Orte auf, wo es still ist, schöpft Kraft aus einer ruhigen Wohnumgebung, wirkt beruhigend auf seine Mitmenschen. Wer innerlich ruhig ist, schafft eine Umgebung, die äußere Ruhe begünstigt. Wenn es außen ruhig ist, wird wiederum die Entwicklung innerer Ruhe leichter.
In den folgenden Abschnitten geht es darum, unserem Leben die ruhigen Momente zurückzugeben. Sie zu konservieren, wertzuschätzen und weiterzuentwickeln – im vollen Bewusstsein um ihre Bedeutung für ein gelingendes, ein gutes Leben, ein Leben aus ganzem Herzen und mit voller Seele.
Innere Ruhe ist eine machtvolle Kraft, die uns hilft, unser Leben positiv zu gestalten, leistungsfähig und gesund zu bleiben. Dennoch verbringen die meisten von uns den größten Teil ihres Lebens damit, davor wegzulaufen. Darum geht es im Kapitel Warum wir Ruhe vermeiden.
Wir machen die Nacht zum Tag, checken schon vor dem Aufstehen Mails und Newsfeeds. Der Weg zur Arbeit ohne Ohrstöpsel und Musik von der Playlist? Undenkbar. Wir hetzen von Termin zu Termin, besprechen, diskutieren, reden. Wieder zu Hause plaudern wir mit elektronischen Haushaltshilfen. Dann schlafen wir irgendwie mit dem Handy in der Hand vor dem Fernseher ein. Wir lassen uns mitreißen vom Lärm aus unserer Umwelt, sind Getriebene sinnloser Ablenkungen und Sklaven der medial vermittelten Aufgeregtheiten. Wir kommen nicht zur Ruhe, weil wir es selbst gar nicht zulassen. Das untergräbt unsere Leistungsfähigkeit, unser Wohlbefinden, unsere Beziehungen, wir verlieren an Tiefgang. Davon handelt das Kapitel Was wir verlieren.
Die Fähigkeit zur Ruhe ist eine Lebenskompetenz. Noch nie war sie so wichtig wie heute, noch nie wurde sie so vernachlässigt. Innere Ruhe macht uns produktiver, sie lässt uns bessere Entscheidungen treffen, sie hält uns gesund. Ich möchte darauf im Kapitel Warum wir die Ruhe brauchen eingehen.
Es war ein folgenschwerer Moment in der Fußballgeschichte, als sich Gareth Southgate im Elfmeterschießen des EM-Halbfinalspiels 1996 hastig den Ball auflegte. Sekunden später war England ausgeschieden, weil Southgate verschossen und der deutsche Schütze Andreas Möller sicher verwandelt hatte. „Ich hatte zu viele Stimmen im Kopf“, erklärte der Engländer später seine Unruhe und Nervosität. Er nutzte später sein eigenes Versagen, um als Trainer seine Mannschaft erfolgreich auf solche Situationen vorzubereiten.
In wichtigen Situationen ruhig bleiben: Das hilft nicht nur im Profisport, in der Wissenschaft und in der Kunst. Auch im normalen Alltag können wir uns etwas vom Umgang von Fußballern, Biathleten, Forschern, Schriftstellern, Therapeuten mit der Ruhe abschauen und für uns nutzen. Innerlich ruhig zu sein, fällt uns oft so schwer. Dabei braucht es oft nur ein paar kleine Änderungen in unserem Tagesablauf, die Ritualisierung von kurzen Phasen des Alleinseins, einen regelmäßigen Spaziergang oder die Bewusstmachung von inneren Haltungen. All das beschäftigt uns in dem Kapitel Die Ruhe kultivieren.
Das Buch ist keine reine Handlungsanleitung und kein Programm. Ich sage Ihnen hier nicht, was sie tun sollen – da gibt es schon genug Bücher, die das versuchen. Ich bin überzeugt, man muss ein Phänomen verstehen, damit man es nachhaltig verändern kann. Dafür braucht es Geduld, Hartnäckigkeit, Kreativität. Sie als Leserin, als Leser entscheiden selbst, welche Geschichten, Gedanken, Impulse, Ideen Sie für Ihren ruhigeren Alltag und ein qualitätsvolles Leben nutzen möchten. Darum geht es im Kapitel Impulse für mehr Gelassenheit.
Doch manchmal braucht man akut mehr Ruhe und einen entspannten Moment, ohne gleich groß über das Leben nachdenken zu können oder zu wollen. Genau für solche Momente habe ich Ihnen im letzten Kapitel ein kleines Notfallset Ruhe zusammengestellt, das Sie jederzeit und ganz unkompliziert verwenden können. Manchmal reichen ganz kleine Anstöße und Tipps (in der Psychologie spricht man gerne von nudges, „Stupsern“ oder micro habits, „kleinste Gewohnheiten“), um große Wirkung zu erzielen.
Ihr
Dr. Christoph Augner
Viele von uns wünschen sich, mehr „Ruhe zu haben“ oder auch einmal einfach „in Ruhe gelassen zu werden“. Meistens gelingt das nicht. Kein Wunder, denn wer Stille sucht, geht in direkte Konfrontation zu einer Welt, in der Lärm und Aktivität alles ist; einer Welt, die die Rastlosen, die Lauten, die Hektischen belohnt und die Ruhigen, die Überlegten, die Gelassenen als unproduktiv abkanzelt.
Paradoxerweise sind die Zustände, in denen wir am ruhigsten sind, die Zustände, die uns am stärksten beunruhigen.
Stephan Grünewald, Psychologe
Es ist nur eine halbe Stunde von der Stadt hier herauf in das Wellnessresort. Das lange Wochenende nutzen viele, um vor Stress, Hektik, Alltag zu flüchten und einmal abzuschalten. Doch abschalten, wie geht das eigentlich, frage ich mich an diesem Freitagnachmittag in Badehose auf dem Liegestuhl – umhüllt von sanfter Lounge-Musik im sogenannten Ruheraum. Was ich sehe, liefert keine brauchbare Antwort. Ich beobachte ein junges Paar, das gerade den Raum betritt und so laut flüsternd nach einem Platz sucht, dass Flüstern eigentlich keinen Sinn mehr macht. Schließlich werden Liegen verschoben, Tischchen verrückt. Als ich endlich wieder in mein Buch versinke, erkundigt sich eine Frau bei mir, wo die Saft-Bar ist. Vor mir liegt eine ältere Dame, die unentwegt in ihr Seniorenhandy drückt – leider sind die Tastentöne an.
Ich entschließe mich, ins Wasser zu gehen und eine Runde zu schwimmen. Da gehen mir zwei Fragen nicht mehr aus dem Kopf: Warum ist es so schwierig, ruhig zu sein, selbst an einem Ort, der genau dafür da ist – wie ein Ruheraum im Wellnessbereich? Und: Bringt es überhaupt einen Nutzen, wenn man ruhig ist, oder ist das ohnehin etwas für Langweiler?
Die Art wie wir leben legt nahe, dass Ruhe weitgehend nutzlos ist. Wie sonst wäre es zu erklären, dass wir alles daransetzen, ihr zu entkommen? Schnell kommt Langeweile, ja Leere auf, wenn wir einmal nicht von Werbetafeln, Hintergrundmusik, Lautsprecherdurchsagen, grellen Lichtern umgeben sind. Wenn dann auch noch die Smartphone-Internetverbindung ihren Geist aufgibt, blicken wir hilflos umher: Was jetzt?
Zeiten ohne äußere Impulse oder auch nur mit Fokus auf eine einzige Sache sind die Ausnahme geworden. Das hat gute Gründe. In einer globalen Welt des Konsums von Waren und Dienstleistungen ist Aufmerksamkeit das wichtigste Gut. Wem es gelingt, die Aufmerksamkeit der Konsumenten zu erreichen, wird wirtschaftlich erfolgreich sein. Wer als Anbieter im Strudel des Informationsüberflusses untergeht, hat es schwer.
Die Folge für uns ist eine Aufmerksamkeitskrise, wie der amerikanische Philosoph Matthew Crawford schreibt. Die ständigen Ablenkungen und Zerstreuungen führen zu einer Kultur der Unterbrechung. Kaum ein Gedanke, der zu Ende gedacht wird, kein Gespräch, das nicht unterbrochen wird – durch einen Smartphone-Alert, einen Anruf, eine Textnachricht. Es fällt uns immer schwerer, bei der Sache zu bleiben, etwas wirklich durchzudenken oder auch einmal nur zu sich selbst zu kommen. Crawford spricht von einer „Adipositas der Psyche“, unter der wir leiden. Während bei der herkömmlichen Fettsucht immer mehr Fett gespeichert wird, die der Körper gar nicht braucht, sammelt das Gehirn hier exzessiv Informationen ohne Maß und Ziel, ohne die Möglichkeit, etwas davon noch zu verarbeiten.
Es entsteht das Gefühl, dass wir entspannen müssen – eine Sehnsucht nach Ruhe und Stille. Doch wenn es soweit ist, zücken wir erst recht wieder das Handy, suchen nach äußerer Ablenkung und Zerstreuung. Aus Angst vor Langeweile? Wahrscheinlich. Doch das Unbehagen geht tiefer. Der Benediktinerpater Anselm Grün sagt: „In der Stille kommt das Wesen der Dinge zum Vorschein.“ Die Angst vor der Ruhe ist auch eine Angst vor der „inneren Wahrheit“, vor der Auseinandersetzung mit unseren negativen Seiten, unseren Schwächen unseren Unzulänglichkeiten.
Und nicht zuletzt geht es um den Verlust von Orientierung. „Was soll ich tun?“, war die moralische Leitfrage des Philosophen Immanuel Kant. Moralische Leitplanken, die allgemein akzeptiert sind, haben sich weitgehend aufgelöst. „Was soll ich tun?“ bleibt aber eine zentrale Frage in vielen Lebenslagen. Also schauen wir einfach, was andere machen. Wir kopieren Lebensstil, Kleidung, Essen, Arbeit, Urlaub. Wir machen von allem Fotos, stellen sie online – und geben damit wieder anderen Orientierung, was gut ist und was nicht. Sind wir mit uns allein – in Ruhe –, fällt das alles weg. Ohne äußere Impulse sind wir orientierungslos. Ein Zustand von Ruhe oder Reizarmut ist uns unangenehm und macht uns Angst.
Nicht zuletzt auch deshalb, weil Ruhe kein gutes Image hat. Reden und Kommunizieren gilt dagegen als wünschenswert. In allen Lebensbereichen: Sprechen Sie viel, über sich, Ihre Gefühle, lassen Sie alles raus! Auch im Betrieb lautet die Devise, wer lauter ist, gewinnt. Aussagen wie „Es wird zu wenig miteinander gesprochen“, „Wir brauchen mehr Kommunikation“, „Es muss einen besseren Informationsfluss geben“, oder auch „Wir müssen unsere Message besser rüberbringen“ gehören zu den Lieblingsfloskeln im Business.
Ruhe dagegen hat etwas Antisoziales. Schweigen bedeutet Unwissenheit, Schüchternheit, Langeweile. Jemand, der nichts sagt, ist irrelevant, gar nicht da. Schweigen versuchen wir um jeden Preis zu vermeiden. Wenn beim ersten Date beide nichts sagen, wird eine Minute zur Ewigkeit. Es ist peinlich, verursacht körperliches Unbehagen. Es ist grotesk: In solchen Situationen flüchten wir in unsere mobilen Kommunikationsmittel. Und schreiben auf WhatsApp: „Der sagt nichts.“
In vielen Fällen nutzen wir die modernen Kommunikationsmittel nicht, weil es nötig ist, sondern weil sie zur Verfügung stehen. Als Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA die Infrastruktur für das Telegrafieren entwickelt wurde, meinte der Schriftsteller Henry David Thoreau sinngemäß: Schön und gut, wenn Maine und Texas schnell miteinander kommunizieren können, nur: Was haben die sich schon Wichtiges zu sagen? Nun, es muss ja nicht immer etwas Wichtiges sein und es ist auch nichts falsch dabei, digitale Medien zu nutzen. Es geht nur darum, sich nicht benutzen zu lassen und eben auch Pausen einzulegen.
Mit sich allein sein, zur Ruhe kommen, eine Phase ohne äußere Impulse, das klingt nach längst vergangenen Zeiten. Psychologen und Psychiater bringen Stille und Alleinsein mit Einsamkeit in Verbindung. Und Einsamkeit macht krank, sagen sie. Stille als pathologisches Problem, das behandelt werden muss. Schüchternheit, soziale Angst und Isolation, Persönlichkeitsstörungen und Vermeidungsverhalten sind die krankhaften Folgen des Alleinseins und der Ruhe bei Erwachsenen.
Aber auch Kinder, die gern alleine spielen, geraten oft ins Visier der Seelenärzte. Denn normal ist nur, wer laut ist und immer mit anderen spielen will. Wer Kinder genau beobachtet, merkt bald, dass das nur eine Seite der Medaille ist. Auch sie brauchen Rückzugsmöglichkeiten, Zeit der Verarbeitung. Am Ende eines lauten Nachmittags mit den Freundinnen sagt meine vierjährige Tochter wörtlich: „Ich will jetzt meine Ruhe haben“ und zieht sich für eine halbe Stunde zum Bilderbücheranschauen in ihr Zimmer zurück.
Ruhe, Stille, Zeit ohne äußere Impulse – das kann aber nicht nur krankhaft sein, sondern (und das ist in unserer Wirtschaft das Allerschlimmste) es sieht nach mangelnder Produktivität aus. Daher haben wir uns im modernen Büroleben eine Welt geschaffen aus Smartphones, Laptops, Tablets. Der Alltag besteht aus oberflächlicher Geschäftigkeit: Termine, Meetings, Videokonferenzen, PowerPoint-Präsentationen bestimmen den Alltag. Und nicht zu vergessen: eine geradezu zwanghafte Beziehung zu E-Mails. Das hat Folgen, meint der amerikanische Autor Nicolas Carr. Ständig online zu sein verändert, wie unser Gehirn arbeitet. Die tiefe Verarbeitung von Informationen und längere Konzentration auf einen Sachverhalt wird schwieriger. Wir scannen Informationsstücke, suchen nach Schlagwörtern, scrollen weiter, folgen einem Link und immer so weiter.
Legt man dagegen nach einer Stunde einen spannenden Roman beiseite, braucht man – ganz versunken in die Handlung – ein paar Minuten, um sich Neuem zuzuwenden. Am liebsten möchte man das Gelesene sofort jemandem erzählen. Die ruhige Konzentration auf eine Sache ist der oberflächlichen Verarbeitung in vielen Fällen überlegen. Nach einer Stunde Onlinesurfen hat man oft das Gefühl, gar nichts getan zu haben, es fällt schwer, noch irgendetwas von den Inhalten wiederzugeben. Manchmal kann man sich kaum erinnern, wonach man ursprünglich gesucht hat.
Durch diesen Lebensstil der virtuellen Intensität bringen wir uns immer mehr um nötige Ruhe in unserem Leben und damit auch um Momente tiefer Konzentration, aber auch um Momente tiefen emotionalen Erlebens. Flow-Erlebnisse, ganz aufzugehen in einer Tätigkeit, in einem Gespräch, in einem Ausoder Anblick wird immer schwieriger und seltener.
In einer Kultur der Reizüberflutung kommt man auch in einer Entspannungssituation nicht wirklich zur Ruhe. Die Fähigkeit dazu kommt uns langsam abhanden. An all dem einfach nur den digitalen Medien die Schuld zu geben, wäre aber zu einfach. Die technologische Entwicklung ist nur Bestandteil einer großen gesellschaftlichen Umwälzung, die bereits in den 70er Jahren von dem Futurologen Alvin Toffler vorausgesagt wurde.
In seinem Buch „Future Shock“ beschreibt er, wie die zunehmenden Alternativen und Chancen der Dienstleistungsgesellschaft viele Menschen überfordern und in einer Art Zukunftsschock erstarren lassen. Wie treffe ich die richtige Wahl in einem Überangebot von Möglichkeiten? Psychische Erkrankungen, Substanzmissbrauch, zerbrochene Familien und Verantwortungslosigkeit sind Tofflers Ansicht nach die Folgen der Orientierungslosigkeit.
Er betont demgegenüber eine Fähigkeit, die kaum Beachtung findet: die Kompetenz, das eigene Leben zu gestalten, Pläne zu machen, aktiv zu steuern. Mehr Freiheit von Umwelteinflüssen und zuverlässigere Orientierung ohne Reizüberflutung und endlose Vergleiche mit anderen – dazu können wir selbst etwas tun. In meinem Buch „Selbstoptimierung ist auch keine Lösung“ habe ich bereits angesprochen, wie wichtig die Entwicklung eines Wertesystems und die Pflege von Stabilität im eigenen Leben sind; später mehr davon.
„Sagen Sie jetzt bitte nichts“ – Loriots berühmtes Zitat taugt als Motto für eine neue Kultur der Ruhe. Und tatsächlich gibt es – vereinzelt, aber doch – Stimmen, die mehr Ruhe einfordern. Selbst aus wirtschaftlicher Sicht ist das sinnvoll: In einer Wissensökonomie, in der viele Routineaufgaben automatisiert werden und nur noch neuartige, komplexe oder qualitativ besonders hochwertige Aufgaben von Menschen durchgeführt werden, wäre der Bedarf nach längeren Phasen stiller Konzentration besonders hoch.
Kreative Leistungen sind häufig Einzelleistungen, die aus Ruhe und Alleinsein entstehen. Isaac Newton, der „Vater der Schwerkraft“, lebte ein fast abgeschottetes Leben. Die Philosophen Immanuel Kant und Friedrich Nietzsche pflegten in oft stundenlangen Spaziergängen ihren Gedanken nachzugehen. Der Schriftsteller Franz Kafka notierte in einem Brief an seine Verlobte Felice Bauer, es könne nicht still genug sein beim Schreiben. „Was ich geleistet habe, ist ein Erfolg des Alleinseins“, ist er überzeugt.
Stille und Alleinsein können die Verbindung zu sich, zum Leben und zur Welt vertiefen. Der amerikanische Polarforscher Richard Evelyn Byrd reiste im Jahr 1934 allein zu einer antarktischen Wetterstation, wo er meteorologische Aufzeichnungen vornahm. Byrd war eine erfolgreiche und prominente Persönlichkeit seiner Zeit, er hatte keinen Grund, vor etwas zu fliehen. Dennoch bestand er darauf, diesen Auftrag allein auszuführen. Der monatelange Aufenthalt in der Antarktis gab ihm die Möglichkeit, für sich zu sein, zu erleben, wie gut Stille und Alleinsein sich anfühlen. Obwohl er dieses Abenteuer fast mit dem Leben bezahlte, war auch seine spätere Sicht darauf unvermindert positiv: Er habe aus der Antarktis etwas mitgenommen, was er vorher nicht vollständig besessen hatte: Wertschätzung der Schönheit und des Wunders, am Leben zu sein. Er schrieb: „Ich lebe nun einfacher, in größerem Frieden.“
Man muss kein Polarforscher oder Genie sein, um von mehr Ruhe zu profitieren. In den USA gibt es eine immer größer werdende Gemeinde von digitalen Minimalisten, die die ununterbrochene elektronische Kommunikation auf das notwendige Maß reduzieren wollen. Die gewonnene Ruhe können für die wichtigen Dinge im Leben genutzt werden. Der Informatiker Cal Newport beschreibt diese Menschen so: „Das sind ruhige, glückliche Menschen, die lange Gespräche führen ohne verstohlenen Blick auf das Smartphone. Sie können mit Freunden und Familie Spaß haben, ohne den obsessiven Drang, alles (online) zu dokumentieren.“ Im digitalen Minimalismus geht man davon aus, dass man bei neuen Technologien und Anwendungen sorgsam abwägt, ob man sie wirklich braucht, Motto: Ich bediene die Technologie, nicht die Technologie bedient mich.
Wir klagen über den lauten und stressigen Alltag. Gleichzeitig bauen wir uns selbst eine Welt der Unruhe und des Lärms. Aus der äußeren Unruhe wird schließlich eine innere, wenn wir gar nicht mehr abschalten können. Ruhe, soviel steht fest, ist ein knappes Gut geworden. Doch wo die Stille zum Luxus wird, leidet unsere Umwelt und auch wir. Wir verlieren unendlich viel von dem, was das Leben wirklich lebenswert macht.
Für die Geringschätzung und Verdrängung der Ruhe aus unserem Leben zahlen wir einen hohen Preis. Wir verlieren Leistungsfähigkeit, Empathie- und Genussfähigkeit. Wir erleben die Welt grauer und eintöniger und können das Großartige um uns herum nicht mehr sehen.
Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.
Blaise Pascal, französischer Philosoph und Mathematiker, 17. Jh.
Die New Yorker U-Bahn ist ein merkwürdiger Ort. So viele Menschen auf einem Fleck, doch niemand würdigt den anderen eines Blickes. Bloß kein Augenkontakt. Keiner stößt sich an dem blassen Passagier mit Fensterplatz, dessen Kopf bei Gleisunebenheiten gegen die Scheibe schlägt. Dutzende Menschen nehmen neben ihm Platz, erst bei Betriebsende ruft ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe die Rettungskräfte. Hinterher stellt sich heraus, dass die Leiche stundenlang durch die Stadt gefahren ist.